Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht


4.7.10. Der Schuldner

Man mußte schon der Familie der Dickhäuter entstammen, wenn man sich nicht
beleidigt fühlen sollte durch die Schimpfnamen, womit wir Agrarier (1) im Reichstage,
in den Zeitungen und im gewöhnlichen Leben betitelt wurden: Brotwucherer, Spitz-
buben, Bettler!

Daß die Arbeiter über uns herfielen, weil wir ihnen das Brot verteuerten, läßt sich
begreifen. Ihnen gegenüber spielten wir die Rolle der Angreifer; sie hatten uns nichts
getan, was unseren Angriff auf ihre an sich schon magere Kasse rechtfertigte. Daß aber
euch die anderen Parteien, die uns durch so manches Gesetz schwer geschädigt hatten,
um sich selbst zu bereichern, in das Lied der Arbeiter einstimmten, das finde ich einfach
lächerlich. Das beweist, daß diese Parteien überhaupt noch nicht wissen, was Politik ist.
Politik ist Macht, und wer die Macht hat, macht die Politik und beutet sie aus zu seinen
Gunsten. Früher hatten die liberalen Parteien die Macht und beuteten sie aus; jetzt ist
die Reihe an uns. Also wozu die Schimpfnamen; sie fallen ja auf alle zurück, die jemals
die Macht gebabt haben und die sie in Zukunft haben werden.

Dabei waren die Liberalen entschieden die Angreifer in diesem Streite. Sie griffen
uns mit der Goldwährung an; wir suchten die Doppelwährung wieder herzustellen, um
uns zu verteidigen. Als uns das nicht gelang, nahmen wir Zuflucht zu den Zöllen. Warum
hatte man uns die Doppelwährung genommen, auf die unsere Grundschuldurkunden
lauteten; warum zwang man uns, mehr zurückzuzahlen, als wir erhalten hatten? Warum
fälschte man Sinn und Inhalt unserer Schuldurkunden, indem man uns die Wahl zwischen
Gold und Silber nahm? Warum nahm man uns zugunsten unserer Gläubiger die Mög-
lichkeit, unsere Schulden mit dem billigeren von zwei Metallen zu bezahlen? Ob ich
nach freier Wahl meine Schuld mit 1000 Kilo Kartoffeln oder mit 100 Kilo Baumwolle
zahlen kann, oder ob ich dagegen nur mit Kartoffeln zahlen muß, ist doch durchaus
nicht gleichgültig. Ohne irgendeine Entschädigung hatte man uns die Gewinnmöglich-
keiten dieser Vertragsbestimmung genommen. Nach freier Wahl hätte ich sonst mit
160 Pfd. Silber oder mit 10 pfund Gold bezahlen können, und mit dem billigsten der
beiden Stoffe hätte ich natürlich bezahlt, wie man auch mir mit dem damals billigsten
der beiden Stoffe das Darlehn auszahlte. Wieviel diese Gewinnmöglichkeiten bedeuteten,
das sahen wir nachher am Preisstand des Silbers im Vergleich zum Gold. Um 50% war
das Gold im Vergleich zum Silber teurer geworden: statt 100 000 Mark betrugen meine
Schulden 200 000 Mark - nicht nach dem Nennwert, sondern, was viel schlimmer ist,
der Wirkung nach. Doppelt soviel meiner Erzeugnisse mußte ich jährlich aufbringen
für die Verzinsung meiner Schuld. Statt 50 Tonnen Weizen mußte ich der Darlehns-
bank jährlich 100 Tonnen fronen. Wären wir bei der Silberwährung geblieben, so hätte
ich die 50 Tonnen, die ich an Zins mehr zahlen mußte, für die Schuldentilgung ver-
wenden können, und ich wäre jetzt schuldenfrei.

Ist nun eine solche Behandlung der Schuldner, die die Liberalen guthießen, kein
unerhörter Betrug?

Wenn nicht alle Schuldner wie ein Mann sich dagegen verwahrten, wenn der Wider-
spruch auf die Agrarier und sonstigen Pfandschuldner beschränkt blieb, so ist das damit
zu erklären, daß die meisten anderen Schuldner, die Gelder ohne Sachdeckung aufge-
nommen hatten, in dem bald nach Einführung der Goldwährung eingetretenen großen
Krach durch Zahlungseinstellung sich ihrer Schulden entledigten und darum an der
Sache nicht mehr beteiligt waren.

