Kapitel aus: Helmut Creutz: Das Geldsyndrom; Ullstein,
1997, 4. Auflage; ISBN 3-548-35456-4
Orginalausgabe 1993 by Wirtschaftsverlag Langen Müller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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23. Kapitel
Geld, Wachstum, Umwelt - Die ökologische Frage
„Sie sägten Äste ab, auf denen sie saßen,
und schrien sich zu ihre Erfahrungen, wie
man schneller sägen konnte, und fuhren mit
Krachen in die Tiefe, die ihnen zusahen,
schüttelten die Köpfe beim Sägen
und sägten weiter!“
Bertholt Brecht
Welche Wachstumsregeln sind zu beachten?
Wenn ein Zehnjähriger mit zwanzig 1,80 Meter groß sein möchte,
ist dagegen nichts einzuwenden. Will er jedoch mit 30 Jahren 2,80
Meter groß sein und mit vierzig 3,80 Meter, dann wird die Sache
fragwürdig. Und das nicht nur, weil unser Wachstumsfetischist
ständig größere Schuhe, Kleider und Möbel braucht, ja, selbst im-
mer größere Wohnungen und Fortbewegungsmittel. Vielmehr ist
ein solches körperliches Überwachstum mit zunehmenden ge-
sundheitlichen Komplikationen und schließlichem Kollaps ver-
bunden.
Für alle gesunden und natürlichen Wachstumsentwicklungen
gibt es also eine optimale Größe bzw. Obergrenze. Wachstum bis
zu diesen Grenzen ist sinnvoll und vorteilhaft. Alles Wachstum
darüber hinaus ist dagegen mit Negativfolgen verknüpft. Diese
Regel gilt nicht nur für Wachstumsvorgänge in der Natur. Auch
die Leistungssteigerung eines Motors ist nur bis zur optimalen
Drehzahl sinnvoll. Erhöht man sie darüber hinaus, dann ist es nur
eine Frage der Zeit, bis der Motor auseinanderfliegt.
Das alles trifft auch auf das Leistungswachstum in der Wirt-
schaft zu. Auch hier ist ein Überschreiten sinnvoller Grenzen mit
zunehmenden Negativerscheinungen verbunden. Unsere Zeitun-
gen sind täglich voll davon. Doch bevor wir uns diesen Gegeben-
heiten eingehender zuwenden, vorweg noch einige grundsätzliche
Gedanken zum Thema Wachstum.
Gibt es unterschiedliche Wachstumsabläufe?
Ein Wachstumsvorgang kann mit zunehmender, abnehmender
oder gleichbleibender Geschwindigkeit ablaufen. In der Darstel-
lung 57 sind diese unterschiedlichen Möglichkeiten in einer Sche-
magrafik wiedergegeben.
Die Kurve a) zeigt einen Wachtumsablauf, der anfangs sehr
rasch beginnt, sich immer mehr verlangsamt und schließlich auf
einer bestimmten Höhe stabilisiert. Dieser Verlauf entspricht den
meisten Entwicklungen in der Natur. Denken wir nur an uns
selbst: Den größten, fast schon explosiven Wachstumsschub erle-
ben wir noch im Mutterleib. Auch in den ersten Babyjahren sind
die jährlichen Zuwachsraten noch erheblich. Sie lassen jedoch in
den anschließenden Jahren nach und kommen im Alter von 18
oder 20 Jahren zum Stillstand.
Darstellung 57
Diese Stabilisierung des menschlichen Wachstums bei einer op-
timalen Größe betrifft jedoch nur die quantative Entwicklung. Der
qualitativen, z. B. im geistigen, sozialen und kulturellen Bereich,
sind dagegen keine Grenzen gesetzt. Vielmehr entwickeln sich
diese spezifisch menschlichen Fähigkeiten überwiegend nach Be-
endigung des quantitativen Wachstums.
