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Seminar für freiheitliche Ordnung

Fragen der Freiheit

Heft 144; Mai/Juni 1980

Seite 27 - 45

 

 

 

Der schwarze Dienstag

 

Erinnerungen an den Börsenkrach von 1929

 

Hans R. L. Cohrssen

 

I

 

Im September 1929 ‑ vor rund 50 Jahren ‑ begann der Krach an der Aktienbörse von New York, der am 24. Oktober ‑ dem »Schwarzen Donnerstag« und am 29. Oktober ‑ dem »Schwarzen Dienstag« ‑ seinen Höhepunkt erreichte. Eine Art Jubiläum also, bei dem es allerdings nichts zum Jubilieren gibt ‑. Im Gegenteil: Man ist sich heute allgemein darüber klar, daß dieser New Yorker Börsenkrach die inner‑amerikanische Wirtschaftskrise auslöste, die sich durch die Abhängigkeit der Weltwirtschaft und Welt‑Finanz vom Dollar über die ganze Welt ausbreiten konnte.

 

Überall die gleichen Symptome: Fallende Preise für landwirtschaftliche Produkte und Rohmaterialien und entsprechend sinkende Einkommen der Bauern und Produzenten, die nun plötzlich nicht mehr in der Lage sind, ihre Schulden und Hypothekenzinsen zu zahlen. Die Bauern verlieren ihre Höfe und Äcker, die Produzenten ihre Bergwerke, die Fabrikanten ihre Fabriken, die Hausbesitzer ihre Häuser. Hunderttausende melden Konkurs an. Millionenfach verlieren Arbeiter und Angestellte ihre Arbeitsplätze. Zehntausende von Banken müssen schließen, wodurch wieder Millionen von Menschen ihrer Ersparnisse beraubt werden.

 

Der wirtschaftliche Zusammenbruch schwillt zu einem verheerenden Strom sozialen Elends an, auf das die Massen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich reagieren. In den USA, die weder eine Arbeitslosenunterstützung noch eine Sozialversicherung kennen, werden die regierenden Republikaner verjagt und von Roosevelt abgelöst, der mit seinem »New Deal« ein neues Wirtschaftszeitalter verspricht. In Frankreich versucht eine Volksfrontregierung unter Blum vergeblich der Probleme Herr zu werden.

 

In Deutschland übernimmt Hitler die Macht. Ohne die vor einem halben Jahrhundert durch den Börsenkrach ausgelöste Weltwirtschaftskrise hätte es wahrscheinlich weder eine Hitlerregierung noch einen Zweiten Weltkrieg mit seinen fünzig Millionen Toten gegeben.

 

Aber kann man es wirklich wagen, Depression, Weltwirtschaftskrise, Hitler, den Zweiten Weltkrieg, die Ausbreitung des Kommunismus, die Gefahren und Probleme, mit denen wir auch heute noch nicht fertig geworden sind ‑all das auf den Börsenkrach von 1929 zurückzuführen?

 

Es wäre zu bequem, wollte man die Entwicklungsgeschichte dieser unseligen Ereignisse so einfach darstellen. So einfach ist es leider nicht. Tatsache ist: das Jahr 1929 bedeutet einen Wendepunkt in unserer Geschichte, das Ende einer Epoche und den Anfang einer Entwicklung, die auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Keiner hat das vielleicht klarer empfunden als der bekannte amerikanische Volkswirt Professor John Kenneth Galbraith, der über dieses Thema vor Jahren ein Buch mit dem Titel »Der Große Krach« schrieb, das folgendermaßen beginnt:

 

„Genau wie es Dichter, Politiker oder auch schöne Frauen gibt, die aus der Masse herausragen, so gibt es Jahre, die es sich in den Kopf gesetzt haben, berühmt zu werden Das Jahr 1929 war offensichtlich so ein Jahr . . . . Ein Jahrzehnt lang tauchte bei jeder Gelegenheit, bei der die Amerikaner an ihrem wachsenden Wohlstand zu zweifeln begannen, die Frage auf: Wird es wieder ein 1929 geben? In der Tat wäre es gut, zu wissen, ob sich die Tage von 1929 wiederholen können. Es wäre anmaßend, diese Frage zu beantworten.“

 

Mir ist diese Zeit noch sehr lebhaft in Erinnerung. Ich war 1926 nach Amerika ausgewandert und war, mit meinen geringen Englischkenntnissen und dem drüben kaum brauchbaren Beruf eines Kaufmanns, weitgehend mit meiner Existenzfrage beschäftigt. Ich hatte als Porzellanpacker angefangen, verkaufte dann Bürsten von Haus zu Haus, fabrizierte Süßigkeiten in einer Schokoladenfabrik, gründete mit zwei Freunden ein Reformhaus und fuhr schließlich in New York ein Taxi, womit ich immerhin genug ersparen konnte, um im Herbst 1930 meine Familie in Deutschland zu besuchen. In den Zeitungen hatte ich natürlich vom Börsenkrach gelesen und die Abwärtsbewegung der Wirtschaft verfolgt, besonders weil eine immer größere Zahl meiner Freunde und Bekannten davon betroffen war. Aber ich verstand nicht, was um mich vorging. Bevor ich nach Hause zurückfuhr, entschloß ich mich, diese Materie zu studieren. Ja, ich war naiv genug, mir vorzunehmen, einen persönlichen Beitrag zur Überwindung dieser Wirtschaftskrise zu leisten.

 

Ich war froh, diesen Entschluß gefaßt zu haben; denn nachdem ich es ja in Amerika zu nichts gebracht hatte, drängte mich die Familie, wieder in Deutschland zu bleiben und ins elterliche Geschäft einzutreten. Doch ich sah ‑ klarer als meine Leute ‑ daß es auch in Deutschland bergab ging. Freunde machten mich damals auf Silvio Gesells »Neue Wirtschaftsordnung« (NWO) aufmerksam. Seine kristallklare Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge und seine Forderung nach kaufkraftstabilem Geld akzeptierte ich als die richtige Antwort auf die um sich greifende Deflation.

 

Das Buch, 1916 zum ersten Mal erschienen, fordert zwei grundlegende Reformen, um die Fehlentwicklungen unserer unnatürlichen Wirtschaftsordnung zu überwinden: zuerst die Reform des Geldwesens: Geld soll als Tauschmittel der Ware gleichgestellt werden. Es soll, wie die Ware, einem Umlaufzwang unterliegen. Gesells praktischer Vorschlag ist umlaufgesichertes Geld, früher auch Schwundgeld genannt.

 

Zweitens fordert er, daß Land ‑ gegen Vergütung ‑ in den Besitz der Allgemeinheit übergeht. Die Nutznießer sollen eine dem Wert ihres Grundstückes entsprechende Pacht zahlen, aus der den Müttern, die ja letzten Endes die Nachfrage nach Land und dessen Wert bestimmen, eine Mutterrente gezahlt wird.

