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11 Der Ariadnefaden
Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem läßt die Reichen
immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Da sich dieser peinliche
Skandal nicht mehr bestreiten läßt, wird er in der Presse verharmlost,
in der Politik vertuscht und in der Schule verschwiegen. Wer es nicht glaubt,
studiere doch nur mal die Schulbücher und frage sich dann, wie es
zu dieser Unterschlagung kommen konnte! Sogenannte Schulbuchkommissionen,
die der Laie für neutral und kompetent hält, sind - oft ohne
es zu wissen - Marionetten des herrschenden Geldes. Mit am runden Tisch
sitzt die Angst vor Silvio Gesell.
Da wir in einer Angstgesellschaft leben, die voller Risiken ist, sei zunächst
auf den Unterschied zwischen ängstlich und mutig hingewiesen, denn
wir werden das Wissen um diese Unterschiede bitter nötig haben. Angst
oder Feigheit blockieren den Fleiß und die Kreativität jener
Menschen, die eine Gefahr, z.B. die Gefahr, sich lächerlich zu machen,
immer etwas höher einschätzen, als sie tatsächlich ist.
Diese Menschen sind also nicht in der Lage, die Größe eines
Risikos realistisch einzuschätzen und halten z.B. den Mund, obwohl
sie in einer politischen Versammlung dem Vorredner gern widersprechen würden.
Ihre völlig unbegründete Angst, sich zu blamieren, ist oft nur
geringfügig größer als das Bedürfnis, dem Vorredner
zu widersprechen. Das Leben dieser bedauernswerten Menschen ist eine Kette
von Unterlassungen. Der Ängstliche bleibt folglich auf einem Schatz
ungenutzter Möglichkeiten sitzen, oft ohne zu wissen und zu bedenken,
daß diese "Zurückhaltung" nicht nur ihm selbst und
seiner Familie, sondern auch der Gesellschaft Schaden zufügt.
Wenn diese Menschen nur wüßten, wie wenig sie von den Mutigen
trennt, sie würden dieses Wenige einfach zur Seite schieben und ihrem
Leben eine Wende geben. Was man an Mutigen so bewundert, ist nichts anderes
als deren angeborene (aber auch erlernbare!) Fähigkeit, eine Gefahr
ganz nüchtern richtig einschätzen zu können. Mutige werden
also ohne Mühe dort aktiv, wo andere ihnen ängstlich das Feld
überlassen. Ich würde den Mutigen nicht unbedingt als den besseren
oder gar edleren Menschen bezeichnen, denn selbstverständlich kann
der Mut auch zu verbrecherischen Handlungen mißbraucht werden, doch
ist das Mutigsein grundsätzlich erstrebenswert und aufgrund seiner
relativen Seltenheit und Nützlichkeit auch schützenswert. Darum
sei gegebenenfalls der eigene Weg zum Mutigsein (durch Übung!) auch
stets begleitet von der Notwendigkeit, die Ängstlichen zu ermutigen
und die Mutigen zu schützen. Ein Redakteur z.B., der die Verherrlichung
des Saufens auf dem Münchner Oktoberfest unter Hinweis auf die ca.
100.000 Alkoholtoten pro Jahr mit den geradezu niedlich erscheinenden 1500
Drogentoten pro Jahr zu vergleichen wagt, ist zweifellos mutig. Sollte
nun eine große Brauerei seinen Rausschmiß fordern und andernfalls
die betreffende Zeitung mit einem totalen Anzeigenboykott bedrohen, könnte
folgende Arbeitsteilung die Mutigen und Ängstlichen unter einen Hut
bringen: Mutige Redakteure werden sich mit dem Kollegen solidarisieren,
aber auch den unverschämten Erpressungsversuch der Brauerei in der
gleichen Zeitung publik machen, um auch die Leser dieser Zeitung - und
zwar sowohl die mutigen als auch die ängstlichen - mobilisieren zu
können.
