Gästebuch www.geldreform.de
Die grossen Ökonomen
Eine Artikelserie der Wochenzeitung DIE ZEIT: „Zeit der Ökonomen“;
1992/1993
Herausgegeben von Nikolaus Piper, 2. Auflage, 1996, Schäfer Poeschel
ISBN 3-7910-1044-1
Inhalt
Vorwort V
Vorläufer
Aristoteles: Wie modern
ist die Antike? 3
Thomas von Aquin: Die
Zeit gehört Gott 8
Luca
Pacioli: Algebra des Kapitals 14
Francois Quesnay: Reiche
Bauern, reiches Land .... 20
Klassiker
Adam Smith: Das System
der natürlichen Freiheit 29
David Ricardo: Geiz der
Natur 37
Thomas Robert Malthus:
Lob der Enthaltsamkeit 44
Jean-Baptiste Say: Alles
pendelt sich ein 50
John Stuart Mill:
Freiheit und Sozialismus 55
Neoklassiker
Leon Walras: Die
Weisheit des Auktionators 63
Vilfredo
Pareto: Marx der Bourgeoisie 69
Alfred Marshall:
Ökonomie gegen die Armut 75
Arthur Cecil Pigou: Im
Zeichen des Krebses 82
Österreicher
Carl
Menger: Das Ich und der Wert 91
Joseph
Schumpeter: Der Unternehmer als Pionier 97
Friedrich
August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit 105
Ludwig
von Mises: Der gefährliche Staat 112
Deutscher Sonderweg
Johann Heinrich von
Thünen: Die Mathematik des Ackerbaus 121
Friedrich List: Zölle
fürs Vaterland 127
Gustav von Schmoller:
Die Macht der Sittlichkeit 133
Werner Sombart: Verstehende
Nationalökonomie 138
Emil Lederer: Neue
Produkte gegen Arbeitslosigkeit 144
Heinrich von
Stackelberg: Welt ohne Gleichgewicht 149
Keynes und die Folgen
John Maynard Keynes: Der
Staat als Hebel 157
Michal Kalecki:
Wohlstand durch Nachfrage 163
Pierro
Sraffa: Asket im Cambridge Circus 170
Joan Violet Robinson:
Genie im Männerzirkus 176
Nicholas Kaldor: Galilei
aus Überzeugung 182
Wesley C. Mitchell: Die
intelligente Wirtschaft 188
Ordoliberale
Walter Eucken: Die Ordnung der
Freiheit 197
Wilhelm Röpke: Masseneigentum
und Freiheit 202
Kritiker
Karl Marx:
Weltgeschichte mit Heilsplan 211
Thorstein Veblen:
Gelächter im Gottesdienst 218
Gunnar
Myrdal: Jenseits des Laisser-faire 229
Russische Tradition
Nikolai D. Kondratjew:
Wellen des Fortschritts 237
Wassily Leontief: Die
ganze Wirtschaft auf einem Tableau
Wege der Moderne
Paul Anthony Samuelson:
Der letzte Generalist 253
Nicholas
Georgescu-Roegen: Vor uns der Niedergang 260
Edgar Salin: Der letzte
Humanist 268
Milton Friedman: Geld,
Freiheit, Ideologie 274
George J. Stigler: Der
missbrauchte Staat 281
John Kenneth Galbraith:
Schreiben, schreiben, schreiben 286
Ronald Coase: Der Preis
des Marktes 293
James Tobin: Vater der
Globalisierung 298
Mancur Olson: Offenheit
macht reich 304
Autorenliste 309
Silvio Gesell begründete
die Freiwirtschaftslehre.
