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Fragen der Freiheit, Heft 245

ISSN 0015-928 X

Dezember 1997

Seite 3 – 18

 

 

 

Henry George - ein Sozialreformer des Gedankens und der Tat

 

Werner Onken

 

 

Vor 100 Jahren, am 29. Oktober 1897, starb in New York der nordamerikanische Sozialphilosoph und Bodenreformer Henry George. Hohe Auflagen seiner Bücher »Fortschritt und Armut« sowie »Schutzzoll oder Freihandel« hatten ihn damals berühmt gemacht. Dennoch geriet Henry George wieder in Vergessenheit. Die sozialen Probleme zu deren Lösung er beitragen wollte, bestehen jedoch auch heute noch fort und haben sich sogar verschärft. Deshalb soll der 100. Todestag von Henry George ein Anlaß sein, sich an ihn zu erinnern und wahrzunehmen, was er uns auch heute noch zu sagen hat.

 

 

 

Biographisches

 

Henry George wurde am 2. September 1839 in Philadelphia geboren. Sein Vater war dort Beamter bei der Zollverwaltung; zeitweise war er auch Buchhändler und Verleger für die Episcopal Church. Als zweites von 10 Kindern wuchs Henry George in bescheidenen Verhältnissen auf und erhielt zwar eine spirituelle Erziehung. aber keine umfassende Schulbildung. Als 16jähriger ging er als Schiffsjunge nach Australien und Indien. Etwas mehr als ein Jahr später begann er in Philadelphia eine Druckerlehre und knüpfte damit an die Tätigkeit seines Vaters an. Der Umgang mit Büchern - fremden wie später auch eigenen - sollte zu seinem zentralen Lebensinhalt werden. Unterbrochen wurde dieser Weg nur noch dadurch, daß Henry George sich mit 18 Jahren in Kalifornien als Goldgräber versuchte. Der legendäre Goldrausch war zu dieser Zeit jedoch schon vorüber, so daß sich der Traum vom großen Reichtum nicht mehr erfüllen ließ. Sodann ging Henry George nach San Francisco, heiratete und ernährte seine Familie ähnlich wie der französische Sozialreformer Pierre Joseph Proudhon mit bescheidenen Einkünften aus seinen Tätigkeiten als Schriftsetzer und Journalist. Seine in autodidaktischen Studien herangereiften Fähigkeiten bahnten ihm dann bald den Weg zum Redakteur und sogar zum Chefredakteur der »San Francisco Times«. 1867 übernahm er die Leitung des »Herald« und 1872 der »Evening Post« in San Francisco. Schließlich wurde Henry George Redakteur bei der Arbeiterzeitung »The Standard«.

 

Mit großem Interesse verfolgte er die soziale Entwicklung der amerikanischen Westküstenstaaten, welche nach seiner Ansicht innerhalb weniger Jahre alle jene Stadien durchlief, für die die Alte Welt und die Ostküstenstaaten Jahrzehnte oder noch länger gebraucht hatten. Am Anfang die Freiheit und der Reichtum der Pioniere, dann der Zustrom immer größerer Menschenmassen in das damals noch freie Land und schließlich die Beschlagnahme des Bodens durch eine skrupellose Minderheit von Spekulanten und Eisenbahngesellschaften, welche der Mehrheit der Bevölkerung den Zugang zum Boden versperrte und sie der Not überließ.

 

Ein Schlüsselerlebnis war für Henry George ein Besuch in New York während der 1860er Jahre. Für ihn als guten amerikanischen Patrioten war diese Stadt immer ein Sinnbild der modernen Zivilisation gewesen. Hier müßten die segensreichen Wirkungen des Fortschritts am deutlichsten zu sehen sein. In New York sah George auch tatsächlich viel modernen Wohlstand; aber inmitten eines unvorstellbaren Luxus gab es ebenso unvorstellbare Armut. Beides auf engem Raum benachbart, das war für ihn ein unlösbarer Widerspruch. Ohne nähere Kenntnis von sozialkritischen Denkweisen, d. h. auch völlig unbeeinflußt und unvoreingenommen, machte er sich auf die Suche nach den Ursachen dieser sozialen Mißstände. Dabei »...bin ich«, so George über sich selbst, »der Bahn meines eigenen Denkens gefolgt. Als ich mich im Geiste daran machte, hatte ich keine Theorie als Stütze, keine logischen Folgerungen als Beweis. Es war nur so, daß das grauenhafte Elend einer Großstadt, als ich es zum ersten Male sah, mich tief beeindruckte. Es erschreckte und quälte mich und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich mußte immer darüber nachdenken, welches die Ursache sei und wie es geheilt werden könne (1).« 1869 sei ihm »wie eine Erleuchtung« (2) die entscheidende Einsicht gekommen: Die sozialen Übelstände treten dann auf; wenn eine eigensüchtige Minderheit den Boden und die Schätze der Natur monopolisiert, weil eigentlich alle Menschen von der Erde genommen und wieder zu Erde werden und weil deshalb alle Menschen ein gleiches natürliches Recht auf den Zugang zur Erde haben müßten. Den Boden und die Rohstoffe betrachtete Henry George als Gaben der Natur an alle Menschen; weil sie nicht durch menschliche Arbeit erzeugt oder vermehrt werden können, dürften auf sie von Minderheiten keine Sonderansprüche erhoben werden.

 

Zehn Jahre lang arbeitete Henry George an seiner Begründung für diesen Grundgedanken und an seinem Vorschlag zur Verwirklichung eines allgemeinen Rechts auf den Boden und seine Schätze, bis 1879 sein erfolgreichstes Werk »Fortschritt und Armut« erschien, von dem Vernon Louis Parrington später sagte, es habe für Tausende von Amerikanern die ökonomische Theorie aus dem akademischen Elfenbeinturm herausgeholt und ins Zentrum politischer Konflikte gestellt (3). Zunächst lehnten amerikanische Verleger das Buch jedoch ab, so daß George die ersten 500 Exemplare im Selbstverlag herausbringen und dabei auch noch sein eigener Schriftsetzer sein mußte. Dann gelang einem Verleger innerhalb von vier Jahren mit einem Absatz von mehreren hunderttausend Exemplaren doch der Durchbruch des Buches, das schon bald in 15 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten noch die Bücher »Die irische Bodenfrage« (1881), »Die sozialen Probleme« (1884), »Schutzzoll oder Freihandel« (1886) und zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften. Auf die Enzyklika »Rerum novarum« von Papst Leo XIII. reagierte Henry George mit einem Buch »Die Erlösung aus sozialer Not«, um der päpstlichen Rechtfertigung des privaten Bodeneigentums zu widersprechen. Es war als offener Brief an den Papst gerichtet. (1893) Im selben Jahr erschien »Ein verwirrter Philosoph« mit einer Kritik an Herbert Spencer und einer philosophischen Grundlegung der Bodenfrage. Posthum folgten »Die wissenschaftliche Grundlegung der Volkswirtschaftslehre« und eine zehnbändige Gesamtausgabe der Werke von Henry George. (1898‑1901; dt. Ausgabe 1906‑1911)

