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10 Am längeren Hebel
Wer "den Standort Deutschland wieder attraktiv machen" will,
unterstellt quasi, daß diese Attraktivität verlorengegangen
ist, also schon mal vorhanden war. Ersetzen wir das Fremdwort attraktiv
mit verlockend, anziehend oder zugkräftig, wird klar, was dem Wirtschaftsminister
vorschwebt: Anlagesuchendes Kapital ins Land zu locken.
Es fällt aber auf, daß sein Kollege aus dem Ministerium für
Soziales Deutschland nicht attraktiv machen will; nur der Wirtschaftsminister
plagt sich mit dieser Zielsetzung ab. Der Innenmister geht sogar noch einen
Schritt weiter, indem er nichts unversucht läßt, Deutschland
für z.B. Ausländer so unattraktiv wie möglich zu machen,
was ja nicht immer so gewesen ist; man denke nur an die Begrüßung
des millionsten Gastarbeiters in den sechziger Jahren. Obwohl beide Minister
der gleichen Bundesregierung angehören, läßt der Innenminister
ausländische Besucher beim Grenzübertritt wie Hasen jagen und
gleich wieder einfangen, während der Kollege aus dem Wirtschaftsministerium
seinen Besuchern einen roten Teppich entgegenrollt. Silvio Gesell fand
für dieses Phänomen schon 1918 die passenden Worte: "Arbeitsuchende
haben keinen Zutritt ins Land, nur die Faulenzer mit vollgestopftem Geldbeutel
sind willkommen." Und er schließt seinen Aufruf mit der Vorhersage:
"Kein Land wird das andere mehr verstehen, und das Ende kann nur wieder
Krieg sein." Ich halte dieses Zitat (aus dem dritten Kapitel) für
so bedeutsam, daß ich es hier teilweise wiederholt habe, um es in
den Zusammenhang der aktuellen Politik zu rücken und potentiellen
Lesern Silvio Gesells einen Vorgeschmack auf sein Buch "Die Natürliche
Wirtschaftsordnung" zu geben.
Solange nur "unerwünschte" Ausländer und arme Menschen
davon betroffen sind, kann politische Moral etwas tiefer gestapelt werden;
und da die menschliche Vernunft eine obere Grenze hat, nur eben keine untere
(Edvin Svensjö), muß mit einer weiteren Tieferlegung der Moral
gerechnet werden. So könnte man beispielsweise Landstreicher, Bettler,
Straßenmusikanten und Asylbewerber aus den Fußgängerzonen
der Städte vertreiben, um das Einkaufen in den eleganten Boutiquen
noch attraktiver zu machen. In verschiedenen Städten wie z.B. London
und Frankfurt am Main ist das ja auch schon versucht worden; vermutlich
unter dem Gesichtspunkt, "unser Dorf soll schöner werden".
Früher, als die Erde noch genügend Freiräume bot, konnten
z.B. in England unerwünschte Personen und Kriminelle einfach ausgewiesen
und nach Australien verbannt werden; dann war man sie erstmal los. Heute
bedient man sich dieser Methode eigentlich nur noch beim Sondermüll.
Besonders Deutschland hat sich auf diesem Gebiet einen Namen gemacht und
auch immer wieder Länder gefunden, die für derartige "Gaben"
gerade noch arm und abhängig genug waren.
Wie uns im Namen des Volkes schon mehrfach bestätigt wurde, ist einem
gesunden Urlauber der Anblick von Müll - selbst wenn der aus Deutschland
kommt - nicht zuzumuten. Ebenfalls als nicht zumutbar gilt im Urlaub der
Anblick von Behinderten. Ein deutsches Gericht sprach einer gehfähigen
Urlauberin sogar eine Entschädigung zu, vermied es aber, den Behinderten
zu raten, sich an diesem Urlaubsort ja nicht wieder blicken zu lassen.
Die deutsche Rechtsprechung ist also noch steigerungsfähig.
