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Weitere Texte von T. Betz

 


Thomas Betz:

 

 

Beitrag für die „Zeitschrift für Sozialökonomie“, Ausgabe März 2002:

 

 

 

Bernd Senf:

 

Die blinden Flecken der Ökonomie

 

 

Wirtschaftstheorien in der Krise

 

 

dtv-Verlag, 2001
(ISBN: 3-423-36240-5)

 

 

 

 

Mit seinem neuen Buch leistet Bernd Senf eigentlich zweierlei:

 

Zum einen liefert er einen umfassenden Überblick über die wesentlichen und prägenden ökonomischen Denkschulen, der bewusst und gewollt laienverständlich gehalten ist – vielleicht sein größtes Verdienst – und auch vor den Tabuthemen Karl Marx und Silvio Gesell nicht halt macht. Unabhängig von persönlicher Motivation und weltanschaulicher Provenienz kann sich so auch der akademisch wenig oder nicht Vorbelastete einen Überblick darüber verschaffen, worum es in der Ökonomie und den entsprechenden Diskussionen eigentlich geht, und weiß dann auch, dass es nicht angeht, dass er als „Nichtwissender“ mundtot gemacht und ignoriert und über seinen Kopf hinweg entschieden wird.

 

Zum anderen unterwirft Senf ausnahmslos alle Schulen einer strengen Kritik, prüft und bewertet sie unter Zugrundelegung von Kriterien insbesondere der Ökologie, der Verteilungsgerechtigkeit, der Geschlechterfrage, der Realitätsnähe sowie der Zukunftsfähigkeit und findet so eben zu den „blinden Flecken der Ökonomie“, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Obwohl die Flecken in Anzahl wie Bedeutung durchaus nicht gleichverteilt sind, gibt es doch auch keine Denkrichtung, die verschont bleibt. Dem Autor ist auch weniger daran gelegen, im Sinne von „gut“ oder „schlecht“ einzuteilen und zu polarisieren, sondern im besten Sinne integrativ zu wirken; d.h. im Sinne eines „von jedem das Beste“ eine Weiter- bzw. Höherentwicklung ökonomischer Theorie anzuregen.

 

Er beginnt in chronologischer Abfolge zunächst mit der ältesten Schule, der Feudalismus-Legitimations-Ökonomie der Physiokraten (F. Quesnay), der er immerhin zubilligen kann, dass sie – i. Ggs. zu späteren Theorien – die Natur als Produktivkraft erkannt hat, welche insoweit auch zu schützen und deren Reproduktionsfähigkeit zu gewährleisten ist. Es folgt die Klassik (Adam Smith und J.B. Say), die nunmehr dem Boden, dem Kapital, dem – vorgeschossenen – Geldkapital, aber eben auch der Arbeit Produktivkraft zuerkennt. Die blinden Flecken sieht Senf in der – von der Klassik nicht gesehenen, aber durch die Teilung der Arbeit bedingten – Entfremdung (von der Arbeit, vom Produkt, aber auch der Menschen voneinander und von sich selbst), in den durch die Planungsprozesse entstehenden Hierarchien, Dominanzen, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen, in der ungleichen Verteilung des Gesamtproduktes, auch auf der Makro-Ebene des internationalen Austausches der Güter.

 

Der – historische wie im Buch – Nachfolger ist Karl Marx und seine Theorie. Er übernimmt einige Elemente der Klassik, insbesondere die Arbeitswertlehre, und entwickelt diese weiter zur Mehrwerttheorie, stellt die klassische Schule aber ansonsten auf den Kopf (oder auf die Füße; je nachdem). Im Buch findet sich ein überschau- und nachvollziehbarer Überblick über die Marx’sche Theorie, der die wesentlichen Zusammenhänge veranschaulicht und auch wieder die Augen für die blinden Flecken öffnet; allen voran für den monetären: Marx übernimmt von der Klassik die Geldvorstellung eines vollkommenen und neutralen Tauschäquivalentes. Damit bleibt ihm der Blick für die besondere – und überlegene – Rolle des Geldes sowie für Prozesse, die ihren Ursprung in der monetären Sphäre haben und auf die reale Sphäre (die der Güter und Dienstleistungen) ausstrahlen, verschlossen. Senf erwähnt in dem Zusammenhang auch die defizitäre Analyse von Inflation und Deflation während der Weltwirtschaftskrise durch den Marxismus. Angesprochen wird auch der ökologische blinde Fleck, denn die Natur als Produktivkraft war bereits bei den Klassikern wieder verschwunden und auch bei Marx nicht wieder aufgetaucht. Zwar finden sich bei ihm auch Ausführungen über den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Naturzerstörung, nicht aber im Rahmen seiner Mehrwerttheorie. Unter den Reproduktionskosten der Arbeit werden zwar auch diejenigen der Familien einschließlich der Kinder und der Frauen subsumiert, aber die besondere gesellschaftliche Wertschöpfung der Frauen findet bei Marx keine gesonderte Berücksichtigung, und insofern verortet der Autor auch einen feministischen blinden Fleck. Mit dem massenpsychologisch blinden Fleck wird schließlich das Phänomen beschrieben, dass mit sich verschärfender Krise die Massen keineswegs ganz zwangsläufig zum revolutionären Subjekt wurden (und werden?), sondern auch schon mal – wie in Deutschland und andernorts geschehen – in das entgegengesetzte Lager abdriften können.

