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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
V. Die neue
Denkschule
Die meisten
Köpfe der ersten Denkschule, zu der auch Dr. Christen und Ernst Frankfurth
gerechnet werden können, sanken schneller als erwartet dahin. Doch die von
ihnen vertretenen Grundtendenzen wirkten fort: sowohl die physiokratische als
auch die freiwirtschaftliche.
Werner
Zimmermann, Repräsentant der lebensreformerischen Grundtendenz, überlebte als
einziger Kopf der ersten Denkschule den Zweiten Weltkrieg. Er hat dann noch in
der Internationalen Freiwirtschaftlichen Union und durch zahlreiche Vorträge
gewirkt, insbesondere durch den Schweizer WIR-Ring, dessen Hauptgründer er
gewesen, doch sein unmittelbarer Einfluß auf die neue NWO-Bewegung war gering.
Mit "Ich bin" (1948) schuf und hinterließ er ein mehr esoterisches
Werk, das eine Brücke zur Anthroposophie und Theosophie schlug.
Zur zweiten
NWO-Denkschule gehörten mehr oder weniger all jene, die sich nach dem Zweiten
Weltkrieg um eine geistige Neuorientierung bemühten. Das war nicht mehr ein
geistiger Zirkel, sondern eine lose Gruppierung durcheinanderwirbelnder
Persönlichkeiten. In der Schweiz spielten Friedrich Salzmann, Hans Bernoulli
und Fritz Schwarz eine große Rolle - sie bildeten auch den Kern der
Internationalen Freiwirtschaftlichen Union und sorgten in ihr für eine geistige
Kontinuität, die in Deutschland zersplittert war. Im Mittelpunkt der zweiten
Denkschule stand Karl Walker als ihre geistmächtigste Persönlichkeit, die der
NWO einen neuen Weg zu bahnen versuchte und als erster eine fundamentale Kritik
an der Gesellschen Lehre übte, woraus sich der Umriß eines anderen NWO-Modells
ergab. Walker grub so tief, daß er den Übergang zu einer dritten Denkschule
bildete. Er ragt in sie hinein, doch hat diese noch nicht alle seine Impulse
aufgenommen und weitergedacht.
War die
erste Denkschule weitgehend vom Ersten Weltkrieg, der russischen Revolution und
der deutschen Novemberrevolution geprägt, so die zweite vom Erlebnis der
NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Demgegenüber lag der dritte Denkschule
die geschichtliche und kulturelle Zäsur des Weltwendejahrs 1968 zugrunde, wo
auch der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West übersprungen wurde.
Seitdem sind
die freiwirtschaftlichen Vorstellungen und Ziele in einen weit größeren
Zusammenhang eingebunden, als das früher der Fall war. Sie treten aus ihrer
Exklusivität heraus. Vorarbeit haben jene Freiwirte geleistet, die in der
Grünen Bewegung tätig waren. Schon dadurch lockerte sich der
freiwirtschaftliche Eurozentrismus. Mit Yoshito Otani kam erstmals der Gesichtspunkt
eines anderen Erdteils hinzu. Obwohl die von ihm vorgeschlagenen Reformen denen
Gesells glichen, läßt er sich nicht in dessen Lehre einordnen, vor allem wegen
der anderen Ausgangspunkte und Schlußfolgerungen. Auch sonst ist die
Zugehörigkeit zur NWO-Bewegung nicht mehr an ein Bekenntnis zu Gesell gebunden
(obwohl es zuweilen noch verlangt wird). Neben dessen NWO-Modell sind andere
Modelle getreten, seine Kernidee der "rostenden Banknote" hat jedoch
alle Wandlungen überlebt. Von Silvio Gesell gilt nur noch das Wesentliche,
während das Zeitbedingte abgestreift wird. Schon die von Prof. Suhr
eingebrachten Vorstellungen haben das klargemacht, noch deutlicher wird es bei
den neuen Gedanken Bruno Jehles. Was Karl Walker als erster zu sagen wagte -
daß außer Gesell noch eine Reihe anderer Denker beachtet werden müsse - ist
inzwischen fast selbstverständlich geworden. Am häufigsten werden nun Rudolf
Steiner und Yoshito Otani neben ihn gestellt.
Andere
Persönlichkeiten als die Genannten sind in anderen Kapiteln gewürdigt worden.
Triebfeder
Lebenskraft - Yoshito Otani
Die
NWO-Bewegung wollte so wissenschaftlich wie möglich sein. Otani mißtraut der
europäischen Wissenschaft, die auf einseitiger Ausbildung intellektueller
Fähigkeiten beruhe und mit unzähligen Menschenleben spiele. Sie sei hochmütig
und arrogant gegenüber den Völkern anderer Kontinente, weil sie sich einbilde,
die höchste Zivilisation zu repräsentieren.
Otani
unterzieht auch die europäische Kultur, christlich-abendländisch genannt, einer
beißenden Kritik. Sie hat sich mit dem Revolver in der einen und der Bibel in
der anderen Hand ausgebreitet. Der Glaube an einen einzigen Gott (Monotheismus)
sei für die menschliche Gesellschaft gefährlich und vergiftend. Seine Ergänzung
ist der staatliche Absolutismus. Das Christentum ist zur Ideologie entartet und
alles andere als allgemeingültig. Selbst die Europäer müssen sich von ihm
befreien, wenn sie vorankommen wollen. Es sei ein
"Gotteskapitalismus" und Rauschgift für das Volk.
Der Europäer
steht auf dem Kopf, lebt in einer "Maskengesellschaft" (1) und darf
nicht sein, was er ist. Auf ihm lastet die Herrschaft der Ideen über das Leben.
Zum Wiederkäuer und geistig träge geworden, kann er kaum noch eigenständig
denken. Auch seine Lernfähigkeit ist eingeschlafen. Der Ausgangspunkt und
Nährstoff des Denkens sollte nicht eine Theorie, sondern das strömende Leben
sein. Otani beklagt auch den europäischen Individualismus. Unter Freiheit
versteht er die Möglichkeit und Fähigkeit, nach eigenem Ermessen zu handeln.
Sie ist nicht der höchste Wert, sondern ein Mittel zum Zweck. Wo freie Verträge
geschlossen werden können, hat die Anarchie als Ideal keinen Sinn. Überdies
kann keine Gesellschaft ohne Gesetze und Ordnung auskommen. Ein System ist
immer da, doch wenn man sich seine Lebensform selbst wählen darf, braucht man
es nicht umstürzen. Sich frei fühlen ist eine Beziehungsfrage. Es kommt ebenso
auf Sicherheit an, etwa in einem eigenen und möglichst auch selbsterbauten
Haus.
Die
Bewußtseinsentfaltung ist immer eine persönliche, weshalb es laut Otani keine
kollektive Menschheitsentwicklung gibt. Jeder einzelne bedarf der Balance von
Intellekt und Sinnlichkeit (die den meisten Europäern fehle). Zum sportlichen
Training sollte ein seelisches treten. Ein seelisch verkrüppelter
Wissenschaftler sei eine Gefahr. Was die noch wenig entwickelte
Sozialwissenschaft betrifft, so muß sie von ihren ideologischen Voraussetzungen
befreit werden, um ihrerseits ein Befreiungsinstrument zu werden. Die
Soziologie hat nur Vorarbeit geleistet. Es darf auch nicht bei Theorien und
Forschungen bleiben. "Das Zusammenwirken in der Gesellschaft bringt eine
ungeheure Kraft in Gang." (2) Bisher ist sie entweder gar nicht entdeckt
oder falsch gelenkt worden. Sie richtig und auf ein positives Ziel zu lenken,
dazu bedarf es einer echten Sozialwissenschaft, die größtenteils noch
erarbeitet werden muß. Otani hat in seinen Essays dafür eine Reihe Bausteine
geformt und bereitgestellt.
Die
jeweilige Gesellschaftsform ist für ihn niemals ein willkürliches Produkt
irgendwelcher Theoretiker und Politiker, sondern ein naturgesetzliches Gebilde
mit ganz bestimmten Normen, denen man sich wohl oder übel anpassen sollte. Der
christliche Dualismus von Gut und Böse könne da gar nichts erklären. Es handelt
sich jeweils um eine Erscheinungsform der allgemeinen Lebenskraft. Brechen
soziale Konflikte aus, so ist die Ursache nicht in der Gesellschaft zu suchen
(wie das Silvio Gesell tat), sondern beim Menschen. Die essentiellen Grundlagen
beider sind die Sicherung der Freiheit und des Existenzrechts. Sie hängen fest
zusammen. "Nur die Freiheit kann unsere Existenz wirklich sichern, und nur
eine sichere Existenz die Freiheit." (3) Jede Gesellschaftsform, die nur
eine der beiden Grundlagen zu bieten hat, ist für Otani eine Fehlkonstruktion.
Aber das gilt s. E. für beide Systeme, sowohl für das kommunistische als auch
für das demokratische.
Das
menschliche Problem fange freilich womöglich erst dann an, wenn beide von
vornherein gesichert sind: Freiheit und Existenz. Weil wir mit dem Bestehenden
und Erreichten nie zufrieden sind? Weil die menschlichen Bedürfnisse immer über
das Gegebene hinauswachsen? Darauf gibt Otani keine Antwort. Er geht davon aus,
daß eine Gesellschaftsform, die sowohl Freiheit als auch Sicherheit garantiert,
noch nirgends existiert und erst geschaffen werden muß. Hierarchisch aufgebaute
Organisationen sind hierzu untauglich. Es bedürfe einer Basisorganisation mit
wohlgeordneter Spitze, die sich am Kompaß der Sozialwissenschaft orientiert.
Eine erste
gesicherte Erkenntnis ist, daß alle Systeme und Ideologien ein schicksalhaftes
Paradoxon in sich tragen, weil sie von Anbeginn "schon ihre Möglichkeiten
und die Grenze ihrer Entwicklung aufzeigen". (4) Über diese Grenze hinaus
haben sie keine Entwicklungschancen. Darum müssen sie sich, um die Menschen
weiter zu halten, "mit den Mitteln der Autorität zum Mythos
verwandeln". So der Kapitalismus wie der Kommunismus. Beide sind an ihre
Grenze gestoßen. Ihr moderner Mythos sei viel stärker und unbegreiflich
umfangreicher als jeder frühere. Otani hatte sich seine Analyse zum Ziel
gesetzt. Er nahm hierbei die Linie der Urdemokratie wieder auf, welche durch
theokratische Religionen untergraben worden sei. Von daher kommt sein
Atheismus, verwurzelt in dem aufklärerischen Axiom, der heutige Mensch bedürfe
der Krücke des Gottesglaubens nicht mehr und müsse im Zuge seiner Reifung zur
Mündigkeit ohne sie auskommen lernen. Ob er ein zur Freiheit veranlagtes Wesen
mit eigenen Entwicklungsgesetzen sei, könne man nicht a priori sagen. Das
entscheidet sich erst da, wo er auf eigener Grundlage anfängt, sich selbst aus
eigener Kraft zu entwickeln. Sonst ist die Freiheit für Otani kaum mehr als
Gerede und eine Phrase.
Auch eine
Volkswirtschaft erscheint ihm nicht als Faktum gegeben. Sie entsteht erst, wenn
die Menschen mit ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in wechselseitige
Beziehungen treten. Deshalb könne auch bloße Faktenbetrachtung die
volkswirtschaftlichen Probleme nicht lösen. Lebenskraft und Wille spielen eine
gewaltige Rolle. Weder eine materialistische noch eine idealistische
Betrachtungsweise wird sie ergründen. Im volkswirtschaftlichen Prozeß wirken
Fakten und Gedanken mit. Das Geld wirkt nur, wenn und solange es sich in
Bewegung befindet - es ist an sich nicht der entscheidende Faktor. Diesen
verkörpert der Mensch. Er realisiert sowohl Fakten als auch Gedanken und setzt
beide in Bewegung. Sie sind die beiden Pole im täglichen Leben, wo sie
zusammengebracht werden müssen. Der Sozialwissenschaft obliegt es, diese
Bewegungsvorgänge zu verfolgen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Dazu
dürfen sie allerdings nicht in Momentaufnahmen zerlegt werden, wie das die
europäische Wissenschaft zu tun pflegt. Sie sind nur als Ganzes, als in sich
geschlossener Komplex zu begreifen, als ein lebendiges und flutendes
Beziehungsgefüge der Menschen.