Dieses sonderbare Anspruchsdenken einer auf Genuß programmierten
Gesellschaft muß jene zur Verzweiflung bringen, die angetreten sind,
Menschen allen Ernstes moralisch zu verbessern. In der Tat glauben viele,
daß zunächst der Mensch sich grundlegend ändern müsse,
bevor die heile Welt entstehen kann und z.B. Behinderte oder Ausländer
überall als gleichwertig akzeptiert werden. Wer als Moralist, meinetwegen
auch als Moraltheologe, diesen Standpunkt vertritt, sei an das abschreckende
Beispiel gescheiterter Diktatoren wie z.B. Hitler und Stalin erinnert,
die ebenfalls eine "Verbesserung" des einzelnen Menschen für
möglich und notwendig hielten, wenn auch nicht gerade eine moralische.
Wer sich die Mühe macht, die Verbesserungsvorschläge der Erzieher
und Moralisten zu analysieren, stößt generell auf die Einstellung,
daß vor allem der Eigennutz des einzelnen Menschen zu brandmarken
sei. Demgegenüber vertrat Gesell die Ansicht, daß der Eigennutz
als natürlicher Bestandteil des Selbsterhaltungstriebes für das
Überleben der Menschheit geradezu unverzichtbar und auch sozialverträglich
ist. Dem Christentum wäre also anzukreiden, daß es fast 2000
Jahre lang versucht hat, gegen Windmühlenflügel anzurennen, anstatt
diese in den Wind zu drehen und dafür zu sorgen, daß der Eigennutz
nicht auf Kosten anderer in Profitgier umschlagen kann.
In neuerer Zeit hat das große Kapital - vertreten durch Presse, Rundfunk
und Fernsehen - ein auffälliges Interesse daran entwickelt, dieses
Bemühen um den besseren Menschen zu fördern. Von der Erbauungsliteratur
bis zur moralischen Aufrüstung, von der Freizeitbeschäftigung
bis zum Zeitvertreib (Fernsehkonsum), immer steht die Suggestion im Raum,
als Einzelner ja doch nichts ausrichten zu können und falls doch,
dann aber bitte schön erst nach einer moralischen Runderneuerung.
So bleibt natürlich erstmal alles beim alten. Dazu ein Beispiel: In
Deutschland gelten Menschen als gut, die beim Spenden für Notleidende
nicht kleinlich sind. So sollen allein die Kirchen pro Jahr vier Milliarden
DM eingesammelt haben; so gut sind die Menschen hier bei uns und so moralisch.
Die Medien werden nicht müde, diese Spendenbereitschaft als gut hinzustellen,
und das ist sie sicher auch. Im Golfkrieg wurden am ersten Tag vier Milliarden
DM verpulvert; an einem einzigen Tag also so viel, wie alle guten Deutschen
in einem Jahr für die Armen dieser Welt gespendet haben. Weil der
damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl auch das noch nicht genug war,
spendierte sie den Amerikanern ohne Not eine zusätzliche Kampfbeihilfe
von sage und schreibe fünfzehn Milliarden DM, aufgebracht durch wehrlose
und ungefragte Steuerzahler. Wenn wir uns darauf einigen, daß die
kirchlichen Spendenzahler wirklich gute Menschen sind, wie sind dann Steuerzahler
einzuschätzen, die den vierfachen Betrag für einen Krieg hinblättern?
Sind diese Menschen auch gut oder eher ein bißchen beknackt?
Der erste Krieg zwischen den Erzfeinden Indien und Pakistan hat 1948 nur
acht Tage gedauert; dann war Feierabend, obwohl kein Sieger ermittelt werden
konnte. Hatten die plötzlich alle keine Lust mehr? Waren den Generälen
moralische Bedenken gekommen oder wollten die Soldaten etwa alle gleichzeitig
Urlaub machen? Nichts von dem; beide Seiten hatten ihre letzte Granate
und Patrone verschossen, das war der Grund. Sie hätten anschließend
zu Dreschflegeln und Plattschaufeln übergehen können, aber das
wollte offenbar niemand, und darum mußte der Krieg auf beiden Seiten
für beendet erklärt werden. Wie die sich wohl damals über
eine Kampfbeihilfe von Helmut Kohl gefreut hätten!