Der exotische
Außenseiter hat noch heute viele Anhänger
Von
Gerhard Senft
Was den Zins des Geldes nicht einträgt, bleibt
ungeboren.«
Silvio Gesell
Manch einer sah in ihm den »Old Shatterhand der
Nationalökonomie«. John Maynard Keynes hingegen war überzeugt, daß die Welt von
ihm mehr lernen werde als von Karl Marx. Schon von seiner Biographie her
vermittelt der deutsch-argentinische Ökonom und Sozialreformer Silvio Gesell
das Bild eines außergewöhnlichen Menschen und Abenteurers. Geboren 1862 im
heute belgischen St. Vith in den Ardennen, verbrachte Gesell seine Lehrjahre in
Spanien und wanderte dann nach Argentinien aus, wo er ein beachtliches
Unternehmen, die Casa Gesell, aufbaute. Als der Betrieb florierte, zog er sich
wieder nach Europa zurück, lebte als Hörndlbauer und Bienenzüchter in der
Schweiz, begann, sich autodidaktisch mit Ökonomie zu befassen, und entwickelte
dabei sein Programm - die Freiwirtschaftslehre. 1916 erschien sein Hauptwerk:
»Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld«.
Über eine entsprechende Geldpolitik, so dessen Kernthese,
ist die Entfesselung der Produktivkräfte und damit ein höheres Lebensniveau
aller Bevölkerungsschichten möglich. Sein Credo verhallte nicht ungehört, im
März 1919 hievten ihn Mitglieder der bayerischen Räteregierung in den Sessel
des Finanzministers.
Seine Amtsperiode währte jedoch nur kurz, nach
Niederschlagung der Räterepublik verbrachte er einige Zeit im Gefängnis. In den
zwanziger Jahren arbeitete Gesell vor allem als Publizist - nicht ohne
Resonanz: Eine wachsende Zahl von Anhängern versuchte, seine Ideen inhaltlich
und praktisch weiterzuentwickeln. An den Freigeldexperimenten in der Zeit
zwischen 1929 und 1933 nahm er aber keinen Anteil mehr, er starb im März 1930
nach kurzer Krankheit.
Ganz bewußt griff Silvio Gesell im Titel seines
Hauptwerkes den Begriff der „natürlichen Wirtschaftsordnung« auf. Bereits Adam
Smith und vor ihm die französischen Physiokraten hatten diesen Begriff geprägt,
um ihn - ganz im Banne der Aufklärung - der „göttlichen« Ordnung des
Feudalsystems entgegenzusetzen: Die Harmonie in Wirtschaft und Gesellschaft
sollte aus dem »Naturzustand«, aus der Vernunft und aus dem freien Spiel der
Kräfte hervorgehen. Gesell lobte dieses Bild der natürlichen Ordnung, glaubte
aber nicht, daß es aus sich selbst heraus entstehen kann. Eine Ordnung dürfe
nur dann als »natürlich« bezeichnet werden, wenn sie ohne Privilegien, Monopole
und Vorherrschaft des Kapitals bestehe. Die »natürliche Wirtschaftsordnung« muß
demnach »hergestellt« werden durch Beseitigung von Vorrechten, durch Schaffung
von Chancengleichheit für alle.
Keynes deutete Gesells Grundanliegen als Aufbegehren
gegen das Laisser-faire-Prinzip. Trotzdem ist er kein typischer Vertreter eines
Staatsinterventionismus, da er nur mild dosierte Regulierungsmaßnahmen
vorschlägt: Eingriffe in den Geldsektor und die Regelung des Grund-und-Boden-Verkehrs
reichen völlig aus, um die störendsten Defekte zu beseitigen. Gesell versucht
damit, Wirtschaftssteuerung mit dem Konzept eines Minimalstaates auf einen
Nenner zu bringen.
In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Gesell die These
von der »Streikfähigkeit des Geldes«: Die Überlegenheit des Geldes auf dem
Markte gegenüber Ware und Arbeitskraft bewirkt, daß sich der Geldsektor
jederzeit ungestraft »weigern« kann, seine ihm zugedachten Aufgaben zu
erfüllen. Der »Geldbesitzer« oder Kapitalverwalter (bei Gesell ist Geld das
»Urkapital») hat die Möglichkeit – im Gegensatz zu den Anbietern von Ware oder
Arbeitskraft -, seine Mittel zurückzuhalten, bis sich die Austauschbedingungen
für ihn verbessert haben. Dies führt zu Konjunkturschwankungen und einer
ungerechten Einkommensverteilung, da die Knappheit des Geldes den
»Geldmehrwert« (Zins) als leistungslosen Ertrag hervorbringt.