Die Probe
aufs Exempel dieser erst entstehenden Sozialwissenschaft wird nach Otani eine
Strukturreform des Geldes und eine Bodenreform rein. Im Geld drückt sich die
menschliche Organisationsfähigkeit aus. Und Kapital ist "ein Gegenstand,
der eine primäre Monopoleigenschaft in der Wirtschaft hat" (5), wodurch
zusätzlicher Gewinn herausgeschunden wird, im Kommunismus ebenso wie im
Kapitalismus. Um diese Ausbeutung zu beenden, muß das heutige ,Warengeld' durch
ein ,Tauschgeld' ersetzt werden, das nicht gehortet und so auch nicht in seiner
Menge künstlich begrenzt werden kann. Das Geld sei eigentlich Staatseigentum
und müsse daher einer öffentlichen Kontrolle unterworfen werden: durch ein
Währungsamt, das die Notenbank ablöst. An bestimmten Stichtagen wird das
jeweilige Bargeld umgetauscht, abzüglich einer Nutzungsgebühr. Auf diese Weise
soll das Geld dem Rhythmus der Wirtschaft angepaßt und diese aus seiner
Abhängigkeit befreit, auch eine Kapitalbildung großen Stils angeregt werden.
Dann erst könne die Technik ihre bisher gehemmten Möglichkeiten entfalten und
der kleine Mann sich an seinem Betrieb beteiligt fühlen. Pendler wird es kaum
noch geben. Die Industrie stellt sich auf Qualitätsproduktion um, was einer
weiteren Ausplünderung der Naturschätze Einhalt gebieten würde (trotz
schrankenloser Vermehrung des Kapitals?).
Hinsichtlich
der Bodenfrage knüpft Otani bei Henry George an. Die von ihm ausgelöste
Reformbewegung sei zwar recht erfolgreich gewesen, habe jedoch im Bodenmonopol
die einzige Ursache der sozialen Mißstände gesehen. Diese würden aber auch
durch das gültige Geldrecht und andere traditionelle Rechtseinrichtungen
mitbewirkt. Schon unter den Römern, die ohne Traditionen und überlieferte
Volksrechte gewesen wären, sei das Geld zum Privatbesitz und der Boden zur
käuflichen Waren geworden. Erst nach dem Untergang des Römischen Reiches
verschwanden diese "imperialistischen Rechte". (6) An seine Stelle
traten wieder die Volksrechte der mittel- und nordeuropäischen Völker, zu denen
das Feudal- und Lehnswesen nicht im Widerspruch stand. Bis zum 12. Jahrhundert
spielte das Geld in Europa keine bedeutende Rolle mehr. Dadurch stagnierte zwar
die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, aber ohne Gefahr einer
Verschuldung und Enteignung des Bodens. Dieser war Gemeinbesitz und wurde nach
der Familiengröße zur Nutzung verteilt. So soll es auch künftig wieder sein.
Die Wiedereinführung des römischen Rechts, dessen Rezeption durch Kaiser
Maximilian im Jahre 1495, hatte zur Folge, daß der Boden zum Privateigentum der
geistlichen und weltlichen Herren wurde, welche die Landbevölkerung in Pacht-
und Leibeigenschaftsverhältnisse hinabdrückten. Sie verlor nun einen großen
Teil ihrer persönlichen Freiheit und Sicherheit.
Wollte man
das Grundeigentum wieder enteignen und die Grundrente für Staatsausgaben
verwenden, würde das Bodenmonopol nicht beseitigt, sondern zentralisiert, was
weder mit Demokratie zu vereinbaren wäre noch einen wirtschaftlich optimalen
Nutzen brächte. "Die Fruchtbarkeit der Erde kann nur durch das Interesse
des Bauern erhalten werden, der den eigenen Boden unter dem Pflug hat und sich
voll und ganz mit dem Lebenskreis verbunden fühlt, dem seine Arbeit dient."
(7) Andererseits führte das private Besitzrecht am Boden zur Enteignung der
Völker und zu seiner Konzentration in wenigen Händen. Den Ausweg aus diesem
Dilemma sieht Otani in der Kommunalisierung, also in der Sozialisierung des
Bodens durch die Gemeinden, die das Recht auf Nutzung verpachten.
Aber auch in
diesem Fall hätte - wie nach einer Verstaatlichung - der Bauer nicht mehr den
eigenen Boden unter dem Pflug, sondern würde in ein Pachtverhältnis
hinabgedrückt. Die Unterschiede zwischen Verstaatlichung und Kommunalisierung
sind gering, ja für den Bauern gleich Null. Es wird durch beide entwurzelt.
Hintenherum
führt Otani auch die Zentralisierung ein. Zur Erfassung und Verteilung der
Grundrente sind ihm zufolge sowohl ein Planungsamt als auch ein Grundbuchamt
nötig. Das Planungsamt soll sogar die jeweilige Nutzungsart bestimmen, wozu es
"mit Fachkräften besetzt sein" (8) müsse, die auch den Nutzungswert
des Bodens ermitteln und festlegen. Dessen Verpachtung soll jeweils an den
Meistbietenden erfolgen.
Dieses
Konzept stimmt im wesentlichen mit dem der INWO überein, die es womöglich von
Otani übernahm. Er ließ allerdings offen, ob seine Vorschläge realisierbar
sind. Was die kommunistischen Länder betrifft, so glaubte er, daß die
Durchführung der neuen Bodenordnung "keine Schwierigkeiten machen"
wird, sobald sie "vom Staatskollektiv befreit" sind. Anders in den
westlichen Ländern. Hier sei jedoch eine Entschädigung für die
"finanzielle Ablösung des Grundeigentums" (sprich Enteignung) für die
Allgemeinheit untragbar. Ein Aufkauf des Bodens, wie ihn Gesell vorgeschlagen
hatte, kommt für Otani nicht in Frage; er wäre wegen der dazu nötigen riesigen
Summen faktisch auch unmöglich.
Das
Grundbuchamt soll bei einer Veränderung der Nutzungsart und des Lagerwertes den
Verkehrswert und die Grundrente neu abrechnen, wozu wiederum viele Fachkräfte
erforderlich wären. Das von Gesell vorgeschlagene Bodenamt hat sich bei Otani
verdoppelt. Gleichwohl nimmt er eine antibürokratische Position in Anspruch.
Wenn Gesell von der Geldreform sagte, daß sie durch eine Bodenreform ergänzt
werden müsse, so geht Otani von der Bodenreform aus, die durch eine Geldreform
ergänzt werden soll, weil sie allein keinen großen Erfolg hinsichtlich des
gesamten Soziallebens haben könne.
Außerdem
strebt er noch eine Rechtsreform an. Sie soll die zwischenmenschlichen
Beziehungen regeln und auf eine neue Basis stellen, um die jetzige
Gleichgültigkeit und Atomisierung zu überwinden. Otani möchte die Richtung, in
der sich die Gesellschaft entwickelt, "im ganzen verändern". (9) Dazu
würde politische Aktivität bei weitem nicht ausreichen, wohl nicht einmal eine
Revolution. Sein Ziel ist dasselbe wie das von Gesell: eine natürliche
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie soll mittels der Sozialwissenschaft
verwirklicht werden. Also wiederum mit einer Neuen Lehre? Otani lehnt alle
Ideologien ab. Genau besehen möchte er nicht die bestehenden Systeme verändern
und revolutionieren, sondern die Grundlagen, auf denen sie beruhen. Wenn sich
Gesell auf das Proletariat stützen wollte, so faßt Otani die Mittelschichten
ins Auge. Sie sollen gleichsam das Grundgerüst gesellschaftlicher und
menschlicher Kooperation werden, wozu sie zunächst in dynamische Bewegung
gebracht werden müßten.
Trotz seiner
ostasiatischen Mentalität wird Yoshito Otani vom kausalen Denken Europas und
der Gewalt seiner expandierenden Mechanik mitgerissen. In seinem Modell
befindet sich ein technokratischer, von beiden anonymen Kräften gebildeter
Strang. Als Gegenpol zu diesem vertritt er die vitalistische Auffassung, der
menschlichen Entwicklung liege eine unüberwindbare Lebenskraft zugrunde, die
der Antrieb zu allen Rebellionen sei. Sie bediene sich sowohl der Materie als
auch des Geistes, mache diese zu ihren Instrumenten und arbeite sich mit ihrer
Hilfe aus beengenden Verhältnissen heraus. Sie reagiert von selbst, wenn das
Leben wie heute in große Gefahr gerät. Beim Menschen ist der Umfang seiner
Lebenskraft an Denken, Bewußtsein und innere Ordnung gebunden. Falls er die
höchste Stufe seiner inneren Ordnung erreicht, kann er sie beobachten und
lenken.
Das sind die
philosophischen und vitalistischen Prämissen, welche Otanis Modell
zugrundeliegen. Es ist aber, wie gesagt, auch dem doppelten Sog des kausalen
Denkens und der industriellen Mechanik Europas ausgesetzt, die an ihm zehren
und es in Richtung Technokratie weitertreiben. Schon Gesells Denkmodell war
diesen es deformierenden Kräften ausgesetzt, aber noch nicht im gleichen Maße.
Seit seinem Tode (1930) ist der Industrialismus mächtig fortgeschritten; er
unterwirft sich einen Bereich des menschlichen Lebens nach dem anderen. Otanis
freiheitsuchende Lebenskraft rebelliert dagegen, sein Pragmatismus strebt
selbst nach einer perfekten Technik.
Großmutter,
warum hast du so große Zinsen? Was Helmut Creutz dazu sagt
Auf dem
"Markt der Möglichkeiten" eines Evangelischen Kirchentages, bei dem
Helmut Creutz einen freiwirtschaftlichen Informationsstand eingerichtet, wurde
für fast 10000 DM NWO-Literatur verkauft. Kein anderer Freiwirt hätte einen
solchen Umsatz erreicht.
Zu einer
Gedenkfeier im Silvio-Gesell-Heim, wo ich diese Information einer ,Feuerrede'
von Hein Beba entnahm, waren auch mehrere Jugendliche gekommen, sämtlich durch
die Bekanntschaft mit Helmut Creutz dazu angeregt. Sie fuhren jedoch recht
enttäuscht wieder ab. Was Creutz aufgebaut, hatten andere Freiwirte durch ihre
ideologische Bevormundung wieder eingerissen. Von seiner nüchternen Art geht
mehr Überzeugungskraft aus. Sie entstrahlt einer selbstbewußten, aber nachdenklichen
Persönlichkeit, die sich für neue Argumente und Tatsachen offen hält. Creutz
spricht nicht die Glaubenskraft der Menschen, sondern ihren Erkenntnisdurst und
ihren gesunden Verstand an. Er gaukelt niemandem ein Paradies auf Erden vor.
Die NWO-Theoretiker der Weimarer Republik hatten emphatisch erklärt, mit der
Geld- und Bodenreform werde für alle Zeit die Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen beendet sein. Creutz sagt nur: "Die zinsbedingte Ausbeutung des
Menschen wird reduziert" (10) Er ist stets um eine sachlich-präzise
Klärung der Vorgänge und Begriffe bemüht, wozu er sich meist der statistischen
Methode bedient.
Bei seinem
öffentlichen Wirken kommen ihm die Erfahrungen in der Wirtschaft sehr
zustatten, die er als selbständiger Architekt sammeln konnte. Neben seinem
Beruf äußerte er sich als Publizist zu Problemen der Bildungspolitik und der
Arbeitswelt ("Haken krümmt man beizeiten" und "Gehen oder
kaputtgehen"). Ende der 70er Jahre bekam Helmut Creutz eine Zuschrift von
einem alten Freiwirt, der von einem seiner Bücher beeindruckt war und ihn
anregte, sich mit der Broschüre "5000 Jahre Kapitalismus" von Hans
Kühn zu beschäftigen. Er las diese Broschüre und besorgte sich weitere
Literatur zur Kritik von Geld, Zins und Wachstum. Binnen kurzer Zeit erschloß
sich ihm eine neue Sicht der Welt, die ihn faszinierte und zu dem Entschluß
führte, seinen Beruf nach einer Übergangszeit aufzugeben und sich mit ganzer
Kraft der Verbreitung der neugewonnen Einsichten zu widmen. Als Praktiker war
Helmut Creutz dagegen gefeit, nunmehr in einen Elfenbeinturm von Theorien und
Modellen zu steigen. Er begann vielmehr, die Realität wirtschaftlicher und
ökologischer Krisenentwicklungen anhand von Zahlen, Daten und Fakten so
darzustellen, daß ihr Sinnzusammenhang von innen aufleuchtete. Für ihn liegen
im Geldwesen und Bodenrecht gravierende Störfelder des sozialen Lebens.