Die Kurve b) zeigt einen linearen Entwicklungsverlauf. Bei die-
sem nimmt die Größe in gleichen Zeitabständen in gleichbleiben-
den Raten zu. Es bedarf keiner Erläuterung, daß ein solches stän-
diges Wachstum in einem begrenzten Raum nicht durchzuhalten
ist, auch nicht, wenn dieser Raum die Größe der Erde hat.
Die Kurve c) schließlich zeigt eine Entwicklung, die anfangs
kaum merklich beginnt, um sich danach immer mehr zu beschleu-
nigen. Es ist eine Entwicklung, bei der sich die Zuwachsraten in
gleichbleibenden Zeitabständen immer wieder verdoppeln, ein
sogenanntes exponentielles Wachstum. Verglichen mit der Kurve
a), liegt hier also ein genau umgekehrter Verlauf vor: Während
das natürliche Wachstum explosiv beginnt und ständig abnimmt,
schießt das anfänglich so harmlose exponentielle Wachstum
schließlich explosionsartig in die Höhe.
Diese Art von Wachstum kennen wir in der Natur weitgehend
nur bei krankhaften Entwicklungsprozessen, z. B. bei bösartigen
Tumoren. Auch diese wachsen oft über Jahre und Jahrzehnte vor
sich hin, ohne ihren Gastorganismus ernstlich zu gefährden. Ha-
ben sie jedoch eine bestimmte kritische Größe erreicht und gelingt
es nicht, ihr weiteres Verdoppelungswachstum zu stoppen, dann
müssen sie in relativ kurzer Zeit zum Tode führen. Dabei zerstö-
ren sie nicht nur ihren Gastorganismus, sondern mit ihm ihre ei-
gene Lebensbasis.
Auch das Wachstum der Bevölkerung auf unserem Planeten
verläuft nach diesem letztlich tödlich Verdoppelungskonzept.
Vieles spricht dafür, daß wir die kritische Grenze schon erreicht,
wenn nicht bereits überschritten haben. Gelingt es nicht, diese
Entwicklung zum Stillstand zu bringen, ergibt sich auch hier die
Gefahr einer Selbstzerstörung durch Überwachstum.
Wie irreal ist exponentietles Wachstum?
Abläufe exponentiellen Wachstums sind für uns Menschen schwer
nachvollziehbar. Wir sind gewohnt, in normalen Zahlenreihen zu
denken, z. B. eins, zwei, drei, vier, fünf. Die widernatürliche
Reihe eins, zwei, vier, acht, 16 ist uns dagegen fremd.
Zu welchen irrealen Größenordnungen es bei Vorgängen mit
exponentiellem Wachstum kommen kann, macht die Geschichte
von der Erfindung des Schachspiels deutlich. Der König im
Lande, von dem Spiel begeistert, stellte dem Erfinder einen
Wunsch frei. Zur Überraschung des Herrschers wünschte dieser
sich auf das erste Feld des Schachspiels ein Getreidekorn, auf das
zweite zwei, das dritte vier usw., also jeweils die doppelte Menge
des vorhergehenden Feldes.
Der König, der glaubte, er könnte diesen ihm simpel erschei-
nenden Wunsch mit einigen Säcken Getreide nachkommen,
mußte feststellen, daß er unerfüllbar war: Das ganze Getreide sei-
nes Landes reichte dazu nicht aus!
Zählt man die erforderliche Körnermenge zusammen, wie das
Eckard Eilers aus Rastede einmal getan hat, dann ergibt sich eine
Zahl von 18,5 Trillionen! In Gewichtsgrößen umgerechnet, sind
das rund 740 Mrd. Tonnen. Da die heutige Weltgetreideernte bei
etwa 1,7 Mrd. Tonnen liegt, hätte der König zur Erfüllung des
Wunsches also rund 440 heutige Weltgetreideernten ansammeln
müssen! Ausgeschüttet auf die alte Bundesrepublik ergäbe das
eine Höhe von vier Metern. - Bereits die 63fache Verdoppelung
einer Ausgangsmenge ergibt also kaum vorstellbare Größenord-
nungen.
