Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage; August 1949;
Herausgeber: Karl Walker
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1.5. Einfluß der Lebensverhältnisse auf Lohn und Rente

Die Kosten der Bahn- und Seeverladung sind natürlich nicht die einzigen Einflüsse,
denen der Arbeitsertrag des Freiländers und der von diesem abhängige Lohn des deut-
schen Landarbeiters unterworfen sind. Zunächst müssen wir bemerken, daß der Mensch
nicht allein von und für seinen Arbeitsertrag lebt, daß dieser nicht allein entscheidend
bei der Frage der Auswanderung ist. Die staatlichen und bürgerlichen Verhältnisse des
Landes, das der Auswanderer verläßt, und des Landes, das er aufsucht, greifen oft stark
und bestimmend ein; mancher Mann begnügt sich zu Hause mit einem geringeren Arbeits-
ertrag und erblickt den Ausgleich im Besitz des Lorbeerkranzes, den er als Kaninchen-
züchter davongetragen hat, oder im Gesang der Buchfinken, der nach seiner Meinung
nirgends so schön sein kann wie in seiner Heimat. Aber gerade diese (und viele andere)
anziehenden oder auch abstoßenden Kräfte unterliegen einem ständigen Wandel, fördern
oder hemmen die Auswanderung. Von Rußland z. B. wandern viele deutsche Bauern
wieder aus, nicht in der Hoffnung eines höheren Arbeitsertrages, sondern weil ihnen die
Zustände nicht mehr ganz zusagen. Das alles hemmt den Ausgleich zwischen dem rein
sachlichen Arbeitsertrag des Auswanderers und dem des zurückbleibenden Landarbeiters.
Nehmen wir einmal an, wir beschlössen, in Deutschland den Arbeitern das Leben freund-
licher zu gestalten, wozu uns z. B. das Verbot von Rauschgetränken die Mittel liefern
würde. Abgesehen davon, daß das Alkoholverbot an sich schon das Leben der Arbeiter
und namentlich das ihrer Frauen verschönern würde, könnten wir die Milliarden, die die
Rauschgetränke dem Volke unmittelbar und namentlich mittelbar kosten, für einen kräf-
tigen Mutterschutz in Form einer monatlichen Reichszulage zu den Aufzuchtkosten jedes
Kindes verwenden. Oder auch für bessere Schulen, zahlreiche öffentliche Lesehallen,
Theaterbeihilfen, Kirchenbauten, staatliche Freikonditoreien, Volksfeste, Versammlungs-
hallen usw. Dann würde bei der Frage der Auswanderung nicht mehr allein der stoffliche
Arbeitsertrag erwogen werden, und viele Frauen würden ihre Männer zum Bleiben ver-
anlassen, viele bereits Ausgewanderte würden zurückkehren. Welche Folgen das aber
wieder auf den Lohn und auf die Grundrente haben würde, ist klar. Der Grundbesitz
würde seine Forderungen so weit erhöhen, bis die aus dem Alkoholverbot erwachsenden
Auswanderungshemmungen ausgeglichen wären. Der Kuchen, den der Staat den Frauen
in den Freikonditoreien zum besten gibt, würde von der Grundrente den Männern am
Lohne abgezogen werden.