 

In New York, wohin Henry George 1881 verzogen war, war er 1886 Kandidat der Arbeiterorganisationen für die Wahl des Bürgermeisters. Wahlsieger wurde jedoch ein Kandidat der demokratischen Partei. Immerhin erhielt George mehr Stimmen als der Republikaner Theodore Roosevelt, der später amerikanischer Präsident wurde. 1897 stellten die Arbeiterorganisationen ihn nochmals als Kandidat für das Amt des New Yorker Bürgermeisters auf. Den Warnungen seines Arztes zum Trotz nahm er die Strapazen des Wahlkampfes auf sich, weil es ihn selbst zur Tat drängte und weil er auch von den Arbeitern dazu gedrängt wurde. Vier Tage vor der Wahl, am 29. Oktober 1897, ereilte ihn schließlich ein Schlaganfall, nachdem er am Tag zuvor seine letzten Kräfte in mehreren Versammlungen verausgabt hatte. Mehrere hunderttausend Menschen folgten seinem Sarg durch die Straßen von New York (4).

 

 

 

 

Ideengeschichtliche Wurzeln und ordnungspolitische Grundzüge von Henry Georges Sozialreform

 

Ein Versammlungsleiter stellte Henry George einmal als »großen Freund der Arbeiter« vor, worauf George einschränkend sagte: »Ich habe nie beansprucht, ein Sonderfreund der Arbeiter zu sein. Laßt uns aufhören, Sondervorrechte für die Arbeiter zu fordern. Die Arbeiter brauchen sie nicht. Das, wonach ich strebe, ist: „Gleiches Recht für alle“ (5).« Henry George wollte nicht Gruppeninteressen in einer in Klassen zerfallenen Gesellschaft vertreten, sondern er hatte noch die Hoffnung der amerikanischen Gründerzeit auf eine bürgerliche Gesellschaft der Freien und Gleichen, die durch einen monopolfreien Wettbewerb und eine solidarische Kooperation miteinander verbunden sind. Sein Denken speiste sich aus zwei großen Quellen: 1. aus der Idee der gleichen Gottebenbildlichkeit aller Menschen, die in den jüdischen und christlichen Religionen überliefert war, und 2. aus der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte aller Individuen, die aus der europäischen Philosophie des Humanismus und der Aufklärung hervorgegangen und in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eigenständig weitergedacht worden war.

 

Warum - so fragte sich Henry George - entstand nach den Revolutionen in Europa und Nordamerika keine bürgerliche Gesellschaft der solidarisch verbundenen Freien und Gleichen? Warum blieben soziale Hierarchien von Herrschern und Beherrschten in veränderter Form bestehen? Warum öffnete sich diese abgrundtiefe Kluft zwischen Reichtum und Armut, obwohl doch der technische Fortschritt Möglichkeiten zur Produktion von Gütern in einer noch nie dagewesenen Fülle schuf, die eigentlich ausreichen müßte, alle Menschen auf den Weg aus der Unmündigkeit und Unselbständigkeit hin zur gleichen Freiheit, Eigenverantwortung und Selbständigkeit zu bringen?

 

Anders als der Engländer Robert Malthus dachte Henry George nicht, daß eine zu schnell wachsende (Welt-) Bevölkerung die Ursache von Armut und Hunger sein könnte. Gerade in Anbetracht des technischen Fortschritts und der industriellen Revolution glaubte er auch nicht, daß die Menschen unfähig seien, in einem für alle ausreichenden Umfang materielle Güter herzustellen. Gott habe den Menschen reichlich Fähigkeiten und Naturschätze mit auf den Weg gegeben, damit alle seine Geschöpfe ein gutes Leben ohne existentielle Sorgen führen könnten. Das heißt mit anderen Worten, Gott habe seine Welt nicht als ein Theater geschaffen, in dem nur 10% der Besucher etwas hören und sehen dürfen (6). Die Spaltung der Gesellschaft in wenige Reiche und viele Arme hielt George weder für gottgewollt noch für naturgegeben, sondern für ein von Menschen verursachtes Unrecht. Die Menschen haben sich für ihr gesellschaftliches Zusammenleben Einrichtungen geschaffen, die dem Willen Gottes widersprechen und mit dem Naturrecht unvereinbar sind.

 

Der Fehler in den von Menschen geschaffenen Einrichtungen. der sowohl zum Gegensatz von Armut und Reichtum als auch zu Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit führt, liegt nach Ansicht von Henry George nicht im Bereich der Güterproduktion, sondern im Bereich der Güterverteilung. Deshalb untersuchte George die Verteilung der Einkommen auf die drei an der Produktion beteiligten Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital. Der menschlichen Arbeit als der einzigen werteschaffenden Kraft stehe der Lohn als Arbeitsertrag zu - ebenso der Zins dem Kapital, weil das Kapital nur aufgespeicherte Arbeit zur Erhöhung ihrer Produktivität darstelle (7).

 

George betrachtete das Kapital nur als Diener und nicht auch als Beherrscher der Produktion und er hielt auch die Kapitalakkumulation für unproblematisch. Allein in der Bodenrente bzw. in der Aneignung der Bodenrente durch private Grundstückseigentümer erblickte er schließlich die tiefere Ursache der falschen, leistungswidrigen Verteilung des Einkommens und des Zerfalls der Gesellschaft in Arme und Reiche: »Die weit verbreiteten sozialen Übel, welche inmitten einer fortschreitenden Zivilisation überall die Menschen bedrücken, entspringen einem großen ursprünglichen Unrecht: der Aneignung des Grund und Bodens - auf dem und von dem alle leben müssen - als ausschließliches Eigentum einiger weniger. Aus dieser fundamentalen Ungerechtigkeit fließen alle jene anderen Ungerechtigkeiten, welche die moderne Entwicklung hemmen und in Gefahr bringen; welche den Produzenten der Güter zur Armut verdammen und den Nichtproduzenten im Luxus schwelgen lassen; welche neben den Mietskasernen Paläste erbauen, das Bordell hinter die Kirche setzen und uns zwingen, gleichzeitig neue Schulen und neue Gefängnisse zu eröffnen. ... Die Anerkennung des individuellen Grundbesitzes ist die Verneinung der Naturrechte der übrigen Individuen. ... Dieses fundamentale Unrecht verschuldet die ungerechte Verteilung der Güter, welche die moderne Gesellschaft in ganz Arme und in ganz Reiche scheidet (8).«

