Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht



DRITTER TEIL:

METALL- UND PAPIERGELD
Das Geld, wie es ist

EINLEITUNG

Das heutige Metallgeld ist seinem Wesen nach vollkommen dem Gelde gleich, das
schon im Altertum den Austausch der Waren vermittelte. Gräbt man aus dem Schutte
Athens, Roms oder Karthagos Münzen aus, so hat man allgemeingültiges, gleichwertig
mit dem Gelde Europas oder Amerikas umlaufendes Geld in Händen. Sieht man ab von
der etwaigen Verschiedenheit im Feingehalt der Münzen, so ist ein Kilo Münzen mit dem
Stempel römischer Kaiser gleich einem Kilo Münzen mit dem Stempel deutscher Präge-
anstalten. Alle Eigenschaften des Geldes, das Lykurg aus Sparta ächtete, haften in unver-
änderter Form unserem Gelde an, und vielleicht ist dieses Geld die einzige staatliche Ein-
richtung, die sich aus dem grauen Altertume unangetastet bis auf uns herübergerettet hat.

Diesem ehrwürdigen Alter unseres Geldes entspricht jedoch in keiner Weise unsere
Kenntnis vom Wesen des Geldes. Wir wollen an dieser Stelle nicht darüber rechten, ob
Lykurg wohl daran tat, als er, in der Erkenntnis, daß das aus Edelmetall hergestellte Geld
das Volk in arm und reich trennt und durch solche Zersetzung die Volkskraft bricht, nun
das Kind mit dem Bade ausgoß. Aber tiefer als Lykurg ist man auch heute nicht in das
Wesen der dem Golde nachgesagten Übel eingedrungen. Immer noch begnügt man sich
damit, mit Pythagoras auszurufen: "Ehret Lykurg, er ächtete das Gold und Silber, die
Ursache aller Verbrechen", immer nur seufzen wir verzweifelt mit Goethe: "Am Golde
hängt, nach Golde drängt doch alles - ach wir Armen!"

Aber mit diesen Verwünschungen hat es sein Bewenden. Auf die Frage, was denn
eigentlich am Gold verkehrt ist, warum das Gold der Menschheit zum Fluch wird -
sind alle still. Sogar die Gelehrten vom Fach werden durch diese Frage so sehr in Ver-
legenheit gebracht, daß sie es vorziehen, Lykurg und Pythagoras einfach zu verleugnen
und die dem Gold nachgesagten Übel auf ungenaue Beobachtung zurückzuführen. So
werden der spartanische Moses zum Währungspfuscher und der große Mathematiker
zum Schwärmer gestempelt.

Dieses Versagen der Wissenschaft ist jedoch weniger eine Folge mangelnder Erkenntnis-
kraft des menschlichen Geistes als ein Ergebnis der äußeren Verhältnisse, die hier mit-
spielen und die der wissenschaftlichen Durcharbeitung der Lehre vom Geld nicht günstig
sind.

Zunächst ist es der Gegenstand selber, der die meisten von vornherein abstößt. Es gibt
anziehendere Gegenstände der Forschung als das Geld, besonders für hochfliegende
Geister und vornehme Naturen. Religion, Naturforschung, Sternkunde usw., alles das ist
unendlich viel an- und emporziehender als das Forschen nach dem Wesen des Geldes. Nur
ein nüchterner Rechenkünstler wird sich zu diesem Stiefkind der Wissenschaft hingezogen
fühlen, und so ist es verständlich, und es gereicht der Menschennatur eigentlich zur Ehre,
daß man die Forscher immer noch an den Fingern zählen kann, die tiefer in dieses dunkle
Gebiet eingedrungen sind.
Hierzu kommt, daß die unglückliche Art der bisherigen wissenschaftlichen Behandlung
des Geldwesens und die Verquickung dieser Behandlung mit dem nun endlich ausster-
benden Wertglauben, die natürliche Abneigung gegen diesen Zweig der Wissenschaft
nur noch verstärkt haben. Die Währungsfrage ist infolge der verworrenen Behandlung,
die sie durch die Wissenschaftler erfuhr, geradezu verrufen, und dies führt in der öffent-
lichen Meinung zu einer Mißachtung dieses doch für die Entwicklung der Menschheit
so außerordentlich wichtigen Gegenstandes. (Die heute vergessenen Schriften über Dop-
pelwährung machen hier eine lobenswerte Ausnahme.) Für die große Mehrheit des Volkes
ist die Mark d. R.-W. heute tatsächlich nicht mehr als der 1/1375. Teil von einem Pfund
Feingold; und für das Volk ist das Gold als Metall doch ein ziemlich bedeutungsloser
Stoff. Diese Herabsetzung, die der Gegenstand der Währungsliteratur in der öffentlichen
Meinung erfahren hat, bewirkt aber wieder, daß niemand die betreffenden Bücher kauft
und daß kein Verleger die Druckkosten dafür wagen will. So mag es sein, daß vieles und
Gutes über das Geldwesen geschrieben, aber nicht veröffentlicht wurde - weil sich kein
Verleger dafür fand. Wieder ein Umstand, der die Forscher vom Geldwesen fernhält. Wer
die Mittel nicht besitzt, um das Geschriebene auf eigene Kosten drucken zu lassen, der
darf sich nicht mit dem Geldwesen befassen.

