Kapitel aus: Helmut Creutz: Das Geldsyndrom; Ullstein,
1997, 4. Auflage; ISBN 3-548-35456-4
Orginalausgabe 1993 by Wirtschaftsverlag Langen Müller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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22. Kapitel
Die Folgen der zinsbedingten Einkommensumschichtung
„Die Tatsache, daß ein Fünftel der Mensch-
heit immer reicher und vier Fünftel immer
ärmer werden, das liegt natürlich an unserer
Wirtschaftsart und ganz speziell an unserem
Geldsystem. Ich glaube, daß an diesem
Geldsystem etwas geändert werden muß,
um zu irgendeiner Art von Gleichgewicht in
der Welt zu kommen.“
Michael Ende *
* Buchautor, aus einem Programmheft des Münchener Volkstheaters, 1991
Läßt sich die zinsbedingte Verarmung der Arbeitleistenden nachweisen?
Eine Wirtschaft, die dauernd wächst, kann auch immer mehr ver-
teilen. Sie kann auch - ohne daß sich die Relationen verändern -
immer mehr umverteilen. Das gilt für die Umverteilung über Steu-
ern ebenso wie für die Umverteilung über den Zins. Nehmen die
Größen, auf die sich die Zinsen beziehen, jedoch schneller zu als
die volkswirtschaftliche Leistung, dann wachsen auch die Zins-
ströme überproportional. Nehmen außerdem die Verteilungsdis-
krepanzen der Vermögen zu, dann werden die Einkommensum-
verteilungen zusätzlich beschleunigt.
In der nachfolgenden Darstellung 54 ist die Entwicklung des
Volkseinkommens von 1950 bis 1993 in realen, also inflationsbe-
reinigten Größen aufgetragen. Auch hier zeigt sich die ständige,
fast lineare Zunahme unserer volkswirtschaftlichen Leistung.
Sichtbar werden bei dieser jährlichen Darstellung der Volksein-
kommensgrößen aber auch die hochzins- bzw. inflationsbedingten
Konjunktureinbrüche 1967, 1975, 1982 und 1993, die jeweils zu
einem Rückgang des realen Leistungswachstums führten.
Im oberen Teil der Grafik wurden als Vergleichsgröße für die
Einkommen der Geldgeber und Banken die Zinserträge der Kre-
ditinstitute eingetragen. Da diese Zinsgrößen aus der Arbeitslei-
stung bedient werden müssen, verringert sich das den Werteschaf-
fenden verbleibende Einkommen entsprechend.
Wie die Darstellung zeigt, sind sowohl diese geldbezogenen wie
auch die arbeitsbezogenen Einkommen ständig gestiegen. Rech-
net man die geldbezogenen Größen jedoch einmal auf das Volks-
einkommen um, dann lagen sie 1950 bei vier Prozent, 1990 bei 18
Prozent und 1993 bereits bei 23 Prozent.
Darstellung 54
Weiter ist zu beachten, daß bei den Konjunktureinbrüchen zwar
das Volkseinkommen zurückgeht, nicht aber die zinsbezogenen
Einkommen. Da die Konjunktureinbrüche mit Hochzinsphasen
zusammenhängen, kommt es vielmehr zu einem verstärkten An-
wachsen der Geldvermögen und damit wiederum der Zinsein-
kommen. Das heißt, in jeder Hochzins-Krisenphase nehmen die
sozialen Spannungen schubartig zu.
Faßt man alle diese Wirkungen zusammen, dann wächst zwar
der Reichtum in unserer Gesellschaft, ausgedrückt vor allem in
Geldvermögen, überproportional. Als Folge fallen jedoch die
Einkommen der von Arbeit lebenden Bevölkerung relativ zurück.
Die hier abgebildeten Zeitungsschlagzeilen stellen also keine
Widersprüche dar, wie man annehmen könnte. Sie bedingen viel-
mehr einander: Der Reichtumsanstieg auf der einen Seite be-
schleunigt die Verarmung der anderen.
Ernst Breit hat einmal treffend formuliert, daß der verschämten
Armut ein zunehmender unverschämter Reichtum gegenüber-
steht. Wer die „Hofberichte“ über das Leben der Reichen in den
einschlägigen Gazetten verfolgt, findet das bestätigt.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat
dieses Auseinanderdriften der Einkommen einmal für die Jahre
1981 bis 1986 untersucht, einen Zeitraum, in dem das BSP nomi-
nell um 25 Prozent zunahm. Das Ergebnis ist in Darstellung 55
grafisch umgesetzt.
