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1. Die regierende Politik in unserem
formal vereinten Land ist in einem Zu-
stand von gnadenloser Ungerechtigkeit,
Sozialverschleiß und fehlenden Perspek-
tiven versunken.
Im fünften Jahrzehnt ihrer Existenz wird in
der Bundesrepublik der soziale Konsens,
auf dem ihr Erfolg beruhte, durch radikale
Umverteilung zugunsten der Einfluß-Rei-
chen zerstört. Der kalte Krieg gegen den
Sozialstaat hinterläßt eine andere Republik.
Was von der Bundesregierung unter der
Vorspiegelung von Reformen verfügt wird,
erweist sich als geistig-moralischer Bank-
rott.
Der Notstand ständig steigender Arbeits-
losigkeit führt Staatshaushalte und Sozial-
versicherungssysteme in die Krise und der
öffentliche Schuldendienst vermehrt den
Reichtum der Banken und der Besitzer gro-
ßer Geldvermögen. So entsteht Macht, die
nicht demokratisch legitimiert ist. Es han-
delt sich nicht um einen Konjunkturein-
bruch, vielmehr stehen wir mitten in einem
Epochenwechsel. In dieser Lage müssen
sich in unserem Land alle gesellschaftli-
chen Kräfte zusammenfinden, die bereit
und imstande sind, die Verantwortung für
die soziale Demokratie mit der Bindung an
ein soziales Europa zu übernehmen.
2. Gerechtere Verteilung der Einkom-
men und Güter ist die zentrale Aufgabe
einer neuen Politik.
Die deutsche Einheit wird zum massivsten
Umverteilungsprozeß von unten nach oben
seit Bestehen der Bundesrepublik miß-
braucht. Niemand unterschätze die Drama-
tik der Lebenssituation in den ostdeutschen
Ländern: Sehr viele neue Bundesbürger
erleben, was gegenwärtig geschieht, als
Enteignung ihrer erworbenen Rechte und
ihrer Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit,
Mitmenschlichkeit. Im Westen meinen vie-
le, sie geben ihr Bestes dem Osten, dort
meinen viele, man nimmt ihnen das Letzte.
In Ost und West gemeinsam sehen sich
jedoch Millionen Mitbürger durch immer
schwerwiegenderer Belastungen vor unlös-
bare Probleme gestellt.
3. Wir brauchen eine andere Politik, also
brauchen wir eine andere Regierung.
Wer sie will, muß aus der Zuschauerde-
mokratie heraustreten. Wir brauchen eine
außerparlamentarische Bewegung. Sie muß
auf die Opposition in den Parlamenten
überspringen. Die Erfahrung von 1968 und
der Geist von 1989 sind für 1998 auf-
gerufen, den Machtwechsel herbeizufüh-
ren. Resignation löst kein Problem. Sie rich-
tet nur Schaden an.
Viele denken: bis hierher und nicht weiter!
Ihr Sammelpunkt ist der Wunsch nach
Verwirklichung der sozialen Menschen-
rechte und die Verantwortung für die
Bewahrung der natürlichen Lebensgrund-
lagen. Wir brauchen eine Regierung, die
das Volk nicht als Gegner behandelt, des-
sen Widerspruch es zu brechen gilt.
4. Wir brauchen eine andere Politik.
Oberstes Ziel muß das Überwinden der
Massenarbeitslosigkeit sein. Es fehlen in
der Bundesrepublik 6 bis 7 Millionen Ar-
beitsplätze. Die Gründe dafür liegen nicht
im mangelnden Export. Auch nicht bei den
Lohnstückkosten und angeblich überteu-
erten Sozialpflichten.
Sie liegen bei der enorm gestiegenen Pro-
duktivität, den rückläufigen Wachstumsra-
ten und den versäumten Konsequenzen für
die Arbeitszeit. Auch fehlt es an Bin-
nennachfrage und vorausschauendem Ma-
nagement.
"Kapitalisten, hört die Signale!" über-
schrieb unlängst die Züricher Weltwoche
einen Leitartikel, der fragte: Wer soll die
Waren kaufen, wenn die Bevölkerung im-
mer weniger verdient?
Die Schulden der einen sind die Gewinne
der anderen:
Jede Schuldenmilliarde der
öffentlichen Hände macht Bund, Länder
und Kommunen abhängiger von den Geld-
gebern. Kapital ist reichlich vorhanden:
Neuneinhalb Tausend Milliarden Mark
macht die Summe der persönlichen Ver-
mögen in der Bundesrepublik aus. Die Hälf-
te davon gehört zehn Prozent der Haushal-
te. Zugleich wirken angekündigte Massen-
entlassungen wie Siegesmeldungen an der
Börse. Sie treiben die Aktienkurse nach
oben und machen die Aktionäre zu Profi-
teuren der sozialen Perspektivlosigkeit der
Arbeitslosen.