 

Es folgt ein Ausflug in die sog. Neoklassik (S. Jevons, C. Menger, L. Walras) und deren Haushalts-, Markt- und Unternehmenstheorie, die die Grundlagen der ökonomischen Orthodoxie bis zur Gegenwart bilden. Trotz der Namens-Bezugnahme finden sich wesentliche Grundlagen der Klassik, insbesondere die Wertschöpfung durch die menschliche Arbeit sowie die Arbeitswertlehre, in der Neoklassik nicht mehr. Der eigentliche Prozess der Wertschöpfung bleibt insoweit auch im Dunkeln, und so beschränkt sich die Betrachtung auf die Preisbildung auf den einzelnen Märkten unter den verschiedensten Bedingungen. Krisen, die eine Theorie mit Anspruch auf Vollständigkeit eigentlich erklären können sollte, werden externalisiert und Störgrößen genannt. Ansonsten ist alles im Gleichgewicht bzw. tendiert langfristig dorthin. Obzwar die frühe Neoklassik Zeitgenossin des Marxismus war, hat sie sich nie an eine inhaltliche Auseinandersetzung mit selbigem gewagt. Statt dessen wurde jedenfalls versucht ihn totzuschweigen, und vermittels einer gewaltigen Mathematisierung wissenschaftliche Exaktheit vorgeschützt, ohne die Grundannahmen und Prämissen der Theorie bzw. ihrer Teile jemals einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen zu haben. Das holte dann erst 100 Jahre später Reinhard Selten nach, der als erster Deutscher 1994 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt; im Wesentlichen dafür, dass er nachwies, dass die neoklassischen Grundannahmen jeder Grundlage entbehren (steht zwar nicht im Buch, ist und wäre aber in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren). Allein der sattsam bekannte „homo oeconomicus“, der vollständig bewusste, informierte und allzeit rationale Konsument mit seinem individuellen Präferenzsystem, tragende Säule des Theoriegebäudes, erweist sich als pures Hirngespinst. Entsprechend wird von Senf auch insbesondere die „emotionale Blindheit“ der Neoklassik thematisiert, ansonsten aber das gesamte Gebäude als ein einziger großer blinder Fleck rezipiert und folgerichtig zum Einsturz gebracht (bildhafte Darstellung zu bestaunen auf S. 149).

 

Der Bewohner einer der „wenigen Nischen, in denen abweichendes Denken und Verhalten sozusagen als Narrenfreiheit noch geduldet wird“ (S. 8), stellt nun Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre in eine Reihe mit den anderen genannten Schulen. Er kommt zunächst auf Gesells Kritik an Marx zu sprechen (monetäre Blindheit; s.o.) sowie auf die von Gesell ins Visier genommene Golddeckung der Währung und stellt fest, dass die Welt inzwischen jedenfalls diesbezüglich zu besserer Einsicht gelangt ist; alle nationalen Währungen wurden nach dem 2. Weltkrieg vom Gold gelöst. Entsprechende Einsichten stehen allerdings im Hinblick auf die von Gesell in erster Linie thematisierte Problematik des Zinssystems noch aus. Unter Bezugnahme auf Gesell – und in Anlehnung an sein Buch „Der Nebel um das Geld“ (Gauke-Verlag 1996) –  diskutiert Senf den Zins als Ursache und/oder Verstärker der 5 Krisen von Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft, Staat und Dritter Welt und arbeitet als Grundproblem die Parallelität der Geldfunktionen Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel und Spekulationsmittel heraus (und nennt dies „monetäre Kernspaltung“; S. 183). Er spricht die Ächtung des Zinses im Christentum an, mögliche Problemlösungen und den Modellversuch Wörgl. Aber auch die Freiwirtschaftslehre – so konstatiert er – hat einen blinden Fleck; den gegenüber der Natur: Zwar würde eine freiwirtschaftliche Reform dem zinsinduzierten Wachstumszwang Einhalt gebieten, aber der Teufel der Naturzerstörung stecke in den einzelwirtschaftlichen Grundbegriffen; insbesondere in dem Umstand, dass die notwendige Reproduktion der Natur keine Berücksichtigung in der einzelwirtschaftlichen Kostenrechnung findet. Des weiteren kritisiert er, dass Gesell – gemeinsam mit der Neoklassik – die Arbeitswertlehre (der Klassik wie des Marxismus) unberücksichtigt lässt und sich dadurch ein tieferes Verständnis von Wertentstehung und Wertschöpfung verbaut. U.a. deshalb bedauert er eine beiderseitige dogmatische Erstarrung (von FWL und M.) und plädiert für mehr Dialog.