Helmut
Creutz will Problembewußtsein wecken statt ausgearbeitete Lösungsmöglichkeiten
für Probleme aufzudrängen, die in der Öffentlichkeit noch gar nicht als
Probleme erkannt sind. Für Vorträge, zu denen er von Umwelt- und
Dritte-Welt-Gruppen, von kirchlichen Gruppen und Institutionen, auch von
Parteien und Gewerkschaften eingeladen wird, hält er grafische Darstellungen
bereit, die sich als didaktische Mittel zur Veranschaulichung wirtschaftlicher
Zusammenhänge bewähren und sich gleichsam in den Köpfen der Beschauer
festsetzen. Eine Auswahl von solchen Grafiken hat er zu einer Ausstellung
zusammengefaßt, die auf Kirchentagen und Öko-Messen viele Besucher anzieht. Sie
soll das Publikum zu selbständigem Nachdenken anregen.
Was jüngeren
Leuten an Helmut Creutz besonders gefällt, ist seine freilassende Art. Er wirft
ihnen wegen skeptischer Fragen weder die Lehre Gesells an den Kopf, noch will
er selbst ,Gesellianer' genannt werden. So entfaltet er einen Aktionsradius,
wie ihn noch niemand in der NWO-Bewegung jemals gehabt hat. Indem er für eine
ökologische Steuerreform eintritt, geht er auch über ihr Kernanliegen hinaus.
Überhaupt entspringt sein ganzes Engagement einem ökologischen Impuls; in
seiner Heimatstadt Aachen gehörte er zu den Mitgründern der Grünen.
Nachdem ihm
der Zusammenhang zwischen Zins und Wirtschaftswachstum deutlich geworden, geht
es Helmut Creutz darum, den Zinsschleier zu lüften, der das Gesicht der
Bundesrepublik immer dichter verhüllt, auch das der Weltwirtschaft. Sein Ansatz
ist die Unterscheidung zwischen natürlichem, linearen und exponentiellem
Wachstum der Wirtschaft.
a)
Natürliches Wachstum ist abnehmend und entspricht etwa den Prozeßabläufen in
der Natur. Anfänglich rasante Wachstumsschritte gehen zurück, um sich
schließlich auf einer optimalen Höhe zu stabilisieren - wie Lebewesen im
Erwachsenenalter. Kein Baum wächst unbegrenzt in den Himmel.
b) Lineares
Wachstum setzt einen gleichbleibenden Verlauf voraus. Jährlich soll sich das
Bruttosozialprodukt um einige Prozent vergrößern. Dies wird als normal
erachtet, obwohl ein gradliniger Verlauf in irrealen Größenordnungen endet. In
der Bundesrepublik verpflichtet ein Gesetz aus dem Jahr 1967 die Wirtschaft
sogar zur Stabilität durch ständiges Wachstum! (Als könnte man das Wachstum von
Getreide fördern, indem man an den Halmen zieht.)
c) Das
exponentielle Wachstum arbeitet sogar mit Verdoppelungsraten. In jeder Zeiteinheit
soll sich die Ausgangsmenge verdoppeln. Das ist widernatürlich und sprengt mit
zunehmender Beschleunigung auch alle Vorstellungsgrößen. Die Absurdität des
exponentiellen Wachstums zeigt das indische Schachbrettmärchen. Der Brahmane
erbat vom König für das erste Feld des Spielbretts 1 Getreidekorn, für das
zweite 2, für das dritte 4 Körner usw. Der König hielt den Wunsch des Brahmanen
anfangs für bescheiden - doch mußte er bald einsehen, daß er diesen Wunsch nie
würde erfüllen können. So würde die 63-fache Verdoppelung eines einzelnen
Getreidekorns mehr als 9000 Billiarden Körner und mehr als 400 Milliarden
Tonnen Getreide ergeben. "Abläufe mit Verdoppelungsraten gibt es im
Naturbereich allenfalls als krebsartig wuchernde und damit krankhafte Erscheinungen,
die zum Kollaps des Gastorganismus führen, mit dem sie selbst zugrundegehen.
Trotz all dieser Tatbestände gehen wir jedoch im wirtschaftlichen Bereich
ständig mit exponentiellen Wachstumsgrößen um." (11) Bei 2 %igem Wachstum
wächst eine Ausgangsmenge in 72 Jahren um das Vierfache, bei 3 % auf das
Achtfache, bei 4 % auf das 16-fache, bei 5 % auf das 36-fache, bei 9 % auf das
512-fache und bei 12 % auf das 4096-fache! Noch in den 70er Jahren hielt man in
der Bundesrepublik eine jährliche Steigerung des Energieverbrauchs von 6 - 7 %
für nötig, was zum Bau weiterer Atomkraftwerke führte.
Schon die
Anhebung der Zinsen um 0,01 % kann das Endergebnis enorm verändern. Der
Zinseszins bewirkt das Wachstum des Geldvermögen mit Verdoppelungsraten. Die
Zeitdauer der Verdoppelung hängt von der Zinshöhe ab. Wie Helmut Creutz
ausgerechnet hat, floß 1982 etwa ein Viertel des gesamten Sozialprodukts jede
vierte Mark - als Zinseinnahme an die Banken und anderen Kapitalbesitzer ohne
konkrete Gegenleistung.
Durch Plakate
und Annoncen der Banken wird der Eindruck erweckt, daß jeder reich werden
könne, ohne einen Finger krumm zu machen, wenn er sein Geld nur ,arbeiten'
lasse: es vermehre sich von selbst. Aber die leistungslosen Zugewinne stammen
aus der Leistung aller arbeitenden Menschen. Sie werden in dem Maße ärmer, wie
die Kapitalbesitzer reicher werden: diese Schere scheint sich immer weiter zu
öffnen. Die von der Volkswirtschaft zu tragende Zinslast ist seit den 50er
Jahren in der Bundesrepublik kontinuierlich größer geworden. Während die
Leistung von 1950 - 1982 nominell um das 16-fache gestiegen ist, sind das
Sachkapital auf das 25-fache und das Geldkapital (und damit die Verschuldung)
auf das 42-fache geklettert. "Wenn im Jahre 1968 100 DM in die Bundeskasse
flossen, dann kassierten die Banken jeweils 41 DM Zinsen. Im Jahre 1982 kamen
dagegen auf l00 DM Bundeseinnahmen bereits 107 DM Zinsen." (12) Der
öffentliche Haushalt ist fast hoffnungslos verschuldet. Demgegenüber sind die
Zinserträge der Banken hochgeschnellt, diejenigen der Bankanleger sogar auf das
9,5-fache der Größe von 1968. Außer dem Staat verschuldet auch die Wirtschaft.
Viele Unternehmer riskieren keine Investitionen mehr. Ende 1982 war allein die
Schuldenlast des Bundes auf über 300 Milliarden DM gewachsen. Wie der
Bundeskanzler zugeben mußte, reichte die Neuverschuldung durch Kredite kaum
noch aus, um die jährliche Zinslast abzutragen. 1982 waren die Zinsausgaben des
Bundes "höher als die gesamten Ausgaben für Kindergeld, Bafög, Wohngeld
und Mutterschaftsgeld". 1983 mußten die öffentlichen Kassen rund 60
Milliarden Zinsen zahlen, täglich 164 Millionen.
Helmut
Creutz tritt für maßhaltendes Wirtschaften ein, für ein Geld mit der Fähigkeit
zur Selbstbegrenzung des Wachstums. Akkumulation und Konzentration der
Geldvermögen führen, sobald sie überproportional sind, zu einer entsprechenden
Überentwicklung der Schulden und zu Einkommensumschichtungen von der Arbeit zum
Besitz. Die Zinslasten der Arbeitenden schlagen sich bei den Besitzern der
Geldvermögen als Erträge nieder und bewirken ein erneutes Wachstum derselben
mit entsprechender Zunahme des Verschuldungszwanges. "Wir haben es also
hier mit einer sich selbst beschleunigenden Problemspirale zu tun, mit einem
unnatürlichen Regelkreis." (13)
Die Zinspreisbildung
müsse ebenso den Kräften von Angebot und Nachfrage unterworfen werden wie alle
anderen Marktpreisbildungen. Sinkende Zinsen sind zwar wünschenswert, aber mit
ihnen nimmt die Zurückhaltung des Geldes zu und damit die Deflationsgefahr.
Andere Freiwirte sprechen vom ,satanischen Zins', für Helmut Creutz ist er der
'Knappheitspreis des Geldes', als welcher er sich aber wegen der Macht des
Geldes den normalen Marktmechanismen entziehen kann.
Geld müsse
durch eine Änderung seiner Struktur entmachtet werden, um seine exponentielle
Selbstvermehrung bis ins Unendliche und den damit verbundenen Wachstumszwang zu
überwinden. Um Ersparnisse dezentral, also ohne eine allmächtige
Planungsbürokratie in bedarfsgerechte Investitionen zu leiten, soll der Zins um
Null pendeln.
Helmut
Creutz denkt und spricht sehr viel präziser als jene, die von einer Beseitigung
des Zinses reden. Er hält auch kein besonderes Freigeld mehr für erforderlich,
zumal es viele Leute verunsichern würde. Seines Erachtens genügt es, die
jetzige DM unter Angebotszwang zu stellen. Als Praktiker hat Helmut Creutz
dafür auch eine Methode vorgeschlagen. (l4) Auf neuen Geldscheinen soll nicht
nur die Vermehrung der Geldmenge (durch Fälschungen) unter Strafandrohung
gestellt werden, sondern auch ihre Verminderung (durch Zurückhaltung vom
Markt). Das Geld müsse allen spekulativen Mißbräuchen durch eine
Weitergabepflicht entzogen werden.
Dem Einwand,
die Wünsche der Menschen wären unbegrenzt - so daß die Wirtschaft wachsen müsse
-, setzt Creutz entgegen, dies gelte vor allem für die Superreichen, nicht für
jene, die für die Erfüllung ihrer Wünsche selber arbeiten müssen,
"Außerdem wird jeder ab einer bestimmten Grenze feststellen, daß noch mehr
Besitz nicht freier, sondern unfreier macht". (15) Die oft überzogenen
Wunschvorstellungen würden einerseits von millionen- und milliardenschweren
Minderheiten geprägt, andererseits von einer gewissenlosen Werbung, die immer
aggressiver und materialverschlingender wird.
Auch mit den
Entwicklungen auf den Immobilienmärkten hat sich Helmut Creutz eingehend
beschäftigt und errechnet, daß der Wert des gesamten Bodens in der
Bundesrepublik von etwa 146 Mrd (1950) auf mehr als 2400 Mrd DM Ende 1983
gestiegen ist. Das entspricht einer Steigerung um das 16-fache in 33 Jahren.
Der leistungslose Wertzuwachs von rund 2250 Mrd DM konzentriert sich in den
Händen einer Minderheit, weil die meisten der rund 10 Millionen
Grundstücksbesitzer nur kleinere Flächen haben, und entspricht weitaus mehr als
der Wirtschaftsleistung eines Jahres (1983: 1670 Mrd DM). Noch stärker als die
gesamten Bodenwerte sind die Werte der Wohngrundstücke um das 38-fache von 12
Mrd 1950 auf 1010 Mrd DM 1982 gestiegen. Die allergrößten mühelosen
Wertzuwächse konnten jene erzielen, deren Acker- und Weideflächen in Bauland
umgewandelt wurde. Sie sind für Helmut Creutz aber "nur die eine Seite der
Bodenunrechtsmedaille": Da nämlich der Boden als Sachkapital angesehen
wird, beanspruchen die Besitzer wirtschaftlich genutzter Flächen auch eine
Bodenwertverzinsung, die "heute bei mindestens 50 Mrd DM jährlich liegen
dürfte". In seinem Buch "Bauen-Wohnen-Mieten" erläuterte Creutz
die Auswirkungen dieser Ungerechtigkeiten auf das Wohnen als Grundbedingung
menschlicher Existenz, auf den Bau von Eigenheimen und Mietwohnungen,
darüberhinaus auf Städtebau, Raumordnung und Architektur. Anstelle von
Enteignungen oder eines sofortigen Rückkaufs von Bodenflächen - der völlig
unbezahlbar wäre - schlägt er vor, durch den Staat oder die Gemeinden alle mit
dem Bodenbesitz verbundenen leistungslosen Einkommen "in voller Höhe
steuerlich abzuschöpfen. Legt man für den jährlichen Wertzugewinn einen Betrag
von rund 100 Mrd DM zugrunde und für die ,Bodenrente' einen von 50-100 Mrd DM,
dann liegt der mögliche Rückfluß an die Allgemeinheit im Jahr also bei etwa
150-200 Mrd DM". Er könne als Familienlastenausgleich verwendet werden.