Bei diesem Vergleich verschleiern die Begriffe „Arbeitnehmer“
und „Selbständige“ die Verteilungswirklichkeit. Denn zu den Ar-
beitnehmern gehören auch die Manager in den Direktionsetagen
mit Einkommen, von denen die meisten Selbständigen nur träu-
men können. Und zu den Selbständigen wiederum gehören auch
die vielen kleinen Landwirte und Gewerbetreibenden, deren Ein-
kommen oft unter dem Durchschnitt der abhängig Beschäftigten
liegt. Könnte man diese Einkommensempfänger aus ihren jeweili-
gen statistischen Gruppen herausnehmen, dann wäre die Unter-
schiedlichkeit der Einkommensveränderungen noch viel krasser.
Darstellung 55
Was wird uns die Zukunft bringen?
Exponentiell beeinflußte Auseinanderentwicklungen haben die
Tendenz, sich zu beschleunigen. Das tritt um so deutlicher zutage,
je länger eine Wirtschaftsepoche dauert. Wer also etwas über un-
sere künftigen Gegebenheiten wissen will, braucht sich nur in
Volkswirtschaften umzusehen, in denen die Entwicklung durch
keinen Neubeginn nach dem letzten Krieg unterbrochen wurde.
Das ist z. B. in England und den USA der Fall.
Geht man von Zeitungsveröffentlichungen über die Situation in
England aus, dann sind dort die Realeinkommen bei einem knap-
pen Drittel der Haushalte trotz Wirtschaftswachstums in den letz-
ten zehn Jahren gesunken. In den USA hat der Einkommensrück-
gang sogar schon den Mittelstand erreicht.
So berichtete der „Spiegel“ in Nr. 13/1992, daß der Anstieg des
versteuerbaren Einkommens des reichsten Fünftel aller Haus-
halte in den USA zwischen 1977 und 1989 29 Prozent betragen hat.
Das zweit- bzw. drittreichste Fünftel legte um neun bzw. vier Pro-
zent zu. Das vierte Fünftel verlor ein Prozent und das letzte sogar
neun Prozent. Bereinigt man diese Veränderungensraten um die
Geldentwertung, dann gehören auch die mittleren Haushaltsgrup-
pen zu den Verlierern. Ganz klare Gewinner sind dagegen die
allerreichsten Haushalte. So kamen 60 Prozent die gesamten Ein-
kommenszuwächse einem einzigen Prozent der Amerikaner zu-
gute, den Vermögendsten. Bei ihnen stiegen die versteuerbaren
Einkommen in den zwölf Jahren um 77 Prozent an.
Nicht minder aufschlußreich sind die Ausführungen des US-
Korrespondenten des „Südkurier“, Joachim Lenz, bezogen auf
das Jahr 1991, am 3.1.1992 veröffentlicht (siehe Kasten):
Reiche immer reicher
die Armen ärmer
Das letzte Jahr aus der Sicht des amerikanischen Bürgers
25 Mio. Amerikaner waren in
diesem Jahr mindestens einmal
arbeitslos, d. h. jeder fünfte Ar-
beitnehmer. 35 Millionen leben
in Armut, obgleich die Hälfte
von ihnen einen Fulltime Job
hat. Die meisten Amerikaner ha-
ben, wie in den vergangenen
zehn Jahren, auch in diesem Jahr
reale Einkommensverluste hin-
nehmen müssen.
Amerikas Reiche dagegen haben
ihren Anteil am nationalen Ein-
kommenskuchen in den vergan-
genen zehn Jahren enorm ver-
größert. Der Bruttosozialpro-
duktzuwachs ging ausschließlich
an das obere Einkommensdrittel
der Bevölkerung. Die USA ha-
ben heute die ungleichste Ein-
kommensverteilung ihrer Ge-
schichte.
Gibt es konkrete Anhaltspunkte für die weitere Entwicklung in unserem Land?
Alle Voraussagen sind letztlich spekulativ. Dies gilt nicht nur
für die meisten Insider-Prophezeiungen, sondern weitgehend
auch für die jährlichen Prognosen der hochdotierten „Fünf
Weisen“. Dieses Jahresgutachten wird zwar regelmäßig mit viel
Publicity dem Bundeskanzler überreicht, aber einem „Bon(n-)
mot“ zufolge sollen es keine drei Leute in der Bundeshauptstadt
lesen.
Will man Konkretes prognostizieren, ist das allenfalls über die
Verlängerung bisheriger, langfristig abgesicherter Entwicklungen
möglich, unter Einbezug der Geldproblematik. Zum Beispiel
über die Fortführung der realen Entwicklung unseres Volksein-
kommens im Vergleich zu den Bankzinserträgen, die sowohl die
Zunahme der Geldvermögen wie deren Anspruch auf Wirt-
schaftsleistung widerspiegeln.
In der nachfolgenden Grafik ist die Darstellung 54 noch einmal
verkleinert wiedergegeben und mit zwei Varianten um 40 Jahre
verlängert.