 

Der Boden und seine Schätze sind nach der Auffassung von Henry George ein Geschenk Gottes an die Menschheit bzw. an die ewige Kette von Menschengenerationen, das sich durch menschliche Arbeit nicht vermehren lässt. Deshalb stelle die Bodenrente, die den privaten Eigentümern je nach der regionalen Bevölkerungsdichte und der Lage ihrer Grundstücke zufließt, kein Arbeits-, sondern ein leistungsloses Monopoleinkommen dar. Der in der Bodenrente zum Ausdruck kommende Wert des Bodens werde von der Menschengemeinschaft als Ganzes geschaffen; er stehe deshalb auch nicht einzelnen Individuen zu, sondern der Gemeinschaft. Neben der natürlichen Knappheit des Bodens hatte George außerdem dessen künstliche Verknappung vor Augen, die in städtischen Ballungsräumen wie San Francisco und New York durch die spekulative Hortung von Grundstücken erfolgte.

 

Das geltende Bodenrecht, das die Privatisierung der Bodenrente einschließlich der Spekulationsgewinne sanktioniert, wollte Henry George so ändern, daß das Naturrecht aller Menschen auf die von der Gemeinschaft geschaffenen Bodenwerte auch im positiven Recht zur obersten Richtschnur wird. Dabei ist es ihm zufolge weder erforderlich noch zweckmäßig, den Boden zu verstaatlichen. Seine Überführung in öffentliches Eigentum und seine anschließende Verpachtung an Meistbietende wären zwar ein »vollkommen durchführbarer Plan«; aber George wollte die Denkgewohnheiten der Menschen nicht mehr als nötig erschüttern und hielt es für ein »Gesetz des sozialen Wachstums, daß große Veränderungen am besten unter alten Formen verwirklicht werden können.« Außerdem würde die persönliche Freiheit der Individuen durch eine Verstaatlichung des Bodens stark gefährdet. Eine Reform des Bodenrechts müsse mit der Freiheit vereinbar sein. Auf freiheitliche Weise soll nicht nur die »Gleichheit der politischen Rechte«, sondern auch das »gleiche Recht auf die Gaben der Natur« verwirklicht werden. »Denn Freiheit bedeutet Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist das natürliche Gesetz - das Gesetz der Gesundheit, des Ebenmaßes und der Stärke, der Brüderlichkeit und der Zusammenarbeit. ... Nur in gebrochenen Strahlen und teilweisem Licht hat die Sonne der Freiheit bisher den Menschen geschienen. ... In unserer Zeit schleichen wie in früheren Zeiten die heimtückischen Kräfte herbei, die die Freiheit zerstören, indem sie ungleiche Rechte schaffen. Wir müssen der Freiheit voll vertrauen. Entweder müssen wir sie ganz annehmen oder sie bleibt nicht. Es ist nicht genug, daß die Menschen theoretisch vor dem Gesetz gleich sind. Sie müssen auf gleicher Stufe stehen, wo es sich mit die Gaben der Natur handelt. Entweder dies oder die Dunkelheit kommt heran. ... Das ist das Gesetz. das für die ganze Welt gilt. Das ist die Lehre der Jahrhunderte. Der Bau der Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn seine Fundamente nicht auf der Gerechtigkeit beruhen (9).«

 

Im Interesse der persönlichen Freiheit wollte Henry George das Privateigentum am Boden bei seinem Vorschlag zur Reform des Bodenrechts beibehalten, aber die auf den einzelnen Grundstücken erzielbare Grundrente zugunsten der Allgemeinheit steuerlich abschöpfen. George ging davon aus, daß eine solche Bodenwertsteuer nicht von den Steuerpflichtigen auf andere Wirtschaftsteilnehmer abgewälzt werden könne. Er erwartete von ihr eine Erhöhung des Bodenangebots auf dem Grundstücksmarkt und dementsprechend ein Absinken der Bodenpreise, u. a. um die spekulationsbedingten Preisbestandteile. Alles in allem erhoffte er sich von der Bodenwertsteuer eine leistungsgerechtere Verteilung der Einkommen und Vermögen, als Folge davon einen Rückgang der Kriminalität und eine bessere öffentliche Moral, eine Überwindung von Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit sowie eine Vereinfachung der staatlichen Verwaltungsapparate. Wie eng das Bodenrecht und die Gestalt des Staates in Henry Georeges Denken miteinander verbunden waren, zeigt sich auch an seiner Hoffnung, daß eine Bodenwertsteuer gleich ein doppeltes Unrecht überwinden könne: zum einen die Privilegierung der Minderheit von Bodenrentenbeziehern und zum anderen die Belastung der Bevölkerung mit einer Vielzahl von anderen Steuern, Abgaben und Zöllen. An den Zöllen kritisierte George, daß sie die Integration der Weltwirtschaft blockieren, indem sie einen Haß zwischen den Nationen und einen »universellen feindseligen Tarifkrieg« schüren. »Anstatt der christlichen Lehre von der Brüderschaft aller Menschen machen sie den Fremdenhaß zu einer Bürgertugend (10)«. Nicht die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sollten zu Steuerzahlungen herangezogen werden, sondern allein der Produktionsfaktor Boden. Die Bodenwertsteuer sollte die einzige Steuer werden, die dem Staat zur Finanzierung seiner Aufgaben zur Verfügung steht, weshalb sich für sie bald die Bezeichnung »single tax« einbürgerte. Allerdings findet sich bei George noch keine systematische Neuformulierung der Aufgaben, die dem Staat nach der Einführung einer Bodenwertsteuer bleiben.