Aus dieser Interpretation entwickelt Gesell seine Vorschläge zur Reform des Geldwesens: Die Einführung von Freigeld – eines (1862-1930) Papiergeldes ohne Golddeckung, welches jährlich einen Teil des Nennwertes zu verlieren hat - soll die Überlegenheit der Geldseite durchbrechen. Der ausgelöste »Umlaufzwang« für das Geld hilft nach Gesells Auffassung, Krisen zu verhindern, die Realkapitalbildung zu fördern und schließlich den Zins zu neutralisieren. Die Währungsstabilität bleibt auch bei Geld unter Angebotsdruck unangetastet, solange Geldmenge und Warenmenge im Gleichgewicht gehalten werden.
Zweite Säule der Freiwirtschaftslehre ist das
Bodenreformkonzept. Ein vordemokratisches Recht, meint Gesell, sichert den
Eigentümern von Grund und Boden ebenfalls einen »Monopoltribut«, ein
leistungsloses Einkommen, nämlich die Grundrente. Um den Zugang zu Grund und
Boden allgemein zu sichern, schlägt Gesell das Modell eines Pächtersozialismus
vor. Die Schaffung von »Freiland« durch entschädigungspflichtige Enteignung und
Sozialisierung des gesamten Bodeneigentums soll garantieren, daß sowohl
Grundrente als auch Bodenwertsteigerungen für öffentliche Zwecke abgeschöpft
werden. Die große Schwachstelle Silvio Gesells zeigt sich in seinen
Vorstellungen zur Umsetzung des Reformkonzepts. Sein Vertrauen, daß allein die
»Vernünftigkeit« von Denkansätzen ausreicht, um durchsetzungsfähig zu bleiben,
erwies sich als schlicht naiv.
Immerhin formierte sich, beginnend in Deutschland und in
der Schweiz, später auch in Österreich und anderen Ländern, eine
freiwirtschaftliche Bewegung. Mit Vortragsreihen und Denkschriften präsentierte
sie sich als währungstheoretische Bürgerinitiative, die ihre Ansprechpartner in
Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und auch unter Fachökonomen und
Wirtschaftspolitikern suchte. Ein breites Interesse errangen die Anhänger
Gesells während der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 mit ihren ersten
praktischen Freigeldexperimenten.
Im Oktober 1929 wurde in Erfurt von Gesellianern die
Wära-Tauschgesellschaft ins Leben gerufen. In den Satzungen dieser
Privatvereinigung wurde das Ziel festgelegt, neben der deflationären Reichsmark
einen zweiten Geldkreislauf zu installieren. Eine Hilfswährung, die Wära,
sollte dazu beitragen, die Folgen von Geldknappheit und Kreditbeschränkung zu
mildern. Die Ausgabe der Wära-Scheine erfolgte gegen Reichsmark und reale
Sicherheitsleistungen.
Gemäß den Vorstellungen Silvio Gesells waren die neuen
Geldscheine mit einem Umlaufantrieb ausgestattet. Jeden Monat mußte der
Nennwertverlust des Geldes vom Geldbesitzer mittels einer Klebemarke
ausgeglichen werden. Um dem Schwundverlust zu entgehen, gab es für den Wära-Inhaber
nur zwei Möglichkeiten: Entweder rasches Geldausgeben oder Sparen ohne Verlust
oder Gewinn durch Hinterlegung bei einer der Geschäftsstellen der
Tauschgesellschaft. Damit war ein kontinuierlicher Geldumlauf gewährleistet.
Was als kleine Aktion weniger Einzelpersonen begonnen
hatte, entwickelte sich bald zu einer weit über die Freiwirtschaftsbewegung
hinausreichenden Erscheinung. Da aufgrund der Deflationspolitik von
Bankinstituten kaum Kreditgeld zu bekommen war, schlossen sich in vielen
deutschen Städten immer mehr Produktionsbetriebe, Geschäfte und Restaurants der
Wära-Tauschgesellschaft an. In Auslagen tauchte nun das Schild auf: „Hier wird
Wära angenommen.« Löhne wurden ebenfalls in Wära bezahlt. Dies alles bereitete
den Gegnern der Aktion zusehends Kopfschmerzen. Der Ruf »Die Wära verdrängt die
Reichsmark« wurde schließlich so laut, daß die Reichsregierung im Oktober 1931
den Freigeldversuch kurzerhand untersagte.