Damit so etwas nie wieder vorkommen kann, haben weltweit operierende Waffenhändlerringe,
hinter denen das große Kapital steht, seit dieser indisch-pakistanischen
"Panne"` dafür gesorgt daß Kriege künftig - wie
sich das gehört - in voller Länge ausgefochten werden können,
notfalls über viele Jahre und bis zum bitteren Ende. "Mit dem
entspechenden Management und einer guten Kapitalausstattung" ist also
jedes Problem zu lösen, nur eben nicht die schwierige Aufgabe, aus
ganz normalen Menschen moralisch handelnde Bilderbuch-Menschen zu machen.
Silvio Gesell war der Meinung, das sei auch gar nicht nötig. Ich kann
mich noch gut daran erinnern, von dieser frappierenden Sicht der Dinge
ebenso überrascht gewesen zu sein, wie über den unerwarteten
Vorschlag Gesells, den Müttern aus der Bodenrente ein Gehalt zu zahlen,
das allen Müttern dieser Erde ein menschenwürdiges Leben garantiert.
Wenn der Mensch nicht besser werden muß, was in zweitausendjähriger
Kleinarbeit der christlichen Kirchen ja ohnehin nicht erreicht worden ist,
weil zur Genüge bewiesen wurde, daß er gar nicht "besser"
werden kann, könnte man ja zur Tagesordnung übergehen, sofort
losschlagen, endlich anfangen! So ist es. Oder sollten wir vielleicht doch
erst einmal begründen, weshalb der Mensch so unvollkommen wie er angeblich
ist auch ruhig bleiben kann? Ist er denn wirklich so unvollkommen? Oder
ist es nicht vielmehr so, daß die Bedingungen, unter denen der Mensch
weltweit leben oder leiden muß, sein Verhalten mitbestimmen und somit
der völlig falsche Eindruck entstehen konnte, sein Gehirn sei eine
Fehlkonstruktion der Schöpfung und bedürfe der moralischen Nachbesserung?
Gesell findet ihn also gut genug, ja sogar hervorragend geeignet, die grundlegenden
Mängel der Gesellschaft aus eigener Kraft in ihr Gegenteil zu verwandeln.
Das möchte man gerne glauben. Ein Blick auf den täglichen Wahnsinn
der Umweltzerstörung und der sozialen Erosion lassen jedoch Zweifel
aufkommen, ob menschengemachtes Elend auch von ganz normalen Menschen wieder
beseitigt und in Zukunft vermieden werden kann.
Doch, es geht. Ja, es geht wirklich, wenn wir endlich begreifen, daß
der lange Hebel, den wir ansetzen müssen, um die im Wege liegenden
Steine wegzuräumen, sich in unseren Händen befinden muß
und nicht in den Händen des großen Kapitals. Ohne Hebel ist
der Stein zu schwer für uns. Das leuchtet jedem ein, der den Felsblock
in seiner ganzen Größe erkennt. Das Gewicht ist geradezu erschreckend,
und mit einer normalen Brechstange ist da wirklich nichts zu machen. Ein
richtiger Hebelarm muß her, ein Balken. Wo mag dieser Balken wohl
sein? Wer hat ihn; wer hat ihn versteckt? Wer hindert uns eigentlich daran,
alle Hebel in Bewegung zu setzen; wer fürchtet sich davor, uns am
längeren Hebel wiederzufinden?
Jetzt nur keine Panik; alles schön der Reihe nach: Die Erkenntnis,
daß uns dieser Hebel noch fehlt, spricht doch bereits für die
Tatsache, daß wir dem Ziel schon etwas näher gekommen sind,
denn im Vergleich zu denen, die den Stein ja gar nicht heben wollen und
einen Hebel darum auch nicht vermissen, sind wir bereits klar im Vorteil.
So ist das also; nicht das Gewicht oder der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe
sind das Problem, sondern die Unfähigkeit der Betroffenen, Handlungsbedarf
und Ursachen zu erkennen und die Überwindung von Schwierigkeiten als
eine Art Sport zu betrachten und zu betreiben.
Unser heutiges Bodenrecht und Geldsystem sind Steine, die uns im Wege liegen,
aber immer noch keine Steine des Anstoßes sind, weil die Menschen
das von Menschen erdachte und gemachte Geld in seiner jetzigen Form geradezu
verehren. Die einen, weil sie genug davon haben und die segensreiche Wirkung
des Geldes tagtäglich lustvoll erleben, und die anderen, weil sie
gerne mehr davon hätten und den Geldmangel tagtäglich mehr oder
weniger schwer erleiden.
