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Aus Contraste vom Februar 2003:
ein Beitrag von
Helmut Creutz (Aachen)
Man wagt es kaum beim
Namen zu nennen! Selbst Notenbanker reden vom „D-Wort“ oder "Unwort",
um es möglichst nicht auszusprechen. Dennoch taucht es immer wieder und
zunehmend häufiger auf, oft nur blitzartig, wie ein Gespenst in der
Geisterbahn. - Was hat es damit auf sich?
Von Inflation spricht man bekanntlich, wenn zuviel Geld in Umlauf ist und als
Folge die Preise steigen, von Deflation, wenn umgekehrt zu wenig Geld umläuft
und als Folge die Preise fallen.
Während der Begriff Inflation seit Jahrzehnten zu unserem täglichen Vokabular
gehört, ist die Deflation den meisten kaum geläufig. Selbst in den Lehrbüchern
wird sie überwiegend als eine längst besiegte Horrorerscheinung aus vergangenen
Zeiten abgehandelt.
Geht man dieser Spur genauer nach, dann stellt sich heraus, dass ganze Staaten
und Kulturen in Deflationen versunken sind. Ganz einfach deshalb, weil die
Menge des Geldes bis vor knapp hundert Jahren noch an Gold und Silber gebunden
war. Denn genau so wie Länder und Volkswirtschaften durch neue Goldfunde und
die damit möglichen Geldmengen-Ausweitungen aufblühten, so brachen sie
zusammen, wenn das Geld in Truhen verschatzt, in Krügen vergraben oder von den
Reichen für Schmuck und Geschirr eingeschmolzen wurde. Kein Wunder, dass Gold
der Anlass für die meisten kriegerischen Eroberungen war.
Die letzte große Deflation in neuerer Zeit erlebte die Welt um 1930. Dafür war
nicht nur der Schwarze Freitag an den Börsen in den USA verantwortlich und die
anschließenden Bankenpleiten, sondern vor allem die damalige Bindung der
Geldmenge an das Gold. Besonders dramatisch wirkte sich diese Bindung in
Deutschland aus, wo das herausgegeben Papiergeld, gesetzlich festgeschrieben,
zu 40 Prozent durch Gold und Devisen gedeckt sein musste. Als dann die
US-Banken, auf Grund der eigenen Schwierigkeiten, kurzfristig erteilte Kredite
vom Deutschen Staat zurückforderten, passte der damalige Reichsbankpräsident
Luther auch die Geldmenge der reduzierten Deckung an. Insgesamt wurde der
Notenumlauf bis Ende 1932 um 30 Prozent verringert und der Diskontzins stieg
bis auf 20 Prozent. Die Reichsregierung unter dem Kanzler Brüning tat noch ein
übriges, in dem sie die Beamtengehälter in einer Notverordnung reduzierte.
Damit brach der gestörte Nachfragekreislauf noch mehr zusammen, die Preise
brachen ein und die Arbeitslosigkeit schnellte auf mehr als sechs Millionen an,
fast 20 Prozent der Erwerbstätigen.
Man hatte zwar unter Schmerzen acht Jahre vorher in der großen Inflation
gelernt, dass Geldmegenausweitungen vermieden werden müssen, leider aber nicht
begriffen, dass im umgekehrten Fall auch umgekehrte Maßnahmen erforderlich
sind. Das heißt, in Deflationszeiten sind Geldmengen-Ausweitungen angesagt,
selbst wenn man dabei die Deckungsvorschriften übertritt. Die Folge der
falschen Entscheidungen Anfang der 30er Jahre war darum ein
Wirtschaftseinbruch, der mit einer für uns heute unvorstellbaren Not verbunden
war. Ohne diese Not- und Hungerzeit und die daraus folgenden politischen
Entwicklungen, wäre die Geschichte ganz gewiss anders geschrieben worden. So
klagte die Gewerkschaftszeitung "Metall" im Jahre 1953 rückblickend
zu Recht:
"Zweimal wurde das soziale Gefüge des deutschen Volkes in den Grundfesten
erschüttert: während der großen Inflation des Jahres 1923 und nach dem Ausbruch
der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929. Ohne diese Katastrophen wäre der
Nationalsozialismus niemals eine Macht geworden."
Wie ist das heute mit der Deflation?