 

Trotz der verschlechterten Wirtschaftslage fand ich nach meiner Rückkehr nach New York eine Stelle in der Redaktion einer Monatszeitschrift. Es war ein „Gesundheitsmagazin“, dessen Verleger eine Radiostation betrieb und ein aus Leinsamen bestehendes Abführmittel herstellte. Der Chefredakteur, nebenberuflich Heilpraktiker, pries in täglichen Gesundheitsratschlägen seinen Hörern dieses harmlose Allheilmittel an. Ich war einer von dem halben Dutzend Mitarbeitern, die seine Hörerpost beantworteten. Durch meine Reformhaus‑Tätigkeit verfügte ich über einschlägige Erfahrung. Selbstverständlich suchte ich nun den Kontakt zu Anhängern von Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre. Wir gründeten eine Vereinigung, die wir „Free Economy League“ nannten. Ich wurde zu ihrem Präsidenten gewählt. Auf dem eindrucksvollen Briefpapier unserer League schrieb ich Briefe an Kongreßabgeordnete, Vereine und an Organisationen, die für wirtschaftliche Reformen eintraten. Man lud mich ein, über Gesells »Neue Wirtschaftsordnung« zu reden und bei Diskussionen mitzumachen. Wir veranstalteten Tanzabende in einem Hotel, zu denen wir in Zeitungsannoncen einluden. Auf diese Weise kamen immer wieder neue Gruppen von jungen Leuten zu uns, mit denen wir über unsere Wirtschaftsreform‑Vorschläge reden konnten.

 

Es war erstaunlich, daß wir jungen, eingewanderten Deutschen, die weder in ihrer praktischen Arbeit erfolgreich, noch in den gängigen volkswirtschaftlichen Theorien beschlagen waren, so ernst genommen wurden. Man hörte uns zu. Man gab mir die Gelegenheit, vor großen, respektablen Vereinen zu reden. Die Menschen, die bisher ihr Wirtschaftssystem als naturgegeben betrachtet hatten, fingen an Fragen zu stellen. Etwas war passiert, das sie nicht verstanden. Man war wach geworden. Man suchte nach Antworten.

 

Um die damalige Zeit zu verstehen, muß man zum Ende des ersten Weltkrieges zurückgehen. Amerika war unter dem Motto »die Welt für die Demokratie sicher zu machen« in den Krieg gezogen. Als eigentlicher Sieger konnte es den Frieden diktieren; einen schlechten Frieden, wie sich herausstellte, aus einem Schuldnerland waren die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer Kriegslieferungen zum Gläubiger ihrer Alliierten geworden; die meisten haben ihre Schulden bis heute noch nicht beglichen. London mußte seine Funktion als der Bankier der Welt an New York abgeben; das dafür keinerlei Qualifikationen hatte.

 

Im Vollgefühl ihres tugendhaften Selbstgefühls verfügten damals die Amerikaner ‑ Nachkommen der Puritaner ‑, daß der Genuß alkoholischer Getränke von nun an nicht nur sündhaft, sondern auch verfassungswidrig sei. Ich habe viele ausgezeichnete Menschen kennengelernt, die aus Protest gegen diesen Eingriff in ihre persönliche Freiheit zu trinken begannen, obwohl sie genau wußten, daß sie ihren Wein, ihr Bier oder andere Getränke nur durch die von Gangstern beherrschten Organisationen beziehen konnten.

 

Die »Zwanziger Jahre« brachten die konservativen Politiker der republikanischen Partei an die Macht, die sich durch unerschütterlichen Optimismus und vor allem durch den Glauben an die Überlegenheit des amerikanischen Unternehmertums auszeichneten. »Alle Freiheit der Industrie, dem Handel und den Banken!« ‑ unter dieser Devise regierten sie. Und, wie es schien, mit vollem Recht:

 

Durch Erfindungen, wissenschaftliche Forschung, moderne Betriebsführung, die Elektrifizierung der Industrie und die Umstellung auf Fließbandproduktion wächst das Produktionsvolumen und die Produktivität der Arbeiter. Die Massenproduktion von Automobilen führt zum Ausbau des Straßennetzes und zur Entwicklung der Vororte. Hochhäuser verändern das Gesicht der Städte. Um die wachsende Produktion abzusetzen, wird die Werbung intensiviert. Radio ‑ das neue Medium ‑ steigert den Umsatz der Markenartikel. Der Lebensstandard in den Vereinigten Staaten wächst weit schneller als das Einkommen der Massen. Kundenkredite und Ratenkäufe machen's möglich. Die Stundenlöhne steigen, zwar langsamer, aber immerhin um fünf Prozent im Jahr. Die Arbeitszeit wird ebenso langsam verringert ‑ aber immerhin. Arbeitskämpfe gibt es kaum noch. Der damalige Präsident der Bethlehem Steel Company, Eugen Grace, spricht für die Arbeitgeber, die, ebenso wie die Arbeitnehmer, die Prosperität von höheren Löhnen abhängig machen.

 

»In den letzten zehn Jahren hat sich in unserem Wirtschaftsleben eine neue Ordnung herausgebildet. Es hat sich gezeigt, daß ‑ erstens ‑ die höhere Kaufkraft der Arbeiter die Grundlage unseres hohen Lebensstandards ist. Und zweitens, daß andauernde Prosperität und hohe Löhne Hand in Hand gehen.«

 

Nicht nur die Arbeitgeber huldigen der Allmacht des amerikanischen Kapitalismus. William Green, Präsident der mächtigen American Federation of Labor, der größten Arbeitergewerkschaft, sagt 1925:

 

»Die Arbeiterschaft weiß, daß der Erfolg von Management auch für sie Erfolg bedeutet .... Deshalb ist die Arbeiterschaft auch bereit, dem Management bei der Lösung seiner Probleme zu helfen. Die Arbeiter glauben, daß durch Verständigung und Kooperation den Interessen all derer, die an der Produktion beteiligt sind, gedient werden kann.«

 

Von 1922 bis 1927 erhöhen sich die Gewinne der amerikanischen Industrie im Durchschnitt um 9% im Jahr. In diesen Jahren schütten die industriellen Aktiengesellschaften jedoch jährlich nur 6,8% mehr Dividenden aus. Der Unterschied zwischen den 9%, die sie im Jahr mehr verdienen und den 6,8%, um die sie ihre Dividendenzahlungen erhöhen, investieren sie wieder in ihren Unternehmen. Das sind ansehnliche Beträge: Schätzungsweise 1 % des Reingewinns.

 

Bis 1927 steigen die Durchschnittswerte der Aktien um 14 % im Jahr. Das ist ein Durchschnitt, der durch den außergewöhnlichen Wirtschaftsaufschwung und den überschäumenden Optimismus der Wirtschaft und ihre erstaunliche Stabilität gerechtfertigt scheint. Zudem waren angeblich viele Aktienwerte vorher unterbewertet. Doch von 1927 bis Oktober 1929 steigen die Durchschnittswerte noch einmal um 100 %. Das hat weder mit dem Kapitalbedarf noch mit den Gewinnerwartungen der Industrie etwas zu tun. Das ist reine Spekulation. So werden vom Januar bis Oktober 1929 neun Milliarden an der New Yorker Börse investiert, von denen höchstens zwei Milliarden der Kapitalbeschaffung dienen.

 

Wir sollten hier, glaube ich, auf die eigentlichen Gründe für diese fieberhafte Spekulation eingehen. Wie war es möglich, daß von 1927 an die Kursnotierungen der Aktien an der New Yorker Börse die Beziehung zu ihrem eigentlichen Wert so völlig verloren hatten? Daß sie reine Spekulationsobjekte geworden waren?

 

Eine wichtige Ursache war die Automatik des internationalen Goldstandards, der 1925 mit amerikanischer Hilfe wieder Auferstehung gefeiert hatte. Er brachte Geld‑ oder Goldreserven ins Land, auch wenn kein Bedarf dafür bestand. Andererseits saugte er Goldreserven ab, auch wenn sie für den Bedarf des einheimischen Bankensystems zur Kreditgewährung an die Wirtschaft nötig waren. Nach den Spielregeln des Goldstandards hätten diese Schwankungen der Goldreserven automatisch das der Wirtschaft zur Verfügung gestellte Kreditvolumen beeinflussen müssen. In der Praxis waren sie jedoch harmlos, weil das Federal Reserve System durch entsprechende Maßnahmen die Wirtschaft vor schädlichen Einflüssen schützen konnte.