Ja, wenn Boden und Geld wenigstens ein Thema wären wie z.B. die letzte
Theaterkritik oder das neue Buch von - "na wie hieß der doch
gleich"; aber nein, Geld ist auch bei denen, die sich für intellektuell
oder fortschrittlich halten, überhaupt kein Thema. "Geld",
hat mir mal einer gesagt, "ist eben Geld. Was soll man da groß
drüber reden? Entweder man hat es, oder man hat es nicht." Erst
wenn es um das Geldverdienen, um Steuerspartricks oder neue Anlageformen
geht, ist Geld ein Thema. Eine Diskussion über die eigentliche Aufgabe
des Geldes - vor allem ein Tauschmittel zu sein - findet nicht statt. Das
Geld in seiner jetzigen Form in Frage zu stellen, steht nicht zur Diskussion.
Die Bereitschaft, über die fundamentale Funktion des Geldes und über
die verheerende Wirkung des Zinses zu diskutieren, ist wohl auch deshalb
so gering, weil es einfach keinen Spaß macht, in einen Themenbereich
hineingezogen zu werden, von dem man noch zu wenig versteht. So unterhalten
sich beispielsweise Tischtennistrainer ja auch am liebsten über Tischtennis,
während sie sich mit Aussagen über den Einfluß des Mondes
auf die Häufgkeit von Ladendiebstählen auffallend zurückhalten.
Sobald wir dem Tischtennistrainer aber darlegen können, daß
sein Traum von einer eigenen Tischtennishalle durch ein zinsloses Darlehen
relativ leicht realisiert werden könnte, steigt seine Bereitschaft,
dieser Behauptung auf den Grund zu gehen. Wie ein Iltis, der Hühnerblut
gerochen hat, wird sich der Tischtennistrainer jetzt auch nicht mehr davon
abbringen lassen, dem Erkennen und Staunen das Lernen und schließlich
das zielgerichtete Handeln folgen zu lassen.
Es ist also von Fall zu Fall die Frage zu klären, wie die allgemeine
Lust am Diskutieren auf das Wirtschaftssystem und die Geldordnung gelenkt
werden kann. Wie machen es denn die Firmen, um eine neue Mode zu kreieren?
Um beispielsweise den schleppenden Absatz von Sportschuhen wieder auf Vordermann
zu bringen, erfindet die Firma Adidas neue Sportarten, die - und jetzt
kommt die kecke Idee - nur mit Spezialsportschuhen, die bei der Konkurrenz
noch nicht zu haben sind, wettkampfmäßig ausgeübt werden
können. Um die neue Sportart "Streetball" z.B. nicht im
Lachkrampf der Konkurrenten untergehen zu lassen, werden laut SPIEGEL mit
einem Millionenaufwand fünfzig Turniere so über das Land verteilt,
daß der Konkurrenz das Lachen vergeht und selbst auf Helgoland die
Kinder Wind davon bekommen und dann von Stund an auf die fußgesunden
Sandalen verzichten, um sich einen heißen Sommer lang Schweißfüße
und den Fußpilz fürs Leben zu holen.
Darauf angesprochen, stellen seriöse Sportler - darunter leitende
Angestellte - ganz erschrocken fest, daß es ja gar nicht ihre eigene
Entscheidung war, in dieser oder jener Sportart regelrecht aufzublühen
und über sich hinauszuwachsen, sondern ein schönes Stück
Umsatzstrategie einer besonders tüchtigen Werbeagentur. Wenn es also
möglich ist, die Menschen sich heute etwas wünschen zu lassen,
was sie gestern noch gar nicht gejuckt hat, dann sollte es doch auch möglich
sein, das Interesse der Menschen auf die enorme Bedeutung einer Geld- und
Bodendiskussion zu lenken, um so den Boden, das Geld und den Zins ins Gerede
zu bringen.
