Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht


4.7.11. Im Versicherungsamt gegen Arbeitslosigkeit

Seit Einführung des Freigeldes hat die Anmeldung von Arbeitslosen auf einmal auf-
gehört, und ich und meine Beamten sind überflüssig geworden. Das Geld selbst sucht
jetzt die Ware auf, und Ware ist Arbeit. Wer Freigeld hat, sucht es jetzt unter allen
Umständen unterzubringen, sei es durch Kauf von Waren, durch neue Unternehmungen
oder durch das Verleihen an andere, die es persönlich gebrauchen können. Und zwar
(und hierin liegt der Unterschied gegen früher) geschieht dies unter allen Umständen,
ohne irgendwelche Rücksicht auf persönliche oder politische Verhältnisse; ja selbst der
Rückgang im Zinsfuß, der völlige Wegfall des Zinses und des Gewinnes kann das An-
gebot des Freigeldes nicht verhindern. Selbst den Fall angenommen, daß die kauf-
männische Anschaffung von Waren einen Verlust statt Gewinn brächte, könnte dies
das Angebot des Freigeldes nicht verhindern. Es verhält sich mit dem Freigeld jetzt
genau wie mit den Waren im allgemeinen; auch diese werden angeboten, selbst wenn
der Verkauf Verlust bringt.

Wer in den Besitz von Freigeld gelangt ist, muß es wieder in Umlauf setzen, einerlei,
was dabei herauskommt, ob Gewinn, ob Verlust. Das Freigeld befiehlt, es duldet kein
Gefängnis, es zerbricht die Ketten. Den Spekulanten, den Bankmann, der das Geld
zum Zwecke des Angriffs oder auch nur zur eigenen Verteidigung am Umlauf verhin-
dem will, schlägt es nieder. Mit der Kraft des Sprengstoffes zertrümmert es die Geld-
kasten, die Gewölbe der Banken, wie auch den Koffer des Stallknechts, um die Freiheit
zu erlangen und sich auf den Markt zu stürzen. Daher der Name "Freigeld". Wer Ware
verkauft und Freigeld dafür eingelöst hat, muß dieses Geld wieder in Waren umsetzen.
Und Warenumsatz heißt Warenabsatz, und wo Waren abgesetzt werden, da ist Arbeit.

Das Freigeld ist jetzt verkörperte Nachfrage, und Nachfrage ist Absatz, Absatz aber
ist Arbeit. Die Geldreform hat uns also eine selbsttätig wirkende Arbeitsversicherung gebracht.
Keine behördliche, vom Unternehmertum gespeiste Arbeitsversicherung, sondern die
Versicherung, die der Arbeitsteilung von Natur aus anhaftet, weil ja die Arbeit Waren
erzeugt und die Waren nur danach streben, sich gegenseitig auszutauschen. Durch das
Dazwischentreten des Goldes war der Tausch zwei fremden Gewalten, dem Zins und
der Gewinnsucht, abgabepflichtig geworden, Eindringlingen, die den Tausch der Er-
zeugnisse störten. Zins und Abgabe waren die selbstverständliche Voraussetzung des
Tausches der Waren und der Arbeit; konnte beim Tausch kein Zins oder Gewinn heraus-
geschlagen werden, so stockte der Warenaustausch, weil das Gold die Vermittlung
versagte.

Jetzt, mit dem Freigeld, kann von solchen Bedingungen überhaupt keine Rede sein.
Wie ein hungriger Löwe umgeht, suchend, wen er verschlinge, so stürzt sich das Frei-
geld rücksichtslos auf die Ware, und Ware ist Arbeit. Denn ob ich Ware kaufe oder einen
Arbeiter unmittelbar beschäftige, bleibt sich gleich. Der Kaufmann, dem ich die Ware
abkaufte, wird sein Lager zu ergänzen und sich seines Geldes zu entledigen suchen,
indem er dem Unternehmer neue Waren bestellt.