Mutige Leser stellen sich dann meinetwegen mit einer Pauke vor die Werkstore
der Brauerei, um selbstgemalte Transparente unter Trommelwirbel hochzuhalten,
während ängstliche Leser im heimischen Supermarkt klammheimlich
auf eine andere Biermarke umsteigen, um das Bier der besagten Brauerei
in den Regalen so lange schal werden zu lassen, bis die Brauerei zu Felde
gekrochen kommt.
Anstatt sich also einreden zu lassen, individueller Widerstand sei doch
nur ein Tropfen auf den heißen Stein, werde man selbst zum steten
Tropfen, der sich mit anderen Tropfen zu Rinnsalen vereint, die Bäche
anschwellen und schließlich Flüsse über die Ufer treten
lassen. Wer sich dagegen das eigene Aktivwerden ängstlich versagt
(wie normalerweise üblich), verdampft vor der Geschichte wie ein Tropfen
auf dem heißen Stein. Nicht vor dem Älterwerden und vor dem
Sterben habe man Angst, sondern vor der späten und zu späten
Erkenntnis, vor lauter Angst das Notwendige und das Menschenmögliche
im Leben nicht getan zu haben.
Sobald dem Ängstlichen klar wird, daß der Mutige ebenfalls sehr
vorsichtig und verantwortungsbewußt zu sein pflegt, mutiges Handeln
also weder unvorsichtig noch leichtsinnig ist, steht er mit einem Bein
bereits im schwankenden Boot, das um so weniger kentert, je tiefer er sich
hineinsetzt. Das persönliche Ziel, mutig sein zu wollen oder mutig
zu werden ist schon deshalb niemals lächerlich, weil uns das Boot
zu bisher unerreichbaren Ufern trägt, die uns das Ängstlichbleiben
niemals gezeigt haben würde.
Der englische Dramatiker und Nobelpreisträger George Bernhard Shaw
hat mal gestanden: "Nur wenige Menschen haben durch bloße Feigheit
mehr gelitten oder haben sich deswegen schrecklicher geschämt als
ich." Auf die Frage, wie er es dennoch geschafft habe, seine geradezu
krankhafte Schüchternheit zu überwinden und zu einem der größten
Redner dieses Jahrhunderts aufzusteigen, antwortete er einem Journalisten:
"Ich habe es auf die gleiche Weise gelernt, wie ich das Schlittschuhlaufen
gelernt habe, indem ich mich mit Ausdauer zum Narren machte, bis ich es
konnte." (Carnegie: Rede) Shaw konnte nicht nur, er wollte es auch
können, denn er hatte den Entschluß gefaßt, seinen größten
Mangel in seinen größten Vorzug zu verwandeln. Was für
ein Vorbild!
Kinder, die in einem Tret- oder Ruderboot über den eigenen Kurs entscheiden
können, lernen das Mutigsein früher als Kinder, die mit ihren
Eltern artig auf einem Dampfer sitzen und an Entscheidungsmöglichkeiten
nur die Wahl zwischen Käsesahne- und Schwarzwaldtorte haben. Die Gesellschaft
(des herrschenden Geldes) fördert in erster Linie die Bereitschaft,
sich ungefragt abfüttern und abspeisen zu lassen. "Ruhe ist die
erste Bürgerpflicht" und ähnliche "Weisheiten"
wurden aus dem Bemühen heraus geboren (und den Kindern in der Schule
eingetrichtert), an den jeweiligen Säulen der Gesellschaft nicht rütteln
zu lassen.
Die Staatsführung sieht es gern, wenn sich die Bürger mit dem
Stück, das gerade aufgeführt wird, abfinden. Man schwadroniert
zwar gern und oft vom mündigen Bürger, hofft aber insgeheim,
daß er diese Aufforderung zum selbständigen Denken und Handeln
nicht allzu wörtlich nimmt - wohl wissend, daß ein Volk der
Mutigen und Aufgeklärten die jetzige Regierung zum Teufel jagen würde.