Der Boden verliere dabei seine Eigenschaft als Spekulationsmittel.
Infolgedessen sinke auch sein Preis. Creutz deutet die Möglichkeit an, daß die
öffentlichen Hände später Land erwerben und langfristig verpachten könnten.
(16)
Bodenrecht
und Geldordnung spielen auch in der Dritten Welt eine große Rolle. In vielen
Ländern, die durch hohe Kreditaufnahmen im Ausland in die Schuldenfalle geraten
sind, dominiert noch immer der in Kolonialzeiten entstandene Großgrundbesitz.
In einer ausführlichen Studie hat Helmut Creutz die Stichhaltigkeit der
Argumente überprüft, die gemeinhin als Erklärung für die Ursachen der
Schuldenkrise angeführt werden. Er hat darin auch das Für und Wider von
Schuldenerlassen und Zinsverzichten abgewogen und dargelegt, weshalb er eine
allgemeine Senkung des Zinsniveaus für die wirksamste Hilfe zugunsten der armen
Länder hält. (17)
Nach der
Wende in Osteuropa glaubte Creutz zunächst nicht daran, daß eine
Wirtschaftsunion DDR-BRD möglich sei. Dazu müßten erst die gravierenden
Unterschiede abgebaut werden. Auch eine gesamtdeutsche Währung könne wohl nur
am Ende aller Anpassungsbemühungen stehen. "Es wäre aber zu überlegen, ob
man nicht mit einergemeinsamen Währung anfangen sollte", die auf
Angebotszwang gegründet sei.
Im Juni 1990
schlug Helmut Creutz eine Reform des Gesundheitswesens vor. Das jetzige sei
ebenso falsch konstruiert wie das ganze System. Die Beiträge sollten gesplittet
werden. "Eine Hälfte fließt wie bisher in den Gemeinschaftstopf, die
andere Hälfte wird auf einem persönlichen Konto des Versicherten bei der
Krankenkasse gutgeschrieben. Hat dieses Konto einen Stand von beispielsweise
4000 DM erreicht, braucht der Versicherte nur noch die erste Hälfte in den
Gemeinschaftstopf weiter einbezahlen. Das heißt, sein Monatsbeitrag halbiert
sich. Beansprucht der Versicherte irgendeine Leistung, wird der Betrag in
voller Höhe von seinem persönlichen Konto abgebucht Danach setzt die volle
Beitragszahlung solange wieder ein, bis sein Konto erneut ein Guthaben von 4000
DM ausweist. Gehen die Behandlungskosten über diesen Guthabenbestand hinaus,
werden alle weiteren Kosten aus dem Gemeinschaftstopf bezahlt." (18)
Im Sommer
1993 ist in einem größeren Münchener Verlag ein Buch von Helmut Creutz mit dem
Titel "Das Geldsyndrom "erschienen. Es ist gleichsam eine
Zusammenfassung aller seiner Untersuchungen über reale wirtschaftliche
Entwicklungen, wodurch die Theorien der NWO-Bewegung erstmals festen Boden
unter den Füßen bekommen.
Dieter Suhr
und das Neutrale Geld
Marx hatte
die ,Ausbeutung des Menschen durch den Menschen' kritisiert. Suhr sprach von
der ,Entfaltung des Menschen durch die Menschen'. Dieser positive Gesichtspunkt
ermöglichte ihm eine hoffnungsvollere Sicht der Dinge. Er knüpfte wieder bei
Hegel an, der seines Erachtens das soziale Problem klarer als Marx erkannt
hatte, doch hielt er es für ein Vorurteil, daß dieser ein Gegner der
Marktwirtschaft gewesen sei. Er habe sich allerdings immer tiefer in den
Versuch verstrickt, das Geheimnis der Ausbeutung in den
Produktionsverhältnissen zu entdecken, wobei es zu einer verhängnisvollen
Abkehr von den menschlichen Bedürfnissen und zu einem Produktionsfetischismus
kam. Die vielfältige Gleichheit der Menschen wurde von Marx auf die Gleichheit
ihrer Arbeit reduziert, ,obwohl er zu Beginn seines Hauptwerks betont hatte,
die Arbeit zähle nur, soweit sie Bedürfnisse befriedige. Am Ende kam er mit
sich selbst nicht mehr ins Reine.
Diese
Auseinandersetzung mit der Marxschen Lehre hatte etwas Leichtfüßiges. Suhr ließ
sich auf ihre Fragestellung gar nicht erst ein, sondern stellte sie selber in
Frage, was seine geistige Souveränität bewies.
Ebenso
leichtfüßig setzte sich Dieter Suhr mit Rudolf Steiners "Sozialem
Hauptgesetz" auseinander, demzufolge "das Heil einer Gesamtheit von
zusammenarbeitenden Menschen um so größer ist, je weniger der einzelne die
Erträgnisse seiner Leistungen für sich selber beansprucht. . . und seine
eigenen Bedürfnisse aus den Leistungen der anderen befriedigt werden". Das
Soziale Hauptgesetz soll, wie Steiner sagte, durch seine praktische Anwendung
den Egoismus mit Stumpf und Stiel ausrotten. Es beruht auf dem Prinzip des
Altruismus, der sich hauptsächlich in Schenkungen ausdrücken soll. Viele
Anthroposophen bestreiten das Recht auf Eigennutz, andere sind für ein leicht
modifiziertes Leistungsprinzip. Dieter Suhr wollte diesen Streit zwischen
Ethikern und Ökonomen weder schlichten noch entscheiden, formulierte aber
Einwände gegen den ,Schenkungsaltruismus'. Die Elementarstruktur der
zwischenmenschlichen Begegnung und damit auch der sozialen Vergemeinschaftung
sei Gegenseitigkeit. Im Sozialen Hauptgesetz wird indes die Leistung für andere
betont. Das ist der Gegenspruch zum Zeitalter des Individualismus.
Bei Marx die
Abkehr, bei Steiner die Wiederhinwendung zu den menschlichen Bedürfnissen - sie
entspricht der klassischen Tradition abendländischer Sozial- und
Wirtschaftsphilosophie. Neu am Sozialen Hauptgesetz ist jedoch, "daß die
Menschen subjektiv und emotional ihr Eigeninteresse vollkommen ablegen ‚sollen'
um dann subjektiv-moralisch oder sogar religiös einen vollkommenen Altruismus
zu verwirklichen, bei dem man einander alles nur noch schenkt". (19)
Dies hielt
Dieter Suhr für fragwürdig. Mit Schenkungen könne ein volkswirtschaftlicher
Wohlfahrtsverlust einhergehen, auch eine moralische Demütigung der Beschenkten.
Soweit sie als Almosen erforderlich werden, sind sie Symptome der Ungerechtigkeit,
auch eine Ersatzlösung, die im Interesse der Reichen läge. Besser wäre
Gegenseitigkeit, da sie beiden Seiten nutzt. Suhr erstrebte eine innige
Verbindung zwischen dem gesunden Eigeninteresse selbständiger Persönlichkeiten
und der kommunikativ verbindenden Mitmenschlichkeit. Auch das Prinzip der
Gerechtigkeit lege sie nahe.
"Angesichts
der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit, die auch Steiner hervorhebt, kann es
nur darum gehen, das Eigeninteresse, das i n
j e d e m Fall im Spiel ist, ethisch zu läutern und zu überhöhen, ohne
es zu leugnen und zu verdrängen." (20)
Vielleicht
wäre das auch im Sinne des Sozialen Hauptgesetzes. Steiners objektiver
Altruismus, der in den Strukturen neuartiger Einrichtungen verankert werden
soll, sei als Gegenpol zu krankhaften Überspitzungen des ökonomischen
Eigeninteresses verständlich, das aber gewiß nicht mit Stumpf und Stiel
ausgerottet werden könne. Ein Schlüssel zu den von ihm geforderten
Einrichtungen liege im Geld.
Dieter Suhr
bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als einen "sympathisierenden
Außenseiter" der Anthroposophie. So hätte er, danach gefragt, wohl auch
sein Verhältnis zur Freiwirtschaft umrissen, die er "zugleich mit
Wohlwollen und kritischer Distanz" fast zehn Jahre lang begleitete (wie es
in einem Nachruf von Klaus Wulsten und Werner Onken hieß). Sein Tod wurde als
unersetzlicher Verlust empfunden, ja als weiterer Schicksalsschlag der
Freiwirtschaft.
Das
Grundprinzip seines Denkens war die Gegenseitigkeit, auch im
verfasssungsrechtlichen Sinne. Das individuelle Grundrecht auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit lasse sich nicht in Abgrenzung von den Mitmenschen
realisieren, es bedürfe vielmehr des Einklangs mit ihnen. Anscheinend faßte
Prof. Suhr auch die Gerechtigkeit - Inbegriff der sozialen Frage - vor allem
als ein rechtliches Problem auf. Er arbeitete eng mit dem Seminar für
freiheitliche Ordnung zusammen, das ihn posthum als einen genialen Denker
würdigte. Demnach ist die NWO-Bewegung von einem Genie befruchtet worden. Im
Sinne des Anthroposophen Josef Beuys war er ein sozialer Plastiker. Dieter Suhr
arbeitete aber darüber hinaus am überlieferten Bilde des Menschen. Sowohl das
idealistische als auch das materialistische Menschenbild dünkte ihm einseitig.
Tatsächlich scheint er beide durch seine Verfassungstheorie erschüttert zu
haben.
Wie Laurens
van der Post als weißer Afrikaner geboren, war er in seiner Jugend zwischen
Südwestafrika und Deutschland hin- und hergependelt. Er hatte zunächst Physik
und sodann die Rechtswissenschaften studiert. Aber schon als Assistent an der
Bochumer Universität befaßte er sich auch mit sozialen Fragen. Der spätere
Professor für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik war
zeitweilig Mitglied des Bayrischen Verfassungsgerichtshofes. Nach seinen beiden
grundlegenden Werken "Bewußtseinsverfassung und
Gesellschaftsverfassung" und "Entfaltung des Menschen durch die
Menschen" schöpfte er aus einem Fundus eine ganze Reihe von Schriften zum
Thema Geld, die man auch als Suhrsche Serie zum Thema Freiwirtschaft bezeichnen
könnte. Darunter befinden sich je eine Studie über die marxistische Politische
Ökonomie und Rudolf Steiners Begriff des alternden Geldes.
Der
Kapitalismus erschien Dieter Suhr als ein monetäres Syndrom mit einer vom
Zinsbazillus befallenen Währung. Zug um Zug folgte er jenen Gedanken, die sich
Marx über das Geld gemacht hatte, wobei er einen tiefen Widerspruch entdeckte.
Einerseits soll Geld nur das Äquivalent der Waren sein, andererseits besitze es
die größte Tauschkraft und Schlagfertigkeit - anscheinend maß ihm Marx eine
größere Bedeutung zu als seine Epigonen und erkannte halbwegs schon seine
Überlegenheit über die Waren.
Das Geld war
für Suhr ein Produktionsmittel, eine Verwirklichungs-Bedingung der Arbeit, auch
der arbeitsteiligen Wirtschaft. Seine Überlegenheit bewirke jedoch eine
asymmetrische Struktur von Kauf und Verkauf. Die Macht des Geldgebers besteht
darin, es zurückhalten zu können, wenn es von anderen am dringendsten gebraucht
wird. Von ihm Abhängige sind genötigt, dafür Zinsen zahlen zu müssen. So
entsteht Mehrwert heckendes Geld. Dessen Machtstellung ist die Wurzel der
Trennung von Arbeit und Eigentum.
In einem
anderen Buch hat sich Dieter Suhr mit einem "Geld ohne Mehrwert"
befaßt. Es würde die Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten
entlasten. Nur durch ein solches Neutrales Geld könne sie vom Kapitalismus
befreit werden. Es entspräche der sozialen, ökonomischen und ökologischen
Vernunft. Suhr hielt es für verwandt mit dem "alternden Geld", das
Steiner erwogen.
