Kapitel aus: Helmut Creutz: Das Geldsyndrom; Ullstein,
1997, 4. Auflage; ISBN 3-548-35456-4
Orginalausgabe 1993 by Wirtschaftsverlag Langen Müller in der
F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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20. Kapitel
Geld und Gerechtigkeit - die soziale Frage
„Das Geldvermögen der privaten Haushalte
stieg in den letzten 20 Jahren inflationsberei-
nigt um jährlich 5,4%, was eine Verdoppe-
lung in 13 Jahren bedeutet. Die Nettolöhne
stiegen in diesem Zeitraum jedoch nur um
jährlich 1,5 % und verdoppeln sich nur alle
46 Jahre.“
Andreas Spangemacher*
* Bilanzbuchhalter eines Kreditinstituts, „Der Dritte Weg“, 1 / 1991
Wann sind Einkommen ungerecht?
Bei ungerechten Einkommen denkt man meist an den Chefarzt,
der zehnmal soviel verdient wie eine Krankenschwester. Oder an
Udo Jürgens, der für einen Abend 30000 DM oder mehr kassiert.
Doch solange mich niemand zwingt, einen bestimmten Arzt auf-
zusuchen oder an der Abendkasse 100 DM Eintritt zu zahlen, stört
mich das nicht. Außerdem bieten beide eine Leistung an, die nicht
jeder erbringen kann, und das Honorar ist normalerweise das Er-
gebnis von Angebot und Nachfrage.
Aufregen kann mich bei diesen hohen Einkommen allerdings
eines: Daß sowohl der Chefarzt als auch Udo Jürgens den größten
Teil ihrer Einkommen zur Bank tragen und diese Teile in acht
oder zehn Jahren, ohne jede Leistung, noch einmal verdoppeln
können. Denn bei dieser Verdoppelung werde auch ich zur Kasse
gebeten, obwohl ich weder den Arzt noch die Veranstaltungen
von Udo Jürgens jemals besucht habe!
Einkommen, die man ohne jede Leistung erhält, sind also viel
ungerechter als alle leistungsbezogenen, auch wenn diese manch-
mal noch so sehr auseinanderklaffen. Außerdem übertrumpfen
diese leistungslosen Einkommen die leistungsbezogenen um ein
Vielfaches. So beträgt das Einkommen eines Normalverdieners je
Arbeitstag z. B. 150 DM, das eines Spitzenverdieners 1500 DM.
Ein 50facher Millionär (von denen es in der Bundesrepublik meh-
rere tausend gibt) kassiert an jedem Arbeitstag der anderen 15000
DM, ohne eine Hand rühren zu müssen. Ein 500facher Millionär
kommt auf 150000 DM und ein fünffacher Milliardär (in der BRD
ca. ein halbes Dutzend) auf 1,5 Millionen Mark täglich!
Seltsamerweise regt sich über solche leistungslosen Einkommen
kaum jemand auf. Vielleicht liegt das daran, daß man sich ein
zehnfaches Einkommen noch vorstellen kann, aber kaum ein hun-
dert-, tausend- oder zehntausendfaches.
Wie ist das mit den Einkommen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern?
Bekanntlich wird das Volkseinkommen statistisch in zwei Ein-
kommensarten aufgeteilt, das „Bruttoeinkommen aus Unterneh-
mertätigkeit und Vermögen“ und das „Bruttoeinkommen aus un-
selbständiger Arbeit“. Die letztgenannte Größe beinhaltet die
Bruttoeinkommen aller Arbeitnehmer, zuzüglich der tatsäch-
lichen und unterstellten Arbeitgeberbeiträge. 1990 lag diese Ein-
kommensgröße bei 1314 Mrd. DM. Nach Abzug dieses Postens
von dem (bereits als Restgröße errechneten) Volkseinkommen
ergibt sich die Summe der „Bruttoeinkommen aus Unternehmer-
tätigkeit und Vermögen“. Sie lag 1990 bei 558 Mrd. DM. Von
diesem Restposten zieht man dann das sogenannte „Vermögens-
einkommen“ ab, das mit der Wirklichkeit der Vermögenseinkom-
men jedoch kaum etwas zu tun hat. Bei dieser Summe handelt es
sich nämlich lediglich um eine Zusammenfassung des (positiven)
Zinsstromsaldos der Privathaushalte (Zinseinnahmen abzüglich
der Zinsen auf Konsumentenschulden) mit dem (negativen) Zins-
saldo des Staates. Außerdem werden noch die „Ausschüttungen
der Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit“ hinzu ad-
diert. 1990 lag dieses „Vermögenseinkommen“ bei 99 Mrd. DM.
Beachtet man, daß im gleichen Jahr alleine von den Banken 257
Mrd. DM Zinsen ausgeschüttet wurden, dann wird die Fragwür-
digkeit dieser statistischen Größe deutlich. Durch Abzug dieser
irreführenden Größe von dem ermittelten Rest des Volkeinkom-
mens ergibt sich dann die statistische Größe „Bruttoeinkommen
aus Unternehmertätigkeit“.
