Kapitel aus Silvio Gesell: Die Natürliche Wirtschaftsordnung
Rudolf Zitzmann Verlag; Lauf bei Nürnberg; 9. Auflage August 1949;
Herausgeber: Karl Walker

Inhaltsübersicht


1.1. Ziel und Weg

Wie schon in der Einleitung gesagt, ist Beseitigung des arbeitlosen Einkommens, des
sogenannten Mehrwertes, auch Zins und Rente genannt, das unmittelbare wirtschaftliche
Ziel aller sozialistischen Bestrebungen. Zur Erreichnng dieses Zieles wird allgemein die
Verstaatlichung der gesamten Gütererzeugung mit allen ihren Folgerungen verlangt und
als unerläßlich erklärt.

Diese allgemeine Forderung der Besitzlosen wird durch die wissenschaftlichen Unter-
suchungen gestützt, die Marx über die Natur des Kapitals angestellt hat, wonach der
Mehrwert als eine untrennbare Begleiterscheinung der Privatindustrie und des Privat-
eigentums an den Erzeugungsmitteln anzusehen ist.

Hier wird nun gezeigt werden, daß diese Lehre von falschen Voraussetzungen ausgeht
und daß ihre Richtigstellung zu vollkommen entgegengesetzten Ergebnissen führt. Diese
Ergebnisse lehren uns, daß wir im Kapital kein Sachgut zu erblicken haben, sondern
ein von Nachfrage und Angebot unbeschränkt beherrschtes Marktverhältnis - wie das
übrigens der Sozialist Proudhon, der Gegner Marx', schon vor 50 Jahren den Arbeitern gesagt
und bewiesen hatte.

In völliger Übereinstimmung mit dieser Richtigstellung der Kapitallehre zeigt sich
dann, daß, wenn wir gewisse künstliche Hemmungen beseitigen, die von unserem ver-
kehrten Bodenrecht und unserem ebenso verkehrten Geldwesen herrühren, und wir da-
durch erst unserer heutigen Wirtschaftsordnung zur vollen Entfaltung ihres urgesunden
Grundgedankens verhelfen, die Arbeiter es ganz in der Hand haben, durch ihre Arbeit
die Marktverhältnisse in kürzester Zeit (10 - 20 Jahre) für das Kapital so zu gestalten,
daß der Mehrwert restlos verschwindet und die Produktionsmittel die Kapitaleigenschaft ein-
büßen. Das Privateigentum an den Arbeitsmitteln bietet dann keinen anderen Vorteil
mehr als den, den etwa der Besitzer einer Sparbüchse von seinem Eigentum hat. Diese
wirft ihm auch keinen Mehrwert oder Zins ab, doch kann er den Inhalt nach und nach
aufzehren. Die dann in den Arbeitsmitteln angelegten Ersparnisse oder sonstigen Gelder
würden den Eigentümern nach Maßgabe der mit dem natürlichen Zerfall oder Verbrauch
des Produktionsmittels (Haus, Schiff, Fabrik) schritthaltenden jährlichen Abschreibung
zum persönlichen Verbrauch zur Verfügung stehen. Durch weiter nichts als durch un-
gehemmte, fleißige, von den neuzeitlichen Produktionsmitteln unterstützte Arbeit würde
der große Wau-Wau, das angestaunte und gefürchtete Kapital zur harmlosen Rolle ver-
urteilt werden, die die tönerne Sparbüchse heute bei den Kindern spielt, die auch noch
nie Mehrwert abgeworfen hat, und zu deren Inhalt man gelangt, indem man sie zerschlägt.

In diesem 1. und 2. Teil, die vom Boden handeln, wird gezeigt, wie man ohne Kom-
munismus mehrwertfreie Landwirtschaft und ebensolche Bau- und Bergwerksindustrie
betreiben kann. Im weiteren Teil, der die neue Theorie des Kapitals enthält, wird das
Rätsel gelöst, wie man ohne Verstaatlichung der übrigen Produktionsmittel den Mehr-
wert vollends aus unserer Wirtschaftsordnung beseitigen, das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag schaffen kann.


Dieser Text wurde im Juli 1997 ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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