Seines
Erachtens ist eine Wirtschaft, in der Zins erpreßt werden kann, auf
Arbeitslosigkeit programmiert. Als es in Deutschland nach 1945 schlecht ging,
erblühte die Wirtschaft; je besser es uns ging, desto mehr verblühte sie. Der
nunmehrigen Massenarbeitslosigkeit stehen anschwellende Ströme von
Zinszahlungen gegenüber. Soziale Gerechtigkeit kann sich der Staat nicht
leisten, jedoch immer größere Verschuldung.
Wie ist der
ungestillte private und öffentliche Bedarf mit dem Leistungsangebot der
Arbeitslosen zusammen zu bringen? "Die Wirtschaft stagniert, weil der
Bedarf nicht zum Angebot und das Angebot nicht zum Bedarf kommt. Der Austausch
stockt. . . " In unserer Wirtschaft gibt es Geld, dem der Bedarf fehlt,
und Bedarf, dem das Geld fehlt. Das erstere führt nicht zur Nachfrage nach
Waren, sondern nach Zinsen und Renditen. Die Zinsen belasten die Unternehmer
und die Letztverbraucher, sie entziehen ihnen wiederum Geld, obwohl sie ohnehin
davon zu wenig haben. Können die Zinsen nicht mehr aufgebracht werden oder ist
der Zinssatz zu hoch, bleibt der betreffende Bedarf endgültig unbefriedigt und
die gesamte Wirtschaft stockt. So gründet die Massenarbeitslosigkeit letzten
Endes in Einkommen ohne Leistung. Die Geldströme fließen in die falschen Kassen,
wo sie eigentlich gar nicht gebraucht werden. Es findet eine ständige
Subventionierung der Kapitalrentner durch die Produzenten und Endverbraucher
statt: "Subventionierung der Bedarfslosen durch die Bedürftigen".
(21)
So deckte
Suhr einen Widerspruch auf, den Marx und Steiner übersehen hatten. Er ist mit
einem krankhaften Wachstum der Wirtschaft verknüpft. Gemeinsamer Nenner ihrer
Siechtums-Symptome sei zunächst der Zins. Dieser erzeugt nicht nur das
leistungslose Einkommen, sondern stellt auch den entscheidenden Kostenfaktor
dar. Er richtet eine Kostenschranke auf, "die zu überwinden die
Selbstheilungskräfte des Marktes auf lange Sicht nicht ausreichen".
Suhr brachte
ein plastisches Beispiel. Die Zinsströme wachsen so überproportional an,
"als ob bei einem Kind ein Fehler im Blutkreislauf dazu führe, daß immer
mehr des umströmenden Blutes nicht durch die Lunge, sondern an ihr
vorbeiflösse. So wenig wie dieses Blut mit Sauerstoff aufgeladen würde, so
wenig wird das Geld in den Zinsströmen mit Bedarf aufgeladen". Ihm gesellt
sich nur die verhängnisvolle Sucht nach dem Mehrwert zu. Dieser sei letztlich
der gemeinsame Knotenpunkt aller Siechtumsymptome.
"Um dem
Mehrwert beizukommen, muß man den Zins beeinflussen und senken." Dazu
müßte man dem Geld Durchhaltekosten anheften. Das hatte auch Keynes erwogen,
aber diese Idee nicht weiterverfolgt. Suhr griff sie wieder auf und dachte
Keynes auf seine Art zu Ende. Er schlug vor, die Durchhaltekosten so zu
dosieren, daß sie den Liquiditätsvorteil des Geldes, auf dem seine
Überlegenheit beruht, in etwa aufzehren. Dann bleibt ein Geld ohne Mehrwert
übrig.
Diesen
abzuschöpfen, darin sah Prof. Suhr das geeignetste Mittel, um die
Unersättlichkeit des angelegten Geldes zu bezwingen und das kranke
Wirtschaftssystem zu heilen. Das sei eine keynesianische Alternative zum
Keynesianismus. Die Durchhaltekosten würden an einem Kassenbestand nur in dem
Maße zehren, wie er wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Es brächte nach
wie vor einen Gewinn, sein Geld zu verleihen.
Man bekommt
vom Markt eine Prämie dafür, daß man auf die Liquidität (Zurückhaltbarkeit)
seines Geldes verzichtet. Die Neigung zu Risiko-Anlagen würde eher gefördert
als gehemmt. Wer mit solchem Kapital Gewinne kassiere, habe sie auch verdient.
Keynes hatte
die Idee des gestempelten Geldes zwar für gesund, aber kaum praktikabel
gehalten. Suhr sah eine bequemere und elegantere Möglichkeit. Wenn die
Bundesbank nach einer entsprechenden Änderung des Währungsgesetzes einen Teil
des anfallenden Geldes in Form von Giralgeld statt in Banknoten ausgeben würde,
böte es keinerlei technische Schwierigkeiten, dieses Giralgeld mit
Durchhaltekosten zu belasten. Es gäbe ja schon Buchungsgebühren. So wäre das
Giralgeld ,schlechter' als die Banknoten, müßte aber gleichwohl als
gesetzliches Zahlungsmittel überall und von jedermann angenommen werden, ebenso
wie früher die Geschäftsleute sich mit schlechteren Münzen abfanden, wenn ihre
Kunden die besseren behalten wollten. Geld ohne Mehrwert hätte keinen
gespaltenen Wert. Das Geld ohne Bedarf käme zum Bedarf ohne Geld, sogar zum
Nulltarif. Aber es wird nicht geschenkt. An die Stelle des Zinses treten beim
Entleiher Durchhaltekosten. Das Mehrwertsyndrom - die Hortung des Geldes -
entfällt wie von selbst. Das war die Therapie von Dieter Suhr.
Er hat auch
Gesell weitergedacht. Der Eigennutz wurde von ihm in eine Polarität
eingespannt. Jeweils beide Partner sollen einen Vorteil haben. Die
Gegenseitigkeit muß nicht nur eine solche der Leistung, sondern auch des
Zugewinns sein.
Dieter Suhr
war ein Ordo-Liberaler, der Gesell näherstand als Eucken und Rüstow, in seiner
Diagnose und Therapie aber mehr von Keynes ausging. Er gehörte zur NWO-Bewegung
im weitesten Sinne dieses Begriffes. Für Margrit Kennedy hat er wesentlich dazu
beigetragen, die Freiwirtschaft auf den neuesten Stand zu bringen. Für andere
Freiwirte besteht sein Verdienst vor allem darin, Verständnisbrücken zur
Fachwissenschaft geschlagen zu haben.
Wohl
unvermeidlich bediente er sich mehr einer wissenschaftlichen als einer
populären Sprache. So auch bei seiner definitiven Erklärung des Neutralen
Geldes:
"Um
Kassehalter zu motivieren, ihr Geld auch ohne Zins weiterzugeben, und um
zugleich wieder Symmetrie in die Marktverhältnisse zu bringen, so daß Chancengleichheit
in der ökonomischen Kommunikation zwischen Geld und anderen Gütern
wiederhergestellt wird, muß die kommunikative Überlegenheit des Geldes auf
geschickte ökonomische Weise irgendwie kompensiert werden. Die Sache ist
einfach: man muß mit der Geldhaltung nur gerade so viel Kosten verbinden, wie
mit ihr ökonomischer Nutzen einhergeht." (22)
Ganz einfach
war das nicht zu verstehen. Man könnte geradezu von einer wissenschaftlichen
Verklausulierung des Neutralen Geldes sprechen. Aber auch Gesells NWO war schon
schwierig genug.
Professor
Suhr nahm an zwei transnationalen freiwirtschaftlichen Kongressen teil und
hielt dabei jeweils einen Vortrag: in St. Vith wie in Wörgl. Die neue
Wirtschaftskrise war für ihn ein monetäres Recycling-Problem. Dieses Problem
könne am besten gelöst werden, wenn man den Liquiditätsvorteil des Geldes durch
eine Ausgleichsabgabe beseitigt, ihm jedoch "seine Liquiditätseigenschaft
beläßt". (23) Das Rezept von Wörgl sei für die Deflationskrise von heute
nicht aktuell. Suhr ermutigte jedoch zu neuen Selbsthilfe-Versuchen, aus denen
vielleicht die eine oder andere praktikable Lösung herausgefiltert werden
könne.
Margrit
Kennedy - Sanfte Evolution und Permakultur
Margrit
Kennedy hat Architektur studiert und als Diplom-Ingenieurin abgeschlossen. Als
Architektin, Stadtplanerin und Ökologin war sie außer in der Bundesrepublik
auch in Schottland, in den USA und Nigeria tätig. Die Unesco übertrug ihr
Forschungsprojekte.
Alle
ökologischen Probleme sind ihres Erachtens technisch lösbar, falls das dafür
nötige Geld aufgetrieben werden kann. Aber was für ein Geld? Müßte es nicht
anders beschaffen sein als das heutige?
Auf die
Frage, welche Funktion das Geld eigentlich hat, stieß Margrit Kennedy erst mit
40 Jahren. Spielt es nicht eine zerstörerische Rolle, statt der Wirtschaft und
dem Menschen zu dienen? Sie konnte nicht begreifen, weshalb die Ökonomen die
Wahrheit über das verheerende Geldsystem verschweigen. Wie Hans Cohrssen glaubt
Margrit Kennedy, daß die technischen Schwierigkeiten einer Geldreform kleiner
sind als das Problem, ein allgemeines Verständnis dafür zu wecken. Vielleicht
ließ sich das am besten durch ein aufrüttelndes Buch erreichen?
Margrit
Kennedy schrieb dieses Buch: "Geld ohne Zinsen und Inflation ". Es
hat ungewöhnlich viel Beachtung gefunden und ist zum freiwirtschaftlichen
Bestseller geworden. Mehrere Auflagen folgten kurz aufeinander, desgleichen
Übersetzungen ins Schwedische, Dänische, Finnische und Norwegische. In ganz
Skandinavien, wo die freiwirtschaftlichen Ideen bisher noch nie Fuß fassen
konnten, sind sie von Margrit Kennedy wie Saatkörner ausgestreut worden. 1990
erschien bereits die 4. überarbeitete Auflage. Die englische Originalausgabe
von 1987 ist mit der deutschen Version nicht identisch. Das Buch spricht, wovon
ich mich selbst überzeugen konnte, auch volkswirtschaftliche Laien an. Einem
trockenen Stoff wurde Leben beigemischt.
Die Autorin,
der das gelang, ist keine ,Freiwirtin' im traditionellen Sinne, sondern eine
originelle Persönlichkeit mit eigenen Ansichten, obwohl sie Silvio Gesell als
"genialen Außenseiter" (24) schätzt, auch von Yoshito Otani viel
gelernt hat (womöglich noch mehr), desgleichen von Dieter Suhr und Helmut
Creutz. Ihre sozialpolitischen Ideen basieren auf der weiterentwickelten
Freiwirtschaftslehre, gehen aber auch ihren eigenen Weg.
Margrit
Kennedy distanzierte sich in ihrem Buch vorsichtig "von den allzu
begeisterten und naiven Geldreform-Anhängern in der Vergangenheit", die
geglaubt hätten, alle Probleme würden schlagartig und automatisch durch die
Einführung von Freigeld gelöst. Ohne spezielle Programme und besonderes
Engagement für soziale und ökologische Probleme könne nur eine Erleichterung
herauskommen. Die anstehenden Reformen sind keine Solotänzer, sondern wichtige
Aspekte einer schon stattfindenden und tiefgreifenden globalen Transformation.
Möglicherweise kommen die Freiwirte dabei sogar ins Hintertreffen. Was an
Selbsthilfe-Aktionen in Skandinavien, den USA oder Kanada bereits läuft,
scheint von anderen Leuten in Gang gebracht worden zu sein. Margrit Kennedy
hält diese Experimente freilich für unzureichend. Sie sollten möglichst unter
verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgelöst werden, auch
miteinander abgestimmt sein, um für das ganze Land aussagekräftige und
zuverlässige Ergebnisse erbringen zu können. Strukturschwache Gebiete kämen am
ehesten in Frage und wären für einen Wandel wohl auch am offensten, da in ihnen
nur zu gewinnen und nichts zu verlieren sei. Dabei wird man an Karl Walkers
Mahnung aus dem Jahre 1946 erinnert, daß die Freiwirte selbst Hand anlegen
müssen, wenn sie zum geistigen Zentrum einer großen Reformbewegung werden
wollen, die an Schlagworten kaum interessiert sein dürfte.