Die Grundrente nimmt eben alle Vorteile, die Deutschland für die Arbeit, für das
geistige und gesellige Leben bietet, für sich in Anspruch, sie ist die in Kapital verwandelte
Dichtung, Kunst, Religion und Wissenschaft. Sie macht alles zu barem Gelde, den Kölner
Dom, die Bächlein der Eifel, das Gezwitscher der Vögel im Laube der Buchen. Die Grund-
rente erhebt von Thomas a Kempis, von den Reliquien Kevelaars, von Goethe und Schiller,
von der Unbestechlichkeit unserer Beamten, von unseren Zukunftsträumen, kurz, von
allem und jedem eine Steuer, die sie regelmäßig bis auf den Punkt hinaufschraubt, wo sich
der Arbeiter fragt: soll ich bleiben und zahlen - oder soll ich auswandern und alles
preisgeben? Geschenkt wird niemandem etwas. Stets befindet sich das arbeitende Volk
auf dem Goldpunkt. (Im Außenhandel derjenige Zustand in der Zahlungsbilanz, wo man
nicht weiß, ob man noch mit Wechseln oder mit barem Gold zahlen soll. Die Kosten der
Goldausfuhr sind die "Grundrenten" des Wechselmaklers). Je mehr Freude der Bürger
am Staat und Volk hat, um so höheren Preis fordert die Grundrente für diese Freude. Die
Abschiedstränen des Auswanderers sind goldene Perlen für die Grundrente. Und so
sehen wir auch oft die Grundbesitzer in den Städten damit beschäftigt, durch Verschö-
nerungsvereine und sonstige Veranstaltungen das Leben in der Stadt zu erheitern, um
erstens den Abschied schwerer, zweitens den Zuzug leichter zu machen. So können sie von
den Bauplätzen höhere Grundrenten erheben. Im Heimweh steckt die Pfahlwurzel der
Grundrente.

Lebt der deutsche Landarbeiter nicht allein von Brot, so natürlich auch der Freiländer
nicht. Der stoffliche Arbeitsertrag ist nur ein Teil von dem, was der Mensch zur Lebens-
freude braucht. Mußte der Auswanderer lange kämpfen, ehe er die heimatlichen An-
ziehungskräfte überwunden hatte, so findet er nun in seiner neuen Heimat manches Neue,
was ihn anzieht oder auch abstößt. Das Anziehende mehrt die Gründe, die ihm den
Arbeitsertrag als genügend erscheinen lassen (ähnlich wie man auch bereit ist, eine an-
genehmere Arbeit für geringeren Lohn zu verrichten), das Abstoßende mindert sie.
Wiegen die abstoßenden Umstände (Klima, Unsicherheit des Lebens und des Eigentums,
Ungeziefer usw.) schwerer als die anziehenden, so muß der Unterschied zwischen beiden
durch einen entsprechend größeren Arbeitsertrag ausgeglichen werden, falls der Ein-
gewanderte bleiben und seine zurückgebliebenen Brüder zur Nachahmung seines Bei-
spiels aufmuntern soll. Darum wird alles, was das Leben, die Zufriedenheit des Frei-
länders beeinflußt, auch unmittelbar die Zufriedenheit der deutschen Arbeiter beein-
flussen und auf ihre Lohnforderungen einwirken. Dieser Einfluß beginnt schon mit der
Reisebeschreibung. Verlief die Reise ohne Seekrankheit, war das Leben, die Kost an Bord
erträglich, so wirkt das schon sehr aufmunternd auf die Zurückgebliebenen. Berichtet der
Freiländer von der großen Freiheit, die er genießt, von der Jagd, von seinem Reitpferd,
von den großen Lachszügen und Büffelherden, von dem Verfügungsrecht über alles,
was die Natur bietet, auch wie er überall nicht mehr als Knecht und Besitzloser, sondern
als ebenbürtiger, freier Bürger angesehen und behandelt wird, so wird der Knecht zu
Hause ganz selbstverständlich bei den Lohnverhandlungen den Kopf höher halten, als
wenn sein Bruder nur von Indianereinfällen, von Klapperschlangen, von Ungeziefer und
harter Arbeit zu erzählen weiß.

Das wissen auch die Grundherren, und läuft einmal solch ein Jammerbrief ein, so wird
er natürlich nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet. In allen Blättern wird er ver-
öffentlicht, während den Zeitungen unter Anwendung von Drohmitteln Auftrag gegeben
wird, erfreuliche, aufmunternde Berichte der Ausgewanderten mit größtem Fleiß tot-
zuschweigen. Derselbe Verein, der die Heimat verschönern, ihre Anziehungskraft stärken
soll, hat auch die Aufgabe, das Freiland nach Möglichkeit herabzusetzen. Jeder Schlangen-
biß, Indianerskalp, Heuschreckenschwarm, jedes Schiffsunglück verwandelt sich, indem
dadurch der Arbeiter bescheidener gemacht, die Auswanderungslust vermindert wird,
in Grundrente, in Bargeld für die Grundherren. Und umgekehrt natürlich.


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Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig.
Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.