Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage; August 1949;
Herausgeber: Karl Walker
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1.14. Einfluß des Kapitalzinses auf Lohn und Rente

Der Ansiedler auf Freiland muß, wenn er sich Rechenschaft gibt, sein Betriebskapital
verzinsen. Und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dieses Kapital sein Eigentum ist, oder ob
er es vom Kapitalisten geborgt hat; den Zins muß er vom Ertrag seiner Arbeit trennen -
der Zins hat mit der Arbeit nichts zu tun, er unterliegt ganz anderen Gesetzen.

Diese Trennung des Kapitalzinses vom Ertrag seiner Arbeit und von der Grundrente
muß aber auch der grundbesitzende Landwirt vornehmen - wie wir das übrigens in den
beiden Rechnungen im vorigen Abschnitt getan haben.

Wenn nun sowohl die Ansiedler auf Freiland wie auch die Pachtlandbauern den gleichen
Zinsfuß für das benötigte Kapital zu zahlen haben, so könnte man annehmen, daß die
Grundrente in keinem Zusammenhange mit dem Zinsfuß stehe. Doch ist das ein Irrtum.
Mit Arbeit und dem, was dazu gehört, kann man beliebig viel neues Land schaffen, oft
sogar in der nächsten Nähe der Städte. Und je niedriger der Zinsfuß, um so leichter wird es
sein, wüste Strecken urbar zu machen. Der Unternehmer verlangt von dem urbar ge-
machten Boden nur so viel Zins, wie ein mit gleichem Kapitalaufwand gekaufter Acker
an Rente abwirft. Wenn beim Freiland 1 und 2 die Frachtausgaben zuweilen den größten
Teil des Arbeitserzeugnisses verschlingen, so wird bei Urbarmachung von Ödland der Zins
die erwartete Rente des Bodens beanspruchen. Handelt es sich z. B. um die kürzlich be-
schlossene Trockenlegung der Zuidersee, um die Entsumpfung der Moore, um das Aus-
roden von Urwäldern, um die Berieselung von Wüsten, um das Abtragen und Sprengen
von Felsen, so wird man zuerst fragen, wieviel Zins die Kapitalaufwendung verschlingen
wird, und dann wird man diese Summe vergleichen mit dem, was man für gleichen
Boden an Pacht zahlen muß. Steht nun der Zinsfuß hoch, so wird der Vergleich ungünstig
ausfallen, und man wird das Moor unberührt lassen; steht der Zinsfuß dagegen niedrig,
so wird das Unternehmen gewinnbringend. Fiele nun der Zinsfuß von 4 auf 1 % z. B.,
so würden sogleich eine Menge von Bodenverbesserungen einträglich, die man heute nicht
unternehmen kann.

Zu 1% würde es sich lohnen, das Nilwasser nach Arabien abzulenken, die Ostsee abzu-
deichen und auszupumpen, die Lüneburger Heide für Kakao und Pfeffer unter Glas zu
legen. Zu 1 % kann der Bauer auch daran denken, Obstgärten anzulegen. Heute kann er es
nicht, denn dazu müßte er in Erwartung künftiger Ernten das nicht unbedeutende Anlage-
kapital 5-10 Jahre mit 5% verzinsen. Kurz, zu 1 % Zins würde alles Ödland, würden die
großen Wasserflächen mit Gewinn in gepflegten Boden verwandelt werden können. (Diese
Einzelheiten sind selbstredend nicht wörtlich aufzufassen.)

Ein Sinken des Zinsfußes würde aber nicht allein die Anbaufläche vergrößern, sondern
es auch ermöglichen, von der bereits vorhandenen Ackerfläche durch ausgedehnteren
Gebrauch der Maschinen, durch Anlage von Wegen, Ersatz der Hecken durch Zäune,
Anlage von Pumpstationen für Bewässerung trockener Wiesen, Tiefgraben des Bodens,
Anlage von Obstgärten, Frostschutzvorrichtungen und tausend andere Verbesserungen
dem Boden doppelte und dreifache Erträge abzugewinnen, wodurch wiederum eine ent-
sprechende Verringerung der Anbaufläche notwendig würde und das für die Rente so
gefährliche Freiland auf Schußweite herangerückt käme.