Margrit
Kennedy hält außer der Geld- und Bodenreform auch eine Steuerreform für nötig.
Sie soll in zwei Richtungen vorangetrieben werden:
1. statt der
Einkommen künftig die Produkte zu besteuern;
2. in die
Produktsteuer auch die ökologischen Kosten der jeweiligen Produktion
einzurechnen, um die Umweltschäden auszugleichen. Die Menschen würden sich dann
den Kauf eines neuen Autos oder eines neuen Fahrrads zweimal über legen, da
ihre Reparatur billiger wäre.
Die neue
Wirtschaftsordnung soll eine ökologische Marktwirtschaft sein. Den Produktpreisen
würde ein steuerfreies Einkommen gegenüberstehen, woraus sich wahrscheinlich
ein umweltschonenderes Konsumverhalten ergäbe.
Margrit
Kennedy setzt hierbei auch auf das spirituelle Wissen und die spirituellen
Techniken, welche sich in vielen Teilen der Welt ausbreiten. Sie weisen in der
Tat auf tiefgreifende Bewußtseinsänderungen bei Millionen Menschen hin.
"Ihre
Arbeit für inneren Wandel legt die Basis für äußeren Wandel, in dem die
friedliche Transformation des Geldsystems ein wichtiger Aspekt ist." (26)
Den
Freiwirten falle hierbei eine große Verantwortung zu, weil sie die
Möglichkeiten einer Geldreform besser kennen als viele andere.
Die Autorin
erwartet jedoch mehr von den Frauen, welche ökonomisch gesehen noch immer
"50 % weniger wert sind". Der größere Teil des weiblichen Geschlechts
fühle intuitiv, daß mit dem heutigen Geldsystem etwas nicht stimmt. Ihr langer
Kampf um Gleichberechtigung und wirtschaftliche Unabhängigkeit habe die Frauen
sensibler gemacht als die Männer. Es sei daher zu erwarten, daß sich viele von
ihnen maßgeblich für ein gerechteres Tauschmittel einsetzen werden. Margrit
Kennedy rechnet sogar alle lebendigen Systeme zur ,Frauenwelt'. Demgegenüber
automatisiere die ,Männerwelt', indem sie "alles, was nach eigenen Gesetzen
wächst und lebt, auszuschalten sucht". (27) Diese verschiedene Haltung zum
Leben sei wichtig, wenn jene Kräfte erkannt werden sollen, die eine Veränderung
des Geldsystems unterstützen könnten. Am meisten würden es die Frauen begrüßen,
daß nun ein sanfter evolutionärer Weg möglich ist. Denn Revolutionen brächten
immer menschliches Leid. Margrit Kennedy fordert für die Frauen einen zweiten
Lastenausgleich, aber nicht aus Steuermitteln, sondern aus der Grundrente. Die
Mütter und Frauen jeder Gemeinde sollten den Boden "selbst nach sozialen,
städtebaulichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten verwalten". (28)
Margrit
Kennedy bezog auch den Standpunkt der Dritten Welt. Kapitalismus und
Kommunismus sind zwei "Unrechtssysteme, welche die Kolonialmächte eingeführt
haben und welche sie heute schlimmer ausbeuten als die ehemaligen
Kolonialherrn". (29) Eigentlich müßte die Veränderung des Geldsystems
zuerst in der Dritten Welt erfolgen, die am meisten unter ihm leide.
Ist die
soziale Frage vor allem eine Rechtsfrage, die nur durch neue Gesetze und eine
starke Parlamentsfraktion gelöst werden kann? So sieht es nach diesem Buch aus.
Margrit Kennedy scheint jedoch Basisarbeit vorzuziehen. Ein jeder soll zunächst
im Familienkreis über die drei Reformen sprechen, dann im Bekanntenkreis,
schließlich mit einflußreichen Leuten - von Mund zu Mund, statt von Flugblatt
zu Flugblatt.
Wirtschaftliches
Wachstum gehe mit sozialer und ökologischer Verelendung einher, wobei das Geld
eine zentrale Rolle spiele. Die Leiter der Zentralbanken nutzen den Zins als
Steuerungs-Instrument. "Das ist, als wolle man den Teufel mit dem
Beelzebub austreiben." (30) Der Zins soll durch eine Umlaufgebühr ersetzt
werden. Margrit Kennedy beruft sich auf Dieter Suhr, aber auch auf John L. King
(demzufolge der Zins eine "unsichtbare Zerstörungsmaschine" ist). Was
punktuell schon in Schwanenkirchen und Wörgl (1932) erprobt worden sei, müsse
nun auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene fortgeführt werden.
Der Zins sei eine Zollbarriere. Obwohl das gegenwärtige Geldsystem
verfassungswidrig ist, läßt es sich vermutlich nicht auf einmal abschaffen. Bei
der Erprobung in einer Region könnten das alte und das neue Geldsystem in
Koexistenz nebeneinander bestehen, bis sich der größere Nutzen des letzteren
erwiesen hat. Das Neutrale Geld sei zwar stabiler, aber wegen der
Benutzungsgebühr auch ,schlechter', weshalb es so schnell wie möglich
ausgegeben werden will. "Genau das ist die Absicht". Mit dem alten
Geld soll weiterhin all das bezahlt werden, was außerhalb der Versuchsregion
eingekauft wird. Für die Übergangszeit wäre ein fester Wechselkurs von 1:1
angebracht. Die Versuchsregion, wo immer sie entstehen mag, vergleicht Margrit
Kennedy mit einer Freihandelszone.
500
Milliarden Dollar vagabundieren rings um die Welt. Durch das Neutrale Geld
könnten soziale und ökologische Projekte umsetzbar werden, die sich heutzutage
nicht ,rentieren'. Die Versuchsregion wird womöglich zur Super-Schweiz, zu
einem großen Geldmagneten, weil die erzielten Gewinne durch keine Inflation
mehr gefährdet wären. Jetzt müsse die Inflation um so mehr angeheizt werden, je
größer die Lücke zwischen den nationalen Einnahmen und staatlicher Verschuldung
ist. In der Bundesrepublik sei bei 300 %iger Steigerung der Einnahmen die
Zunahme der öffentlichen Verschuldung um 1160 % zu verzeichnen (worauf schon
Helmut Creutz hingewiesen hatte). Die ständige Umverteilung des Geldes
zugunsten der Superreichen ist für Margrit Kennedy eine weit subtilere und
effektivere Form der Ausbeutung als jene, die Marx zu beheben versuchte. Der
Mehrwert entsteht in der Produktionssphäre, seine Verteilung geschieht
überwiegend in der Zirkulation, ja in immer größerem Umfang in der Geldsphäre.
Das Geld müsse daher zu einer staatlichen Dienstleistung werden, für die eine
Nutzungsgebühr gezahlt wird. Es soll dem Wohl der Gemeinschaft statt der
Bereicherung Einzelner dienen. Bei dem jetzt schon weithin üblichen giralen
Zahlungsverkehr wäre die Nutzungsgebühr sehr einfach zu erheben. Man bräuchte
die Geldguthaben auf dem Girokonto nur mit monatlich 1/2 % zu belasten, also
mit 6 % im Jahr:
"Jeder,
der auf seinem Girokonto mehr Neutrales Geld hätte, als er für Ausgaben im
laufenden Monat benötigt, würde - um Verluste zu vermeiden, den Überschuß auf
sein Sparkonto überweisen, wo es keiner Gebühr unterliegt." (31)
Dort brächte
es zwar keine Zinsen mehr, behielte aber seinen Wert. Dessen Stabilität hinge
allerdings von einer vernünftigen Geldpolitik der Notenbank ab, sie setze auch
eine genaue Anpassung an die für alle Transaktionen notwendige Geldmenge
voraus.
Margrit
Kennedy kam auf den Vorschlag des Altgesellianers Wilhelm Merks zurück,
Seriengeld in verschiedenen Farben herauszugeben, das in gewissen Zeitabständen
ohne Vorankündigung eingezogen werden könne. Die Geldreform werde ihren Zweck -
das Horten zu verhindern - aber nur erreichen, wenn sie von einer Land- und
Steuerreform begleitet wird.
Bezüglich
der Landreform müßten individuelles Eigeninteresse und soziale Verantwortung
gekoppelt werden. Das Land sei nicht vom Staat, sondern besser von den
Gemeinden zu erwerben, wozu sie zusätzliche Mittel bräuchten, etwa 3 % der
Grundrente gemäß dem Bodenwert. Die jetzigen Eigentümer könnten den Boden in
Erbpacht behalten, wenn sie ihn an ihre Gemeinde verkaufen - diese Möglichkeit
sollte eingeräumt werden. Margrit Kennedy rechnet jedoch mit starkem Widerstand
der Landbesitzer, weshalb es wohl realistischer wäre, den Bodenzugewinn über
eine entsprechende Steuer für die Allgemeinheit abzuschöpfen. Zinsfreie Kredite
würden nicht nur den Boden erschwinglich und seine Vergiftung teuer machen, es
wäre endlich auch möglich, die Umstellung der hochindustrialisierten
Intensiv-Landwirtschaft auf eine biologische Anbauweise ,flächendeckend'
durchzuführen. Daraus könne sich wiederum ein ganzheitlicher Lebensstil
entwickeln.
Werden jene,
die vom heutigen Geldsystem profitieren, eine Änderung zulassen? Margrit
Kennedy glaubt daran, falls ihnen bewußt gemacht wird, daß der Ast, auf dem sie
sitzen, zu einem kranken Baum gehört, also bald abbrechen kann. Früher hätten
die Profiteure dazu gezwungen werden müssen, nun befinden wir uns bereits in
einem Neuen Zeitalter, das eine sanftere Verhaltensweise ermöglicht.
Zum Neuen
Zeitalter gehört auch die Permakultur, welche den Menschen wieder in Einklang
mit der Natur bringen will. Der von Bill Mollison und David Holmgrenn geprägte
Begriff ist auf eine dauerhafte Landwirtschaft bezogen, die sich am Leitbild
des Urwalds orientiert, also das Umgraben und Jäten von ,Unkraut' vermeidet.
Agrikultur war womöglich die erste Kultur überhaupt, auf die sich im 18.
Jahrhundert die Anschauung der französischen Urphysiokraten vom Boden als der
Quelle des menschlichen Wohlstands gründete. Nun wird darunter eher "ein
sich selbstentwickelndes Ökosystem mit mehrjährigen oder sich selbst aussäenden
Pflanzen" (32) verstanden. Permakultur ist ein Konzept, das auch soziale,
ethische und ökonomische Komponenten umfaßt. Ihr Sinn besteht darin, sich
selbst erhaltende Systeme zu schaffen, "die dem Menschen außer Nahrung,
Energie und Wärme auch einen neuen, sinnlichen Bezug zu elementaren
Lebensgrundlagen schenken". (33) Der Garten- oder Landbesitzer soll nicht
nach kurzfristiger und unvermeidlich ausbeuterischer Ertragsmaximierung
streben, sich als Hüter von Kreisläufen und Zyklen verstehen, als Heger und
Pfleger der Erde, die ihm anvertraut ist.
Margrit
Kennedy hat mit ihrem Mann und anderen Mitarbeitern in Steyerberg, wo sie lebt,
selbst eine örtliche Perma-Kultur wachsen lassen, eine Art Eigenwirtschaft der
Natur, die nur wenig menschlicher Arbeit bedarf. Ein japanischer Bauer säte als
erster sein Gemüse in Unkraut, und es gedieh! Aus steinhartem Gelände wurde
nach 20 Jahren eine Obstplantage. Was in Japan möglich war, konnte vielleicht
auch in der Bundesrepublik verwirklicht werden. So entstand der inzwischen
schon berühmte Lebensgarten Steyerberg aus dem Margrit und Declan Kennedy
täglich 40 % ihrer Nahrung bei einem durchschnittlichen Arbeitsaufwand von 5
Minuten pro Tag beziehen. Gleichzeitig wurde eine Munitionsfabrik des Dritten
Reiches in Räumlichkeiten für eine öko-spirituelle Gemeinschaft umgebaut. Darin
finden auch Seminare statt, die sowohl Naturerfahrung als auch ein
zukunftsweisendes Denkmodell vermitteln.