Der englische Nationalökonom Prof. John Maynard Keynes hat einmal
gesagt: "Schwierig sind nicht die neuen Gedanken; schwierig ist nur,
von den alten loszukommen." Er selbst war in dieser Hinsicht kein
gutes Vorbild, denn obwohl er in seiner "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung,
des Zinses und des Geldes" zugab, daß Silvio Gesell die richtigen
Erkenntnisse gehabt habe, ließ er sich dann doch nicht davon abbringen,
seinem eigenen Weg (der kontrollierten Staatsverschuldung zur Belebung
der Konjunktur und zur Schaffung von Arbeitplätzen) treu zu bleiben;
ein Weg übrigens, der die Industrienationen in eine fast ausweglose
Sackgasse der Überverschuldung geführt hat. John Maynard Keynes
hat es damals in der Hand gehabt, sein hohes Ansehen in die Waagschale
der Natürlichen Wirtschaftsordnung Silvio Gesells zu legen und ihr
damit zum Durchbruch zu verhelfen. Aber wer konnte und wollte in den dreißiger
und vierziger Jahren (der Judenverfolgung und des Krieges) schon zugeben,
einem Deutschen unterlegen zu sein? Ob es Selbstüberschätzung
war, Unterschätzung Silvio Gesells, falscher Ehrgeiz oder gar Kollegenneid,
das sei dahingestellt.
Wo die großen Zugpferde fehlen, müssen viele kleine an ihre
Stelle treten, um die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Mit dem Diavortrag
"Wer hat Angst vor Silvio Gesell?" und dem vorliegenden Buch
soll versucht werden, die unerhörte Rolle der Schulen und der Medien
beim Verschweigen der Natürlichen Wirtschaftsordnung angemessen zu
beleuchten. Nach den Erfahrungen des Philosophen Arthur Schopenhauer folgt
dem Totschweigen einer großen Idee der Versuch, das bisher Verschwiegene
lächerlich zu machen, um es in einer dritten Phase schließlich
für selbstverständlich zu erklären. Plötzlich behaupten
alle, schon immer dafür gewesen zu sein! Der Übergang vom Totschweigen
(Phase I) zum Lächerlichmachen (Phase II) verliert seine Stoßkraft
- so hoffe ich - wenn er einer Krankheit gleich aufgeimpfte und bestens
vorbereitete Menschen stößt, die sich dank ihrer Sachkunde mit
überzeugenden Argumenten zur Wehr setzen können. Die Selbstverständlichkeit
(Phase III) einer bahnbrechenden Idee ist dann nur noch eine Frage der
Zeit und eine Frage der Sehnsucht aller benachteiligten Menschen nach Gerechtigkeit.
Der Freiwirt Werner Onken, Herausgeber des Gesamtwerkes Silvio Gesells,
glaubte bereits 1991, man befinde sich jetzt irgendwo zwischen den Phasen
II und III. Diese optimistische Annahme habe ich durch Publikumsbefragungen
(in Fußgängerzonen und vor Banken) leider nicht bestätigt
finden können. Ganz eindeutig befinden sich noch immer über 90%
der erwachsenen Bevölkerung in der Phase I; d.h. diese Menschen haben
noch nie etwas von Silvio Gesell und der Natürlichen Wirtschaftsordnung
gehört, weil es ihnen zuhause, in der Schule , an der Uni, in der
Kirche, in der Presse, im Hörfunk und im Fernsehen verschwiegen wurde.
Wer nicht zufällig einem Freiwirt über den Weg läuft, über
eine freiwirtschaftliche Zeitung stolpert oder ein Hellseher ist, bleibt
unwissend. Daß man es denen, die das Vermächtnis Silvio Gesells
längst an Schüler und Studenten hätten weiterreichen sollen,
ebenfalls verschwieg, sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt,
um ungerechtfertigte Schuldzuweisungen zu vermeiden.