 

Wichtiger für den Gang der Ereignisse waren zwei Entwicklungen, auf die das Federal Reserve System nicht vorbereitet war ‑ und auf das es auch keinen direkten Einfluß nehmen konnte. Man hat ihm später ‑ nicht zu unrecht ‑ den Vorwurf gemacht, nicht einmal den Versuch gemacht zu haben, etwas dagegen zu unternehmen.

 

Die Ersten waren die Investment‑Trusts‑Gründungen von Banken, Makleragenturen und Effektenhändlern ‑ die sich an der Spekulation beteiligen wollten. Die Investment‑Trusts gaben eigene Aktien heraus, die Anteile an bestehenden Aktiengesellschaften repräsentierten. Man erwarb also die Aktien eines Investment‑Trusts, der mit den so empfangenen Geldern ein angeblich wohlausgewogenes Paket von Aktien kaufte. Auf diese Weise sollte das Risiko für den unerfahrenen Spekulanten auf ein Minimum reduziert werden. In der Theorie hörte sich das gut an. In der Praxis wirkte es sich schließlich verheerend aus.

 

Nicht nur, daß diese Investment‑Trusts oft betrügerische Neugründungen finanzierten. Sie konnten auch mehr Stammaktien angesehener alter Firmen verkaufen, als an der Börse angeboten wurden ‑ und so deren Werte ins Unermeßliche steigern. Anfang 1927 gab es etwa 160 Investment‑Trusts; Ende 1927 waren es schon 300. Zwei Jahre später waren es 750, davon eine große Anzahl, die von anderen Investment‑Trusts gegründet worden waren. 1927, als sie ihre Tätigkeit aufnahmen, verkauften sie Aktien im Werte von 440 Millionen Dollar. 1929 setzten sie schätzungsweise drei tausend Millionen Dollar um. Das war nicht weniger als ein Drittel des in jenem Jahr in Umlauf gekommenen Kapitals.

 

Der andere Faktor, der ein immer größeres Publikum in den Bannkreis der Wallstreet‑Spekulation zog, waren die Maklerkredite. Mit diesen Krediten brauchte der Käufer nicht mehr den vollen Preis für seine Aktien zu zahlen. Er mußte nur dem Makler die gekauften Aktien als Pfand für den Kredit, den dieser für ihn aufgenommen hatte, hinterlegen. Auf diese Weise war die Spekulation ganz einfach geworden:

 

Die Banken versorgten die Makler mit Geld; die Makler streckten es ihren Kunden vor; die Kunden hinterlegten die gekauften Aktien bei den Maklern als Pfand; und die Makler gaben die Aktien ihrerseits als Pfand für die gewährten Kredite an die Banken weiter. So mußte der spekulierende Kunde in bar nur einen Sicherheitsbetrag zahlen. Stiegen die Kurse, dann konnte er zu einem Gewinn verkaufen, der oft ein Vielfaches der Sicherheitssumme war. Fielen die Aktienwerte, dann mußte er den Sicherheitsbetrag erhöhen. Die für diese Aktienspekulationen bestimmten Kredite gehörten damals zu den sichersten und rentabelsten Geldanlagen. Denn sie waren ja durch Aktien abgedeckt, die unter normalen Umständen jederzeit verkauft werden konnten. Mit der zunehmenden Nachfrage nach solchen Krediten stiegen die Zinsen, die man dafür zu zahlen bereit war. 1927 waren es noch 5%; 1928 und 1929 waren sie auf 12%, ja sogar bis zu 20% (!) gestiegen.

 

Diese hohen Zinsen saugten nun immer mehr Geld in die Börsenspekulation. Nicht nur die Banken waren Lieferanten. Da waren Versicherungs‑ und andere Institute, die Spargelder verwalteten; und da waren die vielen Sparer selbst. Für viele Industrie‑ und Handelsfirmen war es einfacher und gewinnbringender, ihr Geld in die Spekulation zu stecken, als damit im eigenen Betrieb zu arbeiten. Zudem zogen diese hohen Zinsen auch Kapital aus den internationalen Geldmärkten an.

 

Maklerkredite sind ein ziemlich zuverlässiger Maßstab für das Ausmaß der Spekulation. Anfang der Zwanziger Jahre waren es im Durchschnitt 1 1/2 Milliarden Dollar. 1926 waren es schon 3 3/4 Milliarden; und im Oktober 1929 erreichten sie ihren Höhepunkt mit 8 1/2 Milliarden. Der größere Teil, nämlich 6,6 Milliarden, waren die erwähnten »Kredite von anderen«; knapp zwei Milliarden von den Banken,

 

An beiden Entwicklungen: Den Investment‑Trusts und den Makler‑Krediten hatten die Banken einen wesentlichen Anteil. Sie gründeten die meisten Investment‑Trusts oder lieferten die dazu benötigten Kredite; und sie waren hauptsächlich für die Expansion der Maklerkredite verantwortlich. Das Federal Reserve System hätte da bremsen müssen ‑ und können.

 

Während Anfang 1927 immer weitere Kreise vom Spekulationsfieber ergriffen werden, erleidet die amerikanische Wirtschaft einen leichten Rückschlag. Zwischen 1926 und 1928 fallen die Großhandelspreise durchschnittlich um 5 %. Das Nationaleinkommen steigt nicht mehr ‑ es geht sogar um 2 % zurück. Die Zahl der Arbeitslosen steigt von 880.000 auf über 2 Millionen. Im Frühjahr 1927 setzt das Federal Reserve System die Diskontrate herunter und kauft um 330 Millionen Dollar Staatsanleihen auf dem offenen Markt. Auf diese Weise wird die Kreditknappheit behoben und die Wirtschaft erholt sich zusehends. Aber auch die Spekulation bekommt neuen Auftrieb.

 

Was die Seifenblase der Spekulation schließlich zum Platzen bringt, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Außeramerikanische Entwicklungen sind dabei sogar wahrscheinlich ausschlaggebend gewesen. Die Beteiligung zahlreicher ausländischer Kapitalisten an der New Yorker Börsenspekulation hatte zum Abfluß erheblicher Geldbeträge aus London, Paris und anderen europäischen Hauptstädten geführt. Dadurch wurden die Zentralbanken dieser Länder unter Druck gesetzt, das Kreditvolumen zu verringern. In London kommt es zum Zusammenbruch des Hatry Konzerns, eines industriellen Imperiums, in Frankfurt meldet die Allgemeine Versicherungs Aktiengesellschaft Konkurs an. Die Bank von England erhöht ihren Diskontsatz auf 6 ½ %, gefolgt von den Schweden, Dänen und Norwegern. Mehr und mehr Ausländer sind gezwungen, ihre amerikanischen Aktien schnellstens zu Geld zu machen. Viel mehr scheint damals gar nicht nötig gewesen zu sein, um eine Lawine von Panikverkäufen auszulösen. Nach dem ersten Schock versuchen führende amerikanische Bankiers einen Pool zu organisieren, der durch massive Ankäufe einen Kollaps verhüten soll. Vergeblich. Am 29. Oktober werden 16 1/2 Millionen Stück Aktien umgesetzt ‑ ein Rekord, der fast vierzig Jahre lang nicht überboten wird. Der Index der Industrie‑Aktien fällt von 381 am 3. September auf 198 am 3. November ‑ ein Sturz auf fast die Hälfte der Werte innerhalb von zwei Monaten!