Freilich gibt es in letzterer Beziehung Ausnahmen. Unsere Hochschullehrer, deren
Veröffentlichungen immer wenigstens von Studenten und staatlichen Büchereien gekauft
werden, mögen für ihre Bücher auch willige Verleger finden, doch steht einer günstigen
Entwicklung dieses hauptsächlich der Schule dienenden Schrifttums der Satz im Wege,
daß Hadersachen von der Schule ferngehalten werden müssen. So dürfen diese Schriften aus
Rücksicht auf ihre Bestimmung niemals tiefer in das Wesen des Geldes eindringen. Vom
hadrigen Kern der Frage prallt die Sonde der Schulwissenschaft immer zur Oberfläche
zurück. Es steht hier mit dem Geld nicht anders wie mit der Lehre von der Grundrente,
vom Zins, vom Lohne; und ein Hochschullehrer, der den zwiststiftenden Kern all dieser
Fragen nicht beachten wollte, würde seinen Hörsaal bald in ein Schlachtfeld verwandeln,
wo alle blindlings auf Freund und Feind einschlagen. Nein, Hadersachen, Politik, die
Lehre vom Lohn, von der Grundrente, vom Zins und vom Geld, gehören wirklich nicht
in die Hochschulen. Notwendigerweise muß aber darum auch diese Wissenschaft in den
Händen unserer Hochschullehrer verkümmern; das "bis hierher und nicht weiter" starrt
dem Professor ja immer gleich nach den ersten Spatenstichen entgegen. (1)

Zu diesen äußeren Schwierigkeiten tritt noch der Umstand, daß die Erforschung dieses
heiklen Stoffes Kenntnisse voraussetzt, die man eigentlich nur im praktischen Handel er-
werben kann, und daß der Handel zumeist solche Naturen anzieht und fesselt, die schul-
wissenschaftlichen Untersuchungen abhold sind. Männer der Tat fordert der Handel,
keine Schürfer und Forscher. Wie lange ist es übrigens her, daß der Handel zudem als
anrüchig angesehen wurde (Merkur, "Gott der Kaufleute und Diebe") und sich ihm vor-
zugsweise solche Jünglinge zuwandten, die auf den Schulen nicht mitkamen? Die begab-
ten Söhne mußten "studieren", die übrigen waren für den Handel bestimmt.

So ist also die Tatsache nicht so befremdlich, daß wir zu unserem 4000 Jahre alten
Metallgeld, das sich durch 100 Menschenalter und durch die Hände von Milliarden und
aber Milliarden Menschen gewälzt hat, heute in der Zeit des wissenschaftlichen Vorgehens
auf allen Gebieten noch keine stichhaltige Begriffsbestimmung oder Theorie haben und
daß noch überall in der Welt die öffentliche Behandlung des Geldes nach alten Gewohn-
heiten ohne wissenschaftliche Begründung erfolgt.

Dieser Mangel an einer stichhaltigen Geldtheorie ist aber der Grund, warum wir bis
heute auch für die Zinserscheinung keine genügende Erklärung zu geben vermochten.
Sonderbar, wir bezahlen und erheben seit 4000 Jahren Kapitalzins in ungezählten Milli-
arden, ohne daß die Wissenschaft die Frage zu beantworten vermöchte, "woher und warum
der Kapitalist den Zins erhält" (2).

Zwar an Versuchen hat es nicht gefehlt. Dafür sorgte schon der Gegenstand selbst, der
die Merkmale eines allgemeinen Störenfrieds ganz öffentlich zur Schau trägt, und der dar-
um auch ganz anders als das Geld selbst die Aufmerksamkeit der Wissenschaft und der
Öffentlichkeit auf sich zog. Jeder namhafte Volkswirt hat sich mit dem Zins befaßt,
namentlich die Sozialisten, deren ganzes Streben im Grunde nur gegen den Zins ge-
richtet ist.

Aber wieviele sich auch redlich abgemüht haben, - die Frage nach der Natur des
Zinses blieb unbeantwortet.

Der Grund dieses Fehlschlagens liegt nicht in der Schwierigkeit des Stoffes, sondern
einfach darin, daß der Kapitalzins (der Zins der Darlehen sowohl wie der Zinsertrag der
Sachgüter [Realkapitalien]) ein Geschöpf oder Nebenerzeugnis des herkömmlichen Gel-
des ist und darum auch nur mit Hilfe der Geldtheorie wissenschaftlich erklärt werden
kann. Wie uns Zins und Geld äußerlich schon als unzertrennliche Freunde begegnen, so
innig vereint sind sie auch seelisch, d. h. in ihrem inneren Wesen. Ohne Einblick in das
innere Wesen des Geldes ist es unmöglich, den Zins zu erklären. Die Lehre vom Zins kann nur
von der Lehre vom Geld abgeleitet werden.

Die Zinsforscher haben aber (aus den schon erwähnten Gründen) regelmäßig die
Geldforschung vernachlässigt. Marx z. B. hat der Theorie des Geldes keine fünf Minuten
Überlegung gewidmet, dafür zeugen seine drei dicken Bände, die sich mit dem Zins
(Kapital) befassen. Proudhon dagegen, der das Geld weniger mißachtete, ist auch der
Lösung des Zinsrätsels am nächsten gekommen.

In nachfolgender Untersuchung, die durch Zufall angeregt und durch glückliche äußere
Verhältnisse geleitet und gefördert wurde, biete ich nun der Wissenschaft, dem Handel
und der Politik die so lange gesuchte Theorie des Geldes und des Zinses.

Es war Haderstoff, was ich untersuchte. Konnte ich wissen und vermeiden, daß das,
was ich finden sollte, ein revolutionärer Brander sein würde?

Geschrieben im Sommer 1911.

Silvio Gesell.


(1) Man beachte, daß diese Ausführungen im Jahre 1911 geschrieben wurden.

(2) v. Boehm-Bawerk, Geschichte und Kritik der Kapitalzins-Theorien.


Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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