Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage; August 1949;
Herausgeber: Karl Walker
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1.7. Der Begriff Freiland dritten Grades

Das wichtigste Freiland aber, das auch für die Theorie des Lohnes und der Grund-
rentenbegrenzung höchste Bedeutung besitzt und das wir überall in nächster Nähe zu
unserer Verfügung finden, ist das Freiland dritten Grades. Der Begriff dieses Freilandes
ist jedoch nicht so einfacher Natur, wie bei dem bisher beschriebenen Freiland und er-
fordert einige Überlegung.

Einige Beispiele werden es jedoch jedem sichtbar machen.

Beispiel 1. In Berlin darf nach der Bauordnung nur bis zu vier Stockwerken hoch
gebaut werden. Wären es nur zwei Stockwerke, so würde die Stadt die doppelte Boden-
fläche bedecken müssen, um dieselbe Einwohnerzahl zu beherbergen: Das Land, das
durch den dritten und vierten Stock gespart wurde, ist also heute noch unbebautes, freies
Bauland. Wenn man in Berlin die amerikanische Bauart zuließe - also 40 Stockwerke
an Stelle von 4 -, so würde der zehnte Teil der heutigen Grundfläche Berlins genügen.
Der Rest wäre überschüssig und würde jedem Bauunternehmer zu wenig mehr als dem
Ertragswert eines Kartoffelackers angeboten werden. Das Freiland für Bauzwecke ist
also vom vierten Stockwerk ab nach den Wolken hin überall, selbst im Innern jeder
deutschen Großstadt, in unbegrenzter Menge vorhanden.

Beispiel 2. In der Republik "Agraria" wird durch Gesetz der Gebrauch jeglichen
künstlichen Düngers verboten, angeblich, weil er gesundheitsschädlich sein soll, in Wirk-
lichkeit aber, um die Erzeugung von Getreide knapp, die Getreidepreise hochzuhalten.
Die agrarianischen Grundherren glauben, daß wenig und teuer für sie besser sei, als viel und
billig. Infolge dieses Verbotes und der geringen Ernten, sowie der teuern Preise, und weil
außerdem die Auswanderung verboten ist, hat man in Agraria alles Öd-, Sumpf- und
Heideland in Anbau genommen und es erreicht, daß die Ernten den Bedarf des Volkes
decken. Trotzdem aber ist das Volk sehr unzufrieden und verlangt die sofortige gänzliche
Aufhebung des Verbotes, und man erwartet dort allgemein, daß ähnlich wie in Deutsch-
land die Bodenerträge durch den Gebrauch des künstlichen Düngers sich verdreifachen
werden.

Was wird die Folge für die Grundrente und den Lohn sein? Wird da nicht in bezug
auf die Äcker dasselbe eintreten, was in der Stadt geschieht, wenn eine neue Bauordnung
jedem erlaubt, die bisherige Zahl der Stockwerke zu verdreifachen? Mit den künstlichen
Düngern wird der Boden der Republik plötzlich dreimal größere Ernten geben als die
jetzt lebende Bevölkerung braucht. Das wird bewirken, daß man von je drei Hektar zwei
brachliegen lassen wird zur Verfügung künftiger Geschlechter. In derselben Republik, wo
man jede Ecke Land, jeden Sumpf in Anbau genommen hatte, wird man infolge der
Freigabe der künstlichen Dünger plötzlich von gewaltigen Strecken Freiland sprechen.
Und dieses Freiland wird man vorläufig als Jagdgründe benutzen und es zum Jagdpacht-
ertrag jedem anbieten, der es in Arbeit nehmen will.

Diese Beispiele aus dem Baugewerbe und der Landwirtschaft zeigen uns, wie Neuland,
Freiland dritten Grades, entstehen kann und als Folge der täglich sich häufenden Ent-
deckungen ständig neu entsteht. Der Hirt braucht 100 Hektar Land, um seine Familie zu
ernähren, der Landwirt braucht 10, und der Gärtner einen und weniger.

Nun wird aber die gesamte Ackerfläche Europas noch sehr oberflächlich bebaut, und
die Bevölkerung, selbst in Deutschland, ist noch so spärlich, daß, wenn man allgemein zur
Gartenwirtschaft überginge, die Hälfte der Ackerfläche brach gelassen werden müßte,
erstens, weil für solche Mengen von Lebensmitteln die Käufer, zweitens, weil für so dichte
Bearbeitung des Bodens die Arbeiter fehlen würden.

Wir können also Deutschland durchweg noch als solches Freiland dritten Grades
betrachten. Für die Bodenerträge, die der Landwirt bei dichter Bebauung über die Erträge
des Jägers, des Hirten, der weitläufig bebauenden Landwirte hinaus einheimst, kann man
den Ackerboden ebenso als Freiland betrachten, wie der Amerikaner den Raum über den be-
reits stehenden Stockwerken bis zu den Wolken hinaus als freien Baugrund ansieht.

Wenden wir das Gesagte auf die Grundrenten und die Lohntheorie an. Deutschland
ist in dem oben beschränkten Sinne noch Freiland. Der Landarbeiter kann zu jeder Zeit
auf dieses Freiland flüchten, wenn er nicht mit seinem Lohne einverstanden ist. Unter den
Ertrag, den die Arbeit auf solchem Freiland dritten Grades abwirft, kann der Lohn des
Landarbeiters dauernd ebensowenig fallen, wie unter den Ertrag der Arbeit auf Freiland
ersten Grades. Hier hat der Landarbeiter bei den Lohnverhandlungen einen Rückhalt,
der nie versagt. Wieviel wird nun der Arbeiter als Lohn, der Grundherr als Pacht ver-
langen können?


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Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig.
Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.