Eine lächerlich einfache Arbeitsversicherung, ein lächerlich einfacher Arbeitsnachweis.
Jede Mark, die der Staat in Umlauf setzt, ersetzt ein Arbeitsgesuch; je 1 000 solcher Zettel
ersetzen ein Arbeitsamt. Wer Ware verkauft und Geld dafür einlöst, kauft selbst oder
durch den, dem er das Geld leiht, sofort wieder Ware, so daß also jeder so viel Ware
kauft, wie er verkauft, und jeder so viel Ware verkauft, wie er kauft. Es kann also über-
haupt kein Überschuß verbleiben. So viel Waren erzeugt werden, so viel werden auch
verkauft. Wie soll da noch Absatzstockung, Zuvielerzeugung und Arbeitslosigkeit möglich
sein? Alle diese Erscheinungen können doch nur da beobachtet werden, wo man zeit-
weise oder allgemein und regelmäßig weniger Ware kauft, als man selbst erzeugt.

Es versteht sich wohl von selbst, daß Freigeld dem einzelnen Unternehmer den Absatz
der Erzeugnisse nicht gewährleisten kann, sondern nur der Allgemeinheit. Erzeugt
jemand schlechte Waren, fordert er zu hohe Preise, arbeitet er darauf los, ohne die
Marktbedürfnisse zu befragen, so wird ihm auch das Freigeld die Waren nicht absetzen
können. Das Wort "unbegrenzter Absatz", das hier wiederholt gebraucht wird, gilt für
die Gesamtheit; weder Zinsforderungen noch wechselnde Aussichten werden nach Ein-
fürung des Freigeldes dem Absatz noch im Wege stehen können. Jeder wird sofort und
genau so viel kaufen müssen, wie er selbst verkauft hat und wenn jeder das tun muß,
so kann kein Überschuß bleiben. Hat jemand für sich keinen Warenbedarf, so hört er
auf zu arbeiten, oder er verleiht den Geldüberschuß an andere, die mehr Waren kaufen
müssen, als sie selbst augenblicklich zu verkaufen haben. Ist der Wettbewerb in einer
Ware (Zuckerrüben, Eisen, Tanzunterricht usw.) zu groß, so gehen die Preise dafür
herunter. Lohnt sich die Erzeugung zu den herabgesetzten Preisen nicht, so wird jeder
wissen, was er zu tun hat.

Wie war es früher? Der Kaufmann mußte für sein Geld Zins zahlen und machte
also den Kauf von Waren abhängig von einem Zinsertrag. War es nach Lage der Ver-
hältnisse nicht möglich, den Zins auf den Verkaufspreis der Waren zu schlagen, so ließ
er die Erzeugnisse der Arbeiter unberührt und diese feierten dann wegen Mangels an
Absatz. Kein Zins = kein Geld; kein Geld = kein Austausch der Waren; kein Tausch =
keine Arbeit.

Zins war die selbstverständliche Voraussetzung des Geldumlaufes, von dem wiederum
die Arbeit abhängig war. Sogar die Reichsbank hätte ohne Zins kein Geld ausgegeben,
selbst dann nicht, wenn allgemein anerkannt worden wäre, daß Geld auf dem Markte
fehlte, - obschon sie satzungsgemäß ihre Hauptaufgabe darin zu erblicken hatte, den
Geldumlauf den Verkehrsbedürfnissen anzupassen. Auch bei der Reichsbank wurden selbst-
verständlich die Verkehrsbedürfnisse erst dann berücksichtigt, wenn zuvor die Zinsbedürfnisse
des Geldes befriedigt waren. (Ich mache der Reichsbankverwaltung daraus keinen Vor-
wurf; kein Gott hätte mit ihren stümperhaft zugestutzten Vollmachten Vernünftiges
schaffen können.)

Heute stellt der Geldumlauf überhaupt keine Bedingungen mehr. Geld = Absatz,
- einerlei, was dabei herauskommt. Geld = Warenabsatz = Arbeit = Geld. Der Kreis-
lauf ist unter allen Umständen ein geschlossener.

