Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht


1.2. Was ist der volle Arbeitsertrag?

Als Arbeiter im Sinne dieser Abhandlung gilt jeder, der vom Ertrag seiner Arbeit
lebt. Bauern, Handwerker, Lohnarbeiter, Künstler, Geistliche, Soldaten, Offiziere,
Könige sind Arbeiter in unserem Sinne. Einen Gegensatz zu all diesen Arbeitern bilden
in unserer Volkswirtschaft einzig und allein die Rentner, denn ihr Einkommen fließt
ihnen vollkommen unabhängig von jeder Arbeit zu.

Wir unterscheiden: Arbeitserzeugnis, Arbeitserlös, und Arbeitsertrag. Das Arbeits-
erzeugnis ist das, was aus der Arbeit hervorgeht. Der Arbeitserlös ist das Geld, das der
Verkauf des Arbeitserzeugnisses oder der Lohnvertrag einbringt. Der Arbeitsertrag ist
das, was man mit dem Arbeitserlös kaufen und an den Ort des Verbrauchs schaffen kann.

Die Bezeichnungen: Lohn, Honorar, Gehalt an Stelle von Arbeitserlös wendet man
an, wenn das Arbeitserzeugnis nicht gegenständlicher Natur ist, wie etwa das Straßen-
kehren, das Dichten, das Regieren. Ist das Arbeitserzeugnis greifbar, wie ein Stuhl, und
zugleich Eigentum des Arbeiters, so spricht man nicht mehr von Lohn und Honorar,
sondern vom Preis des verkauften Stuhles. Bei all diesen Bezeichnungen handelt es sich
immer um dasselbe Ding, um den Gelderlös der verrichteten Arbeit.

Der Unternehmergewinn und der Handelsprofit sind, sofern man die in ihnen meistens
enthaltenen Kapitalzinsen oder Grundrenten in Abzug bringt, ebenfalls als Arbeitserlös
anzusprechen. Der Direktor einer Bergwerks-Aktiengesellschaft bezieht sein Gehalt aus-
schließlich für die von ihm geleistete Arbeit. Ist der Direktor gleichzeitig Aktionär, so
erhöhen sich seine Einnahmen um den Betrag der Dividenden. Er ist dann Arbeiter und
Rentner in einer Person. Meistens besteht das Einkommen der Bauern, Kaufleute und
Unternehmer aus Arbeitserlös und Renten (bzw. Zinsen). Ein Bauer, der mit geliehenem
Kapital auf gepachtetem Boden arbeitet, lebt ausschließlich vom Ertrag seiner Arbeit.
Was nach Zahlung von Pachten und Zinsen vom Arbeitserzeugnis übrigbleibt, ist auf
seine Tätigkeit zurückzuführen und unterliegt den allgemeinen Gesetzen, die den Lohn
bestimmen.

Zwischen dem Arbeitserzeugnis (oder der Leistung) und dem Arbeitsertrag liegen die
verschiedenen Handelsverträge, die wir täglich beim Einkauf der Waren abschließen.
Von diesen Verträgen wird der Arbeitsertrag stark beeinflußt. Täglich kommt es vor, daß
Leute, die die gleichen Arbeitserzeugnisse zu Markt führen, dennoch ungleich große
Arbeitserträge heimbringen. Das liegt daran, daß diese Leute als Arbeiter wohl gleich-
wertig sind, nicht aber als Händler. Die einen verstehen es besser, ihre Erzeugnisse zu
guten Preisen zu verkaufen und beim Einkauf der Bedarfsgegenstände die Spreu von den
Körnern zu sondern. Bei den für den Markt verfertigten Waren gehören der Tausch, der
Handel und die hierfür nötigen Kenntnisse genau so zum Erfolg der Arbeit (Arbeits-
ertrag) wie die technischen Kunstgriffe. Der Tausch des Erzeugnisses ist als Schluß-
handlung der Arbeit zu betrachten. Insofern ist jeder Arbeiter auch Händler.