Obwohl sie das wissen oder wenigstens ahnen, vertrauen die Gewählten
der Tatsache, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung mit den
Machtmitteln des Geldes und der Medien immer noch verhältnismäßig
leicht für dumm verkaufen läßt; und die Mehrheit entscheidet
nun mal.
Gegen diese Wand anzurennen, wäre töricht und somit auch keineswegs
mutig. Ich halte nichts davon, "mit dem Mut der Verzweiflung"
ausgerechnet die wertvolle Grundlage der Demokratie, das Mehrheitswahlrecht,
anzutasten, sondern bin durchaus der Meinung, daß eine Mehrheit,
wie immer sie ausfallen möge, respektiert werden muß. Wenn nun
aber diese Mehrheit durch die kapitalgesteuerten Medien hinters Licht geführt
wird, indem man ihr verschweigt, wie schamlos sie durch den vermeidbaren
Zins und die in private Taschen fließende Bodenrente ausgeplündert
wird und wie einfach es wäre, die unsoziale Verteilung des Geldes
zu beenden, sollte diese Form von "Demokratie" zur Diskussion
gestellt werden dürfen. Das beliebte Spielchen, beim Thema Demokratie
Maulkörbe zu verteilen und Denkverbote in Kraft treten zu lassen,
ist eine Erfindung und Spielregel des herrschenden Geldes, an die sich
sogar die Kirchen halten.
Die Kirchen wenden sich bekanntlich höheren Zielen zu, indem sie das
irdische Leben mit dem Jenseits vergleichen. Spielt es da überhaupt
noch eine Rolle, wenn dieses erbärmlich kurze Erdendasein für
immer mehr Menschen bis zur Unerträglichkeit von der grundgesetzlich
ausdrücklich verbrieften Würde des Menschen entfernt ist - angesichts
einer unendlich langen Ewigkeit in Glückseligkeit? Die Gelassenheit,
mit der gläubige Christen auf Erden den höllischen Zins ertragen
und akzeptieren, ist ein Triumph des Kapitals, der sich in barer Münze
auszahlt. Irdische Höllenqualen, die im Vergleich zur jauchzenden
Ewigkeit ja nur eine Sekunde lang ertragen werden müssen, können
für gläubige Christen verständlicherweise kein Anlaß
sein, über den Deckel der Bibel hinauszuschauen, um einen Blick durch
das Nadelöhr auf die Ursachen des Elends so entsetzlich vieler Menschen
zu riskieren.
Die Kompetenzanmaßung der Kirchen in Moralfragen steht also im Widerstreit
zum Gewährenlassen der Absahner von Bodenrente und Zins und im Hofieren
der Krisenverursacher und Kriegsgewinnler. Zugegeben, ich würde vermutlich
auch kuschen, wenn ich vom ewigen Leben im Jenseits knallhart und per Garantieschein
überzeugt werden könnte. Mein Vorwurf an die Kirchen, mit dem
großen Kapital indirekt gemeinsame Sache zu machen, reduziert sich
daher auf jene Christen und Mitläufer, die den Ewigkeitsverheißungen
nicht so recht trauen und darum doch eigentlich gut beraten wären,
das Paradies vorsorglich schon mal zu Lebzeiten - und zwar auf Erden -
installieren zu helfen. Die Bereitschaft der Kirchen, zumindest am Rande
von Kirchentagen eine Aufklärung über die verheerende Rolle des
herrschenden Geldes zu gestatten, sei in diesem Zusammenhang jedoch ausdrücklich
erwähnt. Daß die Bischöfe seit einigen Jahren von der Kanzel
herab die Bewahrung der Schöpfung predigen und predigen lassen, über
die fundamentale Bedeutung eines dienenden Geldes jedoch kein Wort verlieren,
zeigt jedoch, wie "erfolgreich" Silvio Gesell noch immer verschwiegen
werden kann.