 

Banken, Industrie‑ und Handelsfirmen und Hunderttausende von Privatpersonen, die ihr Geld zu hohen Zinsen der Spekulation zur Verfügung gestellt hatten, wollen es jetzt wieder haben; und zwar sofort. Die Aktien, die sie dafür als Pfand bekommen hatten, sind nur noch die Hälfte wert. Beide haben verloren: die Kapitalgeber und die Spekulanten. Diese Spekulationsverluste; dieser katastrophale Sturz der Aktienwerte im Oktober‑November 1929: Das ist der große Börsenkrach.

 

Durch den Ankauf von Staatsanleihen und Handelswechseln einerseits und durch niedrige Diskontsätze andererseits, verhütet das Federal Reserve System, daß die Börsenpanik zur Geldpanik wird. Doch schenkt es der nun einsetzenden Deflation wenig Beachtung. Anfang 1930 wird ein schwacher Versuch zu ihrer Abwendung gemacht; doch als sich dann auch die Börse zu erholen beginnt, hört man damit wieder auf. Herbert Hoover ist Präsident, als Quäker‑Moralist zählt er die Börsenspekulation zu den Todsünden. Sie sind für ihn ‑

 

». . . Verbrechen, die viel schlimmer sind als Mord. Verbrechen, für die Menschen geächtet und bestraft werden sollen.«

 

Als einer seiner ersten Maßnahmen nach dem Börsenkrach lädt Präsident Hoover 400 führende Unternehmer ins Weiße Haus und beschwört sie, mit der Regierung in einer Art »konzertierter Aktion« einer drohenden Depression entgegenzutreten. Er sagt Regierungsaufträge von über 400 Millionen Dollar zu und erwartet, daß sie durch die Erweiterung und Instandsetzung ihrer Fabriken den Ausfall an Aufträgen wettmachen und so Arbeitslosigkeit verhindern helfen. Keinesfalls sollen die Löhne reduziert werden. Professor Mitschell, ein führender Volkswirt jener Tage, applaudiert dieser Initiative des Präsidenten ‑

 

»Man kann sich kein bedeutungsvolleres Experiment in der Technik des wirtschaftlichen Gleichgewichts vorstellen, als das, was hier vor unseren Augen unternommen wird.«

 

Und Professor Irving Fisher meint dazu,

 

»Wenn dieses große Experiment in Zusammenarbeit Erfolg hat . . . . dann wird ein neuer Sieg für die industrielle Demokratie gewonnen sein.«

 

Doch es gibt keinen Sieg. Im Gegenteil. Präsident Hoover beschränkt sich darauf, an das Vertrauen der Geschäftswelt zu appellieren. Er greift nicht ein, um gegen die Ursachen des Vertrauensschwundes anzugehen. Und was noch schlimmer ist, seine Regierung verfolgt eine konsequente Deflationspolitik, die das Land immer tiefer in die Wirtschaftsdepression hineintreibt. Von sechzig Botschaften, die der Präsident in den Jahren 1931/1932 an den Kongreß richtet, fordern zwanzig die allergrößte Sparsamkeit und einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Staatliche Fürsorge und Arbeitslosenunterstützung lehnt er aus Prinzip ab: Das sei gegen die Philosophie und Überzeugung der amerikanischen Gesellschaft. Gegen den Widerstand praktisch aller amerikanischer Volkswirte erhöht er die Einfuhrzölle für landwirtschaftliche Produkte um 70 %, ohne damit die Not der Landwirte, deren Einkommen um 70 % fällt, im geringsten zu lindern. Hier in Stichworten die Merkmale der amerikanischen Deflation:

 

Von 1929 bis 1932 fällt das Nationaleinkommen um 44%. Die Großhandelspreise sinken um 32%; die Preise für Farmprodukte um die Hälfte; der Index der Aktienwerte geht auf 1/4 seines höchsten Standes zurück. Bis 1933 machen 10.700 Banken bankrott, das heißt, jede vierte muß ihre Schalter schließen. Die bankrotten Banken ziehen Millionen Sparer und Geschäftsleute mit ins Elend. Der Umfang der Bank‑Darlehen nimmt um 60% ab. Von 25 Milliarden Dollar Kreditgeld werden 9 Milliarden gelöscht. Und der Rest zirkuliert nur noch halb so schnell: Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist um die Hälfte gesunken.

 

 

 

II

 

Das war die Situation, in der wir versuchten, die Lehre Silvio Gesells als einen Ausweg aus der Krise anzubieten. In dem Büro des Gesundheitsmagazins hatte ich ein junges Mädchen kennengelernt, das sich für Wirtschaftsfragen sehr zu interessieren schien. Sie lud mich ein, ein »Freundschafts‑Camp« zu besuchen, wo man für solche Dinge sehr aufgeschlossen sei. Es stellte sich heraus, daß es das Camp einer kommunistischen Gruppe war. Gegründet worden war es von Mitgliedern der Textilgewerkschaft. Die Leitung lag in den Händen des sogenannten »Workers College« ‑ einer marxistischen Arbeiterfortbildungsschule. Ich verbrachte mehrere Wochenenden in diesem Camp. Für wenig Geld lebte man in Zelten oder Baracken, aß in einer vorzüglich geführten Gemeinschaftsküche. Man trieb Sport, schwamm, sang, tanzte und am Lagerfeuer wurde man indoktriniert. Und man war ‑ für Amerika sehr ungewöhnlich ‑ klassenbewußt. Das ging so weit, daß man den zum Camp gehörenden Hund »Hoover« nannte; so konnte jeder den verhaßten »Hund« nach Herzenslust beschimpfen. Ich versuchte meine freiwirtschaftlichen Erkenntnisse anzubringen. Der Chef‑Ideologe lud mich ein, ihn im Büro der »Workers College« aufzusuchen. Dort hörte er meine Argumente geduldig und entspannt an und meinte dann: »Wenn Du recht hättest, hätten wir ja unrecht. Und das haben wir nicht.« Weiter bin ich in Diskussionen mit Kommunisten mein Leben lang nicht gekommen.

 

Um mich auf meine Vorträge vorzubereiten, suchte ich vor allem Kontakte mit Organisationen, die ähnliche Ziele verfolgten. So machte ich auch die Bekanntschaft des Sekretärs der »Stable Money Association« ‑ einer Organisation für Geldwertstabilität. Er beklagte sich bitter darüber, daß seine Mitglieder zwar eifrig gegen Inflation mitgearbeitet und Geld gestiftet hatten, ihr Interesse aber jetzt, wo es um Deflation ging, verschwunden war. Ja, man hatte sogar nicht einmal mehr das Geld, sein Gehalt zu zahlen. Er war glücklich, daß ich bereit war, ihm bei der Arbeit zu helfen. Bald darauf wurde er krank und starb. So wurde ich zum Liquidator der Organisation und durfte ihre großartige Bibliothek zu mir nehmen. Sie wurde zur Grundlage meines Fachwissens. Inzwischen nimmt die Not groteske Formen an. Mehr als 13 Millionen sind als Arbeitslose registriert ‑ ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung. Dazu kommen noch etwa 5 Millionen Kurzarbeiter. Der Verdienstausfall aller Amerikaner ‑ vom persönlichen Einkommen her berechnet ‑ ist um 40 Milliarden Dollar im Jahr größer als wenige Jahre zuvor. Die Staaten, Städte und Gemeinden versuchen mit insgesamt 400 Millionen Dollar ‑ mit Unterstützungsgeldern von 1 % ‑ die Not zu lindern. New York kann seinen notleidenden Familien nur 2 Dollar und 39 Cents pro Woche als Unterstützung geben. Die Stadt Toledo bringt nur etwas über 2 Cents pro Mahlzeit für ihre hungernden Bürger auf.