Wer für die Benachteiligten nur noch den
Zynismus "Sozialneid!" übrig hat, ver-
höhnt die Sozialpflicht des Eigentums nach
dem Grundgesetz. Die herrschende Politik
zerteilt die sozial begründete Republik. In
ihrem Polarkreis erstarrt das Eintreten für-
einander.
* Wenn Notstand an Arbeit herrscht, muß
sie neu und gerecht verteilt werden, durch
weitere radikale Verkürzung der Arbeits-
zeit bei angemessenem Lohnausgleich.
* Die Bekämpfung der Massenarbeitslo-
sigkeit muß sich an dem Leitbild eines
neuen Typs von Vollbeschäftigung für
Männer und Frauen orientieren. Die Er-
werbsarbeit der Zukunft muß stärker denn
je auf gesellschaftlichen Nutzen und
ökologische Nachhaltigkeit verpflichtet
werden. Finanzierung von Arbeit statt Ar-
beitslosigkeit.
* Wir brauchen den Einstieg in eine öko-
logische Steuerreform, und wir brauchen
Reformen des Sozialstaats, die den Na-
men verdienen: Die Systeme der sozialen
Sicherung müssen armutssicherer ge-
macht werden.
* Der historisch-politische Auftrag des
Grundgesetzes erfordert angesichts sich
ausbreitender Massenarmut eine Stärkung
der Prinzipien des Solidarausgleichs und
der sozialen Mindestsicherung.
* Statt die "Zwänge" der deregulierten
Güter- und Kapitalmärkte als Schicksal
hinzunehmen, brauchen wir eine Regie-
rung, die handelt: Sie muß in der Euro-
päischen Union, der Welthandelsorga-
nisation, gegenüber dem internationalen
Währungsfonds und der Weltbank für
sozialökologische und demokratische
Rahmenbedingungen eintreten.
5. Wie ist das alles finanzierbar?
Ein einziges Kriterium würde Entschei-
dendes ändern: Steuerehrlichkeit. Die
Finanz- und Steuerpolitik muß ihren
Kurs korrigieren. Geldtransfers, Gewin-
ne, Groß-Erbschaften, Vermögen, Speku-
lationen mit Grund und Boden und Um-
weltzerstörung müssen spürbar stärker be-
steuert werden.
Durch einen gesetzlichen Ausgleich der
Lasten zwischen West und Ost, Alt und
Jung, Erben und Armen kann die Bun-
desrepublik um vieles humaner werden.
Was in den fünfziger Jahren an Um-
verteilung gelang, sollte angesichts des
Reichtums Hunderttausender und der
Vermögen von Millionen nicht wiederhol-
bar sein?
6. Gebraucht wird eine Opposition, die
den Wechsel mit allen Kräften will.
Sie kann nur aus den bisher getrennten
Oppositionskräften entstehen. Kein Nicht-
berührungsgebot darf sie schrecken, zu-
mal die amtierende Macht sich in eigener
Sache keineswegs darum schert: Der
Kanzler versichert Reformsozialisten in
Osteuropa seiner Freundschaft. Im Inne-
ren der Republik sind Reformsozialisten
für ihn der böse Feind, obwohl seine
Regierung 1990 und 1994 mit Kadern der
vier früheren SED-Schwesterparteien die
Mehrheit errang.
Allzu schnell hat sich die veröffentlichte
Meinung darüber hinwegtäuschen lassen.
Wir brauchen eine Regierung; die ohne
inneres Feindbild regiert. Das Gut-Böse-
Schema aus der Zeit der Systemkonfron-
tation kann das Vollenden der Einheit nicht
leisten.
Von der SPD fordern wir: Mut zur Op-
position auf ganzer Linie. Die Mehrheit
der Bevölkerung traut ihr mehr Gerech-
tigkeit zu, aber noch nicht die Entschlos-
senheit zur Macht, sie auch zu verwirkli-
chen. Die sozialdemokratische Mehrheit
im Bundesrat überträgt ihr eine zwiespäl-
tige Rolle, weil nur zu oft der Eindruck
einer großen Koalition entsteht. Die SPD
muß ihrer Herkunft als Partei der sozial-
staatlichen Reformen auf neue Weise ge-
recht werden: sie muß auch in nachhaltig
veränderten Zeiten mehr Demokratie wa-
gen.