Ähnliche Experimente gab es zu Beginn der dreißiger Jahre
noch in Frankreich, Spanien, der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, besonders
jedoch in Österreich. Im Juli 1932 verabschiedete der Gemeinderat von Wörgl am
Inn ein Nothilfeprogramm, das unter anderem auch die Einführung von Freigeld
vorsah. Wörgl litt damals unter extrem hoher Arbeitslosigkeit und einer
dramatischen Verschuldung. Das Wörgler Nothilfeprogramm sah nun vor, den Engpaß
der Gemeinde durch Ausgabe sogenannter Arbeitswertscheine (gedeckt durch
Wechsel und durch Bargeld in Schilling-Währung) zu beseitigen. Mit diesem Gemeindegeld
konnte eine Fülle öffentlicher Bauprojekte realisiert werden.
Der Erfolg des Nothilfeprogramms war beachtlich: Während
ab August 1932 binnen eines Jahres die Arbeitslosenzahl in ganz Österreich um
rund 20 Prozent stieg, sank sie im selben Zeitraum in der Gemeinde Wörgl um 25
Prozent. Die Finanzlage der Gemeinde verbesserte sich sprunghaft, nachdem das
neue »Schwundgeld« bevorzugt für Steuerzahlungen, zum Teil auch für
Vorauszahlungen verwendet wurde. Am 1. Januar 1933 schloß sich die Nachbargemeinde
Kirchbichl dem Geldexperiment an. Doch Mitte September 1933 war die Geduld der
Behörden am Ende, und der »Verstoß gegen das Notenbank-Privileg« wurde mit
Einzug und Vernichtung sämtlicher Freigeldscheine geahndet.
Noch heute wird die Frage, ob Silvio Gesells
Freiwirtschaftsmodell bei den Narrenweisheiten oder bei den sozialen
Innovationen einzuordnen ist, von der Fachwelt sehr unterschiedlich beurteilt.
Auffällig bleibt, daß die Freigeldlehre vor allem im
angelsächsischen Raum ein positives Echo hervorgerufen hat. Neben Keynes
zollten vor allem die Ökonomen Irving Fisher und Norman Angell Gesells
Vorschlägen zur Verbesserung der Geldfunktionen Anerkennung. Walter Theimer
meinte für das zweite Viertel des 20. Jahrhunderts: „Die Freigeldlehre hat, obwohl
nirgends verwirklicht, unverkennbar Einfluß auf die internationale
Währungspolitik und Geldtheorie gehabt.« Richard Stöss zählt Gesell gar zu den
Begründern der modernen Wirtschaftspolitik.
Andere verweigerten ihm das Gütesiegel der Wissenschaft. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wurde Silvio Gesell von Eugen Böhm-Bawerk als plumper „Ausbeutungstheoretiker« abgetan. Für den konservativen Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek war Gesell »ein literarisch sehr geschickter und darum einflußreicher Vertreter der grundsätzlich falschen Unterkonstumptionstheorien«.
Gegenwärtig sind Geld und Zins wieder bevorzugte Themen
der politischen und akademischen Auseinandersetzung. Kapitalverwertungszwängen
verdanken wir die Vernachlässigung der Umwelt und die Verschleuderung von
Ressourcen. In vielen Staaten übersteigt der Zinsendienst bereits den
Sozialaufwand, Länder der Dritten Welt drohen an ihrer Zinslast zu ersticken.
Konflikte über die Währungs- und Zinspolitik belasten das Klima der
Staatengemeinschaft. Der »Geldzins«, wie ihn Silvio Gesell gesehen und
interpretiert hat, erweist sich dabei noch immer als Prüfstein der ökonomischen
Vernunft.
Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld Fachverlag für Sozialökonomie, Lütjenburg 1991; 440 S.