 

Der nächste in der Reihe ist nun John Maynard Keynes, der die systemimmanente Krisenanfälligkeit des Kapitalismus nicht mehr in Abrede stellt, aber eine Revolution für überflüssig, staatliche Interventionen hingegen für notwendig und unerlässlich hält. Die Keynes’schen Konsum-, Spar-, Investitions-, Liquiditätspräferenz- und Beschäftigungstheorien werden erläutert, wichtige Zusammenhänge wie die allgemeine Tendenz zur Nachfragelücke und der durch Ungleichverteilung induzierte Nachfrageausfall dargestellt. Bezüge sowohl zu Marx (sinkende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und tendenzieller Fall der Profitrate) als auch zu Gesell (Liquiditätspräferenz und Tendenz zum Horten) werden aufgezeigt und schließlich Keynes eigenes Gesell-Lob und das „Gesell-Kapitel“ in der General Theory angesprochen. Neben der Stärkung der Konsumnachfrage durch entsprechende Einkommens- und Sozialpolitik forderte Keynes eine weitere Nachfragestärkung durch entsprechende Geld- (niedrige Zinsen) und Fiskalpolitik (staatliche Investitionen). Insbesondere bei den beiden letzteren handelt es sich um Maßnahmen, die zumindest die Gefahr einer Inflation in sich bergen. Gemäß der Theorie sollten den genannten expansiv wirkenden Maßnahmen in Zeiten der Hochkonjunktur auch wieder kontraktiv wirkende entgegengesetzt werden (höhere Steuern und höhere Zinsen). Die Erfahrung zeigte jedoch, dass diese in demokratisch verfassten Staaten aufgrund ihrer Unpopularität (und dem Bedürfnis der Regierenden, wiedergewählt zu werden) kaum bzw. nicht in ausreichendem Maße durchsetzbar sind. Neben der Inflation ist deshalb die zweite Langfristwirkung – bei unveränderter Geldverfassung, also Beibehaltung des Zinssystems – eine hohe und immer höher werdende Staatsverschuldung, von der letztlich die Geldvermögensbesitzer am meisten profitieren. Diese Gefahren nicht zu sehen bzw. nicht gesehen zu haben, sind für Senf die blinden Flecken des Keynesianismus.

 

Entsprechend wird ihm auch eine bedeutende Mitverantwortung für das erneute Erstarken der Neoklassik bzw. für das Erblühen des Monetarismus (Milton Friedman) seit Beginn der 1980er Jahre angelastet. Friedman ist der Meinung, dass antizyklische Fiskalpolitik viel zu spät wirkt und dadurch sogar die Gefahr besteht, dass Konjunkturschwankungen eher verstärkt statt abgeschwächt werden. Fundamentale Kreislaufstörungen des Kapitalismus müsse es dann nicht geben, wenn der Staat für konstante monetäre Rahmenbedingungen sorgt und die Geldmenge mit einer gleichbleibenden – und mit dem Wachstum der Realsphäre korrespondierenden – Wachstumsrate sich entwickeln lässt. Ansonsten ist das System nicht weiter problematisch und deshalb Enthaltsamkeit des Staates, ja sogar Rück- und Abbau desselben angesagt. Der Staat soll – genau wie die private Hand; d.h. die Unternehmen – vor allem seine Kosten senken bzw. unter Kontrolle halten. Das ist auch der – theoretische – Hintergrund für alle Privatisierungen und Diskussionen um leere öffentliche Kassen und Sparzwänge, für die sog. Deregulierungen, Flexibilisierungen und Liberalisierungen auch und gerade im Zusammenhang mit der Globalisierung, für die Senkung der Reallöhne (bzw. den geringeren Anteil am Produktivitätszuwachs), für die Arbeitslosigkeit, für die Schwäche der Gewerkschaften, für die Verschärfung der sozialen Gegensätze.

 

Abgerundet wird deshalb der in jeder Hinsicht empfehlenswerte Band mit einem Überblick globalisierungskritischer Literatur und Besprechungen von: (James Goldsmith) Die Falle, (Jeremy Rifkin) Das Ende der Arbeit, (Hans-Peter Martin und Harald Schumann) Die Globalisierungsfalle, (Maria Mies und Claudia von Werlhof) Lizenz zum Plündern – Das multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI), (Viviane Forrester) Der Terror der Ökonomie, (George Soros) Die Krise des globalen Kapitalismus.