Die Anbindung des
Geldes an irgendwelche Goldvorräte ist heute weltweit überwunden. Selbst die
Schweizerische Nationalbank, die sich vor wenigen Jahrzehnten noch einer
völligen Golddeckung ihrer Währung rühmte (und sich gegen eine
freiwirtschaftliche Initiative zur Aufhebung dieser Bindung vehement
verwahrte!), plant inzwischen den Verkauf ihrer Schätze. Das heißt, eine
klassische Deflation, die auf einem Gold- und damit Geldmangel beruht, ist in
unserer heutigen Papiergeldzeit im Grunde gar nicht mehr möglich, es sei denn,
eine Notenbank würde die Geldausgabe reduzieren. Was uns aber auch heute noch
drohen kann, ist nicht ein Mangel an Geld, sondern sein unzulänglicher Einsatz.
Also ein Mangel an Nachfrage bezogen auf das Angebot der Märkte, der zwangsläufig
ebenfalls zum Absinken der Preise führt.
Deflationen in unseren Tagen sind also nicht mehr Folge ungenügender
Geldversorgung oder Geldverknappung durch die Notenbanken, sondern Folge
gestörter Geldnutzung, also die Folge von Kaufkraftblockierungen. Jede
Unterbrechung des Geldkreislaufs aber erzeugt liegen bleibende Waren,
reduzierte Nachbestellungen und Neuproduktionen und damit, bei ungekürzten
Arbeitszeiten, sogar Arbeitslosigkeit. Während also Inflationen heute nur dann
entstehen können, wenn die Notenbanken die Geldmenge vorher über den Bedarf
hinaus vermehrt haben, kann es zu Deflationserscheinungen auch bei ausreichend
vorhandener Geldmenge kommen, wenn die Kaufbereitschaft der Bevölkerung
zurückgeht. Die Notenbanken können dann nur noch versuchen, die Nachfrage durch
Absenkung der so genannten Leitzinsen zu stimulieren, der Staat durch höhere
Verschuldung und die Vergabe öffentlicher Aufträge. Kurz, das was wir heute
Deflationen nennen, kann - genau betrachtet - eine ganz natürliche Entwicklung
auf Grund zunehmender Sättigungen sein.
Das Beispiel Japan
Eine solche von den
Verbrauchern zu verantwortende Deflation erleben wir seit rund zehn Jahren in
Japan. Ausgelöst wurde sie, ähnlich wie auch Ende der 20er Jahre, durch einen
großen Börsencrash, der in Japan bereits Ende der 80er Jahre ablief. Diesem
Crash an der Börse folgte eine Flucht des Geldes in die Bodenwerte mit extrem
in die Höhe getriebenen spekulativen Grundstückspreisen. In den Spitzenlagen
Tokios stiegen die Quadratmeterpreise bis zu einer Million DM an und der Garten
des Kaiserpalastes war damals rechnerisch mehr wert als der Boden ganz
Kaliforniens! Als dann nach rund zwei Jahren auch dieser Spekulationsexzess
zusammen brach und die Beleihungsgrenzen sanken, kamen auch die Banken in
Schwierigkeiten, die auf Grund der gestiegenen Grundstückspreise zu hohe
Kredite an Eigentümer und Erwerber ausgegeben hatten.
Durch staatliche Unterstützungen und erlaubte Buchungstricks wurde zwar das
Gros der Banken bis heute vor der Pleite bewahrt, aber das Gros der Bürger zog
aus all dem die Konsequenz, sparsamer als bisher zu leben und vorsichtiger mit
Geld umzugehen. Da auf Grund der Kaufzurückhaltungen die Preise fielen und
damit die Kaufkraft des Geldes stieg, wurde diese Kauf- und Geldzurückhaltung
auch noch belohnt. Damit verstärkten sich Zurückhaltung und Preisverfall und
eine konjunkturelle Abwärtsspirale setzte ein, die nur schwer aufzuhalten ist.
Da mit dieser deflationären Entwicklung auch die Zinsen in den Keller gingen,
lohnte es sich auch immer weniger, das gesparte Geld zur Bank zu tragen. Dieser
Trend zur Geldhortung in den eigenen vier Wänden wurde durch das Wissen über
die kritische Situation der Banken noch verstärkt. Und da man für die
Geldhaltung zu Hause zweckmäßigerweise über einen Safe verfügen sollte, war die
Tresor-Produktion zeitweise der am meisten boomende Industriezweig in Japan.