 

Mit seinem single-tax-Programm hat Henry George keine bloß nationalökonomische Theorie, sondern die Grundlage einer umfassenden Sozialphilosophie geschaffen. Sie wurzelt hauptsächlich in der jüdisch-christlichen Religion (was eine kritische Haltung zu den Kirchen durchaus nicht ausschloß) sowie in der europäischen Philosophie des Humanismus und der Aufklärung und in den Ideen der amerikanischen Revolution. Ähnlich wie Adam Smith am Anfang der ökonomischen Klassik verband auch Henry George unter dem Einfluß des Deismus den Glauben und die Vernunft zu einer aufgeklärten Vernunftreligion. Während bei Smith die Ethik, die Ökonomie und die Politik noch eine Einheit bildeten, welche dann in der weiteren Entwicklung der klassischen und neoklassischen Ökonomie zerfiel, begann Henry George gleichsam mit der Wiedervereinigung von Religion und Philosophie einerseits und Ökonomie und Politik andererseits. Und er tat dies in einer Weise, die ihn grundlegend von späteren Fundamentalismen aller Art unterscheidet, welche den Glauben als Herrschaftsmittel mißbrauchen und die Vernunft durch Irrationales ersetzen, um auf solcher Basis totalitäre Gottesstaaten zu errichten. Demgegenüber suchte George nach einer herrschaftsfreien Ebene, auf der sich Glauben und Vernunft ergänzen können. Der jüdisch-christliche Glaube war für ihn sozusagen das geistige Flußbett für das Ringen der menschlichen Vernunft um eine mit der Schöpfung verträgliche Sozialordnung. In diesem Sinne ist das single-tax-Programm weitaus mehr als eine bloße Steuerpolitik. Sie ist Ausdruck des Bestrebens, die sowohl im Mittelalter als auch in der Neuzeit gestörte Beziehung des Menschen zu Gott und zur Erde nett zu ordnen: »Die Hinwegsteuerung der Grundrente beantragen wir nicht als einen schlauen Entwurf menschlichen Scharfsinnes, sondern als eine Reform. welche die menschlichen Einrichtungen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung bringen soll (11)«.

 

Dahinter steht die Vorstellung von einem liebenden statt unbarmherzig strafenden Gott, der die Menschen nicht aus dem Paradies vertrieben hat, um sie in der aus der kosmischen Ordnung herausgefallenen Welt zu peinigen und qualvoll zugrunde gehen zu lassen. Vielmehr habe Gott mit Bedacht seine Schöpfung erst einmal nur in biologischer Hinsicht vollendet, um den Menschen an der noch bevorstehenden sozialen Vollendung seiner Schöpfung zu beteiligen. Gott wollte dem Menschen die Möglichkeit geben, aus eigener Freiheit und Einsicht als partnerschaftlicher »Mitarbeiter am Schöpfungswerk (12)« die wunderbar geordnete Schöpfung mit Hilfe einer Bodenwertsteuer um eine harmonische Sozialordnung zu ergänzen und zu vervollständigen. Ohne wie Marx einen historischen Determinismus zu unterstellen, war George davon überzeugt, daß Gott dem Menschen die verantwortungsvolle Schicksalsaufgabe gestellt habe, sich als Treuhänder der Schöpfung frei dafür oder dagegen zu entscheiden, die soziale Krankheit, an der Gott und seine Kreaturen auch selbst noch mitleiden, mit dem sozialen Heilmittel der single tax zu behandeln, d. h. dem kranken Sozialorganismus die single tax als eine Hilfe zur Selbstheilung von den vielfältigen sozialen Krankheitssymptomen zu verordnen. Im Untertitel von »Fortschritt und Armut« ist deshalb auch bereits ausdrücklich von diesem Heilmittel (»remedy«) die Rede.

 

Georges Überlegung, die vielen sozialen Krankheitssymptome nicht mit ebenso vielen wirtschaftspolitischen Mitteln einzeln zu bekämpfen, sondern dem sozialen Organismus mit einem Mittel eine Hilfe zur Selbstregulation zu geben, entspricht der Ähnlichkeitsregel in der homöopathischen Medizin. Und es dürfte kein Zufall sein, daß auch der Arzt Samuel Hahnemann als Begründer der Homöopathie ähnlich wie Henry George im aufgeklärten Vernunftglauben verwurzelt war. Hahnemann wollte mit seiner Homöopathie sowohl akute Krankheiten einzelner Menschen als auch gesellschaftlich bedingte chronische Krankheiten heilen, die die Menschheit seit langem plagen und sich von Generation zu Generation noch verschlimmern. Individuelle und soziale Krankheitsursachen gehen gleichsam fließend ineinander über; und dementsprechend könnten sich einmal individuelle und soziale Heilmittel ergänzen, damit die Individuen und die Menschheit als Ganzes gesund werden und sich auf der Grundlage der Gerechtigkeit sittlich und kulturell höher entwickeln können. Während Hahnemann im Vertrauen auf die Selbstorganisations- und Selbstheilungsfähigkeit menschlicher Organismen mit homöopathischen Arzneimitteln erreichen wollte, daß kranke Organismen ihre gesunde innere Ordnung wiederfinden, war für George die single tax »ein mit religiösem Bewußtsein anzuwendendes soziales Heilmittel, das mit der Gerechtigkeit und den harmonischen Gesetzen des Weltalls übereinstimmt (13)«. Indem es eine gerechtere Güterverteilung bewirkt, trägt es indirekt auch dazu bei, den gestörten Seelenhaushalt der Menschen wieder in Ordnung zu bringen und die mit dem Gegensatz von Armut und Reichtum verbundenen Extreme menschlicher Eigenschaften wie Habgier und Neid auszugleichen. George erwartete, daß unter solchen Umständen der Gemeinsinn der Menschen stärker sichtbar werde als ihr Eigennutzstreben; er betonte aber auch, daß die Nächstenliebe in der Gerechtigkeit verankert sein und nicht zum Selbstzweck werden dürfe. Wohltätigkeit allein könne inmitten ungerechter Verhältnisse nicht heilsam sein, sondern nur neue Übelstände schaffen (14).

 

Das Leben im allgemeinen und auch der Mensch im besonderen sind nach der Überzeugung von Henry George auf eine Höherentwicklung angelegt. Das Auf und Ab der Kulturen erklärte er nicht wie manche Evolutionstheoretiker mit Unterschieden menschlicher Eigenschaften in natürlichen Ausleseprozessen, sondern mit der unterschiedlichen Qualität der gesellschaftlichen Institutionen. Von ihnen hänge es ab, ob es zu einem dauerhaften kulturellen Aufstieg kommt oder ob ungerechte Einrichtungen wie zum Beispiel das Bodenrecht im alten Rom die Höherentwicklung blockieren und zu einem Untergang führen. »In den armen, vom Leben mißhandelten Menschen und in denen, die ihre Kräfte im Jagen nach Reichtum vergeuden, und in denen, die in den Fabriken in Maschinen verwandelt werden, in den Kindern, die in Schmutz, Laster und Unwissenheit aufwachsen, ruhen Kräfte höchster Ordnung und glänzendste Begabungen. Alles, was sie brauchen, ist eine günstige Gelegenheit, die sie zutage fördert (15)«.