Die Herabsetzung des Zinses würde auch bewirken, daß die für die Beförderung des
Weizens aus dem Auslande nötigen Anlagen (Häfen, Kanäle, Seeschiffe, Eisenbahnen,
Getreidespeicher) entsprechend niedrigere Gebühren einführen könnten, und daß dann
auch wieder die Frachtkosten für die Erzeugnisse des Freilandes sinken würden. Und
jede Mark, die hier gespart wird, reißt eine gleich große Lücke in die Grundrente. Die
Zinsen des in den Fördermitteln angelegten Geldes bilden aber einen sehr bedeutenden
Teil der Frachtkosten, und zwar verhielten sich bei den europäischen Eisenbahnen bei einer
durchschnittlichen Verzinsung von 3,8% die eigentlichen Frachtkosten im Jahre 1888
(Unterhaltung der Bahn, Beamten, Kohlen usw.) zu den Zinsen wie 135 zu 115. Die Zinsen
(115) erreichen also fast die Höhe der Betriebskosten (135), so daß eine Herabsetzung des
Zinsfußes von 4 auf 3% eine Herabsetzung der Frachtsätze um fast 1/8 gestatten würde.

Betriebskosten gleich 4, die Kapitalzinsen gleich 4, Frachtsatz = 8
" " 4, " " " 3, " = 7
" " 4, " " " 2, " = 6
" " 4, " " " 1, " = 5
" " 4, " " " 0, " = 4

d. h. bei 0 Zins würden die Bahnfrachten um die Hälfte herabgesetzt werden können.
Bei den Seefrachten ist das Verhältnis der Betriebskosten zu den Kapitalzinsen nicht das
gleiche; immerhin spielt auch hier der Kapitalzins eine bedeutende Rolle. Die Schiffe,
das Betriebskapital, die Hafenanlagen, die Kanäle (Panama, Suez), die Kohlenbahnen
und Grubeneinrichtungen usw., alles verlangt den regelrechten Zins, und dieser Zins be-
lastet die Frachten, belastet den Arbeitsertrag des Freiländers 1 und 2, der für den Lohn
und die Rente von ausschlaggebender Bedeutung ist.

Ein Senken oder gar ein völliges Beseitigen des Zinses würde also die Frachtkosten
um die Hälfte herabsetzen, und dadurch wieder würde die Grenze des Freilandes wirt-
schaftlich um 50% näher gerückt, der Wettbewerb des ausländischen Getreides ent-
sprechend verschärft werden.

Wo bliebe aber dann wieder die Grundrente, wenn auf diese Weise die Ackerfläche über
den Bedarf hinaus ganz in der Nähe vervielfältigt würde; wenn das den Lohn bestimmende
Freiland beliebig vermehrt werden könnte, und zwar ganz in der Nähe, wo also die Span-
nung zwischen Arbeitserzeugnis des Freiländers und seinem Arbeitsertrag infolge der ge-
sparten Frachtkosten immer geringer wird? Warum dann noch weit nach Kanada, nach
Manitoba ziehen, warum von dort mit großen Frachtkosten das Getreide nach Holland
verfrachten, wenn man Getreide auf dem Boden der heutigen Zuidersee bauen kann?
Wenn der Zinsfuß auf 3, 2, 1 und 0 % sinkt, können alle Länder ihre heutige Bevölkerung
mit Brot versehen. Die Landsparbebauung findet nur im Zins eine Grenze. Der Boden
wird um so dichter bebaut werden können, je mehr der Zins fällt.

Man sieht hier die innige Verbindung, die zwischen Zins und Rente besteht. Solange
Ödland, Wasserflächen, Wüsten vorhanden sind, die urbar gemacht werden können, solange
überhaupt der Boden durch Neuerungen verbessert werden kann, ist hoher Zins nicht nur
das Ziel des Kapitalisten, sondern auch das Bollwerk der Grundrentner. Fällt der Zins
ganz, so verschwindet zwar die Grundrente nicht ganz, aber es wäre der härteste Schlag,
der sie treffen könnte. (2)


(1) Ein wirklich "eherner" Lohn schwankt nicht.

(2) Bei der Baugrundrente wirkt der Zinsrückgang nach entgegengesetzten Richtungen.
Weil der Zins des Baukapitals die Mieter ungleich schwerer belastet als die Grundrente
(auf dem Lande und in kleinen Städten beträgt der auf die Grundrente entfallende Be-
standteil der Mieten oft nicht 5 %, während der Kapitalzins hier 90 % der Mieten bean-
sprucht) würde der Rückgang des Kapitalzinses auf 1% oder 0 eine gewaltige Verbilligung
der Mieten bedeuten, was natürlich sehr stark auf den Raumbedarf der einzelnen Familien
zurückwirken würde. Die Masse des Volkes, die sich heute infolge der durch den Zins
hochgetriebenen Mieten mit ganz ungenügenden Räumen behilft, würde größere Wohnun-
gen verlangen und dafür zahlen können. Größere Wohnungen beanspruchen aber größere
Bauflächen - und treiben die Grundrente aufwärts. Anderseits würde der Rückgang des
Zinsfußes die Fahrpreise der Stadtbahnen ermäßigen und so, den Verkehr mehr nach
außen lenkend, der städtischen Grundrente entgegenwirken.


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Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig.
Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.