Verständlich, dass der Staat mit allen Mitteln versuchte, diese
konjunkturgefährdende Kaufzurückhaltung zu durchbrechen und das Wachstum der
Wirtschaft zu beleben. Das geschah vor allem durch immer höhere
schuldenfinanzierte Ausgaben, die in den letzten zwölf Jahren die
Staatsverschuldung von 80 Prozent des BIP auf sage und schreibe 160 Prozent
verdoppelte (was das heißt wird deutlich, wenn man diese Marke mit den
erlaubten 60 Prozent im Euro-Raum vergleicht!). Aber auch diese staatlich
finanzierten Konjunkturmaßnahmen konnten die Lähmung des Wirtschaftsgeschehens
nicht stoppen. Vielmehr verschwand auch das neu gedruckte und vom Staat in
Umlauf gesetzte Geld sehr schnell wieder in den Tresoren der Privathaushalte.
Selbst der verzweifelte Versuch des Staates die Wirtschaft mit terminierten und
an die Bürger verschenkten Kaufgutscheinen in Schwung zu bringen, ging
weitgehend ins Leere. Zwar wurden alle Gutscheine vor dem Verfallstermin
eingelöst, aber der damit ausgelöste Nachfrageschub entsprach nur einem Drittel
ihres Nennwertes. Mit der übrigen Kaufkraft erhöhten die Bürger nur wieder ihre
Bargeldhaltungen!
Welche Folgen haben die Geldzurückhaltungen in Japan?
Sieht man sich die
Entwicklungen in den Statistiken an, dann liegen sowohl die Wachstumsraten der
japanischen Wirtschaft als auch die Zinsen deutlich unter den Werten der
anderen Industrienationen. In den letzten fünf bis sieben Jahren pendelte das
Wirtschaftswachstum sogar um Null, ebenso wie die Veränderungen der
Inlandsnachfrage. Die kurzfristigen Zinsen lagen in dieser Zeit knapp über Null
und die langfristigen zwischen ein und zwei Prozent (siehe Darst. Nr.120a am
Textende). Doch trotz des fehlenden Wirtschaftswachstums und trotz der hohen
Staatsverschuldung geht es den Menschen in Japan überraschenderweise nicht viel
schlechter als jenen in den übrigen Industrienationen. Zwar hat die
Arbeitslosigkeit im Lande zugenommen, doch mit einer Quote von 6 Prozent liegt
man immer noch in einem annehmbaren Rahmen.
Ein ganz entscheidender Grund für die geringen negativen Folgen der japanischen
Deflation sind die bereits erwähnten niedrigen Zinsen. Denn im gleichen Umfang
wie die Zinssätze sinken, sinken auch die Schuldenlasten und damit tendenziell
die Zinsanteile in den Preisen. Das heißt, der als Deflation gekennzeichnete
Preisverfall in Japan kann auch mit diesem Wirkungsmechanismus der gesunkenen
Zinsanteile erklärt werden. Zwar gehen mit diesen sinkenden Zinssätzen auch die
Zinserträge der privaten Haushalte zurück, aber davon sind, netto gerechnet,
nur die reichen Minderheiten betroffen. Die breite Bevölkerungsmehrheit zieht
dagegen aus diesem Rückgang der Zinsbelastung einen Nutzen. Und natürlich der
Staat, der trotz höchster Verschuldung nur relativ geringe Zinszahlungen aus
seinen Einnahmen aufzubringen hat.
Hat die Deflation ihren Schrecken verloren?
Unterm Strich
betrachtet ist die Situation in Japan, trotz der deflationären Gegebenheiten
und trotz der wirtschaftlichen Stagnation, relativ erträglich. Warum sollte es
auch anders sein? Bei Zinsen knapp über Null macht ein Nullwachstum kaum jemand
ärmer. Denn auch bei gleichbleibender und nicht mehr steigender Leistung bleibt
das Einkommen gleich, für das man sich also genau so viel kaufen kann wie im
Jahr zuvor. Und auf Grund der sinkenden Preise, gleichgültig ob zinsbedingt
oder deflationär erklärt, kann sich die Mehrzahl der Verbraucher sogar noch
mehr als zuvor erlauben. Das vor allem, wenn - wie in Japan der Fall - die
Preise stärker fallen als die Löhne.
So erklärt sich auch, dass zwar die ganze Welt mit Schrecken auf das japanische
"Desaster" sieht, die Japaner aber ganz gut damit leben können.
"Das besondere an der japanischen Krise " - so schreibt die ZEIT in
Nr.42/2002 - "ist ihre leichte Verträglichkeit für den Bürger. `Goldene
Rezession´ nennen die Japaner das Phänomen.....So bleibt der Leidensdruck
gering und die Regierung kann die Probleme ignorieren, ohne den Wähler fürchten
zu müssen".