In der Darstellung 46 sind beide Brutto-Einkom-
mensgrößen in ihrer Entwicklung dargestellt. Oberhalb der Nulli-
nie die gesamten Einkommen aus Unternehmertätigkeit, unter-
halb die aus unselbständiger Arbeit.
Wie die eingetragenen Flächen und die angeführten Anfangs-
und Endwerte zeigen, hat sich diese Gesamtverteilung in den 40
Jahren zugunsten der Unselbständigen entwickelt. Während die
Größen der Unternehmereinkommen auf rund das l5fache anstie-
gen, nahmen die der Unselbständigen auf das 27fache zu, also fast
doppelt so stark. Die zusätzlich eingetragenen „Vermögensein-
kommen“ nahmen in den 40 Jahren sogar auf das 45fache zu.
Auch wenn diese statistisch ausgewiesene Größe mit den wirk-
lichen Vermögenseinkommen nicht viel zu tun hat, ist ihre Über-
entwicklung aussagekräftig. Aufschlußreich ist aber auch der rela-
tive Rückfall der zusätzlich eingetragenen Nettolöhne- und -ge-
hälter, die nur auf das 21fache zunahmen.
Aus dem Tatbestand des deutlichen Anstiegs der Einkommen
der Unselbständigen gegenüber jenem der Unternehmer wird
häufig der Schluß gezogen, daß die Arbeitnehmer immer mehr
von unserer Wirtschaftsleistung profitieren. Das aber trifft nicht
zu. Denn die hier wiedergegebene Entwicklung berücksichtigt
nicht den Tatbestand, daß sich die Zahlen der Beschäftigten in
beiden Bereichen erheblich gegeneinander verschoben haben:
Die Zahl der Unselbständigen nahm in den 40 Jahren auf fast das
Doppelte zu, die der Selbständigen und Unternehmer fiel auf we-
niger als die Hälfte zurück.
Wie haben sich die Pro-Kopf-Einkommen entwickelt?
Wie sich aus Darstellung 47 ergibt, sind die Pro-Kopf-Einkommen
der Unselbständigen gegenüber jenen der Selbständigen bzw. Un-
ternehmer deutlich zurückgefallen. Während das Pro-Kopf-Ein-
kommen der Selbständigen in den 40 Jahren auf das 33fache an-
stieg, nahm das der Unselbständigen nur auf das 16fache zu, also
nur halb soviel. Die Nettolöhne und -gehälter nahmen sogar nur
auf das Elffache zu.
Die statistische Größe „Vermögenseinkommen“ wurde in diese
Darstellung nicht aufgenommen. Einmal ist eine Zuordnung zu
den Pro-Kopf-Einkommen der beiden Gruppen nicht möglich, da
es darüber keine Verteilungsschlüssel gibt. Zum anderen dürfte
eine erhebliche Anzahl der Unselbständigen nur über geringe
Vermögen verfügen, während sich bei den Selbständigen die grö-
ßeren Vermögen konzentrieren.
Wie die Darstellung zeigt, kommt also zu dem Tatbestand der
ungerechten Einkommensverteilung aus Vermögen noch eine zu-
nehmende Auseinanderentwicklung der Arbeitseinkommen von
Arbeitnehmern und Selbständigen hinzu. Dabei ist jedoch zu
beachten, daß in den „Bruttoeinkommen aus Unternehmertätig-
keit“ weitgehend auch die in den Gewinnen versteckten Verzin-
sungen des Eigenkapitals enthalten sind.
Welches Unrecht geht von Inflationen aus?
1992 hatten wir in der Bundesrepublik eine Inflation von ca. vier
Prozent. Das heißt, die reale Kaufkraft unseres Geldes ist in dem
Jahr von 100 auf 96 Mark gesunken. Das gilt nicht nur für das Geld
Darstellung 48
in unserer Tasche, sondern auch für alle Ersparnisse. Ausge-
glichen werden kann dieser Substanzverlust der Ersparnisse nur,
wenn man ihre Verzinsung in Höhe des Inflationszusatzes anhebt.
Wie die Kurven in der voranstehenden Darstellung 48 zeigen, ist
das bei der Mehrzahl der Zinsen der Fall. Sie steigen mit der Infla-
tion fast parallel auf und ab.
Aus der Darstellung geht jedoch auch hervor, daß diese Zinsan-
passung bei den Sparguthaben mit gesetzlicher Kündigungsfrist
mehr als zu wünschen übrig läßt. Das heißt, die Ersparnisse der
„kleinen Leute“ werden in Inflationszeiten gravierend benachtei-
ligt. So lag beispielsweise die Verzinsung dieser Sparguthaben in
der Mehrzahl der dargestellten Jahre unter der Inflationsrate. Das
heißt, die Inflation hat nicht nur die gesamte Verzinsung absor-
biert, sondern auch noch einen Teil der Ersparnisse.