Bei der Variante A wird von einer weiteren linearen Zunahme
unserer volkswirtschaftlichen Leistung ausgegangen. Das heißt,
unser Sozialprodukt wird real jedes Jahr in der gleichen Größen-
ordnung wie bisher weiter aufgestockt. Während für dieses lineare
Wachstum in den 50er Jahren noch eine durchschnittliche Rate
von 8,5 Prozent erforderlich war, genügte dazu in den 80er Jahren
eine von 2,1 Prozent. Inzwischen bedeuten zwei Prozent Wachs-
tum mengenmäßig eine gleich hohe Leistungsausweitung wie
neun Prozent in den 50er Jahren !
In den 90er Jahren genügt zur Beibehaltung des linearen
Wachstums eine durchschnittliche Rate von 1,8 Prozent. Dieser
Satz geht nach 2020 auf 1,2 Prozent zurück.
Bei der Variante A wird weiter angenommen, daß sich das
Geldvermögen (und damit auch die geldbezogenen Zinstrans-
fers) ähnlich wie in den letzten 20 Jahren entwickeln wird. In
diesen beiden Jahrzehnten nahmen sie im Schnitt real um 4,7
bzw. 4,3 Prozent zu. Für die nächsten vier Jahrzehnte wurden
darum weiter fallende Raten von vier auf drei Prozent angenom-
men.
Wie aus der Darstellung ersichtlich, würden unter diesen Vor-
gaben die übrigen Einkommen bis zum Jahr 2030 zwar weiter zu-
nehmen, gegenüber dem Zuwachs der geldbezogenen Zinserträge
aber immer mehr zurückfallen. Während 1950 der Verteilungs-
schlüssel zwischen den Einkommen noch bei 4:96 und 1990 bei
18:82 lag, hätte er sich bis 2030 auf 37:63 verändert. Dabei darf
nicht übersehen werden, daß die hier herangezogenen Zinsgrößen
nur den Anspruch der Geldvermögen und der vermittelnden Ban-
ken abdecken. Die Zinsen für das schuldenfreie Sachkapital stek-
ken in den übrigen Einkommen. Zieht man diese mit ein, dann lag
die Verteilungsrelation wahrscheinlich bereits 1990 bei 30:70, und
der Umkippunkt dürfte - trotz des linearen Wirtschaftswachstums
- in 10 bis 20 Jahren zu erwarten sein.
Daß diese Entwicklungsvariante A, die von einem weiteren
ständigen Anstieg unseres BSP ausgeht, kaum realistisch sein
Darstellung 56
kann, liegt auf der Hand. Eine nochmalige Verdoppelung unserer
derzeitigen Leistung in den nächsten 40 Jahren ist angesichts der
heutigen Umweltschäden und des bereits erreichten Wohlstands-
vorsprungs gegenüber der übrigen Welt geradezu absurd.
Noch unrealistischer wäre der Versuch, die bisherigen Vertei-
lungsrelationen von 18:82 auch in Zukunft beizubehalten. Denn
dazu müßten wir das reale Volkseinkommen in den nächsten 40
Jahren, im Gleichschritt mit den Geldvermögen, sogar auf das
Vierfache steigern.
In der Variante B wird als Alternative eine Stabilisierung der
Leistung um das Jahr 2030 angenommen. Da aber auch bei gleich-
bleibender und sogar bei nachlassender Wirtschaftsleistung die
Geldvermögen aufgrund der ständig positiven Zinssätze weiter
wachsen, kippt hier die Verteilungskurve bereits kurz nach der
Jahrtausendwende um. Das heißt, wir haben maximal in ein bis
zwei Jahrzehnten Umverteilungsprozesse zu erwarten, die den
heutigen in den USA entsprechen und sehr bald lateinamerikani-
sche Ausmaße annehmen können (siehe Kasten, Seite 300). Ver-
meidbar ist diese Eskalation der sozialen Spannungen nur, wenn
im Gleichschritt mit den wirtschaftlichen Wachstumsraten auch
die Zinssätze gegen Null absinken. Bleiben sie jedoch wie bisher
ständig über Null, geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter
auseinander.
Schere zwischen Arm und Reich
Hamburg(dpa). In Hamburg, der Stadt mit den meisten „Superreichen“, leben
zugleich mehr Menschen unterhalb der Armutsgrenze als in anderen deutschen
Städten.
Fast jeder zehnte Bürger ist auf Sozialhilfe angewiesen - gleichzeitig steigt das
Einkommen der Selbständigen, wie Sozialsenator Ortwin Runde (SPD) be-
tonte.
„Es ist zu erwarten, daß die Schere zwischen Arm und Reich bundesweit immer
weiter auseinanderklafft“, meint der Senator. Mit größer werdenden Einkom-
mensdifferenzen wachse die Gefahr der Polarisierung. Wenn es nicht gelinge,
diese Entwicklung zu stoppen, drohten soziale Auseinandersetzungen wie in
Lateinamerika.
AN/Nr.122 - Donnerstag, 27. Mai 1993
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