Den Finanzmächtigen ist es also gelungen, selbst jene Bastionen zu
erobern, die fast schon nicht mehr von dieser Welt sind. Mir fällt
im Moment auch keine Ritze ein, in die das Zinsgift nicht längst eingesickert
wäre und bei Bedarf hervorgequollen käme. Diese Ernüchterung
möge als Versuch gewertet werden, einen Tiefpunkt der menschlichen
Entwicklung zu orten, ab dem es dann aber auch wirklich nur noch aufwärts
gehen kann. Was hätte es für einen Zweck, den bevorstehenden
Widerstand bei der Reform der heutigen Zinswirtschaft zu ignorieren oder
zu unterschätzen? Wir laufen ja so schon Gefahr, vom Hohngelächter
der Zinseszinsler gebeutelt zu werden; da ist es gut, von der eigenen (momentanen)
Machtlosigkeit eine klare Vorstellung zu haben, damit die Ausgangslage
nicht auch noch durch eine Überschätzung der eigenen Möglichkeiten
verschlechtert wird. Aber diese Ausgangslage ist nun auch erreicht! Das
bedeutet, wir können und müssen uns jetzt etwas vornehmen, was
uns noch vor wenigen Tagen nicht im Traum eingefallen wäre. Vergleichbare
Situationen kommen im Leben eines Menschen nicht oft vor; die Gunst der
Stunde will also genutzt sein, möchte ausgekostet werden. Doch niemand
zwinge sich dazu. Wer es nötig hat, seine Willenskraft zu bemühen,
der lasse lieber die Finger davon; er ist noch nicht so weit. Aber wir,
die wir den Faden der Ariadne gefunden haben, sollten nicht zögern,
mit seiner Hilfe den rettenden Ausgang des national ökonomischen Labyrinths
zu erreichen. Wir stehen also nicht außerhalb dieser Festung des
herrschenden Geldes, sondern mittendrin. Es bedarf somit auch keiner List,
sich etwa als trojanisches Pferd in die Reihen der Krisengewinnler zu mogeln.
Wie eine Gruppe unerkannter Partisanen marschieren wir zusammen mit den
Söldnern des Kapitals im Gleichschritt auf das nächste Kapitalverbrechen
zu. Mühsames Heranschleichen an den Gegner entfällt; wir stehen
ja bereits an seiner Seite. Es gibt auch kein Rätselraten über
das, was die Söldner vorhaben; haben wir doch selbst die Befehle entgegengenommen.
"Feind hört mit", hätte man im zweiten Weltkrieg gesagt;
und zweifellos sind wir Feinde der Ausplünderung. Ein entsetzlicher
Gedanke übrigens, im Sold der Plünderer zu stehen; viel schlimmer
jedoch die Erkenntnis, sich an diesen Plünderungen als Handlanger
selbst zu beteiligen. Mit jedem Einkauf und bei jeder Mietzahlung stellen
wir dieses ungewollte Handlangertum unter Beweis. Die meisten von uns tun
es, ohne es zu wissen; und die es wissen, fahren damit fort, weil sie glauben,
diesem ausweglosen Labyrinth ja doch nicht mehr entrinnen zu können.
Darum stehen auch ehrenwerte Frauen und Männer lebenslänglich
im Sold der Plünderer. Sie plündern andere aus, und sie plündern
sich selbst!
"Gut", das soll jetzt anders werden, aber wie? Der Ariadne gleich
hat uns Silvio Gesell einen Faden gesponnen und aufgewickelt, den es nur
noch "auszulegen" gilt und dies in zweifacher Hinsicht: Teils
soll der Leitfaden den Verzweifelten Hoffnung und Kraft und den Herumirrenden
die einzig lohnende Richtung geben, teils soll er von Knoten zu Knoten
auf die im Labyrinth verborgenen Fallgruben und Schikanen des Minotaurus
rechtzeitig hinweisen, auf daß dieses menschenfressende Ungeheuer
getäuscht und erledigt werde. Damit verliert das Labyrinth den Nimbus
der Unentrinnbarkeit. Nicht mehr das Heldentum ist gefragt, also die Bereitschaft,
den Mut mit dem Leben zu bezahlen; "jetzt genügt die Bereitschaft
zum Kampf mit den Mitteln der Gedankenschärfe, der Ausdauer und der
Sehnsucht nach einem Leben in Würde und Gerechtigkeit" (Juergen
Typke). Gesell hat dieses Knäuel mit zahlreichen Knoten versehen,
die uns davor bewahren, leichtsinnig und übereilt dem durch die Hand
gleitenden Faden zu folgen. Seine Nachfolger haben dem Faden weitere Knoten
zum Erkennen der Stolpersteine hinzugefügt, weil sich die Zeiten geändert
haben und die Menschen heute vor Problemen stehen, die 1930 noch nicht
absehbar waren.
