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6 Das Wunder von Wörgl
Edison, einer der größten Erfinder der Menschheit, konnte
sich nicht vorstellen, daß es jemals möglich sein würde,
drahtlos zu telefonieren. Ich selbst habe 1946 als neunjähriger Volksschüler
nicht glauben können, daß bewegte Bilder - wie im Kino - über
weite Strecken durch die Luft gesendet werden können und wurde richtig
ärgerlich, als der Lehrer bei dieser Behauptung blieb. Um so größer
ist heute mein Respekt vor Menschen, die zur Abwechslung auch mal etwas
glauben, was nicht sofort bewiesen werden kann. Dieser vorauseilende Glaube
schließt ja den nachgereichten Beweis nicht aus; wer aber überhaupt
nicht glaubt, wird kaum die Ausdauer und Kraft aufbringen, den die Beweisführung
vorauszusetzen pflegt. Für die österreichische Gemeinde Wörgl
und für die ganze Welt wäre es schlimm gewesen, wenn dem Bürgermeister
Michael Unterguggenberger 1932 der rechte Glaube gefehlt hätte, denn
er wagte ein Experiment, das als Wunder von Wörgl in die Geschichte
eingegangen ist. Der Schweizer Freiwirt Fritz Schwarz hat diesem tapferen
Mann durch sein Buch "Das Experiment von Wörgl" ein Denkmal
gesetzt.
Wie viele Gemeinden und Städte jener Zeit wurde auch Wörgl mit
seinen 4216 Einwohnern von der Rezession erfaßt und von hoher Arbeitslosigkeit
heimgesucht. Der bei der Innsbrucker Sparkasse hochverschuldete Ort war
noch nicht einmal in der Lage, die inzwischen aufgelaufenen Zinsen (50.000,-
Schilling) zu bezahlen. "Ausgesteuerte" Arbeitslose fielen scharenweise
der Armenfürsorge zur Last. In weiten Teilen Österreichs und
Deutschlands sah es nicht anders aus. Verzweifelte Familienväter sahen
oft keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. In Wörgl
richteten sich die Hoffnungen der Enttäuschten und Gedemütigten
auf den tüchtigen Bürgermeister Michael Unterguggenberger, doch
der hatte schon lange nichts mehr zu verteilen. Ihm ging das unbeschreibliche
Elend der Arbeitslosen und deren Familien so zu Herzen, daß er keine
Ruhe mehr fand und über einen Ausweg aus der Not nachzudenken begann.
Seine Gedanken kreisten um die Natürliche Wirtschaftsordnung. Eines
Tages faßte er den Entschluß, Silvio Gesell beim Wort zu nehmen.
Dessen Gedanke, daß umlaufendes Geld Arbeit schafft und eingesperrtes
Geld Arbeiter aussperrt, ließ ihn nicht mehr los. Um den Gemeinderat,
die örtlichen Geschäftsleute, Handwerker, Bauern, kurz die ganze
Gemeinde von der Notwendigkeit seiner Idee zu überzeugen, sprach er
mit vielen zunächst unter vier Augen, dann in den Vereinen und schließlich
auf Versammlungen vor der ganzen Bevölkerung über diesen einen,
rettenden Ausweg. Unterguggenberger schlug vor, den Wohlfahrtsausschuß
der Gemeinde zu beauftragen, die Nothilfe Wörgl ins Leben zu rufen.
Bangen Herzens, doch ohne zu zögern, stimmte die ganze Gemeinde diesem
Vorschlag zu. Die Nothilfe bestand darin, daß der Wohlfahrtsausschuß
unter der Leitung vertrauenswürdiger Persönlichkeiten sogenannte
"Arbeitsbestätigungen" drucken ließ, die in Wirklichkeit
aber reine Zahlungsmittel, also praktisch Geld waren. Sie wurden in folgenden
Stückelungen herausgegeben: 2000 gelbe Arbeitsbestätigungsscheine
zu je 1 Schilling, 2000 blaue zu je 5 Schilling und 2000 rote zu je 10
Schilling. Mit nominal nur 32 000 Schilling glaubte der Bürgermeister
die ganze Gemeinde ausreichend mit Geld versorgt zu haben, so gründlich
hatte er seinen Gesell gelesen! Die Nationalbank in Wien hatte jedoch Wind
davon bekommen, behauptete, es handele sich bei den Scheinen um Geld und
verwies unter Strafandrohung auf ihr Monopol. Davon ließ sich Unterguggenberger
zum Glück nicht beeindrucken. Er schrieb zurück, daß man
sich lediglich mit Arbeitsbestätigungsscheinen versorgt habe und brachte
das Experiment auf den Weg.
Die "Geldausgabe" an die Bevölkerung erfolgte im Gemeindeamt,
die Einlösung der Scheine wie bisher in den Geschäften und bei
der Sparkasse. Die Besonderheiten dieses Notgeldes waren der Bevölkerung
in den "Wörgler Nachrichten" ganz genau erklärt worden.
Wichtigster Unterschied zum normalen Geld, das selbstverständlich
seine Gültigkeit behielt und auch weiterhin genutzt werden konnte,
war die von Silvio Gesell vorgeschlagene Gleichstellung des Geldes mit
den Waren. Es verlor also ständig an Wert und zwar 1% pro Monat. Wer
den Schein länger als einen Monat bei sich herumliegen ließ,
mußte ihn auf einem der zwölf aufgedruckten Monatsfelder mit
einer Wertmarke bekleben, die es im Gemeindeamt zu kaufen gab. Wer es unterließ,
konnte entsprechend weniger damit kaufen. Klar, daß alle bemüht
waren, die Scheine vor den monatlichen Stichtagen wieder loszuwerden, um
dadurch dem "Standgeld" zu entgehen.