 

Zu Hunderttausenden verlieren Familien ihre Häuser, weil sie die Hypothekenzinsen nicht mehr zahlen können; weitere Hunderttausende werden aus ihren Wohnungen hinausgeworfen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen können. Man sieht die armselige Habe auf der Straße, die Familienmitglieder daneben, wie sie auf den Abtransport in Notquartiere warten ‑ Ein Bild wie im Krieg.

 

Millionenfach werden ganze Zimmereinrichtungen, Kühlschränke, Autos und Radios von den Geschäften wieder abgeholt, weil die fällige Monatsrate ausgeblieben ist ‑ auch wenn es manchmal die letzte von 24 war. An den Ecken der Großstadt‑Straßen stehen gutgekleidete Männer vor Obstkisten und bieten glatt polierte rote Äpfel an: Es sind arbeitslose höhere Angestellte und in Konkurs geratene kleine Unternehmer, die versuchen, ein paar Cents zu verdienen. In New York eröffnet ein wohltätiger Verleger Pfennig‑Restaurants, wo man für 1 Cent ‑ also für damals 4 Pfennige ‑ eine große Schüssel Weizen‑ oder Haferbrei bekommt. Die Aktion rettet Tausenden das Leben.

 

Charakteristisch für die durch die amerikanische Deflationspolitik ausgelösten Ereignisse ist der Marsch der Kriegsveteranen auf Washington. Im Jahre 1932 forderten die Veteranenverbände die sofortige Auszahlung eines erst 1945 fällig werdenden „Bonus“ ‑ eine Sondervergütung für geleistete Kriegsdienste. Die Veteranen leiden Not ‑ und da winken fast 2 1/2 Milliarden Dollar. 15.000 Veteranen mit ihren Frauen und Kindern pilgern also nach Washington, um vor dem Kongreßgebäude friedlich für ein entsprechendes Gesetz zu demonstrieren. Das Abgeordnetenhaus verabschiedet das Gesetz. Als es der Senat auf ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten ablehnt, protestieren die Veteranen. Hoover läßt sie samt Frauen und Kindern gewaltsam durch die Armee aus Washington vertreiben. Es gibt Tote, Verwundete ‑ und viel böses Blut.

 

Die hartgesottenen Republikaner, wie sie sich selbst nennen, applaudieren. Ihr Sprecher, General Dawes, Präsident der Bundes‑Wiederaufbau‑Behörde (der Reconstruction Finance Corporation), deren Aufgabe es ist, Großunternehmern finanziell unter die Arme zu greifen, schreibt damals an Präsident Hoover:

 

»Das Bonus‑Gesetz in einer Zeit des nationalen Wohlstandes abzulehnen, ist mutig und lobenswert. Es in einer Zeit der schlimmsten Wirtschaftsdepressionen abzulehnen, wenn Dogmatiker behaupten, es könne die Not lindern, ist heroisch. Ihre Festigkeit, unsere amerikanische Tradition der freiwilligen Hilfe gegenüber staatlicher Arbeitslosenunterstützung zu verteidigen, war um so schwieriger, als so viele schon schwach geworden waren, von denen man es nicht erwartet hatte. ‑ Ihre Feinde nutzen eine allgemeine Notlage, um ein fundamentales Prinzip einer guten Regierung zu verletzen.«

 

Die Pointe dieser Geschichte ist, daß General Dawes bald darauf seinen Posten aufgeben muß, um sich seiner wackeligen Bank in Chicago zu widmen, zu deren Rettung er dann von der Reconstruction Finance Corporation 90 Millionen staatlicher Unterstützung kassiert.

 

Ich hatte natürlich längst meine Stelle verloren und arbeitete dann bei einem ehemaligen Schiffsreeder, der praktisch alles verloren hatte. Mit seiner norwegischen Frau und einigen jungen Mädchen stellte er wunderbare Süßigkeiten aus Feigen, Datteln und Nüssen her, die er in prachtvolle Holzkistchen verpackte. Diese Leute, die vorher zu den großen Unternehmern gehört hatten, saßen nun in einem verlassenen Fabrikgebäude und versuchten durch ihrer Hände Arbeit zu überleben. Sie waren heiter, sangen bei der Arbeit, und er liebte es, dazu zu tanzen. Aber es war unmöglich geworden, »Luxusprodukte« wie diese zu verkaufen.

 

Mit einem halben Dutzend Freunden hatte ich damals eine riesige Wohnung billig gemietet. Einer von ihnen überlebte, indem er mit seiner Frau Handpuppen‑Vorstellungen in den Volksschulen gab. Ein anderer, ein hervorragender Facharbeiter, ging von Haus zu Haus und bot seine Dienste für Reparaturen an. Ein Dritter, vorher ein hochbezahlter Diplomingenieur, bastelte an einer Puppenbühne, mit der er klassische französische Dramen vorführen wollte. Er war der einzige der Gruppe, der Unterstützung bekam: Wöchentlich einmal ein 10‑Kilo‑Paket mit getrockneten Hülsenfrüchten, Mehl, Zucker, Fett, Kakao und Erdnußbutter. Das lieferte die Basis für unsere vegetarische Ernährung. In der Nähe gab es einen Straßenmarkt, wo man billig einkaufen konnte: Bananen für 1 Cent das Pfund, und das Grünzeug von Gemüsen und Salaten, das die Amerikaner nicht mochten. Wir ließen es uns schenken. Uns bekam diese Diät großartig.

 

Um diese Zeit arbeitete ich an einem Artikel über die Anwendung des von Gesell erfundenen »Schwundgeldes« im österreichischen Wörgl. Der Bürgermeister der Stadt war Freiwirtschaftler. Er hatte Notgeld drucken lassen, um Arbeitslose zu beschäftigen. Diese Wära genannten Scheine verloren wöchentlich 2% ihres Wertes. Um ihn zu erhalten, mußte der jeweilige Besitzer am Stichtag eine 2‑Heller‑Marke aufkleben. Da das keiner gerne tat, gab er seinen Schein so schnell wie möglich weiter. Das Experiment war geglückt und hatte in Deutschland Aufsehen erregt. Ich beschrieb es für die angesehene New Yorker Wochenzeitschrift »New Republic«.

 

Da las ich in der Zeitung, daß sich Irving Fisher, der bekannte Volkswirtschafts‑Professor der Yale Universität, für die Möglichkeit, die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zu beschleunigen, interessierte. Ich rief ihn an und erzählte ihm von der Erfahrung mit der Wära. Er lud mich zum Abendessen ein. Aufgrund der Pressenotiz hatte er zahlreiche Zuschriften erhalten. Würde ich ihm bei deren Beantwortung helfen? Begeistert sagte ich zu. Aus dieser Korrespondenz entwickelte sich ein kleines Buch mit dem Titel »Stamp Scrip« ‑ oder Stempel‑Notgeld ‑ mit Anleitungen zur Herausgabe von »Schwundgeld«.

 

Mehr als 500 Städte und Gemeinden waren an der Herausgabe schnell zirkulierenden Notgeldes interessiert. Darunter war auch Reading, eine Stadt von 100.000 Einwohnern im Staat Pennsylvania, die Irving Fisher bat, ihre Herausgabe von »Schwundgeld« persönlich zu überwachen. Er schickte mich als seinen Vertreter. Als Beauftragter der Stadt sprach ich dann mit den wichtigsten Gruppen: den Gewerkschaften, Vertretern von Handel und Industrie, den Banken und anderen. Ein Komittee wurde gegründet, das für die Aktion verantwortlich war. Die Scheine wurden gedruckt, die Verwendung festgelegt. Durch Vorträge im lokalen Radio bereitete ich die Bevölkerung auf den Tag »X« vor, an dem das »Schwundgeld« in Umlauf gesetzt werden sollte. Zwei Tage vorher, am 4. März 1933, wurde Präsident Roosevelt in sein Amt eingeführt. Eine seiner ersten Handlungen war, die Banken zu schließen, ein Moratorium für alle Schuldenzahlungen zu verfügen und jede Initiative zur Herausgabe von Notgeld zu verbieten. Das betraf auch uns in Reading.