Auch in Zukunft wird es nötig sein, die Natürliche Wirtschaftsordnung
mit weiteren Knoten zu versehen, um diesem Leitfaden die hohe Gebrauchstüchtigkeit
zu erhalten. Bevor es zu einer Boden- und Geldreform kommen kann, muß
natürlich die Bevölkerung erst einmal über den Stand der
Ausgrabungsarbeiten und über die Bedeutung des Schatzes informiert
werden. Diese Arbeit muß auf viele Hände verteilt werden, damit
ein warmer Regen die reichlich im Boden schlummernden Samen der Hoffnung
bundesweit zum Sprießen bringen kann.
Wer zum Beispiel bissige und schmissige Leserbriefe zu schreiben versteht,
knöpfe sich die Leser seiner Morgenzeitung vor. Auch sei uns kein
Stammtisch zu verraucht und keine Geburtstagsfeier zu schade. Orts- und
Vereinszeitschriften, die neben der Werbung und den Vereinsregularien,
Fotos und Gedichten auch mal einen gehaltvollen Artikel vertragen können,
sind ein gefundenes Fressen für Artikelschreiber, die ihren Gesell
draufhaben. Mit persönlich gehaltenen Briefen lassen sich Pastor,
Bürgermeister, Landrat, Minister und Abgeordnete wenigstens dahin
bringen, daß sie danach nie wieder behaupten können, von diesem
Gesell noch nie etwas gehört zu haben. Wohlgemerkt, wir erwarten nicht
im entferntesten, von diesen Leuten gleich ernstgenommen oder gar abgeküßt
zu werden; es sind für den Anfang alles nur Knoten auf dem Knäuel
unserer Möglichkeiten, die sorgfältig abgespult und fleißig
abgearbeitet werden müssen.
Eine kurze Darstellung der Natürlichen Wirtschaftsordnung und eine
Liste über Bücher und Schriften, die den Einstieg in das Vermächtnis
Silvio Gesells ermöglichen, lassen sich für ein paar Pfennige
pro Stück vervielfältigen und z.B. in Fußgängerzonen
oder vor den Arbeitsämtern verteilen. Man gebe dem Bettler vor der
Bank nicht immer nur die übliche Mark, sondern grundsätzlich
auch dieses "Begleitschreiben", denn warum sollte wohl ausgerechnet
er nicht wissen, daß ihm eine Wohnung und ein Arbeitsplatz geboten
werden könnten, wenn die Zeit dafür gekommen ist? Auf Bahnhöfen
und an großen Bushaltestellen, vor Gymnasien, Berufsschulen und Hochschulen,
überall klagen uns ungenutzte Kontaktmöglichkeiten an. Da gehe
kein Brief mehr hinaus ohne den auffällig gestalteten Rückseitentext,
der sofort ins Auge sticht, neugierig macht, den Aha- Effekt auslöst
und zur Nachahmung auffordert.