Aber auch schon bei wesentlich kürzeren Verdoppelungspro-
zessen sind die Ergebnisse überraschend. Dafür ein Beispiel:
Einem Arbeitsuchenden werden für ein halbes Jahr zwei gleichar-
tige Jobs angeboten: Der erste Arbeitgeber bietet dem Bewerber
einen gleichbleibenden Wochenlohn von 1000 Mark. Der zweite
macht ein ganz verrücktes Angebot: Er verspricht für die erste
Woche einen Pfennig Lohn, für die zweite zwei Pfennige, für die
dritte vier usw., für jede der 26 vereinbarten Arbeitswochen den
doppelten Lohn der vorhergehenden. Wahrscheinlich würde sich
kaum jemand auf das zweite Angebot einlassen. Trotzdem wäre er
der Gewinner!
Zwar würde der Arbeitsuchende beim zweiten Anbieter nach
vier Wochen erst 15 Pfennig verdient haben, nach acht Wochen
2,55 Mark und nach zwölf Wochen ganze 41 Mark, während er bei
dem anderen Arbeitgeber bereits 12000 Mark erhalten hätte. Und
selbst nach der 20. Woche läge er mit einem Gesamteinkommen
von 10500 Mark gerade erst bei der Hälfte des Einkommens, das
er beim ersten Anbieter ausgezahlt bekäme. Doch sechs Wochen
später, also nach Ablauf eines halben Jahres, würde unser Pfen-
nigverdiener insgesamt 671000 Mark erhalten haben, fast das
26fache des 1000-Mark-Wochenlöhners.
Hätte der Arbeitsvertrag ein Dreivierteljahr gedauert, dann wä-
ren auf seinem Lohnkonto bereits 5,5 Milliarden Mark gutgebucht
worden. Nach einem ganzen Jahr - also nach 52 Wochen - wären
es 45000 Milliarden Mark gewesen, 24ma1 soviel wie das bundes-
deutsche Volkseinkommen des Jahres 1990!
Sind auch unterschiedliche Entwicklungen innerhalb eines Organismus problematisch?
Wenn ein Zehnjähriger bis zum 20. Lebensjahr sein Körpervolu-
men verdoppelt, dann müssen nicht nur sein Körpergerüst und
sein Leib im Gleichschritt größer werden, sondern auch seine
Gliedmaßen und Organe. Denn ein Organismus bleibt nur stabil,
wenn sich alle seine Teile gleichermaßen entfalten. Würden bei
einem Heranwachsenden der Kopf oder die Leber rascher wach-
sen als der gesamte Organismus, dann käme es sehr schnell zu
Komplikationen. Auch wenn Teile des Körpers nach Erreichen
der Normalgröße alleine weiterwachsen, sind ernstliche Krisen
mit anschließendem Kollaps unabwendbar.
In der Grafik 58 ist diese Regel anhand eines wachsenden Bau-
mes dargestellt. Solange er wächst, müssen Wurzelwerk, Stamm
und Krone das im Gleichschritt tun. Würde die Krone rascher wei-
terwachsen als die übrigen Teile oder würde sie nach dem Ausge-
wachsensein alleine weiterwachsen, dann wäre der Baum zum Ab-
sterben verurteilt: Der Stamm könnte die Krone nicht mehr
tragen, die Wurzeln das Blätterwerk nicht mehr versorgen.
Fassen wir diese Überlegungen noch einmal zusammen, dann
ergeben sich folgende Regeln des Wachstums:
1.In einem begrenzten Raum kann es kein grenzenloses Wachs-
tum geben.
2.Für jedes gesunde und natürliche Wachstum gibt es eine opti-
male Obergrenze.
3. Alle Teile eines Organismus müssen sich in ihrer Entfaltung am
Ganzen orientieren.
4. Alle Entwicklungen, die diese naturgegebenen Gesetzmäßig-
keiten mißachten, sind zum Zusammenbruch verurteilt.