 

In ihren Grundzügen war die hier skizzierte Sozialphilosophie Henry Georges bereits fertig, als er die Theorien der klassischen Nationalökonomie näher kennenlernte. Es erging ihm also ähnlich wie nach ihm dem Boden- und Geldreformer Silvio Gesell, der ebenfalls seine wichtigsten Einsichten in das Wesen des Geldes gewann, bevor er die herrschenden Theorien kennenlernte und seine eigene Theorie durch den Vergleich mit ihnen überprüfen konnte. Von den Theorien der klassischen Ökonomie rezipierte George vor allein David Ricardos Grundrententheorie und die Idee einer natürlichen Ordnung der Wirtschaft von den Physiokraten um den französischen Arzt Francois Quesnay. Aus diesen beiden Quellen integrierte er ökonomische Bausteine in seine ganzheitliche, Religion und Philosophie ebenso wie Ökonomie und Politik umfassende Sozialreform. Dabei ähnelte die single tax nur scheinbar der »impot unique“ der Physiokraten, denn während George den Bodenwert und gerade nicht die menschliche Arbeit besteuern wollte, forderten die Physiokraten eine Steuer auf den Bodenertrag derer, die ihn bearbeiten. Gemeinsam war George und den Physiokraten aber die Absicht, zugunsten dieser einen Steuer alle übrigen Steuerarten abzuschaffen (16). Wiederum unterschiedliche Vorstellungen hatten sie von einer natürlichen Ordnung der Wirtschaft. Während die Physiokraten dabei an kreislaufmäßige Beziehungen zwischen den Grundeigentümern (classe proprietaire), den den Boden bebauenden Pächtern (classe productive) und den Handwerkern und Gewerbetreibenden (classe sterile) dachten, verband Henry George damit die Vorstellung eines monopolfreien Wettbewerbs zwischen allen Arbeitenden innerhalb einer bürgerlieben Gesellschaft der freien und gleichen Individuen. »Wo eine Klasse existiert, der jedes Recht an den zum Leben und zur Arbeit notwendigen Elementen verweigert wird, ist die Konkurrenz einseitig«. Aber wo die natürlichen Rechte gesichert sind, da kann die Konkurrenz - auf beiden Seiten wirkend - zwischen den Arbeitgebern wie zwischen den Arbeitern, zwischen Käufern wie Verkäufern niemanden schädigen. Im Gegenteil wird sie das einfachste, ausgedehnteste, elastischste und feinste System des Zusammenwirkens sein, von dem wir die gleichmäßige Ordnung der Industrie und die wirtschaftliche Verwendung aller Kräfte erwarten dürfen. Die Konkurrenz spielt dieselbe Rolle im sozialen Organismus wie es die vitalen Antriebe unbewußt im körperlichen Organismus tun. Diese wie jene bedürfen nur der Freiheit. »Individualismus und Sozialismus sind in Wahrheit nicht feindlich, sondern zusammengehörig. Wo das Gebiet des einen Grundsatzes endet, fängt das des anderen an (17)«. Der Blick für eine solche freiheitliche Synthese von Liberalismus und Sozialismus war jedoch vielfach durch Marx' pauschale Verurteilung von Konkurrenz und privatem Produktionsmitteleigentum verstellt. So beklagte Henry George, daß die marxistisch denkenden Sozialisten nicht erkannten, daß die sozialen Mißstände nicht Folgen von Markt, Wettbewerb und Eigentum waren, sondern Folgen der den Wettbewerb verfälschenden Privilegien des privaten Bodeneigentums. Mit seiner Forderung nach einer Befreiung der Märkte von monopolistischen Privilegien und einer genossenschaftlichen Organisation der Arbeit gehört Henry George zweifellos zu den großen Wegbereitern einer „Marktwirtschaft ohne Kapitalismus“ (18).

 

 

 

 

Wirkungsgeschichte

 

Anders als in Amerika war die Arbeiterbewegung in Europa sehr stark vom Marxismus beeinflusst. So waren Zusammenstöße der Sozialphilosophie von Henry George mit dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ von Marx und Engels unvermeidlich. Nachdem Marx in Paris seinen großen Gegenspieler Pierre Proudhon bekämpft hattet, wehrte er von London aus auch die sich in England, Irland und Schottland ausbreitenden Gedanken von Henry George ab. Die single tax hielt er für einen Versuch, die Arbeiterbewegung auf den Irrweg eines bürgerlichen Reformismus zu locken. Erst die entschädigungslose Enteignung und kollektive Nutzung des Bodens seien ein echter Angriff auf das private Bodeneigentum. Marx qualifizierte George auch deshalb als »theoretisch total zurückgeblieben« ab (19), weil George den Profit des Industriekapitals und das private Eigentum an den Produktionsmitteln nicht kritisiert hatte. Das Buch »Fortschritt und Armut« erschien ihm darum als der »letzte Schützengraben der Kapitalisten« (20). Auch Engels hat sich im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der »Lage der arbeitenden Klasse in England« gegen den »Henry-George-Boom« gewandt (21), weil George die Proletarier nicht zum Klassenkampf gegen das Kapital aufforderte.

 

Mehr Resonanz fand er dagegen in den nichtmarxistischen Teilen der englischen Arbeiterbewegung, vor allein in der Fabian Society, zu deren führenden Köpfen die berühmten Dichter H. G. Wells und George Bernhard Shaw gehörten (22). Sie erstrebte ihre sozialistischen Ziele nicht auf dem Weg des revolutionären Klassenkampfes, sondern mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie. Aber auch in diesen Kreisen, aus denen später die Labour Party hervorging, wurden mehr Menschen durch »Fortschritt und Armut« zur Beschäftigung mit der sozialen Frage angeregt als für die single tax gewonnen, weil ihnen eine bloße Reform des Bodenrechts als Sozialreform nicht genügte oder weil sie das Bodenrecht auf andere Weise ändern wollten. Ab etwa 1880 erlebte die englische Land Nationalization Society unter der Leitung des Naturforschers Alfred Russel Wallace einen großen Aufschwung. So wie George eine soziale Vollendung der Schöpfung wünschte, hoffte Wallace auf eine Fortsetzung der Evolution auf sozialer Ebene. Differenzen zwischen den beiden ergaben sich jedoch aus unterschiedlichen Einstellungen zur Evolutionstheorie und aus der Absicht von Wallace, den Boden zu verstaatlichen und die bisherigen Privateigentümer zu entschädigen (23).