Wer bisher meinte, im Sommer ein T-Shirt von Coca-Cola quer durch die Stadt
tragen zu müssen, sei an jene Shops erinnert, die uns für wenig
Geld ein beliebiges Motiv auf das Hemd knallen. Die netten Leute an den
Info-Tischen der Parteien und Verbände müssen so lange mit der
Frage nach Silvio Gesell auf die Probe gestellt werden, bis alle gemerkt
haben, daß ihnen eine wichtige Schraube im Getriebe fehlt. Richtig
Spaß machen die Umfragen in Fußgängerzonen und dort speziell
vor Banken und Sparkassen. Nein, daß von der Miete jeden Monat im
Schnitt 70% auf die Konten der Zinseszinsler fließen, das wird uns
beim ersten Interview in der Regel noch nicht abgenommen.
Aber dann, beim zweiten Male, beginnt sich die kleine Mühe auszuzahlen:
Der oder die Interviewte braucht zwischenzeitlich nur mal im Lexikon nachgeschaut
zu haben, ob denn dieser Gesell auch tatsächlich drinsteht. Beim Kauf
eines neuen Lexikons daher grundsätzlich erstmal unter "G"
nachschlagen. Fehlt die Eintragung "Gesell", dann nicht erwa
nur den Buchhändler für diese Unterschlagung büßen
lassen, indem wir auf den Kauf verzichten, sondern dem Lexikonverlag auf
einer netten Karte die Quittung geben. Man kauft sich doch auch keine Bibel,
in der das Wort Paulus ausgeklammert wurde!
Nicht alle Menschen, die wir mit der Frage nach Silvio Gesell in Verlegenheit
bringen, sind uns dankbar für diesen Hinweis. Wer will denn auch schon
zugeben, sein Leben lang die schönste Blume im Garten seiner Möglichkeiten
übersehen zu haben? Man lernt aber relativ schnell, sich die besonders
lohnenden Gesichter aus der Menge herauszupicken und freut sich dann natürlich
besonders über jene Kontakte, die unter normalen Bedingungen gar nicht
zustandegekommen wären.
Fortgeschrittene setzen sich der Flut von Möglichkeiten aus, die der
sonntägliche Kirchgang so bietet. Wie ein Autofahrer, der geduldig
anhält, um eine Schafherde lackschonend an seinem hochwertigen Mittelklassewagen
beidseitig vorbeifluten zu lassen, teilt er die nach Hause eilenden Kirchgänger
breitbeinig wie ein Felsen im Meer. Er wird bald umringt sein von Personen,
die ihn bei der ersten Zettelübergabe kaum beachtet haben, jetzt aber
bereit sind, sich auf"gute Gespräche" einzulassen. Man unterschätze
dann auch nicht die Bedeutung und Breitenwirkung einer Einladung, beispielsweise
vor den Senioren einer Altentagesstätte oder in einer Familie sprechen
zu dürfen.
Vor einem Gefängnis lohnt sich das Warten auf sogenannte Freigänger,
die in der Regel sehr erstaunt darüber sind, daß sich außerhalb
der Mauern jemand für sie interessiert. Hier lassen wir nicht locker,
bis uns ein Freigänger den Kontakt mit dem Sozialarbeiter der Strafanstalt
hergestellt hat. Unser Ziel ist klar: Vor einem kleinen Kreis innerhalb
der Mauern einen kurzen Vortrag mit anschließender Diskussion zu
halten. Man lasse diese Personen aber selbst auf den Gedanken kommen, daß
viele von ihnen niemals straffällig geworden wären, wenn ihnen
die Gesellschaft Arbeit, gerechten Lohn und eine bezahlbare Wohnung geboten
hätte.