Kennzeichnend
für Margrit Kennedy ist die Verbindung von Ökologie, Feminismus, Spiritualität
und Freiwirtschaft mit einer ganzheitlichen Lebensweise. Ausgehend vom
Lebensgarten Steyerberg werden inzwischen auch andere Permakultur-Zentren
aufgebaut. Da "kein Kontinent so von Hunger bedroht ist wie
Westeuropa" (Gerd Schuster), sind sie für uns besonders wichtig.
Werner Onken
- Freiwirtschaft als potentielle Heilsbewegung
Zur Neuen
Denkschule gehört auch jener Freiwirt, dem die transnationale NWO-Bewegung die
Herausgabe der Gesammelten Werke Silvio Gesells verdankt, eine Initiative, die
sich nur mit großer Beharrlichkeit und gegen Widerstände durchsetzen konnte.
Werner Onken
wuchs auf einem Dorf nahe der ostfriesischen Küste auf, wo er durch seine
Schüchternheit und frühe Empfindsamkeit von den grobschlächtigeren Jungen
geschieden war, zuweilen auch von ihnen gehänselt wurde. Später, als junger
Mann, verweigerte er den Kriegsdienst. Während seiner Zivildienstzeit fing er
"freiwirtschaftliches Feuer" (34), interessierte sich aber auch für
den Marxismus. Im freiwirtschaftlichen Feuer begann Werner Onken das Studium
der Ökonomie, um sowohl ihre herrschende Lehre als auch den Marxismus näher
kennenzulernen. Er schrieb eine hervorragende Diplomarbeit über Marktwirtschaft
ohne Kapitalismus, die von einem linken Gewerkschaftler angenommen wurde. Ein
Neoklassiker vereitelte jedoch die Promotion.
Ungeachtet
dessen versuchte Onken zunächst, Gesell und Marx zu versöhnen, indem er ihre
Gemeinsamkeiten zu einer Art Synthese verflocht. Das geschah in zwei Heften,
die vom Arbeitskreis Dritter Weg herausgegeben wurden. Sie waren bemerkenswert
undogmatisch. Marx und Gesell wurden als bedeutende geschichtliche "Räder
zur Weiterentwicklung sozialistischer Theorien" aufgefaßt, als Verfasser
von Endaussagen, zu denen man entweder ja oder nein sagen müsse. Was den Wert
oder das ,Wertgespenst' von Waren betrifft, stützte sich Onken nicht auf Gesell
sondern auf Walker, zu dessen Überlegungen er entsprechende Gedanken bei Marx
gefunden, der noch immer anregend und unausgeschöpft sei.
Doch die in
Rußland zur Macht gekommenen Marxisten wollten das Geld abschaffen, was die
Wirtschaft verbluten und Millionen Menschen verhungern ließ, "weil kein
Geld den gesellschaftlichen Stoffwechsel vermittelte". (35) Die Anregung
zu dieser Abhandlung, welche insgesamt 85 Seiten umfaßte, erhielt Werner Onken
1974 durch einen Vortrag von Georg Otto. Das war sein Debüt, an das er sich
nicht mehr gern erinnert, obwohl es zu seinem Weg gehörte. Er mußte zunächst
durch Marx hindurch, um zu dem zu werden, was er ist.
Seine
Diplomarbeit hatte eine liberal-sozialistische Haupttendenz, wobei er die
Grundzüge eines sozialgerechten und umweltkonformen dritten Weges in der
Wirtschaft herausarbeitete. Dieser setzt s. E. die Entmachtung der Urmonopole
von Boden und Geldkapital voraus. Das wurde zum erstenmal auch philosophisch
begründet. Unter Berufung auf John Stuart Mill und Herbert Spencer heißt es,
der Boden sei das gemeinschaftliche Erbe der Menschen; er dürfe daher kein Privateigentum
sein. Die Neoliberalen hätten sich als erste dem blinden Glauben an den
zügellosen technischen Fortschritt widersetzt. In einer nachkapitalistischen
Marktwirtschaft werde von der "überflüssigen zur natürlichen
Erwerbskunst" (Aristoteles) übergegangen, von der harten Großtechnik zur
sanften mittleren Technik; in dezentralisierten Assoziationsbetrieben sei auch
die Überwindung der Lohnabhängigkeit denkbar.
Onken
versprach sich viel von einem Ökologischen Humanismus, der die anmaßende
technokratische Ansicht zurückweist, "daß der Mensch die Schätze der Natur
ausplündern dürfe, um sein materielles Vergnügen zu maximieren und sein Leben
ohne Rücksicht auf kommende Generationen zu genießen". (36) Wenn seine
Wiedereinbindung in die kosmische Ordnung ihn nicht von neuem in die
Unmündigkeit zurückwerfen soll, muß eine neugewonnene Ehrfurcht vor der
Naturharmonie zur Entstehung einer herrschaftsfreien Religiösität führen, in
welcher der Mensch als mündiger Partner Gottes anerkannt wird. Bei der
Herausbildung dieser Haltung haben auch die Einflüsse von Paulus Klöpfel und
Karl Walker mitgewirkt, vom letzteren dessen Buch "Geist und
Weltgestaltung"; außerdem "Der Gotteskomplex" von Horst Eberhard
Richter.
Onken ist
Liberalsozialist. Als Sozialist wünscht er eine egalitäre Beziehung auch
zwischen Gott und dem Menschen, der sich als Mitschöpfer der sozialen Harmonie
betätigen soll. Als Liberaler weist er die Behauptung des Marxismus zurück, die
bürgerlichen Grundrechte würden den Weg zur Freiheit blockieren. "Dieser
Irrtum nimmt dem Kommunismus jegliche Berechtigung, bei der Gestaltung der
Zukunft ein gewichtiges Wort mitzureden." (37) Der Liberalismus sei nicht
an einem Zuviel individueller Freiheiten gescheitert, sondern an ihrer
mangelnden Durchsetzung für alle Bevölkerungsschichten. Die konsequente
Verwirklichung seiner Ordnungsprinzipien wurde immer wieder von den
wirtschaftlichen Monopolen Boden und Kapital verhindert. Sie selbst
durchzusetzen, ist er nicht mehr imstande. Aber auch die Kraft der Freiwirtschaft
reicht dazu nicht aus.
Onken
hoffte, daß es den osteuropäischen Dissidenten mit sozialistischem
Selbstverständnis gelingen möge, an die freiheitlichen Traditionen des
vormärzschen Sozialismus anzuknüpfen und ihren Antiliberalismus zu überwinden,
den sie mit dem Kommunismus gemeinsam hatten. Wenn es zugleich dem westlichen
Liberalismus gelänge, sich aus seiner kapitalistischen Umklammerung zu lösen,
könne aus der Verschmelzung beider Bewegungen zu einem Liberalsozialismus eine
ganz neue politische Kraft hervorgehen, die vielleicht imstande wäre, zur
Verwirklichung der Menschenrechte in Ost und West neue Impulse zu geben. Bei
alledem hielt sich Werner Onken auf Distanz zu nationalistischen Denkweisen.
Unter den mir bekannten Freiwirten denkt er am meisten historisch, wobei er die
politischen und sozialen Kräfte in Ost und West als eine Ganzheit betrachtet,
deren innere Entwicklungstendenzen nur durch eine umgreifende Betrachtungsweise
ergründet und in Rechnung gestellt werden können. Für ihn hatte der Sowjetkommunismus
schon 1977 keine Zukunft mehr. 1983 begann Werner Onken mit dem Aufbau einer
Freiwirtschaftlichen Bibliothek, die wie die von Paul Gysin geschaffene
Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek die Möglichkeit schaffen soll,
die Geschichte der von Gesell ausgegangenen Bewegung kritisch aufzuarbeiten.
Sein historischer Blick erwies sich auch bei seiner Beurteilung des Wörgler
Freigeld-Experiments. Fast alle anderen Freiwirte haben daraus den Schluß
gezogen, in Wörgl sei ein für allemal die Realisierbarkeit und Prosperität der
Freiwirtschaft bewiesen worden. Entgegen diesem Überschwang war Onken nüchtern
genug, vor einer Überbewertung zu warnen: "Die im kleinen Rahmen erzielten
Erfolge sind selbstverständlich noch kein hinreichender Beweis für die absolute
Richtigkeit dieser Vorschläge und ihre Durchführbarkeit im großen Rahmen einer
gesamten Volkswirtschaft" (38). Sie dürften auch deshalb nicht als
Patentrezepte angepriesen werden, "weil sich dabei nur ein Bruchteil der
Theorien Gesells verwirklichen ließ".
Werner Onken
ist kein Theoretiker, obwohl er sich als Redakteur der freiwirtschaftlichen
"Zeitschrift für Sozialökonomie" laufend mit theoretischen Dingen
beschäftigen muß, aber ein eigenständiger Kopf, dem es um ordnungspolitische
Klärungen und um weltanschauliche Grundlagen der NWO-Ideen geht. Er tritt
einerseits für eine ökonomische Orientierung der ökologischen Bewegung ein,
andererseits für eine ökologische Orientierung der Freiwirtschaft. Beiden hat
er in einem längeren Aufsatz die Grundzüge der Umweltökonomik erläutert, auch
die Kritik an deren Beschränktheiten dargestellt. Ohne ökologische Ethik sei
eine umweltkonforme Wirtschaftsordnung kaum zu erreichen. Entsprang doch die
Umweltmisere auch dem Herrschaftsstreben des Menschen, die Natur zu unterjochen
und sich als ein Teil ihrer selbst hierarchisch über die zu erheben. Sie kann
nicht durch öko-industrielle Entsorgungstechnologien behoben werden. Hingegen
hält die ökologische Ethik zu einem sanften Umgang mit den Umweltgütern an und
stellt "eine herrschaftsfreie, egalitäre Beziehung zwischen Mensch und
Natur her". (39)
In einem
Gedenkartikel zum 100. Todestag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen würdigte Onken
auch die bäuerlichen Raiffeisengenossenschaften. Obwohl zu einer Weltbewegung
geworden, fand eine Aushöhlung der Grundprinzipien statt. Sie ließen sich zu
Instrumenten des modernen Bauernlegens machen - der sogenannten ,Grünen
Revolution'. Das zinstragende Geld trieb einen Keil in die genossenschaftliche
Selbsthilfe. Nun sollten die Raiffeisengenossenschaften die Rückkehr der aus
den Dörfern verdrängten Bauern in die Landwirtschaft ermöglichen und zugleich
deren Umstellung auf biologische Anbaumethoden fördern. Schon Raiffeisen hat
den Raubbau am Boden beklagt und eine natürliche Düngung für die beste
gehalten. Bis zur Verwirklichung der Gesellschen Geldreform könne das ländliche
Genossenschaftswesen erheblich dazu beitragen, die sozialen und ökologischen
Schäden der Herrschaft des Geldes über den landwirtschaftlichen Markt zu begrenzen.
Es sollte erkennen, daß die Bauern "nicht nur untereinander, sondern auch
mit der Natur in einer Art genossenschaftlicher Interessengemeinschaft
stehen". (40) In der Tat hat sich schon im schottischen Findhorngarten
herausgestellt, daß die Natur zu aktiver Mitarbeit bereit ist, wenn sie auf
sensible Menschen mit ökologischer Ethik stößt, die behutsam mit ihr umgehen.
Werner Onken
hofft, daß die ländlichen Genossenschaften ihre kapitalistischen Verformungen
ablegen werden. Mit ihnen habe F. W. Raiffeisen eine Unternehmensform
geschaffen, welche die Aktiengesellschaften überdauern und in einer
nachkapitalistischen Marktwirtschaft ein Garant von Selbsthilfe,
Selbstverantwortung und Selbstverwaltung sein wird. Er ist der Überzeugung, daß
die menschliche Evolution dahin geht, den homo oeconomicus durch den homo
oecologicus abzulösen, also einen neuen Menschentyp zu formen, der den eisernen
Ring des Egoismus von innen her sprengt. (Dafür spricht, daß bereits zahlreiche
Kinder ein ökologisches Bewußtsein haben, als wäre es ihnen angeboren und zur
Neuordnung der Welt mitgegeben.)
Onken hat
nicht allein die soziale und ökologische Betroffenheit erfahren, vielmehr auch
eine religiöse Erschütterung seiner Existenz. Sie äußerte sich in einem bisher
unveröffentlichten Buch, das 1987 geschrieben worden ist. Es trägt einen für
Freiwirte ganz ungewöhnlichen Titel: "Die Harmonie des Kosmos, der Verlust
des Paradieses und die Heilung der Welt". Onken versuchte darin eine
Synthese von Gesell und Hahnemann, des eigenwirtschaftlichen Sozialreformers
und des Begründers der Homöopathie. Sie waren zwar keine Zeitgenossen, aber bei
beiden liege ein Ansatz zur Heilung der kranken Welt vor.