 

In Deutschland bemühte sich Michael Flürscheim um eine Popularisierung der Bodenreformgedanken. Im Gegensatz zu George vertrat er jedoch wie Wallace den Vorschlag, den Boden gegen eine Entschädigung zu verstaatlichen und sodann an private Nutzer meistbietend zu verpachten. Obwohl auch Franz Oppenheimer der single tax nicht uneingeschränkt zustimmte, nannte er das Buch »Fortschritt und Armut« 1902 einen »großen Erfolg, der es geradezu zu einer Art von Bibel unserer Zeit erhebt« (24). Später setzte sich der Bund deutscher Bodenreformer unter der Leitung von Adolf Damaschke nur noch für eine teilweise Besteuerung der Bodenwertzuwächse ein, was den Boden- und Geldreformer Silvio Gesell zu dem Vorwurf veranlasste, daß der Bund das Programm von Henry George verwässere. Gesell achtete George einerseits als einen »unsterblichen Meister« und als den »amerikanischen Napoleon, den größten und tapfersten Eroberer aller Zeiten«; andererseits bevorzugte auch er Flürscheims Variante der Bodenreform, weil er die Bodenwertsteuer für abwälzbar hielt. Im übrigen »reichte Georges Genie nicht aus, das ganze Dunkel zu erhellen« (25). Gesell lehnte ebenso wie Flürscheim Georges kritiklose Haltung gegenüber dem Kapital und dem Zins ab. Anders als George glaubte er weder, daß der Zins seinen Ursprung im Bodenmonopol habe noch daß die single tax indirekt auch den Zins zum Sinken bringe. Leider habe George die Notwendigkeit einer zusätzlichen Reform des Geldwesens noch nicht erkannt. »Mir persönlich«, so berichtete Gesell einmal, »erzählte Flürscheim, daß er mit George lange Unterredungen gehabt habe, um ihm die völlige Unhaltbarkeit seiner Zinstheorie darzutun und um ihm klar zu machen, daß die wahre Ursache des Kapitalzinses in organischen Fehlern unseres Geldwesens begründet wäre und daß es noch einer Reform des Geldwesens bedürfe, um den Zins verschwinden zu lassen. „Um so besser“, war dann Georges Antwort gewesen - eine Antwort, die zeigt, daß George sich nur ganz flüchtig mit dem Zinsproblem befaßt hatte.« Für eine Korrektur von Georges Kapital- und Zinstheorie war es zum Zeitpunkt der Gespräche mit Flürscheim offenbar schon zu spät. Leider »zeigen auch jetzt noch Georges Jünger dieselbe Gleichgültigkeit dem gewaltigen Zinsproblem gegenüber; sie glauben, sich an dieser heiklen Sache vorbeidrücken zu können«, bedauerte Gesell, der selbst innerhalb der Bodenreformbewegung zu wenig Einfluß hatte, um eine theoretische Korrektur herbeizuführen (26).

 

So blieb die Wirkung der single-tax-Bewegung auf die Arbeiterbewegung aufgrund ihrer Harmlosigkeit gegenüber dem Kapital sehr begrenzt. Immerhin konnte sie zunächst noch Einfluß auf die Gesetzgebung in England, Irland, Dänemark, Ungarn sowie in Australien und Neuseeland ausüben, allerdings ohne die volle Besteuerung der Bodenrente und die Abschaffung der übrigen Steuern zu erreichen (27). In Deutschland gelangte 1919 in der Formulierung von Adolf Damaschke sogar ein Artikel über das Bodenrecht in die Weimarer Verfassung. Seit den 1920er Jahren geriet Georges single tax aber allmählich in Vergessenheit, obwohl sich eine international so renommierte Persönlichkeit wie der russische Dichter Leo Tolstoi für sie eingesetzt hatte. Tolstoi schätze Henry George als einen »außergewöhnlichen Mann«, der die Ungerechtigkeit des privaten Bodeneigentums »bestechend überzeugend, einfach und klar« bewiesen habe. Tolstoi sah hierin selbst die »große Sünde« unserer Zeit und beklagte, daß die Mehrheit der englischen Intelligenz George entweder ablehnte oder totschwieg - nahezu alle Aristokraten, die orthodoxe politische Ökonomie und die Sozialisten. Überall werde George »durch die lärmend verkündigte Lehre des Sozialismus übertönt (28)«. Auch Papst Leo XIII reagierte offenbar nicht auf seinen Offenen Brief und die Kirchen blieben ihm gegenüber verschlossen. Nicht übersehen läßt sich bislang, inwieweit die christlichen Soziallehren oder der religiöse Sozialismus die Bodenreformimpulse aufgegriffen haben.

 

Die moderne Nationalökonomie verdrängte das Bodenproblem aus ihrem Blickfeld - zum Teil aus interessenpolitischen Beweggründen und zum Teil auch, weil sich im Zuge der weiteren Industrialisierung und Kapitalkonzentration andere und noch größere Probleme über dem ungelöst gebliebenen Bodenproblem aufgeschichtet haben. Die Zurechnung des Bodens zum Produktionsfaktor Kapital gestattete es der auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Ökonomie obendrein lange Zeit, die ökologischen Grenzen des Wachstums zu ignorieren. Angesichts dieser inzwischen unübersehbar gewordenen Grenzen ist es nicht verwunderlich, daß Hans Christoph Binswanger und Hans Immler die Bodenfrage mit Bezug auf die Physiokraten zunächst unter ökologischen Aspekten wiederentdeckt haben (29). Ihre Wiederentdeckung unter sozialen Gesichtspunkten steht 100 Jahre nach Henry Georges Tod noch immer aus. Sie könnte mit einer Erforschung seines insgesamt zehnbändigen Lebenswerks beginnen. Obwohl George seinerzeit die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen noch nicht im Blick hatte, bedachte er neben den Bodenoberflächen auch schon die Bodenschätze mit: »Der Begriff Boden umfaßt nicht lediglich die Erdoberfläche, sondern die ganze stoffliche Welt außerhalb des Menschen, alle natürlichen Stoffe, Kräfte und Hilfsquellen. Solche Gegenstände als Kapital zu bezeichnen, hieße die Unterscheidung zwischen Boden und Kapital aufheben.« Es könnte also möglich sein, das soziale single-tax-Programm um die ökologische Forderung nach einer Besteuerung der Inanspruchnahme von Umweltgütern zu erweitern (30).