Alle diese Regeln - auch die letzte - gelten jedoch nicht nur für
natürliche Wachstumsvorgänge. Sie gelten auch für das soge-
nannte Wachstum der Wirtschaft. Denn alle auf der Erde stattfin-
denden materiellen Prozesse können sich den Naturgesetzen nicht
entziehen.
Was bedeutet Wirtschaftswachstum?
Der Begriff Wachstum ist für das Geschehen in der Wirtschaft
eigentlich fehl am Platz. Wirkliches Wachstum gibt es nur in der
Natur, ausgelöst durch Boden, Licht, Luft und Wasser. Was in der
Wirtschaft mit Wachstum bezeichnet wird, sind in Wirklichkeit
Vermehrungen der von Menschen erzeugten Leistungen und Gü-
ter. Der Begriff „Wirtschaftswachstum“ hat sich jedoch so einge-
bürgert, daß wir mit ihm leben müssen.
Dieses sogenannte Wirtschaftswachstum wird - wie auch an-
dere Vermehrungsprozesse - zumeist in Prozent gemessen, bezo-
gen auf die jeweilige Vorjahresgröße. Dabei unterscheiden wir
eine nominelle und eine reale Zuwachsrate. Bei der nominellen
wird der Zuwachs in Tagespreisen gemessen, bei der realen in in-
flationsbereinigten Größen. Das reale Wirtschaftswachstum gibt
also die tatsächliche Leistungssteigerung in Gütermengen und
konkreten Leistungen wieder.
Von Ende 1987 bis Ende 1991 hatten wir in der Bundesrepublik
im Jahresdurchschnitt ein nominelles Wirtschaftswachstum von
sieben Prozent und ein reales von vier Prozent. Vier Prozent rea-
les Wachstum bedeuten z. B., daß statt 100 PKW im Vorjahr, im
darauffolgenden Jahr 104 produziert werden. Dieser Zuwachs er-
scheint nicht aufregend. Rechnet man jedoch die Mehrproduktion
von vier Prozent einmal auf die gesamte PKW-Produktion im Jahr
um, dann ergibt sich daraus eine zusätzliche Autoschlange, Stoß-
stange an Stoßstange, von Garmisch bis Kiel. Wieviel Rohstoffe in
dieser vierprozentigen Leistungssteigerung gebunden sind, kann
man sich in etwa vorstellen. Ebenfalls den Energieverbrauch bei
der Produktion und Benutzung der Fahrzeuge, was wiederum das
Wirtschaftswachstum erhöht.
Vier Prozent Wachstum p. a. bedeuten jedoch mengenmäßig
Darstellung 58
keineswegs eine ständig gleichbleibende Größe, denn im nachfol-
genden Jahr hat sich die Meßgrundlage ja um jene hinzugekom-
mene Autoschlange vermehrt. Das heißt, die zusätzlichen vier
Prozent werden jetzt nicht mehr auf 100, sondern auf 104 Einhei-
ten bezogen.
Welche Folgen dieser Effekt hat, zeigt die Darstellung 59. Wie
aus den Kurven ersichtlich, bewirken gleichbleibend hohe prozen-
tuale Zuwachsraten keine linearen Entwicklungsprozesse, son-
dern reinrassig exponentielle. Dabei ist der Effekt exponentiellen
Wachstums um so größer, je höher der Prozentsatz ist und je län-
ger eine Wachstumsperiode anhält.
Reales Wirtschaftswachstum von vier Prozent heißt also nicht,
daß sich die Ausgangsmenge in 25 Jahren verdoppelt (25 x 4 =
100), sondern sie verdoppelt sich aufgrund des Exponentialeffek-
tes bereits in 18 Jahren. Das heißt, bei einem gleichbleibenden
Darstellung 59
Wirtschaftswachstum von vier Prozent vergrößern sich unsere
heutigen Produktions- und Verbrauchsmengen in 18 Jahren auf
das Doppelte, in 36 Jahren auf das Vierfache und in 54 Jahren auf
das Achtfache!