Weiter zeigt sich in Japan, dass mit einer Ausscherung aus dem Wachstums-Konvoi
keinesfalls jene internationalen Katastrophen verbunden sind, die immer wieder
bei einem "Nullwachstum" und einer isolierten Absenkung der Zinssätze
vermutet werden. Die japanische Wirtschaft und auch die japanischen Banken
verkehren weiterhin ohne gravierende Probleme mit allen anderen Ländern. Handel
und Wandel bleiben also intakt und selbst der Kurs der japanischen Währung hat
unter den veränderten Gegebenheiten kaum gelitten, er ist eher überraschend
hoch.
Umgekehrt wird aber auch deutlich, in welche Schwierigkeiten die japanische
Wirtschaft geraten kann, wenn die Zinsen wieder auf eine "normale"
Höhe ansteigen würden. Das gilt vor allem für den Staat, der heute, bei
niedrigen Zinsen, mit seinen hohen Schulden halbwegs geordnet leben kann. Die
Katastrophe, die alle mit der heutigen Situation verbinden, die aber bisher
ausgeblieben ist, wird also voraussichtlich erst dann eintreten, wenn sie, mit
"normalen Zinsen" und einer inflationsbelebten Konjunktur, durch die
Enthortungen der Geldbestände eigentlich zu Ende gehen soll!
Welche Konsequenzen ist aus den japanischen Erfahrungen zu
ziehen
Die klassische
Deflation, ausgelöst durch einen tatsächlichen Geldmangel, ist nach wie vor mit
Recht ein Schreckgespenst, vor allem im Hinblick auf die sich beschleunigende
und schwer zu bremsende Abwärtsspirale.
Wenn aber in einer gesättigten Wirtschaft Verbrauchszunahme und Wachstumsraten
zurückgehen und im Gleichschritt damit die Zinsen und Preise, ist das keine
problematische, sondern eher eine natürliche und wünschenswerte Entwicklung.
Ebenfalls ist es ganz normal, dass unter diesen Gegebenheiten auch das Wachstum
der Investitionen und der Kreditaufnahmen rückläufig ist. Problematisch ist
dabei jedoch, dass mit diesen rückläufigen Entwicklungen die ausgegebene
Geldmenge nicht im Gleichschritt reduziert wird, sondern deren Überschüsse sich
in den privaten Tresoren sammeln. Denn mit dieser sich ansammelnden Differenz
zwischen der ausgegebenen und der notwendigen aktiven Geldmenge, bildet sich
ein aufgestautes Nachfragepotential, das bei einem Anspringen der Konjunktur
und einer Wiederbelebung des Wachstums zu einem Inflationsschub führen muss.
Die damit wieder ansteigenden Zinsen aber könnten bei den hohen Schulden in
Lande für die Wirtschaft "tödlich" sein, vor allem für den
überschuldeten Staat.
So wie eine verantwortlich handelnde Notenbank die klassische Deflation durch
ausreichende Geldversorgung vermeiden kann, so kann sie die Problematik einer
"natürlichen" Deflation auffangen, in dem sie die Geldversorgung im
Gleichschritt mit den wirtschaftlichen Sättigungsprozessen reduziert. Bei
beiden Deflationsformen geht es also letztlich um eine marktkonforme
Geldmengensteuerung. Sie wäre in beiden Fällen mit einer Umlaufsicherung für
das Geld erreichbar, die - unabhängig von der Zins- und Inflationshöhe -
gleichbleibend wirkt, die Geldmenge gewissermaßen automatisch regelt und die
Zinssätze mit dem Wirtschaftswachstum marktgerecht gegen Null sinken lässt. Und
die mit einem Rückgang des Verbrauchs bzw. der Wachstumsraten zusammenhängenden
Beschäftigungsfolgen, können bei Zinsen nahe Null durch flexible Kürzungen der
Arbeitszeiten neutralisiert werden, ohne das dies mit problematischen ökonomischen
oder sozialen Folgen verbunden wäre.
Dass heißt, mit einem kleinen Eingriff in die Funktion unseres Geldsystems
würde es möglich, das Wirtschaftsgeschehen auch ohne Wachstum zu stabilisieren,
selbst wenn die Zins- und Inflationssätze auf kritische Niedrigsätze sinken
oder die Wirtschaftsleistungen aus sättigungsbedingten Gründen schrumpfen
sollten.
Helmut Creutz