Der Kaufmann hatte natürlich den Gewinn im Sinne, d. h., der Verkaufspreis mußte
den Einstandspreis übersteigen. Das war die natürliche, selbstverständliche, übrigens voll-
berechtigte Voraussetzung jeder kaufmännischen Betätigung. Dabei war der bezahlte
oder gestundete Einstandspreis in jedem Falle eine bekannte, unabänderliche Größe
(ausgenommen bei auftragsweise zu besorgenden Verkäufen) während für den Verkaufs-
preis nur Aussichten, Möglichkeiten, Hoffnungen, kurz Wahrscheinlichkeitsrechnungen
vorlagen. Der Verkaufspreis war immer ein Glücksspiel, der ganze Handel eine Spielbank
wie Monte Carlo. Denn zwischen Kauf und Verkauf liegt Zeit, während deren sich
manches auf dem Markte ändern konnte.

Der Kaufmann bedachte vor jedem Kauf die Marktverhältnisse, die Aussichten, die Poli-
tik im Innern, die Politik im Ausland. Glaubte er, daß andere dasselbe glaubten, was er glaubte,
nämlich, daß allgemein höhere Preise in Aussicht ständen so beeilte er sich, zu kaufen, um
mit möglichst großen Lagervorräten an der erwarteten Preissteigerung beteiligt zu sein.
Hatte er sich nicht geirrt, hatte er viele Glaubensgenossen und kauften darum viele, so
mußte schon ganz allein darum und ohne jeden anderen Grund das eintreten, was sie
von Gott weiß welchen Umständen erwarteten, nämlich eine allgemeine Preissteigerung.
Denn das ist doch klar, wenn jeder an kommende höhere Preise glaubt, so kauft jeder,
der einen Geldvorrat besitzt, und wenn alle Geldvorräte zu Käufen verwendet werden,
so müssen die Preise steigen.

In diesem Falle hat man den unmittelbaren Beweis, daß der Glaube an und für sich
schon selig macht.

Umgekehrt natürlich verhält es sich beim "Glauben" an einen Preissturz. Wenn
Müller glaubte, daß die Kaufmannschaft allgemein an kommende niedrigere Preise
glaube, so suchte er sich seiner Warenbestände zu entledigen, indem er einerseits den
Verkauf zu erzwingen suchte, nötigenfalls durch Preisermäßigung (!), anderseits, indem
er nichts bestellte und seine Aufträge auf günstigere Zeiten verlegte. Aber so wie er
handelten auch wieder seine "Glaubensgenossen", und darum, darum ganz allein traf
das ein, was sie befürchteten. Ihr Glaube hatte sie betört. Denn unter der Goldwährung
geschah immer alles, was man glaubte. Der Glaube regierte unbeschränkt. Der Glaube
an kommende hohe oder niedrige Preise genügte vollständig zu seiner sachlichen Begründung!

Vom Glauben, von der Stimmung, vom Wetter hing es ab, ob Geld angeboten wurde
oder nicht, ob die Arbeiter feiern mußten, oder ob sie mit Nachtarbeit und Überstunden
arbeiten durften. Vom Glauben! Das Angebot der gesamten Geldrücklagen hing vom
Glauben ab!

Jetzt, mit dem Freigeld, ist das ganz anders geworden. Das Geld fragt den Besitzer
nicht nach seinem Glaubensbekenntnis, nicht nach seiner Stimmung. Das Geld befiehlt
einfach, es erteilt die Bestellung selbstherrlich.

Aber gerade darum, weil der Glaube aus dem Handel ausgemerzt wurde, weil Glaube,
Hoffnung und Liebe zum Gewinn ganz ohne Einfluß auf den Geldumlauf bleiben,
bleibt auch die Nachfrage auf dem Markte stets sich selber gleich und erweisen sich alle
kaufmännischen Hoffnungen und Befürchtungen als persönliche Vergnügungen ohne
irgendwelchen Einfluß.