Bei sechs Prozent Wachstum - eine Größe, die auch heute noch
manche Politiker zur Überwindung der Arbeitslosigkeit für erfor-
derlich halten - würden die Verdoppelungen jeweils nur zwölf
Jahre dauern. Das heißt, unsere Produktions- und Verbrauchs-
größen würden bereits nach 36 Jahren auf das Achtfache gestiegen
sein.
Alle diejenigen, die ein ständig gleichbleibendes oder möglichst
noch steigendes prozentuales Wachstum fordern, wissen also of-
fensichtlich nicht, wovon sie reden.
Wie wurde unsere Wirtschaftsleistung seit 1950 tatsächlich gesteigert?
Trägt man die realen (also inflationsbereinigten) Größen unserer
Wirtschaftsleistung grafisch auf, dann ergibt sich von 1950 bis 1990
fast eine lineare Entwicklung. Das heißt, unsere Wirtschaftslei-
stung ist langfristig nicht mit gleichbleibenden, sondern mit nach-
lassenden prozentualen Wachstumsraten angestiegen. Gleichblei-
bend waren jedoch die durchschnittlichen Zuwachsmengen. Das
heißt, wir steigern auch heute unsere Leistung immer noch im glei-
chen Tempo, wie das aufgrund der großen Zerstörungen und des
immensen Nachholbedarfs nach dem Krieg erforderlich und sinn-
voll war.
Gehen wir von unserer ersten Wachstumsregel aus, dann war
die steile Leistungssteigerung nach dem Krieg natürlich. Sie hätte
sich jedoch nach und nach verlangsamen und schließlich auf einer
optimalen Höhe stabilisieren müssen. Eine solche Leistungsstabi-
lisierung - abfällig „Nullwachstum“ genannt - bedeutet aber kei-
nesfalls einen Stillstand der Wohlstandsentwicklung oder gar
einen Rückschritt, auch wenn das immer wieder behauptet wird.
Vielmehr weiß jeder Arbeitende, daß sein materieller Wohlstand
auch bei gleichbleibender Leistung und gleichbleibendem Real-
einkommen ständig zunimmt. Auch dann füllen sich seine Klei-
derschränke oder seine Bücherregale weiter an, und er kann die
Anzahl seiner Möbel oder gar sein Haus laufend vergrößern. Ver-
zichtet er darauf, dann kann er das an Sachausgaben Ersparte für
mehr Reisen oder Kulturelles ausgeben oder seine Leistung redu-
zieren, d. h. weniger arbeiten.
Bei diesen Überlegungen sind die Innovationen und die Produk-
tivitätsfortschritte, die auch bei leistungsstabilen Volkswirtschaf-
ten weiter zunehmen, noch nicht einmal berücksichtigt. Auch diese
Komponenten können bei „Nullwachstum“ in zusätzlichen Wohl-
stand oder zusätzliche Freizeit umgesetzt werden.
Wie kam es zu dem ständigen Wirtschaftswachstum?
Sinn jedes Handelns ist die Deckung menschlicher Bedürfnisse.
Eine Wirtschaft, die von den Bedürfnissen der Menschen gesteu-
ert wird und von deren Bereitschaft, für die Erfüllung dieser
Bedürfnisse zu arbeiten, würde darum immer einen Entwick-
lungsverlauf nehmen, der den natürlichen Wachstumskurven ent-
spricht. So unterschiedlich die Bedürfnisse und Wünsche auch
sein mögen: Irgendwann und -wo schlägt dieser Sättigungseffekt
bremsend durch.
Geht man von diesen Gesetzmäßigkeiten aus, dann hätte sich
unsere Wirtschaft also etwa so entwickeln müssen, wie es in der
Darstellung 57 als Wachstumskurve a) wiedergegeben ist.
Tatsächlich machten sich - natürlichen Entwicklungen entspre-
chend - Anfang der 60er Jahre gewisse „Ermüdungserscheinun-
gen“ bemerkbar. Die größten kriegsbedingten Mängel waren
überwunden. Die „Freßwelle“, die „Kleiderwelle“ und selbst die
„Wohnwelle“ flachten als Folge der zunehmenden Sättigung ab.