Von Bündnis 90/Die Grünen fordern
wir: Den begonnenen Weg der Über-
windung ihrer "Ein-Punkt-Kompetenz"
(Ökologie) fortzusetzen. Sie sollte auch
Kontur als soziale Reformkraft gewinnen
und den Eindruck widerlegen, sie wolle
am Ende die FDP ersetzen. Wer von den
Grünen diese Vorstellung absurd empfin-
det, wird die Mathematik der Mehrheit rea-
listisch sehen. Es gilt, für eine parlamenta-
rische Kraft neben der SPD, die in den
ostdeutschen Ländern eindrucksvoll ge-
wählt wird, offen zu sein.
Von der PDS fordern wir: Ihre Positionen
zum historisch gescheiterten Sozialismus-
modell weiter zu klären. Es geht nicht um
Demutsgesten und den Verzicht auf anti-
kapitalistische Strömungen. Es geht um de-
mokratische Zuverlässigkeit bei aller Ent-
schiedenheit, eine demokratisch-sozialisti-
sche Kraft im Spektrum der Parteien zu
sein.
An alle drei Parteien: Sie dürfen der Ver-
antwortung nicht ausweichen, sobald die
Mehrheit für den Wechsel möglich wird.
Lassen Sie niemand im Zweifel, wie schwie-
rig es sein wird, Kompromisse einzugehen
und dennoch die eigene Unverwechsel-
barkeit zu bewahren. Gleichzeitig die Kraft
für neue Konzeptionen, Theorie und Vision
aufzubringen, erfordert Toleranz in den ei-
genen Reihen.
7. Wir brauchen eine andere Regierung.
Ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch kann
die Mehrheit in Bonn und für Berlin verän-
dern. Parteiförmige Politik allein kann das
Vertrauen der Bevölkerung in ihre Demo-
kratie nicht mehr hinreichend begründen.
Unzählige sagen sich heute: Grundlegen-
des muß sich verändern. Und viele fragen
sich: Wer soll das tun, wenn nicht wir, und
wann, wenn nicht jetzt. Wir brauchen ein
Bündnis für soziale Demokratie. Lassen wir
uns an der Schwelle zum neuen Jahrtausend
den Wert von Visionen nicht ausreden, und
beginnen wir zu handeln.
Berlin/Erfurt, den 9. Januar 1997/
Die Unterzeichnenden:
Prof. Dr. Elmar Altvater; Frank Castorf
Intendant der Volksbühne Berlin; Daniela
Dahn, Schriftstellerin; Prof. Dr. Ulrich
Duchrow, Landeskirchlicher Beauftragter
für Mission und Ökumene; Ulrike Duch-
row, Studienrätin; Dr. Dr. Heino Falcke,
Probst i.R.; Matthias Freitag, Bezirksvor-
sitzender der Eisenbahner-Gewerkschaft
Thüringen und Sachsen; Prof. Heinrich Fink,
Komitee für Gerechtigkeit; Dr. Hans-Jür-
gen Fischbeck, Physiker; Günter Grass,
Schriftsteller; Max von der Grün, Schrift-
steller; Stefan Heym, Schriftsteller; Prof. Dr.
Rudolf Hickel; Prof. Dr. Walter Jens, Präsi-
dent der Akademie der schönen Künste; Dr.
Inge Jens, Literaturwissenschaftlerin; Die-
ter Keip, Pfarrer; Toni Krahl, Rockmusiker;
Dieter Lattmann, Schriftsteller; Dr. theol.
Gerhard Liedke, Pfarrer; Marion Liedke,
Oberstudienrätin; Heiko Liez, Pfarrer; Prof.
Dr. Peter von Oertzen, Prof. Dr. Norman
Paech; Ulrich Plenzdorf Schriftsteller; Bodo
Ramelow, HBV-Vorsitzender Thüringen; Dr.
Edelbert Richter, Theologe, MdB; Prof. Dr.
Horst Eberhard Richter, Psychoanalytiker;
Dr. Erika Runge, Schriftstellerin und Psycho-
analytikerin; Herbert Schirmer, Kulturmini-
ster a. D.; Gisbert Schlemmer, Vorsitzender
Gewerkschaft Holz und Kunststoff; Horst
Schmitthenner, Geschäftsführendes Vor-
standsmitglied IG Metall, Friedrich Schor-
lemmer, Theologe und Publizist; Prof. Dr.
Drothee Sölle; Frank Spieth, DGB-Vorsit-
zender Thüringen; Eckart Spoo, Journalist;
Prof. Dr. Uwe Wesel; Gerhard Zwerenz,
Schriftsteller, MdB.
Kontaktadresse: ERFURTER ERKLÄRUNG; C/O
Kulturverein Mauernbrechen e. V.; Haus
der Gewerkschaften, Juri-Gagarin-Ring 150;
99084 Erfurt