Bezieht man diesen Tatbestand auf das Volumen dieser Erspar-
nisse, die 1992 bei 500 Mrd. DM lagen, dann gingen den kleinen
Sparern 14 Mrd. DM Zinserträge verloren und zusätzlich noch 6
Mrd. DM an Ersparnissubstanz. Umgelegt auf ca. 20 Millionen
Haushalte mit solchen Sparguthaben, hat jeder als Folge der Infla-
tion einen Durchschnittsverlust von 1000 DM erlitten.
Da in der Wirtschaft nichts verlorengeht, stehen diesen infla-
tionsbedingten Verlusten auf der anderen Seite gleich hohe Ge-
winne gegenüber. Diese Gewinne können die Kreditnehmer ver-
buchen, die mit ihren Kreditzinsen keinen Inflationsausgleich für
die Sparer zahlen mußten. Darüber hinaus haben die Kreditneh-
mer den Vorteil, daß sich die Zinskonditionen aller bereits laufen-
den Verträge erst nach und nach erhöhen, während die Inflation
ihre Rückzahlungsverpflichtungen sofort „verwässert“. Das
heißt, die Kreditnehmer können das geliehene Geld mit schlechte-
rem Geld zurückzahlen, was wiederum zu Lasten der Gläubiger
geht.
Die Aussage des früheren Präsidenten der Schweizerischen Na-
tionalbank, Fritz Leutwiler: „Auf keine andere Weise als durch
Inflation können in so kurzer Zeit so wenige so reich und so viele
so arm gemacht werden“, ist also mehrfach begründet.
Kann man Inflation als Betrug bezeichnen?
Wenn der Tuch- und Baustoffhandel jedes Jahr klammheimlich
alle Meterstäbe um einige Zentimeter kürzen würde, dann wäre
das nach einhelliger Auffassung Betrug. Ebenso, wenn Veranstal-
ter mehr Eintrittskarten verkaufen, als Plätze vorhanden sind. Be-
sonders perfide wäre der Betrug, wenn die Täter das verwerfliche
Tun bei anderen jeweils lautstark anprangern würden.
Genauso verhalten sich aber unsere Notenbanken: Sie bedro-
hen alle mit Gefängnis, die mit gefälschten ungedeckten Geld-
scheinen die Kaufkraft des gesamten Geldes verwässern - und ma-
chen es selbst in unvergleichbaren Größenordnungen! So lagen
beispielsweise die festgestellten Fälschungen 1987 und 1988 zu-
sammen bei rund 1,1 Millionen DM. Die Bundesbank selbst aber
hat in den gleichen Jahren rund 23 Milliarden (!) zuviel an Geld in
Umlauf gegeben, also mehr als 20000ma1 soviel!
Da dieses ganze überschüssige Geld nicht durch wirtschaftliche
Leistungen gedeckt war, kann man seine Inumlaufsetzung nur als
legalisierten Betrug einstufen. Daß man dieses offizielle unge-
deckte „Falschgeld“ - im Gegensatz zu Hobby-Fälschungen -
nicht von gedeckten Scheinen unterscheiden kann, macht die Sa-
che nur noch schlimmer.
Die Bundesbank des Betrugs zu bezichtigen, mag manchem wie
eine Blasphemie vorkommen. Aber auch hier kann man sich auf
offizielle Äußerungen stützen, z. B. die des früheren US-Noten-
bankers Henry C. Wallich, der gleichzeitig den Ökonomen einen
Denkzettel verpaßte: „Inflation ist eine Form des Betruges. Mir
scheint auch, daß Ökonomen viel dazu beigetragen haben, den
Weg für eine Inflation zu bahnen, wie wir sie jetzt haben . . .“
Nicht weniger deutlich und ebenfalls den moralischen Aspekt
ansprechend, hat sich der frühere Bundesbankpräsident Ottmar
Emminger 1980 geäußert, sich auf seinen Vorgänger Blessing be-
ziehend: „. . . stabiles Geld ist eine Voraussetzung für die Auf-
rechterhaltung einer gesunden Marktwirtschaft und schließlich
auch eine moralische Frage: Nur gesundes Geld ist ein ehrliches
Geld. Oder wie einer meiner Vorgänger, Herr Blessing, gesagt
hat: Inflation ist Betrug am Volk.“
So wie der Krieg das größte denkbare Gewaltverbrechen ist und
der Zins die größte denkbare Ausbeutung, so kann man also
mit Fug und Recht die Inflation als den größten denkbaren Betrug
bezeichnen.
Verwirrend ist bei diesen drei größten „Kapitalverbrechen“,
daß zwei davon tatsächlich mit Kapital zu tun haben und das dritte
- der Krieg - zumindest indirekt. Geradezu erschreckend ist aber
der Tatbestand, daß alle Staaten, auch unsere demokratischen,
die ansonsten Gewalt, Ausbeutung und Betrug im Kleinen verfol-
gen, die größten denkbaren Formen dieser Verbrechen immer
noch als legitim betrachten.
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