Doch statt dieser natürlichen Entwicklung nachzugeben, schaltete
man in der Sinngebung des Wirtschaftens um: Nicht mehr die Be-
darfsdeckung - Zweck allen humanen Wirtschaftens -, sondern
die Bedarfsweckung wurde Hauptziel der Wirtschaft. Das heißt,
der Mensch, vorher noch bestimmendes Subjekt allen Wirtschaf-
tens, wurde zu dessen Objekt umfunktioniert. Durch eine zuneh-
mende und immer raffiniertere Werbung, durch bewußte modi-
sche Effekte oder kürzere Lebensdauer der Produkte wurde der
Arbeitsleistende zum weiteren Kaufen und Leisten verführt bzw.
gezwungen. Der Mensch, in Jahrmillionen zu einem Sammler, Be-
wahrer und Gebraucher der irdischen wie der selbstgeschaffenen
Güter herangewachsen, wurde systematisch zum Wegwerfer und
Verbraucher umerzogen. Der Begriff „Normalverbraucher“
wurde kreiert, und das war derjenige, der möglichst viele Güter in
möglichst kurzer Zeit unbrauchbar machte, also verbrauchte.
Nach der bereits genannten Freß-, Kleider- und Wohnwelle wurde
regelrecht eine „Wegwerfwelle“ propagiert. „Ex und hopp“ war
ein Werbeslogan, mit dem man für Wegwerfverpackungen warb,
z. B. für die bis dahin unbekannten Einwegflaschen. Und das alles
nur, um den Verbrauch und damit wiederum die Produktion im
bisherigen Tempo weiter zu steigern.
Wie mir ein Insider erzählte, werden zu dieser ständigen Steige-
rung in manchen Firmen hochdotierte Ingenieure mit einer beson-
deren Aufgabe betraut: Sie müssen einmal dafür sorgen, daß die
Produkte nach Ablauf der Garantiezeit möglichst schnell kaputt-
gehen und zum zweiten nicht reparierbar sind. Sicher hat jeder mit
solchen Produkten schon seine Erfahrung gemacht.
Was wurde noch zur stetigen Leistungssteigerung unternommen?
In der Darstellung 60 sind die angesprochenen Zusammenhänge
noch einmal grafisch erfaßt. Die schwarzen Punkte geben dabei
die reale Entwicklung des Bruttosozialprodukts (BSP) im Fünf-
jahresabstand wieder. Legt man an diese Punkte ein Lineal an,
zeigt sich der fast gleichbleibende Entwicklungsverlauf.
Die vier in der Darstellung eingetragenen Wachstumsschübe
sind schematischer Natur. In Wirklichkeit sind die Übergänge flie-
ßend und überlappen sich. Mit den Stufen sollen nur die verschie-
denen Bemühungen dargestellt werden, das Wachstum immer
wieder aufs neue anzukurbeln. Natürlich werden auch heute im-
mer noch Produkte erzeugt, die der Bedarfsdeckung dienen. Noch
mehr aber werden mit immer massiverer Werbung fragwürdige
Bedürfnisse geweckt.
Doch auch der zweite Wachstumsschub schwächte sich gegen
Ende der 60er Jahre aufgrund der Sättigungsprozesse schließlich
wieder ab. Um das weitere Wachstum zu garantieren, wurde
darum 1967 der Staat in die Pflicht genommen. Und zwar mit dem
sogenannten „Gesetz zur Förderung des Wachstums und der Sta-
bilität der Wirtschaft“, kurz: „Stabilitätsgesetz“ genannt. Dabei
ist den Verfassern dieses Gesetzes gar nicht aufgefallen, daß be-
reits die Formulierung in sich widersprüchlich ist. Denn etwas
ständig Wachsendes wird auf Dauer immer instabil. Jedes Kind,
das mit Bauklötzen einmal einen Turm gebaut hat, kann das bestä-
tigen: Am Ende genügt das Hinzufügen eines einzigen Bausteins,
um das ganze Werk zum Einsturz zu bringen.