Hätten die Gegenstände des Arbeitserzeugnisses und des Arbeitsertrages eine gemein-
same Eigenschaft, mit der sie sich vergleichen und messen ließen, so könnte der Handel,
der das Arbeitserzeugnis in Arbeitsertrag verwandeln soll, wegfallen. Sofern man dann
nur richtig messen, zählen oder wägen würde, müßte der Arbeitsertrag immer ohne
weiteres gleich dem Arbeitserzeugnis sein (abzüglich Zins oder Rente), und den Beweis,
daß eine Übervorteilung nicht stattgefunden hat, könnte man unmittelbar an den Gegen-
ständen des Arbeitsertrages liefern, genau wie man zu Hause auf der Waage nachwägen
kann, ob die Waage des Apothekers richtig wiegt oder nicht. Solche gemeinsame Eigen-
schaft fehlt jedoch den Waren. Stets wird der Tausch durch den Handel bewerkstelligt,
niemals durch den Gebrauch irgendeines Maßes. Auch der Gebrauch des Geldes ent-
hebt uns nicht der Notwendigkeit, den Tausch durch den Handel zu vollziehen. Der
Ausdruck "Wertmesser", den man noch manchmal in rückständigen volkswirtschaft-
lichen Schriften auf das Geld anwendet, ist irreführend. Keine einzige Eigenschaft eines
Kanarienvogels, einer Pille, eines Apfels läßt sich mit einem Geldstück messen.

Darum müssen wir es aber als eine Unmöglichkeit bezeichnen, mit einem unmittel-
baren Vergleich zwischen Arbeitserzeugnis und Arbeitsertrag eine Klage auf Grund des
Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag rechtlich zu begründen. Das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag, sofern darunter das Recht des einzelnen auf seinen vollen Arbeitsertrag
gemeint ist, müssen wir sogar geradezu als Hirngespinst bezeichnen.

Ganz anders verhalten sich jedoch die Dinge in bezug auf den gemeinsamen vollen Arbeits-
ertrag. Dieser verlangt nur, daß die Arbeitserzeugnisse restlos unter die Arbeiter verteilt
werden. Es dürfen keine Arbeitserzeugnisse an Rentner für Zinsen und Renten abgegeben
werden. Das ist die einzige Bedingung, die die Verwirklichung des Rechtes auf den gemein-
samen, vollen Arbeitsertrag stellt.

Das Recht auf den gemeinsamen, vollen Arbeitsertrag verlangt von uns nicht, daß wir
uns noch um den Arbeitsertrag des einzelnen Arbeiters kümmern. Was der eine Arbeiter
heute weniger erhält, empfängt der andere mehr. Die Verteilung unter die Arbeiter
geschieht nach wie vor nach den Gesetzen des Wettbewerbs, in der Regel so, daß der
Wettbewerb um so schärfer, der persönliche Arbeitsertrag um so geringer ist, je leichter
und einfacher die Arbeit ist. Diejenigen Arbeiter, die die höchste Umsicht bei der Arbeit
brauchen, sind dem Wettbewerb der Massen am wirksamsten entzogen und können
darum für ihre Leistungen die höchsten Preise erzielen. Manchmal ersetzt auch einfach
körperliche Veranlagung (bei Sängern z. B.) den Scharfsinn bei der Ausschaltung des
Massenwettbewerbs. Wohl dem, der bei seinen Leistungen den Wettbewerb der anderen
nicht zu fürchten braucht.

Die Verwirklichung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag kommt allen Einzel-
arbeitserträgnissen in einem gleichmäßigen, nach Prozenten bestimmten Aufschlag auf
die heutigen Arbeitserträgnisse zustatten. Die Arbeitserträge werden vielleicht verdoppelt,
aber nicht geebnet. Das Gleichmachen der Arbeitserträgnisse ist Sache der Kommunisten.
Hier aber handelt es sich um das Recht auf den vollen, durch den Wettbewerb, den
Wettkampf zugemessenen Arbeitsertrag. Zwar werden als Nebenwirkung der Neuerun-
gen, die das Recht auf den gemeinsamen vollen Arbeitsertrag verwirklichen sollen, die
heutigen, oft ungeheuren Unterschiede in den Einzelarbeitserträgnissen, namentlich im
Handel, auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden, doch handelt es sich hier nur
um eine Nebenwirkung. Zu dem Rechte, das wir verwirklichen wollen, gehört aber
solches Gleichmachen, wie gesagt, nicht. Demnach werden fleißige, tüchtige, umsichtige
Arbeiter einen ihrer größeren Arbeitsleistung genau entsprechend größeren Arbeits-
ertrag heimbringen. Dazu kommt die allgemeine Hebung des Lohnes durch den Fort-
fall des arbeitlosen Einkommens.

Übersicht über das bisher Gesagte :


Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
Zum Gästebuch
Zur Ursprungsseite