Haben wir die Lehrer, Professoren und Journalisten aber erst einmal an
einem Strauß Maiglöckchen riechen lassen (einmal tief durchatmen),
können diese anschließend nie wieder behaupten, vom herrlichen
Duft dieser Blume keine Ahnung zu haben. Der ganz spezielle Wohlgeruch
dieser Pflanze hinterläßt - ob wir es wollen oder nicht - eine
unauslöschliche Spur , die auch noch nach Jahren und Jahrzehnten dem
Erinnerungsvermögen entlockt werden kann. Grünes Gedankengut
ist in der Politik (und in der Presse!) auch zunächst absichtlich
verschwiegen worden. Dann wurden z.B. die Grünen als naive Spinner
lächerlich gemacht, und heute lesen sich die Parteiprogramme der großen
Parteien zumindest stellenweise so, als hätte sich "der grüne
Hacker" Joschka Fischer im Computer der CDU-Programmkommission installiert.
In den letzten 15 Jahren sind Reizthemen wie z.B. Naturschutz, ökologischer
Landbau, Giftmüll und Energieversorgung durch diese 3-Phasenmühle
gegangen und unten mehr oder weniger ramponiert wieder herausgekommen.
Die Themen Bodenrecht und Geldsystem waren nicht dabei. Vielleicht ist
das auch gut so, denn uns stehen inzwischen wertvolle Erfahrungen im Umgang
mit unbelehrbaren Betonköpfen zur Verfügung, die uns so manche
Mühe und den einen oder andern Umweg ersparen helfen.
Die Einsicht in die Tatsache, daß Gesell auch im Jahre 1995 noch
immer weitgehend unbekannt ist, erspart uns jedenfalls die schmerzliche
Erfahrung, versehentlich den zweiten Schritt vor den ersten zu tun. Da
jetzt Arbeit auf uns zukommt, sei zur Beruhigung noch mal daran erinnert,
daß wir es hier mit einem unermeßlichen Schatz zu tun haben,
der die Ausgrabungsarbeiten spannend werden läßt. Es mag ja
Steine des Anstoßes geben, die ein erschreckend hohes Gewicht haben
und darum einfach liegenbleiben müssen, doch vor dem Gewicht einer
Schatztruhe wird noch kein ehrlicher Finder zurückgewichen sein; sie
kann ihm - der Finderlohn läßt grüßen - gar nicht
schwer genug sein.
Soziale Gerechtigkeit im olympischen Feuer
Demokratie ist eine feine Sache. Zusammen mit der Marktwirtschaft
gestattet sie ein Leben in Würde und Gerechtigkeit. Wenn nun aber
die Marktwirtschaft - wie in Deutschland geschehen - zu einer ganz brutalen
Zinswirtschaft verkommt, bleiben die unbestreitbaren Vorzüge und Segnungen
der Demokratie fast nur noch einer kleinen Minderheit vorbehalten.
Auf die olympische Disziplin des 100-m-Laufs übertragen, führt
die Zinswirtschaft (in der Demokratie) zu folgenden Konsequenzen: Arbeiter,
Angestellte, Beamte, Künstler, Freiberufler, kleine und mitllere Unternehmer
starten - wie sich das gehört- genau 100 Meter vor der Ziellinie.
Millionäre genießen dagegen das Privileg, auf halber Strecke
starten zu dürfen, während den Milliardären sogar das Recht
eingeräumt wird, nur die letzten 10 Meter der Aschenbahn zurücklegen
zu müssen, um die Gold- und Silbermedallien nahezu kampflos einsacken
zu können.
Wo bleibt hier die olympische Fairneß? Und wo bleiben Gerechtigkeit
und Chancengleichheit? Auf der Strecke natürlich!
Um diese unschöne und ja auch nicht wählerwirksame Bevorzugung
der wohlhabenden "Athleten" wenigsten statistisch in den Griff
zu kriegen, sprich: vergessen zu machen, läßt man in der Zinswirtschaft
die Wohnsitzlosen, Asylbewerber, Arbeitslosen, Behinderten und Alleinerziehenden
ganz einfach eine entsprechend längere Strecke durchlaufen (Chancenausgleich)
und kommt so zu der statistisch erfreulichen Tatsache, daß im Durchschnitt
alle exakt 100 Meter weit gelaufen sind. Demnach hat der Bundeskanzler
so unrecht nun auch wieder nicht wenn er meint, daß es uns immer
noch verhältnismäßig gut geht und allen Bürgerinnen
und Bürgern, die in diesem Staat mit Optimismus und Tatkraft an den
Start gehen, eine echte Chance geboten wird. Na also!