Aufgrund dieses Gesetzes, wurde nun der Staat, anstelle der
konsummüden „Normalverbraucher“, in der Wirtschaft immer
aktiver und die Steuerbelastung entsprechend höher. Und wäh-
rend die Bürger letztlich immer nur kleckern können, kann der
Staat klotzen: Der Export wurde durch staatliche Risikoabsiche-
rungen noch mehr angekurbelt. Milliardenschwere Großtechno-
Darstellung 60
logien, wie die Raumfahrt und die Reaktortechnik, wurden durch
Forschungsgelder angeleiert und/oder über Subventionen den
Firmen schmackhaft gemacht. Garantierte Abnahmemengen bei
garantierten Preisen und Gewinnen machten die Rüstungspro-
duktion zu einer Wachstumsbranche erster Klasse. Und für die
Industrie wurde es viel einfacher und sicherer, ein Dutzend Politi-
ker für einen neuen Panzer zu gewinnen als Millionen Verbrau-
cher für ein neues Produkt.
Aber nicht nur bei der Rüstung trat der Staat als milliar-
denschwerer Nachfrager auf. Auch zivile Projekte, wie der
Rhein-Main-Donau-Kanal oder die Verkabelung der Städte zur
Überschüttung der Bürger mit noch mehr Werbung, boten Mög-
lichkeiten, das Tempo des Nachkriegswachstums weiter beizube-
halten. Dabei wurde all das immer mehr auf Pump finanziert.
Wie lange das noch weitergehen soll und kann, darüber macht
sich offensichtlich niemand Gedanken. Nur ab und zu bricht ein-
mal die Vernunft durch. So hat der frühere Bundesminister Hauff
den RMD-Kanal einmal als das „dümmste Bauwerk seit dem
Turm von Babel“ bezeichnet. Und der frühere Wirtschaftsmini-
ster Friderichs hat in einer schwachen Stunde davon gesprochen,
daß es drei Arten von Arbeit gibt, nämlich sinnvolle, überflüssige
und schädliche. Wer daraufhin einmal die in den letzten beiden
Jahrzehnten hinzugekommenen Arbeitsplätze und Produkte
durchleuchtet, wird feststellen, daß das Gros derselben den bei-
den letzten Kategorien zuzuordnen ist.
Hinter vorgehaltener Hand wird einem häufig bestätigt, daß ein
solches ständiges Wachstum auf Dauer „natürlich“ nicht fortzu-
setzen sei. Aber heute - heißt es im gleichen Atemzug - könne
man darauf noch nicht verzichten. Fragt man nach den Gründen,
kam vor 20 Jahren meist der Hinweis auf die Dritte Welt: Wir
brauchen Wachstum, um den Menschen dort helfen zu können!
Nachdem es den Menschen dort trotz (oder wegen?) unseres Wirt-
schaftswachstums immer schlechter geht, spielt man jetzt die glei-
che Platte mit einem anderen Text: Wir brauchen das Wachstum,
um die Umweltschäden zu beseitigen! Dabei weiß ein jeder, daß
diese Umweltschäden Folgen des ständigen Wachstums sind.
Sicher werden wir für Umweltschutz und -schädenbeseitigung
zusätzliche Arbeitsleistungen erbringen müssen. Aber diese soll-
ten nicht durch eine Steigerung des Sozialprodukts verwirklicht
werden, sondern durch die Reduzierung fragwürdiger Leistungen
und Produktionen. Das ist z. B. im Bereich der Rüstung und der
Raumfahrt möglich, aber auch bei manchen überflüssigen zivilen
Produkten, deren Rückgang sich mit der Einführung von Öko-
Abgaben und ähnlichen Maßnahmen sowieso ergeben würde.
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Kapitel aus: Helmut Creutz: Das Geldsyndrom; Ullstein,
1997, 4. Auflage; ISBN 3-548-35456-4
Orginalausgabe 1993 by Wirtschaftsverlag Langen Müller in der
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