Da sich diese Selbstverständlichkeiten im Vergleich mit der traurigen
Wirklichkeit der meisten Strafentlassenen geradezu utopisch ausnehmen,
darf es bei dieser einen, aufwühlenden Begegnung natürlich nicht
bleiben. Das Wenigste was wir hier hinterlassen, ist ein Dauerabonnement
der Zeitschrift DER DRITTE WEG. Vor dem Sozialamt treffen wir später
einen Teil dieser Leute wieder und begegnen dort aber auch Menschen, die
eine Straftat erst noch begehen werden, weil die von der Zinswirtschaft
deformierte Gesellschaft diesen Menschen kaum noch eine nennenswerte Chance
bietet. Niemand fühle sich gezwungen, gerade an diesen Brennpunkten
tätig zu werden; es gibt schließlich noch so viele andere und
vor allem auch leichtere Kontaktstellen; doch dem Spezialisten sei gesagt,
daß an kaum einer anderen Stelle der sozialen Erosion eine so wertvolle
und dankbare Aufklärungsarbeit geleistet werden kann. Aus den Fußballstadien
quellen nicht nur grölende Jugendliche, die natürlich wie Juckepulver
zu meiden sind; doch so manches nachdenkliche Gesicht läßt sich
mit etwas Übung davon überzeugen, daß wir keine Versicherungen
oder Lamadecken verkaufen wollen, sondern die selbsternannte Speerspitze
einer sozialmonetären Bewegung sind. Wer mit der Bahn zur Arbeit fährt,
befindet sich in einem Schlaraffenland besonders leicht erreichbarer Ziele,
während Busse und Straßenbahnen weniger geeignet sind, weil
hier der zur Verfügung stehende Raum zu klein ist und die Gefahr besteht,
die kritische Distanz zu unterschreiten, was die Angesprochenen unbewußt
zu einem instinktiven Abwehrreflex verleitet, der dann auch nicht überwunden
werden darf. Es gilt also jene Fehler zu vermeiden, die uns auch nur dem
Anschein nach in die Nähe der Zeugen Jehovas oder gewiefter Hausierer
bringen könnten.
Ich sage es noch einmal: Mutigsein macht Spaß, will aber gelernt
sein; also üben, üben, üben! In verschiedenen Städten,
z.B. in Hamburg, Wuppertal, Essen und Stuttgart haben sich Gesprächskreise
gebildet, die zwar in erster Linie dazu dienen, Fachkenntnisse der Natürlichen
Wirtschaftsordnung zu vermitteln und die Diskussionstüchtigkeit der
Freiwirte zu stärken, doch werden sie in Zukunft auch dem Erfahrungsaustausch
der aktiven Multiplikatoren und der Entwicklung neuer Strategien dienen
müssen, damit wir gemeinsam zu einem neuen Quantensprung ansetzen
können. Die Gegenseite, das große Kapital, wird das zunächst
ignorieren, dann aber sorgfältig beobachten. Es ist davon auszugehen,
daß hinter den Kulissen beraten wird, wie eine solche Bewegung möglichst
klein gehalten werden kann, nachdem es ja ganz offensichtlich nicht gelungen
ist, sie schon im Keim zu ersticken. So wäre es beispielsweise möglich,
und für das große Kapital überhaupt kein Problem, ganze
Auflagen von Büchern einfach vom Markt zu nehmen, also aufzukaufen,
wie es die Industrie mit Erfindungen zu tun pflegt, die ihr nicht ins Konzept
passen. So manches Patent wurde einfach aufgekauft oder durch geheime Absprachen
gegen den Willen des Erfinders auf Eis gelegt. So kann beispielsweise in
Deutschland das ganze Land auch weiterhin mit häßlichen Hochspannungsmasten
verschandelt werden, obwohl das Patent für ein überlegenes Kabelsystem
seit Jahren auf die längst fällige Nutzanwendung wartet. Der
Erfinder, ein Diplom Ingenieur, kann also gnadenlos um die Früchte
seiner bahnbrechenden Lebensleistung gebracht werden, weil Industrie und
großes Kapital in der Presse und in der gleichgültigen Bevölkerung
immer noch genügend Verständnis für den tausendfachen Vogelmord
an Störchen und Greifvögeln finden.
Die Freiwirte sind inzwischen so zahlreich über das ganze Land verteilt,
daß mit derartigen Methoden der Unterdrückung kaum noch zu rechnen
ist. Immerhin hat das angesehene Wochenblatt DIE ZEIT den Anfang gemacht
und 1993 erstmalig seriös über Silvio Gesell berichtet. Andere
Zeitungen werden folgen, wenn das Verschweigen von aufgeklärten Lesern
und Abonnenten nicht länger hingenommen wird: "Hiermit kündige
ich mein Abonnement, da dem Wirtschaftsteil Ihrer Zeitung nicht zu entnehmen
ist, was die Stunde geschlagen hat".