 

Inzwischen hatte sich auch der Staat Oregon an Irving Fisher mit der Bitte gewendet, bei der Herausgabe von 80 Millionen Dollar »Schwundgeld« behilflich zu sein. Es war zur Finanzierung öffentlicher Arbeiten bestimmt. Fisher schickte mich nach Washington, um eine Ausnahmegenehmigung für dieses Unternehmen bei der neuen Regierung zu erwirken.

 

Einige Senatoren und Kongreß‑Abgeordnete unterstützten mein Vorhaben. Ich sprach mit der Arbeitsministerin, dem Innenminister und wurde dann zum Finanzminister geschickt, dessen Einwilligung unumgänglich war. Er war leider krank. Sein Vertreter, Dean Acheson, der spätere Außenminister, erklärte, er könne dafür die Verantwortung nicht übernehmen. Doch wenn sein Berater, der Harvard‑Professor Russell Sprague, nichts dagegen hätte, würde er es befürworten. Professor Sprague hörte mir geduldig zu und bat mich, am nächsten Tag wiederzukommen. Dann sagte er mir, er könne nicht zustimmen. Nicht, weil der Plan nicht erfolgreich sein könnte. Im Gegenteil, er fürchte, daß er, wenn er erfolgreich wäre, Schule machen und zur Reform des amerikanischen Geldwesens führen könnte. Und damit wolle er nichts zu tun haben. Damit war die »Schwundgeld«‑Initiative gestorben.

 

Dieser Rückschlag war nicht weiter tragisch. Denn es handelte sich ja um eine Notmaßnahme, die jetzt, wo begründete Hoffnung auf grundlegende Reformen bestand, nicht mehr so wichtig war. Irving Fisher hatte Präsident Roosevelt nach seiner Wahl, aber noch vor seinem Amtsantritt, ausführlich gesprochen, um ihm seine Vorschläge für die längst überfällige Geldreform zu unterbreiten. Roosevelt, mit dem scharfen Verstand eines überragenden Politikers, sah jedoch vor allem die drastischen Resultate der Depression, nicht ihre tieferen Ursachen. Ihm fehlte die Einsicht in die Zusammenhänge ‑ er zeigte die gleiche Kurzsichtigkeit, die er später auch in den Verhandlungen mit Stalin in Yalta bewies.

 

Roosevelt hatte dem »forgotten man« ‑ dem vergessenen Menschen ‑ einen New Deal versprochen: Die gründliche Reform der Wirtschafts‑ und Gesellschaftspolitik. In kürzester Zeit wurden entsprechende Maßnahmen ergriffen und Gesetze erlassen: Die Prohibition wurde abgeschafft; der Dollar abgewertet; Bankeinlagen versichert; Hypotheken re‑finanziert; der Aktienmarkt unter Kontrolle gebracht; der Anbau von Landwirtschaftsprodukten und deren Vertrieb reguliert; Sozialversicherung eingeführt; die Gewerkschaften kamen zu ihrem Recht; der Arbeitstag wurde verkürzt; Kinderarbeit verboten; Millionen von Arbeitslosen fanden bei öffentlichen Arbeiten Beschäftigung. In dieser Welle von Optimismus hofften wir nun, auch die wiederholt versuchte Reform des Geldwesens durchzusetzen. Professor Fisher schickte mich nach Washington, damit ich Mitgliedern des Senats und des Kongresses bei der Formulierung eines Stabilisierungsgesetzes helfe.

 

1928 war der letzte Versuch, solch ein Gesetz durchzubringen, am Widerstand des Federal Reserve Boards gescheitert; mehr aus Eifersucht zwischen Washington und New York als aus sachlichen Gründen. Das kam so:

 

Anfang der Zwanziger Jahre hatte der Gouverneur der New Yorker Federal Reserve Bank, Benjamin Strong, die Möglichkeit entdeckt, durch den Ankauf oder Verkauf von Staatsanleihen auf dem offenen Markt den Geldmarkt und damit auch die Wirtschaft stabilisierend zu beeinflussen. Strong begründete mit den Gouverneuren der wichtigsten der zwölf Federal Reserve Banken das sogenannte Offene‑Markt‑Komitee, dessen Funktion vom Board in Washington offiziell anerkannt wurde. Durch diese Initiative bewies Gouverneur Strong, daß die Macht des Federal Reserve Systems sehr wohl zur Aufrechterhaltung der Geld- und Wirtschaftsstabilität eingesetzt werden konnte. Umso erstaunlicher, daß Mitglieder des Boards später immer wieder bestritten, daß das System diese Macht überhaupt besitze.

 

So lange er lebte, bestimmte Gouverneur Strong durch seine Offene‑Marktpolitik die Kreditpolitik des Federal Reserve Systems. Praktisch übte er also die Funktion aus, die eigentlich dem Board in Washington zustand. Das führte zu Eifersüchteleien und Spannungen zwischen New York und Washington, die sicher auch dazu beitrugen, daß das Board später genau das Gegenteil von dem anordnete, was New York tun wollte.

 

Die Fehde zwischen Gouverneur Strong und dem Board in Washington ist eines der unheilvollsten und am wenigsten bekannten Beispiele für die entscheidende Rolle, die kleinliche Kompetenzstreitereien und Mißtrauen zwischen den Machthabern in einer geschichtlichen Entwicklung spielen können.

 

Gouverneur Strong hatte schon 1923 vor einem Kongreßausschuß Richtlinien für die Kreditpolitik formuliert, die noch heute, nach mehr als fünfzig Jahren, genau so aktuell sind wie damals. Die Jahresgutachten des deutschen Sachverständigenrates gehen von den gleichen Zielen aus, die Gouverneur Strong seinerzeit der Notenbankpolitik setzte:

 

»Ist die Arbeiterschaft voll beschäftigt? Nehmen die Warenvorräte zu oder ab? Entspricht die Produktion der Fassungskraft des Landes? Sind die Transportmöglichkeiten voll ausgenützt? Schleicht sich die Spekulation in den Erzeugungs‑ und Verteilungsprozeß ein? Werden die Rechnungen pünktlich bezahlt? Sind Nachbestellungen lange im voraus ergangen? Gibt das Volk in verschwenderischer Weise aus? Nimmt der Kredit zu? Sind die Marktsätze über oder unter den Reservebanksätzen?«

 

Man stelle sich vor, das Federal Reserve System hätte nach dem Börsenkrach 1929 so gehandelt! Es hätte einfach zu keiner so drastischen Deflation kommen können. Das Board hätte handeln können, ohne gegen die moralischen Grundsätze Präsident Hoovers zu verstoßen. Die Frage eines Gesundungsprozesses der Wirtschaft hätte nicht zur Debatte gestanden, denn die Wirtschaft wäre nicht todkrank geworden. Gouverneur Strongs Bewunderer waren immer der Ansicht, er würde auch gegen den Willen des Federal Reserve Boards nach diesen Grundsätzen gehandelt haben. Er hatte das Prestige, die Macht des von ihm geschaffenen Offenen‑Markt‑Komitees, ‑ und die notwendige kreditpolitische Erfahrung. Aber Strong war im Herbst 1928 gestorben. Es war niemand mehr da, der der Deflationspolitik von Washington hätte entgegentreten können. Und das war, in der letzten Analyse, der wesentliche Grund, warum dieser schrecklichen, folgenschweren Deflationspolitik der amerikanischen Regierung nicht frühzeitig Einhalt geboten wurde.

