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Helmut Creutz: Das Geldsyndrom; Ullstein 1994; S. 415 ff

Gibt es Beispiele für zinsunabhängige Umlaufsicherungen?

Erinnern wir uns an die im 5. Kapitel beschriebene Brakteatenzeit im Hochmittelalter. Die Beständigkeit des Geldumlaufs und damit der wirtschaftlichen Konjunktur wurde damals durch regelmäßige bzw. überraschende Umtauschaktionen des gesamten gültigen Geldes erreicht, bei denen der Münzherr jeweils einen festen Anteil von 20 oder 25 Prozent als »Schlagschatz« oder »Prägesteuer« einbehielt. Die Folge war, daß kaum jemand Geld ansammelte, denn das zu tragende Verlustrisiko war um so höher, je mehr Geld man jeweils in der Hand behielt. Der natürliche »Joker«-Vorteil des Geldes (Suhr) gegenüber den einzutauschenden Gütern wurde also durch eine Art »Schwarzen Peter« kompensiert. Um den »Schwarzen Peter« möglichst schnell loszuwerden, war man sogar bereit, sein Geld auch zu einem niedrigen Zins oder ganz ohne Aufschlag zu verleihen.

Ein anderes historisches Beispiel, dessen Wirkungen genau dokumentiert sind, ist das sogenannte »Wunder von Wörgl« in der Depression der 30er Jahre. Aufgrund der damaligen Geldmengenreduzierung und des folgenden deflationären Preisverfalls erlahmte überall die Wirtschaft. In der Tiroler Gemeinde Wörgl, einem Eisenbahnknotenpunkt zwischen Kufstein und Innsbruck, versuchte der dortige sozialdemokratische Bürgermeister Unterguggenberger, die Ursachen von Stagnation und Arbeitslosigkeit und damit der leeren Gemeindekassen zu ergründen, und wurde bei dem deutsch-argentinischen Sozial- und Geldreformer Silvio Gesell fündig. In dessen Hauptwerk »Die natürliche Wirtschaftsordnung« fand er die Zusammenhänge zwischen Geldumlauf und Wirtschaftskrise dargelegt.

Unterguggenberger verstand, im Gegensatz zu den Wirtschaftsverantwortlichen, daß dem Geld damals »Beine gemacht« werden mußten, um die Krise zu überwinden. Die von ihm herausgegebenen »Arbeitsbestätigungsscheine«, für die er im gleichen Umfang Schillinge bei der lokalen Bank hinterlegte, waren darum mit einem »Umlaufmotor« versehen, der ihre Zurückhaltung mit Nachteilen verband: Auf der Rückseite der Scheine waren zwölf Felder, die jeden Monat nacheinander mit einer Klebemarke zu füllen waren, wenn der Nennwert des Scheins erhalten werden sollte. Da fast jeder die Kosten der Klebemarke in Höhe von einem Prozent des Nennwertes sparen wollte, gab man die Scheine möglichst im gleichen Rhythmus wieder aus, in dem man sie einnahm: Die Wirtschaft belebte sich, in die Gemeindekasse floß wieder Geld, und während ringsherum die Arbeitslosigkeit weiter anstieg, ging sie in Wörgl deutlich zurück.

»Das Wirtschaftswunder von Wörgl« erregte ein über die Grenzen reichendes Aufsehen. Der spätere französische Ministerpräsident Daladier fuhr nach Wörgl und berichtete ausführlich im französischen Parlament. Der bekannte amerikanische Geldtheoretiker Irving Fisher schickte einen Assistenten nach Tirol, hielt das Modell zur Überwindung der US-Rezession für geeignet und bezeichnete sich selbst als »bescheidenen Schüler Silvio Gesells«. Doch als dann mehrere hundert Bürgermeister Österreichs das Wörgler Modell nachmachen wollten, wurde es von der Nationalbank in Wien verboten. Sie betrachtete die »Arbeitsbestätigungsscheine« als Geld und sah sich in ihrer Autonomie gefährdet. Über die positiven Auswirkungen dieses Geldes und die negativen ihres eigenen haben sich die Verantwortlichen in der Notenbank, wie auch die Mehrzahl der Wirtschaftswissenschaftler, offensichtlich keinerlei Gedanken gemacht. Wie heute war auch damals die Frage der Geldordnung und ihrer Fehlstrukturen tabu.

Zum 50. Jahrestag dieses Wörgler Experimentes brachte die Monatszeitung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes »Arbeit & Wirtschaft« im März 1983 noch einmal einen ausführlichen Bericht.

Darin hieß es unter anderem:

Unterguggenberger hatte nicht die Absicht, in Österreich eine neue Währung einzuführen oder die Nationalbank in ihren Rechten zu schmälern. Was er aber wollte, ist ihm für die Spanne von 14 Monaten gelungen: Mit Herz und Verstand hat er in die kleine Gemeinde, in der er jeden kannte, in der Hunderte seiner Eisenbahnerkollegen lebten und hungerten, einen Hoffnungsschimmer getragen. Er hat ermöglicht, daß Familien sich wieder satt essen konnten, daß Schuhe und Kleider wieder einmal instand gesetzt, dringende Schulden teilweise abgezahlt werden konnten und daß aus einem verwahrlosten Winkel eine gepflegte kleine Stadt wurde.

Man sollte meinen, daß zumindest die Gewerkschaften heute genug Anlaß hätten, nicht nur an solche Erfolgsmodelle zu erinnern, sondern sich auch etwas intensiver mit den Wirkungsmechanismen unseres Geldes zu befassen.


Dieser Text wurde ins Netz gebracht von: W. Roehrig. Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht.
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