Nach Schopenhauer stünde uns dann die Phase II bevor, das Lächerlichmachen
durch jene, die sich in ihrem Schmarotzertum von einer neuen Bewegung bedroht
fühlen. Ich rechne z.B. mit Diskussionsbeiträgen vereinzelter
Hörer im Saal, die versuchen werden, den Referenten argumentativ zur
Strecke zu bringen und dafür möglicherweise auch noch bezahlt
werden. Diese Querschüsse werden ernst und sorgfältig zu analysieren
sein, damit uns schon beim nächsten Auftritt die Blamage erspart bleibt,
auf die berechtigte Frage eines "Experten" vor dem Publikum keine
überzeugende Antwort geben zu können. Meine Erfahrungen mit Hörern,
die mir nicht wohlgesonnen oder völlig anderer Auffassung sind, gehen
dahin, daß immer wieder die gleiche Platte aufgelegt wird, also nur
zwei oder höchstens drei Feuerproben durchgestanden werden müssen,
um mit diesen Leuten auch argumentativ und dann ein für allemal fertig
werden zu können.
Ich habe nicht genug Fantasie, um mir vorstellen zu können, daß
es dem großen Kapital in der heutigen Zeit auf Dauer gelingen könnte,
Silvio Gesell und seine Anhänger lächerlich zu machen, denn diesen
Kapitalisten bleibt doch nur die Hoffnung, durch ständiges Wirtschaftswachstum
so viel Wohlstand für einen Teil der Bevölkerung zu schaffen,
daß mit Hilfe der satten Bürger die große Zahl der Zukurzgekommenen
untergebuttert werden kann - wie bisher.
Daß dieser unverantwortliche Wachstumswahnsinn ein Verbrechen an
der Umwelt, an den Armen und an kommenden Generationen ist, daran ändern
auch die frisch gebügelten Roben der obersten Bundesrichter nichts,
die sich ja immer noch als "die höchste Instanz der besten aller
möglichen Gesellschaftsordnungen" begreifen und trotzdem (oder
gerade deswegen?) diese Wachstumsverbrechen mit einem glatten Freispruch
durchgehen lassen. Auch an diese Richter sind Briefe zu "richten",
die dem leuchtenden Rot der Roben das zarte Rosa einer Schamröte zur
Seite stellen. Wenn diesen Richtern erst einmal klargeworden ist, daß
der Respekt vor der höchsten Instanz nicht so sehr von der Farbe der
Roben, sondern vom Farbebekennen der Robenträger abhängt, schwindet
die Hoffnung der Politiker und Kapitalisten, sich bei Bedarf auch in Zukunft
jede Umweltsauerei höchstrichterlich absegnen lassen zu können!
Bei aller Kritik an dieser Bundesbehörde darf andererseits aber auch
nicht übersehen werden, daß diese Richter durchaus in der Lage
waren und sind, dem Gesetzgeber eins hinter die Löffel zu hauen. Leider
geschieht das in überlebenswichtigen Fragen viel zu selten. Die Gründe
dafür liegen auf der Hand: Anstatt nur die angesehensten und fähigsten
Kandidaten für ein solches Amt vorzuschlagen, überläßt
man die Auswahl ausgerechnet jenen Kreisen, die traditionell bedenkenlos
mit der Umwelt und den Interessen kommender Generationen umspringen! Nicht
hohes Ansehen, besondere Tüchtigkeit und edle Gesinnung der Kandidaten
geben den Ausschlag, sondern das Parteibuch, vielleicht auch eine alte
Männerfreundschaft, machtpoltische Zuverlässigkeit und der verbriefte
Glaube an ein unaufhörliches Wirtschaftswachstum.