Die Nachfrage nach Ware und die Arbeit gehen nicht mehr neben dem Gelde als
Willenssache einher, sie sind der Botmäßigkeit der Geldbesitzer nicht mehr unterstellt,
sondern das Geld ist die Nachfrage selbst.

Es war früher selbstverständlich und natürlich, daß jeder Arbeiter auf "die Suche
nach Geld", d. h. nach Arbeit ging. Nur ausnahmsweise ging das Geld auf die Suche
nach Arbeit. Das Geld ließ die Ware, die Arbeit an sich herankommen. Niemand stieß
sich daran, niemand verwahrte sich gegen diese Verletzung der Gesetze der Gleich-
berechtigung. Jeder gab sich mit diesem Vorrecht des Geldes zufrieden, - wahrschein-
lich weil man glaubte, daß dieses Vorrecht mit dem Geldwesen untrennbar verbunden
sei. Während der Arbeiter und der Besitzer von Waren durch jeden Aufschub des Ver-
kaufes schweren Schaden erlitten, der mit jedem Tage wuchs, heckte das Geld dem
Käufer Zinsen. Also war es natürlich, ganz richtig und selbstverständlich, daß, wenn
die Käufer säumten, die Verkäufer sich aufmachten, um die Käufer persönlich zum
Kauf zu veranlassen!

Heute ist auch diese Anschauung nicht mehr selbstverständlich. Denn dem Geld-
besitzer brennt das Geld in der Tasche ebenso sehr, wie den Arbeiter die Vergänglich-
keit seiner Arbeitskraft (die sich nicht aufstapeln läßt) daran mahnt, diese möglichst
bald an den Mann zu bringen. Der Geldbesitzer wartet also nicht mehr so ruhig ab,
daß ihn der Warenbesitzer (Arbeiter) aufsucht. Er sieht sich um, steht früher auf, geht
der Ware auf halbem Wege entgegen.

Und wenn sich zwei gegenseitig suchen, so treffen sie sich eher und sicherer, als wenn
nur der eine sucht. Es stände schlecht um die ganze Tierwelt, wenn sich die Weibchen
vor den Männchen zu verbergen suchten; wie würde der Unke im Teiche die Unke
finden, wenn diese nicht auf seinen Ruf aus dem Schlamme hervorkröche?

Dabei hatte aber früher der Besitzer des Geldes Vorteil davon, sich vor dem Besitzer
der Ware zu verbergen, denn durch langes Suchen wurde dieser noch mürber. Mit dem
Schlafrock und in Hausschuhen, um sich den Anschein zu geben, daß ihn der Arbeiter
oder Warenverkäufer im Schlafe gestört, daß er selbst gar keine Eile habe, so trat der
Käufer dem Verkäufer entgegen.

Also das Geld sucht jetzt die Ware unter allen Umständen. Das Geld ist plötzlich
hungrig geworden. Die Entfettungskur hat das Geld flink gemacht, seinen Spürsinn
geschärft. Es läuft zwar den Waren nicht nach, denn die Ware verkriecht sich nicht,
sie kann sich nicht verbergen; beide treffen sich aber auf halbem Wege.

Sucht die Ware das Geld, so sucht jetzt auch das Geld die Ware. Und findet das Geld
keine Ware, so wartet es nicht gemächlich ab, bis der Zufall ihm das Gewünschte in
den Weg wirft, sondern es geht den Spuren der Ware nach bis zur Quelle, und das ist
die Arbeit.

Und so hat das Freigeld an Stelle der behördlichen eine selbsttätig wirkende Arbeits-
losenversicherung gesetzt. Das Freigeld wurde zum selbsttätigen Arbeitsnachweis; ich
und meine 76 000 Beamten wurden arbeitslos aufs Pflaster geworfen. Welche Tücke
des Schicksals: die Beamten des Arbeitslosenversicherungsamtes sind nunmehr die
einzigen Arbeitslosen im Reiche!


Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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