Als wir dann, unter Berufung auf den Umstand, daß der Weizenpreis unter der Gold-
währung von M. 265 auf M. 140 heruntergegangen war, die Wiedereinführung der
Silberwährung forderten, weil wir für unsere Pfandbriefe ja Silber und kein Gold er-
halten hatten, da lachte man uns aus und sagte, wir verständen nichts von der Währung,
von den Bedürfnissen des Handels. Die Goldwährung hätte sich vortrefflich bewährt
(Beweis: der große Krach und der Rückgang der Preise!), und man dürfe nachträglich
nichts mehr daran ändern, sonst wäre Gefahr, daß das ganze Wirtschaftsgebäude ein-
stürzen könnte und daß die Eigentumsbegriffe gänzlich verwilderten. Wenn es uns wirt-
schaftlich schlecht ginge, trotz den Segnungen der Goldwährung, so läge das an unserer
rückständigen Betriebsweise; wir sollten die neuen Maschinen versuchen, mit Kunst-
dünger arbeiten, Handelsgewächse bauen, um so mit geringeren Kosten mehr Erträge
zu gewinnen und trotz niedrigerer Preise bestehen zu können. Wir wären im Irrtum:
der "Wert" des Goldes wäre fest, nur der "Wert" der Waren wäre gefallen infolge ver-
minderter Erzeugungskosten! Denn das Gold habe einen "festen, inneren Wert", und
alle Preisschwankungen kämen von den Waren her!

Wir suchten die guten Ratschläge auszuführen und mit geringeren Erzeugungskosten
zu arbeiten. Auch der Staat half uns mit billigen Bahnfrachten und niedrigen Fahr-
preisen für die polnischen Arbeiter. Und wir erzielten auch tatsächlich mit gleicher
Arbeit größere Ernten. Aber was half das, wenn mit den größeren Ernten die Preise
fielen von M. 265 auf M. 140, wenn wir für die größeren Ernten weniger Geld lösten?
Geld brauchten wir, Geld forderten unsere Gläubiger; keine Kartoffeln und Zucker-
rüben! Sie bestanden auf ihrem, gesetzlich zu ihren Gunsten gefälschtem Schein und
forderten Gold!

Geld, mehr Geld, billiges Geld, dazu hätte uns die Silberwährung verholfen, aber
da man uns diese versagte, so suchten wir nach anderen Mitteln, um aus unseren Er-
zeugnissen mehr Geld herauszuachlagen. Und so verfielen wir auf die Zölle.

Hätte man uns die Silberwährung gelassen, so wären die Zölle nicht nötig gewesen,
und die ganze Verantwortung für die Zölle wälzen wir darum von uns ab auf die, die
uns Brotwucherer, Bettler, Diebe nannten; auf die, die uns mit der Goldwährung be-
stohlen haben.

Diese ganze häßliche und schmutzige Geschichte, die soviel böses Blut gemacht und
so volksverhetzend gewirkt hat, wäre vermieden worden, wenn man sich die Mühe
gegeben hätte, bei der Münzneuerung den Begriff Taler oder Mark gesetzlich festzu-
legen, wenn man die Fälle aufgezeichnet hätte, die den Staat zur Entmünzung des Silbers
oder Goldes berechtigen sollten.

Bei der gewaltigen Bedeutung der Sache war es leichtsinnig, liederlich von beiden
Seiten, so blindlings den Taler und nachher die Mark als Grundlage ihrer Geschäfte
zu benutzen und die Beantwortung der Frage: ,;Was ist eine Mark d. R.-W.?" zu einer
politischen Frage, zu einer Machtfrage zu machen. Doch jetzt weiß ich mich sicher;
das Reichswährungsamt wacht und das Freigeld ermöglicht es ihm, den Gegensatz
zwischen Gläubiger und Schuldner gerecht auszugleichen.


(1) Agrarier = der verschuldete Grundbesitzer, der sich der Schulden auf gesetzlichem
Wege entledigen will.

Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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