 

In New York gibt es heute noch eine Henry-George-School of Social Science als Abteilung der Universität des Bundesstaates New York und eine Robert-Schalkenbach-Stiftung, die Georges geistiges Erbe verwaltet. Das »American Journal of Economics and Sociology« hat in seiner Ausgabe vom August 1997 mehrere Beiträge über ihn veröffentlicht. Und an der Universität Maastricht in den Niederlanden hat der Finanzwissenschaftler Prof. Jürgen Backhaus kürzlich ein Henry-George-Symposium veranstaltet (31). Es wäre zu wünschen, daß auch von dieser Veranstaltung des Seminars für freiheitliche Ordnung und der Internationalen Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung Impulse für die Wiederentdeckung und kritische Rezeption von Georges Sozialphilosophie ausgehen.

 

Gerade in unserer Zeit, in der sich die westlich-kapitalistischen Gesellschaften in einer Dauerkrise befinden und in der der Marxismus durch die Wende in Mittel- und Osteuropa keine Systemalternative mehr darstellt, ist es sinnvoll, die von Proudhon, George, Oppenheimer, Gesell und anderen geleisteten geistigen Vorarbeiten für eine >Marktwirtschaft ohne Kapitalismus< kritisch zu sichten und im Hinblick auf die Lösung heutiger Probleme zu aktualisieren. Denn was Henry George gegen Ende des 19. Jahrhunderts dachte, ist auch noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum großen Teil bedenkenswert. Und mehr als damals gilt heute, was er von der Zukunft erwartete: »Was für eine Veränderung kommen mag, kann kein Sterblicher sagen; aber daß eine große Veränderung kommen muß, beginnt mancher Denkende zu fühlen. Die zivilisierte Welt steht in banger Erwartung am Rande einer großen Bewegung. Entweder muß sie ein Sprung aufwärts sein, der den Weg zu noch ungeahnten Fortschritten frei macht, oder ein Sturz in die Tiefe, der uns in die Barbarei zurückbringt (32)«. Die krisengeschüttelten kapitalistischen Marktwirtschaften gehen sozialen und ökologischen Grenzen entgegen. Und es ist zu hoffen, daß Henry Georges Sozialphilosophie nach der nächsten Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwende dazu beitragen kann, daß die Menschen nicht nochmals in die Barbarei zurückfallen, sondern den »Sprung aufwärts« in eine mit der Schöpfung verträgliche, gerechte und friedliche Sozialordnung schaffen.

 

 

 

 

 

Exkurs: Vom Monopoly zum Landlords Game

 

Die Gedankenwelt von Henry George läßt sich vielleicht nicht nur durch die Lektüre seiner Werke wiederentdecken, sondern auch noch auf eine spielerische Weise. Und zwar gibt es ein Spiel »The Landlords Game«, das voll einer amerikanischen Quäkerin Elisabeth Magie entwickelt worden ist, um den Menschen diese Gedanken auf spielerische Weise näherzubringen. Elisabeth Magie wollte illustrieren, wie ein falsches Bodenrecht inmitten des Fortschritts der Moderne zur Polarisierung von Armut und Reichtum führt. Da sie ihr Spiel aber nicht aus kommerziellen Gründen entwickelt hatte, gab es nur zwei kleine Auflagen und mehrere unkonventionelle Ausgaben.

 

Sehr viel berühmter als »The Landlords Game« wurde die ideologische Umkehrung dieses Spiels durch den Amerikaner Charles Darrow, der vor 30 Jahren in Pennsylvania starb und als Erfinder des »Monopoly«-Spiels gilt. Nach dem Börsenkrach vom Oktober 1929 war Darrow arbeitslos und tüftelte ein Spiel um Grundstücksgeschäfte aus, bei dem der- bzw. diejenige TeilnehmerIn gewinnt, der/die das größte Immobilienvermögen einschließlich der Schloßallee und der Parkstraße zusammenraffen kann. Das »Monopoly«-Spiel entsprach den heimlichen Wünschen all derer, die im Kapitalismus auf der Verliererseite stehen: sie konnten in die Scheinwelt des spekulativen Gewinns flüchten und sich so wenigstens im Spiel der Illusion vom großen Geld hingeben. Im Gegensatz zu »The Landlords Game« eroberte das »Monopoly« die Welt und machte Darrow zum Millionär (33). Als Sinnbild des Kapitalismus wurde es selbst in den ehemals kommunistischen Ländern gespielt und es ist auch im heutigen China sehr beliebt. Der eigentliche Ursprung des »Monopoly«-Spiels wurde freilich schnell vergessen, denn wer wollte sich die Spielfreude durch eine Erinnerung an seinen antimonopolistischen bodenreformerischen Ursprung verderben lassen? Dementsprechend gering war auch der Zuspruch, den ein sozialkritisches Spiel »Anti-Monopoly« in den 80er Jahren fand. Ließe sich nicht dennoch eine Spielalternative zum »Monopoly« entwickeln, die beim »Landlords Game« anknüpft und das »Anti-Monopoly« sowie auch das »Ökolopoly« von Frederic Vester einbezieht? Ein Spiel, das die Menschen für die sozialen und ökologischen Probleme und die Notwendigkeit von Änderungen des Bodenrechts und des Geldwesens sensibilisiert? Ein solches Spiel könnte eine sinnvolle Ergänzung zum theoretischen Bemühen sein, den Umgang des Menschen mit den Gemeinschaftsgütern Boden, Natur und Geld zu verändern.

 

 

 

 

 

Anmerkungen

 

(1) Henry George, Fortschritt und Armut (1879), zitiert nach der 1959 in Düsseldorf erschienenen deutschen Ausgabe, S. 222.

 

(2) Michael Silagi, Henry George und Europa - Zur Entstehungsgeschichte der europäischen Bodenreformbewegungen, München 1973, S. 6.

 

3) Michael Si1agi (wie Anm. 2), S.6.

 

(4) Michael Silagi (wie Anm. 2). S. 5-6. - A.W. Madson. Henry George und seine Werke - eine biographische Skizze, in: Henry George, Fortschritt und Armut, Düsseldorf 1959, S. 227 - 230.

 

(5) A. W. Madson (wie Anm. 4), S. 230.

 

(6) Michael Silagi (wie Anm. 2), S. 9.

 

(7) Henry George, Zur Erlösung aus sozialer Not - Offener Brief an seine Heiligkeit Papst Leo XIII.; dt. von Bernhard Eulenstein. Berlin 1893, S. 55: »Wir fürchten das Kapital nicht, weil wir es als den natürlichen Mithelfer der Arbeit betrachten; wir erkennen den Zins als natürlich und gerecht an.«

 

(8) Henry George, Fortschritt und Armut (wie Anm. l), S. 299-300.