 

Im Jahre 1933 übernahmen die Leute, die ich beriet, weitgehend den von Gouverneur Strong fünf Jahre vorher formulierten Entwurf eines Stabilisierungsgesetzes. Ähnlich wie das 1967 erlassene deutsche Stabilisierungsgesetz, strebte es eine wachsende Wirtschaft und stabile Währung an. Kernpunkt des vorgeschlagenen Gesetzes war folgender Paragraph:

 

„Das Federal Reserve System soll alle Macht und Autorität, die es jetzt und in Zukunft besitzt, zur Aufrechterhaltung eines stabilen Goldstandards gebrauchen, ferner zur Stabilität des Handels, der Industrie, der Landwirtschaft und der Beschäftigung, ferner zu einer stabilen Kaufkraft des Dollars, soweit solche Ziele sich durch Geld‑ und Kreditpolitik erreichen lassen. Beziehungen und Transaktionen mit ausländischen Banken sollen mit den in diesem Paragraphen zum Ausdruck gebrachten Zielen nicht unvereinbar sein.“

 

Diesmal scheiterte der Gesetzesentwurf nicht nur am Widerstand des Federal Reserve Boards und der Banken, sondern auch an der Verständnislosigkeit der so mächtigen New Dealer. Ihr harter Kern, der auf Roosevelt großen Einfluß hatte, nannte sich »Technokraten«. Ihnen schwebte eine dank Planung krisenlose Wirtschaft vor ‑ ähnlich wie sie heute in der DDR praktiziert wird. Sie waren prinzipiell gegen die freie Marktwirtschaft und alles, was sie funktionsfähig machen konnte.

 

Bisher hatte mir Irving Fisher nur meine Unkosten vergütet. Jetzt, im September 1933, bot er mir einen Vertrag und ein bescheidenes Gehalt an. Ich sollte ihm helfen, ein Buch über die Geschichte der Geldwertstabilität zu schreiben. Genau ein Jahr später war es fertig. Sein Titel: Stable Money.

 

Als Reaktion auf die wirtschaftsfeindliche Einstellung der New Dealer in Washington hatten in New York die Protagonisten einer freien Marktwirtschaft das „Committee for the Nation“ gegründet. Für sie war unser Buch eine wichtige Hilfe. Denn es zeigte, daß ohne Geldwertstabilität soziale Gerechtigkeit und die Freiheit selbst gefährdet sind. Das Committee ließ von unserem, Präsident Roosevelt gewidmeten Buch eine eigene Ausgabe drucken. Kopien gingen an die Mitglieder der Regierung, an Senatoren und Kongreßabgeordnete, an viele Hunderte von einflußreichen Leuten der Politik und Wirtschaft im ganzen Land, und natürlich an die Mitglieder des Committees selbst.

 

Im Sommer 1935 fuhr ich wieder nach Deutschland ‑ teils um meine Familie wiederzusehen, hauptsächlich aber, um die Auswirkungen der Depression in den verschiedenen europäischen Ländern zu studieren. Als Mitarbeiter in Irving Fishers »Index‑Number Institute« hatte ich Gelegenheit, diese Auswirkungen statistisch zu beobachten. Mich interessierte nun zu erfahren, warum die europäischen Länder verschiedenen wirtschafts‑politischen Vorstellungen gefolgt waren.

 

 

 

III

 

Ausgehend von Amerika hatte sich die Deflation über den internationalen Goldstandard wie eine Infektion über die ganze Welt ausgebreitet. Alle waren Schuldner von Wall‑Street, die ehemaligen Alliierten der USA nicht weniger als ihr ehemaliger Feind, Deutschland. Kein Land konnte seinen Zins‑ und Rückzahlungen nachkommen; und Deutschland nicht seinen Reparationsleistungen, wenn ihm die Vereinigten Staaten nicht immer wieder die Dollars dafür gaben. Von 1926 bis 1929 überwiesen die USA jährlich 7 1/2 Milliarden Dollar ans Ausland, weitgehend zu diesem Zweck, und stabilisierten so die internationale Kreditstruktur. Als diese Transferzahlungen von 1929 bis 1933 um 68 % fielen ‑ von 7 1/2 auf 2,4 Milliarden ‑brach diese Kreditstruktur zusammen. Doch die Zahlungsverpflichtungen der Ausländer, insbesondere der Europäer, blieben bestehen. Vergeblich versuchten die Schuldnerländer, einschließlich Deutschland, durch äußerste Sparsamkeit und höhere Exporte die nötigen Dollar zu erwirtschaften.

 

Präsident Hoover hatte nur gesehen, daß die US‑Exporte sanken; daß die Schuldnerländer Waren zu Schleuderpreisen anboten, um zu Dollar für ihre Gläubiger zu kommen. Für ihn war das der Beweis, daß der Preisverfall und die Heftigkeit und Dauer der Depression vom Ausland kamen. Dagegen konnten sich die USA, meinte er, nur durch höhere Einfuhrzölle schützen. Aber die höheren Zölle erschwerten nicht nur die Exporte nach Amerika; sie machten auch weitere Zahlungen von Amerikas Schuldnern unmöglich. Im Herbst verfügte Hoover deshalb ein Schulden‑Moratorium, das Zins‑ und Rückzahlungen sowie Deutschlands Reparationsleistungen aufschob. Viel half das nicht mehr. Es konnte vor allem die Deflationsspirale nicht mehr beeinflussen. England gibt 1931 den Goldstandard ‑ und somit die feste Bindung an den Dollar ‑ auf. Damit entzieht es sich und die Länder des Sterling Block der Verpflichtung, weiterhin der amerikanischen Deflationspolitik zu folgen. Deutschland bleibt dem Goldstandard, der Deflation und der amerikanischen Depression weiter treu verbunden. Bis zum bitteren Ende. Bis Hitler 1933 die Macht ergreift.

 

Als das Buch „Stamp Scrip“ 1933 erschien, wurde Irving Fisher vom Amerika‑Korrespondenten des Deutschen Rundfunks um ein Interview gebeten, das über Kurzwellen direkt nach Deutschland ausgestrahlt werden sollte. Er beauftragte mich, das für ihn zu übernehmen. Mein Name wurde dadurch den deutschen Freiwirtschaftlern bekannt. Als ich dann 1935 nach Deutschland kam, konnte ich Interesse für eine deutsche Ausgabe von »Stable Money« (Irving Fisher, »Feste Währung«, Illusion und Wirklichkeit, Freiheit‑Verlag Heidelberg, 1948) wecken. Damals traf ich mich mit einer Gruppe von Freiwirtschaftlern in einer Villa im Grunewald in Berlin und war erstaunt und erschrocken, mit welchem Freimut da über Hitler und seine Vasallen gesprochen wurde. Man beruhigte mich mit der Erklärung, Himmler hätte sich schützend vor die Freiwirtschaftsidee gestellt, vor allem, um seinen Feind, den damaligen Reichsbankpräsidenten Schacht, zu provozieren. Unser Buch kam dann 1936 unter dem Titel »Feste Währung« tatsächlich heraus.