Man weiß heute nicht, wen man mehr bewundern soll, Silvio Gesell,
der genau diese Reaktion der Geldbesitzer vorausgesehen hatte oder Michael
Unterguggenberger, dem dieses sozialpolitische Meisterstück gelang.
Um gleich mit gutem Beispiel voranzugehen, kaufte die Gemeinde Wörgl
dem Wohlfahrtsausschuß 1000 Schilling in Arbeitsbestätigungsscheinen
ab, um damit die Löhne zu bezahlen. In den Geschäften wurden
die Arbeitsbestätigungen wie normales Geld akzeptiert und von den
Geschäftsleuten überraschend schnell zum Bezahlen rückständiger
Steuern verwendet. Als nach drei Tagen von den erst 1000 ausgegebenen Schilling
der Gemeinde bereits 5 100 Schilling an bezahlten Steuern zurückgeflossen
waren, wurde der Bürgermeister alarmiert, da sich der Buchhalter diese
wunderbare Geldvermehrung nur so erklären konnte: "Da müssen
schon Geldfälscher am Werk sein!" Unterguggenberger soll darüber
schallend gelacht haben. Vermutlich wird er sich damals auch die Zeit genommen
haben, seinen Mitarbeitern den Zusammenhang zwischen der Geldmenge und
dem Umlauf des Geldes zu erklären. Da 1000 Schilling, die durch zehn
Hände gehen, einer Wirtschaftskraft von 10.000 Schilling entsprechen,
sind diese 1000 Schilling für die Wirtschaft genau so wertvoll wie
5000 Schilling, die nur zweimal von Hand zu Hand gehen. Das lästige
Aufkleben der Wertausgleichsmarken verführte die Bürger von Wörgl
dazu, das Notgeld immer gleich zum Einkaufen zu verwenden oder zur Sparkasse
zu bringen. Der störungsfreie Umlauf des Geldes ermöglichte es
der Gemeinde Wörgl, mit der lächerlich klein anmutenden Summe
von 32.000,- Schilling im Laufe von nur dreizehn Monaten enorme Aufträge
an die heimische Wirtschaft zu vergeben und die Arbeitslosigkeit sensationell
um 25 % zu senken. Die Aufzählung macht auch heute noch sprachlos:
Bau einer Skischanze, Asphaltierung mehrerer Straßen, Bau einer Betonbrücke,
Kanalisation des Gemeinde- und Schulhauses, Einrichtung einer Notstandsküche,
Umgestaltung eines Parks am Bahnhof, Modernisierung der Straßenbeleuchtung
usw. Wörgl verwandelte sich in eine Insel der Hoffnung in einem Meer
der Verzweiflung. Kein Wunder, daß Journalisten, Professoren und
Minister aus aller Welt nach Wörgl kamen, um durch eigene Untersuchungen
eine Erklärung für dieses Wunder zu finden.
Der Bürgermeister ging aber auch selbst über das Land, um in
Vorträgen vor Amtskollegen aus ganz Österreich zu sprechen und
trat damit eine Lawine los, die bei der Nationalbank in Wien die Alarmglocken
schrillen ließ: 178 österreichische Gemeinden faßten den
Entschluß, dem Beispiel der Gemeinde Wörgl zu folgen. Das wäre
der Durchbruch gewesen und zweifellos eine Sternstunde der Menschheit,
wenn es nicht von der österreichischen Nationalbank in Wien gewaltsam
abgewürgt worden wäre. Auch Wörgl wurde gezwungen, das rasch
zirkulierende Notgeld wieder in leicht hortbare Schilling umzutauschen
mit der Folge, daß Arbeitslosigkeit und Not schlagartig in die Familien
zurückkehrten. So mächtig wie heute war auch schon damals das
herrschende Kapital.
Österreich verschlief eine der größten Chancen dieses Jahrhunderts
und bezahlte die von der Presse auch noch beklatschte Dummheit wenige Jahre
später mit dem "Anschluß" an Nazideutschland mit Terror
und mit Krieg. Wer heute durch Wörgl schlendert und die Leute fragt,
ob ihnen der Name Unterguggenberger etwas sagt, wird selten fündig.
Die Macht des herrschenden Geldes verfolgt ihn bis über den Tod hinaus
durch Verschweigen und verhindert so ein allgegenwärtiges Andenken,
das den Menschen in aller Welt Hoffnung und Verpflichtung sein könnte.
Es hat aus diesen Kreisen heraus auch nicht an Versuchen gefehlt, das Wunder
von Wörgl nachträglich in einem etwas kleineren Licht erscheinen
zu lassen. So wird beispielsweise behauptet, daß die vom Freigeld
(frei, weil zinsbefreit) erzeugte Hochkonjunktur früher oder später
an ihre Grenzen gestoßen und schließlich zusammengebrochen
wäre. Dem steht das Vermächtnis Gesells gegenüber und z.B.
die Aussage des amerikanischen Ökonomen Prof. Dr. Irving Fisher:
"Freigeld, richtig angewendet , würde die Vereinigten Staaten
in drei Wochen aus der Krise herausbringen."
In Wörgl hat Gesell seinen Meister gefunden, dem es gegeben war, die
Funktionstüchtigkeit der Natürlichen Wirtschaftsordnung selbst
unter schwierigsten Umständen zu beweisen. Erst die geballte Macht
des zu Tode erschrockenen Kapitals hat den Freiwirt Michael Unterguggenberger
gestoppt und diesen Pionier um die zum Greifen nahen Früchte seines
Mutes gebracht. Möge uns schon bald sein ehrlicher Blick von Briefmarken
und Banknoten entgegenleuchten; er - wie kaum ein anderer - hätte
es verdient!