 

(9) Heny George, Fortschritt und Armut (wie Anm. 1), S. 136 über das Gesetz des sozialen Wachstums und S. 215-217 über die Freiheit.

 

(10) Henry George, Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm.7), S. 9. In Henry Georges Einstellung zum Zollwesen sind möglicherweise berufliche Erfahrungen seines Vaters eingeflossen, ebenso die Darstellung von Zöllnern in der Bibel.

 

(11) Henry George, Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7), S. 6.

 

(12) Henry George, Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7), S. 2.

 

(13) Henry George, Fortschritt und Armut (wie Anm. 1), S. 135. - Ders., Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7), S. 19. - Zur homöopathischen Medizin vgl. Samuel Hahnemann Organon der Heilkunst, Berg am Starnberger See, 6. Auflage 1985. - Mathias Dorcsi, Homöopathie, Band 1: Medizin der Person, Heidelberg 5. Auflage 1984. - William Gutman Grundlage der Homöopathie und das Wesen der Arznei. Heidelberg 1979. - Georgos - Vithoulkas, Die wissenschaftliche Homöopathie - Theorie und Praxis naturgesetzlichen Heilens, Göttingen 1986.

 

(14) Henry George, Fortschritt und Armut (wie Anm. 1). S. 89 u. 183.  - Ders., Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7). S. 89.

 

(15) Henry George, Fortschritt und Armut (wie Anm. l), S.190.

 

(16) Vgl. Michael Silagi (wie Anm. 2), S. 2-3, 7 und l5. - W. Dietrich Winterhager, Bodeneigentum und Bodenrente in der ökonomischen Theorie. in: Zeitschrift für Sozialökonomie 114. Folge (September 1997), S. 3-13. - Arno Auerswald, Beiträge zur Lehre von der einzigen Steuer. Greifswald 1922. - Heinrich Niehuus., Geschichte der englischen Bodenreformtheorien, Leipzig 1910. - Adolf Damaschke, Die Bodenreform, Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not. 15. Auflage Jena 1918.

 

(17) Henry George, Schutzzoll oder Freihandel, Berlin 1887. S. 274. – Vgl. auch Henry George. Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7). S. 55-56.

 

(18) Henry George, Zur Erlösung aus sozialer Not (wie Anm. 7). S. 55-56. - Ders., Fortschritt und Armut (wie Anm. 1), S. 188.

 

(19) Karl Marx, Korrespondenzen. in: Marx-Engels-Werke Band 35, Berlin-Ost 1973. S. 199.

 

(20) Zitiert nach Michael Silagi, Henry George und Europa (wie Anm. 2), S.29.

 

(21) Werner Krause, Art. Henry George, in: Werner Krause u. a. (Hg.), Ökonomenlexikon, Berlin-Ost 1989, S. 174 - 176.

 

(22)     Michael Silagi, Henry George und Europa (wie Anm.2), S.39-43.

 

(23)     Michael Silagi, Henry George und Europa (wie Anm.2), S.35-37.

 

(24) Zitiert nach Michael Silage (wie Anm. 2). S. 1. - Franz Oppenheimer, Irrtum und Wahrheit bei Henry George, in: Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft 72. Jg. Nr. 3, S. 126-142.

 

(25) Silvio Gesell, Krieg und Bodenmonopol, in: Gesammelte Werke Band 3, Lütjenburg 1989, S. 325-326. - Ders., Was trennt uns von den heutigen „Bodenreformern“?, in: Gesammelte Werke Band 7. Lütjenburg 1990, S. 46 und 50.

 

(26) Silvio Gesell, Die Aussichten der Bodenreform, in: Gesammelte Werke Band 7. Lütjenburg 1990, S. 131 - 132. - Zur Zinsfrage bei George vgl. Michael Silagi (wie Anm. 2), S. 70 ‑ 1.

 

(27) Michael Silagi, Henry George und Europa (wie Anm. 2), S. V und VI.

 

(28) Leo Tolstoi, Philosophische und sozialkritische Schriften, Berlin1974. S. 641 - 643.

 

(29) Hans Christoph Binswanger, Natur und Wirtschaft - Die Blindheit der ökonomischen Theorie gegenüber der Natur und ihrer Bedeutung im Wirtschaftsprozeß, in: Klaus-Michael Meyer-Abich (Hg.), Frieden mit der Natur, Freiburg 1979, S. 149-173. - Hans Immler, Natur in der ökonomischen Theorie, Opladen 1985, S. 295 ff. über die Physiokraten.

 

(30) H. George. Fortschritt und Armut (wie Anm. 1). S. 23 über den erweiterten Bodenbegriff. Vgl. hierzu Eckhard Behrens, Ökologische Rohstoffwirtschaft, in: Fragen der Freiheit Nr.222/1993. S. 56-62. - Fritz Andres, Zur Nutzung des Bodens, der Bodenschätze und der Umwelt, in: Fragen der Freiheit Nr. 232-233/1995, S. 3-10. - Eckhard Grimmel, Geowissenschaftliche Grundlagen eines umweltverträglichen Rohstoffrechts, in: Zeitschrift für Sozialökönomie 109. Folge/1996, S. 3-14. - Johannes Jenetzky, Öko-Abgaben – erforderliche, aber nicht hinreichende Instrumente einer zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 109. Folge/1996. S. 15 - 24. - Dirk Löhr, Urmonopole, intertemporale soziale Kosten und nachhaltiges Wirtschaften, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 113. Folge/1997, S. 13-27, bes. 21 - 24.

 

(31) Henry George School, 121 East 30th Street, New York NY 10016. Über ihre Arbeit wird regelmäßig im Henry-George-Newsletter berichtet. - Robert Schalkenbach Foundation, 41 East 72nd Street, New York, NY 10021/USA. - American Journal of Economics and Sociology. Babson Collage Park, Wellesley MA 02157-0901/USA. - Jürgen Backhaus, Land Value Taxation in Germany: Theoretical und Historical Issues, in: Robert Andelson, Land Value Taxation around the world, New York 1997, S. 157-169: Diskussionspapier der Universität Maastricht/Niederlande. - In den deutschen Medien wurde der 100. Todestag von Henry George nur einmal beachtet: Detmar Doering, Autodidakt. Ökonom, Politiker und zum Schluß ein Volksheld. in: Handelsblatt vom 27.10.1997. S.46.

 

(32) Henry George, Fortschritt und Armut (wie Anm. l), S. 213.

 

(33) Beatrix Novy, 30. Todestag von Charles B. Darrow, Rundfunksendung in der Reihe Zeitzeichen des WDR 5 am 29.8.1997.