 

1935 besuchte ich neben Deutschland die skandinavischen Länder, Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien, die Schweiz und die Niederlande. Es gab praktisch drei Wirtschaftsblöcke: Die Goldblockländer mit Frankreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden, die weiterhin an Gold, einem festen Wechselkurs zum Dollar und an der damit verbundenen Deflation festhielten; dann den Sterlingblock ‑ England und die skandinavischen Länder, die 1931 den Goldstandard und die Bindung an den Dollar aufgegeben hatten und die seither wirtschaftlich weitgehend wieder gesundet waren; schließlich Deutschland und Italien, deren Volkswirtschaften in zunehmendem Maß vom Staat kontrolliert wurden. Deutschland hatte durch eine Politik staatlicher Arbeitsbeschaffung nicht nur die Arbeitslosigkeit überwunden, sondern auch seine Wirtschaft ohne Inflation wieder angekurbelt.

 

Als ich im Sommer 1935 den Gouverneur der Niederländischen Nationalbank fragte, warum sich sein Land nicht dem Sterlingblock angeschlossen habe, mit dem Holland ja nicht weniger Handel trieb als die skandinavischen Länder, erklärte er mir höchst offiziell und vor Zeugen, »Gulden heißt Gold. Der Gulden und Gold sind unzertrennlich!« Kaum ein Jahr später hatten sich die Niederlande vom Goldstandard getrennt. Diesmal war der Zentralbankgouverneur für mich leider nicht zu sprechen.

 

Ähnliches erlebte ich 1936 in der Tschechoslowakei. In Prag hatte ich ein langes Gespräch mit dem Gouverneur der Tschechischen Zentralbank, der seine deflationäre Finanzpolitik vehement verteidigte. Sie war auf die Interessen der Tschechischen Großindustrie ausgerichtet, schadete aber der auf Export angewiesenen Kleinindustrie des Sudetenlandes. Das dort herrschende Elend war mitverantwortlich dafür, daß Hitlers Einzug wenige Jahre später von vielen als ein Akt der Befreiung betrachtet wurde. Nachdem ich dem Zentralbankier eine Kopie meines Artikels über die Entwicklung seines Landes geschickt hatte, schrieb er einen empörten Brief an Irving Fisher. »Ich habe Ihrem jungen Mann mit großer Geduld die Situation unseres Landes dargelegt. Nun schreibt er genau das Gegenteil. Hätten Sie mir nicht einen intelligenteren Assistenten schicken können?« Die Entwicklung gab mir aber ‑ leider ‑ recht.

 

Als ich von dieser Reise zurückkam, wollte ich über die Erfahrungen, die ich in Europa gesammelt hatte, ein Buch schreiben. Daraus wurde aber nichts. Statt dessen betrieb ich die Herausgabe einer Festschrift zu Ehren von Irving Fishers 70. Geburtstag. Sie erschien pünktlich unter dem Titel »The Lessons of Monetary Policy« ‑ die Lehren der Geldpolitik ‑ mit Beiträgen führender Volkswirte aus der ganzen Welt.

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der auch in den USA die Funktionen der freien Wirtschaft völlig den Bedürfnissen der Kriegswirtschaft untergeordnet hatte, hatte sich das allgemeine Bewußtsein auf dem Gebiet der Geldpolitik gewaltig verändert. So schrieb das Federal Reserve Board in seinem Jahresbericht von 1945:

 

»Das Federal Reserve Board glaubt, seine Politik muß ‑ soweit das in den Grenzen der Geld‑ und Kreditpolitik möglich ist ‑ vor allem dem Zweck dienen, einen Beitrag zur Erreichung von Bedingungen zu leisten, die für ein Höchstmaß an kontinuierlicher Produktion und Beschäftigung förderlich sind. Traditionellerweise wurde diese Grundsatzpolitik dadurch befolgt, daß die Kreditbedingungen erleichtert wurden, wenn deflationistische Faktoren vorherrschten, und umgekehrt durch restriktive Kreditmaßnahmen, wenn inflationistische Tendenzen drohten.«

 

Im Herbst 1946 wurde in den Vereinigten Staaten ein Arbeitsgesetz verabschiedet, das die Regierung verpflichtete,

 

». . . alle praktischen Mittel im Rahmen seiner Bedürfnisse und Verpflichtungen so einzusetzen, daß Bedingungen geschaffen und erhalten werden, unter denen es nutzbringende Arbeitsmöglichkeiten für alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen gibt, sowie ein Maximum an Beschäftigung, Produktion und Kaufkraft.. .«

 

In Deutschland wurde 1963 durch Gesetz der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ins Leben gerufen, der

 

». . . in seinen periodischen Gutachten die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen (soll). Dabei soll er untersuchen, wie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsgrad und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können.«

 

In den mehr als fünfzehn Jahren seiner Existenz ist der Sachverständigenrat seinen Verpflichtungen in hervorragender Weise nachgekommen. Sein erstes Jahresgutachten erschien 1965 unter dem Titel »Stabiles Geld ‑ Stetiges Wachstum« ‑ das letzte, im Dezember 1978, heißt »Wachstum und Währung«. Jahr um Jahr hat er, seinem Auftrag gemäß, auf die Gefahren hingewiesen, die sich aus der aktuellen Entwicklung für wirtschaftliche Stabilität und Wachstum ergeben haben. Es ist ihm jedoch mit seinen Warnungen nur selten gelungen, die von Gesetz wegen angesprochenen »wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen« zu den erforderlichen präventiven oder korrigierenden Maßnahmen zu bewegen. Vergeblich hat er vor einer durch Aufwertung und Kreditrestriktionen drohenden Rezession gewarnt; vergeblich plädierte er frühzeitig für flexible Wechselkurse, die den Zustrom von Dollars und damit die »importierte Inflation« weitgehend vermieden hätten; vergeblich wies er auf die Unmöglichkeit hin, die Arbeitslosigkeit durch steigende Lohnkosten zu reduzieren. Da der Sachverständigenrat jedoch keine konkreten Empfehlungen aussprechen darf, kann man ihn auch nicht für die Entscheidungen der Politiker verantwortlich machen. Trotzdem wurde er immer wieder angefeindet und verleumdet ‑ von Regierung und Opposition, von Unternehmern und Gewerkschaftlern: Ein Beweis und ein Kompliment für seine Unabhängigkeit. Doch ein Garant für Stabilität und Wachstum kann er unter diesen Umständen nicht sein.

 

Um dieses Ziel zu erreichen, beschloß der Bundestag schon im Juni 1967 ein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums«, dessen Paragraph (1) lautet:

 

»Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts‑ und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Wachstums zu beachten. Die Maßnahnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsgrad und zu außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum beitragen.«

 

Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes hat die D‑Mark mehr als 60% ihrer Kaufkraft verloren; gab es eine Periode der Überbeschäftigung, die Millionen von Fremdarbeitern ins Land sog; ist es nach vier Jahren noch immer nicht gelungen, des Problems von einer Million Arbeitslosen Herr zu werden. Es ist offensichtlich: Diesem Gesetz fehlen die Zähne; es fehlen ihm die Durchführungsbestimmungen, die es wirksam machen könnten. Ich glaube, man kann mit einiger Gewißheit behaupten, daß die »wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen« im gegebenen Fall immer sehr wohl wissen, welche Maßnahmen erforderlich wären. Sie sind sich aber auch bewußt, daß solche Maßnahmen meistens den Abbau von Privilegien erfordern, auf die keine Gruppe freiwillig zu verzichten bereit ist ‑ ganz gleich, wie wichtig das für die allgemeine Wohlfahrt wäre.

 

So bleibt die Frage, ob wir aus dem Börsenkrach von 1929 und der darauf folgenden Weltdepression gelernt haben, leider noch unbeantwortet. Wir haben zweifellos viel gelernt. Zweifellos ist auch manches viel besser geworden. An der Habgier und der Selbstsucht der großen Massen und dem Machthunger der Mächtigen hat sich kaum etwas geändert.