Die
harmonikale Ordnung der Wirtschaft nach den Vorschlägen Silvio Gesells ergebe eine
ganzzeitliche Ordnungstherapie für Mensch und Gesellschaft, der die
homöopathische Heilung individueller Krankheiten entspreche. Das Werk des
ersteren trage zwar in mancher Hinsicht zeitbedingte Züge, "aber sein
Kerngehalt verdient Beachtung und ist der Weiterentwicklung wert". (41)
Hat Gesell nicht als erster entdeckt, daß die Harmonie des Universums schon
seit rund 6000 Jahren durch schwerwiegende soziale Disharmonien gestört wird?
Auf dem ihm wesensfremden Parkett des cartesianisch-technokratischen Denkens
mußte seine ganzheitliche Therapie bei den eingeschachtelten Fachökonomen
zwangsläufig auf Unverständnis stoßen. Andererseits war dieses linear-kausale
Denken außerstande, die wirtschaftlichen Probleme zu meistern. Und die
NWO-Bewegung zu schwach. Ohne ein weltanschauliches Fundament und Scheidewasser
konnten Gesells Ideen keine Wurzeln in den Herzen der Menschen schlagen, sie
wurden daher meist kopfmäßig, also intellektuell aufgefaßt, dazu von einem
Menschenkreis verschiedenster und teilweise gegensätzlicher geistiger Herkunft,
was fast unvermeidlich zu Spannungen und Streitereien führte.
Werner Onken
unterschied zwischen zwei Denkreihen, die sich durch ihre Eigenarten konträr
gegenüberstehen und zwischen denen sich jeder Mensch entscheiden muß:
1. einer
mechanistisch-technokratischen, die mit Descartes begonnen und der sich Marx
verhaftet gewesen; ihre Vorform war patriarchalisch, auf die Herrschaft des
männlichen Geschlechts gegen Gott, die Natur und die Frau gegründet;
2. einer
harmonikalen, die schon mit Pythagoras begann und sich durch Platon, Boethius
Nicolaus von Kues bis zu Leibnitz und Kepler fortsetzte. In diesem Urstrom des
harmonikalen Denkens hätten schließlich auch Gesell und Hahnemann gestanden,
zwar nicht dessen bewußt, aber beide aus ihrer geistigen Grundhaltung heraus.
Die individuelle Heilkunst Samuel Hahnemanns und die soziale Heilkunst Silvio
Gesells bilden für Onken eine unteilbare Ganzheit - eine müsse die andere
ergänzen. Die Unterstützung der natürlichen Selbstheilungskräfte in der Medizin
und in der Ökonomie entspräche dem Grundgesetz des Lebens: der dynamischen
Selbstordnung.
Für
Hahnemann war der menschliche Organismus in seiner Ganzheit von Geist, Seele
und Körper solange gesund, als er sich in einem dynamischen Gleichgewicht
befand. In Gefühlen und Tätigkeiten harmonisch von seiner geistartigen
Lebenskraft zusammengehalten, kann die Schwächung seiner Abwehrkräfte durch den
heilenden Reiz einer kleinen Dosis Medizin ausgeglichen werden. Krankheit ist
ein Leiden der Lebenskraft. Heilende Reize sieht Onken auch in den von Gesell
vorgeschlagenen Reformen des Geldes und der Bodenordnung. Sie sollen die
Krankheit des sozialen Organismus in Übereinstimmung mit den ewigen
Naturgesetzen der Weltordnung heilen. Eine ähnliche Sicht hatte beispielsweise
schon Will Noebe. Sie ergab sich aus den Gesichtspunkten der Lebensreform. Aber
erst Werner Onken hat Silvio Gesell in das geistige Universum eingegliedert, in
eine unsichtbare Weltharmonie, welche über den Wirren der Erde schwebt und sie
besänftigen könnte.
Die
NWO-Bewegung wäre bisher falschen und isolierten Strategien gefolgt, Versuchen
der politischen Unterwanderung demokratischer oder totalitärer Parteien und
direkter Verwirklichung, die nicht fruchten konnten. Onken ist der Ansicht, daß
die Freiwirtschaft nur im gleichen Maße wie das Gottesreich verwirklicht werden
könne. Er glaubt, die Natürliche Wirtschaftsordnung sei ein Teil des
Schöpfungsplans. Hierbei geht er von einer Ganzheit der geistlichen und
weltlichen Heilsbestrebungen aus, in der sich Glauben und Wissen polar
ergänzen. Kritische Aussagen der Bibel, des Korans und anderer Weisheitslehren
über die Verkäuflichkeit des Landes und über das Zinsnehmen ließen sich mit den
Denkansätzen der Geld- und Bodenreform in Beziehung setzen.
Auf dem
Konstanzer INWO-Kongreß vom September 1991 hielt Werner Onken eines von drei
Hauptreferaten. Er verglich Gesell mit Hus; gleich diesem sei er ein
"Vorreformator" gewesen, aber auf dem Gebiet der Ökonomie. Ist also
noch ein Luther der Freiwirtschaft zu erwarten? Folgt man Onken, so hat Gesell
zwar ihr Fundament gelegt, aber nicht das Haus erbaut, in welches die
Freiwirtschaft einmal einziehen wird. Zur Vollendung seines Werkes bedarf es
noch "ganzer Generationen von geistigen Baumeistern und Mithelfern, die
über ihn hinausdenken". (42) Sie sollen neue Fragen stellen und eigene
Wege gehen.
Onken wies
auf das Fragmentarische der Gesellschen Staatstheorie hin, die zumindest
ergänzt, wenn nicht korrigiert werden müsse. Der Zins sei noch weit mehr als
ein sozialer Spaltpilz, nicht nur die Angel der sozialen Frage, sondern der
archimedische Punkt im ganzen Weltgefüge. An diesem Punkt entscheide sich, ob
die Menschenfamilie zu innerem Frieden und seelisch-geistiger Gesundheit
gelangen, ob sie in den Gesamtorganismus unseres Planeten integriert werden
könne. Die Freiwirtschaft sei eine Art Ketzerbewegung gegen die weltliche
Priesterkaste der Nationalökonomen an der Spitze des Kapitalismus gewesen.
"Es ist
die Schicksalsaufgabe des Menschen, das Geld vom universalen Spaltpilz zu einem
universalen Bindemittel des Lebens umzugestalten . . . Die Erfüllung dieser
Aufgabe im gleichsam höchsten Augenblick der Geschichte erfordert eine
ganzheitliche Verbindung von Glauben und Wissen ..., sowie eine in der
Transzendenz verankerte Lebenseinstellung, die es ermöglicht, die Macht Mammons
über die Seelen der Menschen zu bezwingen." (43)
Onkens
Vortrag fesselte seine Zuhörer so stark, daß nach seiner Beendigung zunächst
ein großes Schweigen eintrat, ehe der Beifall begann. Er enthielt ein
Arbeitsprogramm zur Fortführung und Vertiefung der NWO:
a)
gedankliche Entwicklung einer herrschaftsfreien Rechtsordnung;
b) Bau von
Gedankenbrücken zu Geistesverwandten in den Wissenschaften, Religionen und
Künsten;
c)
Reaktivierung der NWO-Idee in ihrem Ursprungskontinent Südamerika, da Gesell in
Buenos Aires begann, eine freiheitliche Alternative zu kapitalistischem
Wildwuchs und bürokratischer Diktatur zu entwickeln;
d) auf
ungeklärte Fragen der Theorie und Praxis Licht zu werfen. Gesell habe der
Menschheit ein "wertvolles geistiges Samenkorn" hinterlassen, das
nach den Zeiten des Keimens und der Gefahr des Verdorrens im 21. Jahrhundert
endlich kräftige Wurzeln treiben und zugleich wie ein Getreidehalm dem Himmel
zustreben müsse.
Werner Onken
ist der aufgehende Historiker innerhalb der Neuen Denkschule. Dafür zeugen
seine Vorworte zu den einzelnen Bänden Silvio Gesells, die insgesamt einen
geschlossenen Einführungskurs in sein Werk und sein Leben ergeben. Dafür
sprechen ferner sein "Offener Brief an die osteuropäischen Reformer"
und seine geschichtliche Skizze der Obstbaukolonie Eden, die aus der
Lebensreform-Bewegung heraus entstanden war und wo Gesell seine letzten Jahre
verbrachte. Seit den 80er Jahren verknüpft er die Menschengeschichte mit der
Heilsgeschichte, wogegen sich freilich große Widerstände von seiten anderer
Freiwirte regen. Die Freiwirtschaft ist seines Erachtens selber eine
Heilsbewegung, und wenn sie dies bejahen würde, flössen ihr mächtige
spirituelle Kräfte zu.
Bruno Jehle
- Hierarchie oder Eigenverantwortung?
Im
Mittelpunkt der jüngeren Leute, die sich in den 80er Jahren der Schweizer
Liberalsozialistischen Partei anschlossen, stand Bruno Jehle. Er hatte wie
viele andere Jugendliche in den Tag hinein gelebt, bis er auf ein Buch gestoßen
war: "Das geheime Leben der Pflanzen" (von Peter Tompkins und
Christopher Bird). Erst durch dieses Buch ging ihm auf, daß die Pflanzen
Lebewesen sind, und zwar höchst sensible, sogar fähig, die Gedanken der
Menschen wahrzunehmen und unter ihnen leidend. Diese Erkenntnis stieß auf seine
bisherige Gleichgültigkeit im Umgang mit Pflanzen. Sie erweckte ein Gefühl
brennender Schuld, das ihn als 18-jährigen bis an den Rand des Selbstmords trieb.
Hatte er nicht sein Recht auf Leben verwirkt, weil er andere Lebewesen
mißachtet und wie Dinge behandelt? Bruno Jehle stellte selbst einige
Experimente an. Sie bestätigten ihm die Forschungen von Tompkins und Bird.
Worauf ihm klar wurde, daß er sein Leben von grundauf ändern mußte.
Etwa zwei
Jahre schlief er im Freien, um der Wahrheit und dem Leben näher zu kommen, Tag
und Nacht auf der Suche nach dem eigenen Weg. Schließlich hatte er ihn
gefunden. Bruno tat sich mit anderen jungen Leuten zusammen, die ebenfalls ein
ökologisches Bewußtsein hatten. Sie gründeten eine Kommunität und machten einen
Bioladen auf. Nun mußte eingekauft und weiterverkauft werden. Dieser Umgang mit
Geld stieß sie auf die Frage der Gerechtigkeit. Bruno hatte einmal geglaubt, es
müßte auch ohne Geld gehen. Nun zeigte sich das Gegenteil. Aber wenn es schon
so war, dann sollte ebenso sorgsam damit umgegangen werden wie mit den
Pflanzen. Doch wie? Und welche Rolle spielte das Geld überhaupt? Mit dieser
Überlegung näherte sich Jehle der Freiwirtschaft. Er lud Hans Hoffmann ein,
sprach auch mit anderen Freiwirten. War ihr Weg der seine? Was hatte Silvio
Gesell über das Geld geschrieben?
Zu einer
Denkschule gehört, wer einen eigenen und neuen Gedanken in sie einbringt. Bruno
Jehle gebar einen solchen Gedanken. Er entsprang nicht theoretischen
Überlegungen, sondern der Erfahrung. Es gibt Geld, das Gerechtigkeit sucht,
schaffen wir sie ihm, bringen wir die Gerechtigkeit durch unser eigenes Tun an
das Geld heran, damit sie sich endlich finden. Aus dem gerechten Geld kann
womöglich eine gerechte Welt entstehen.
Bruno Jehle
hatte einen Missionar nach Indien begleitet und kritisch beobachtet, was er
dort aus seiner religiösen Gesinnung tat. Stülpte er nicht den Indern das
Christentum über, statt sich auf ihre Probleme einzulassen? Stand er ihnen von
Mensch zu Mensch bei oder warf er ihnen nur einige mitgebrachte Brosamen zu,
womöglich allein denen, die sich taufen ließen?
Diese
Begleitung brachte ein zweites Grunderlebnis. Bruno Jehle stellte in Indien
himmelschreiende Mißstände fest, die durch erbauliche Reden und Bibelsprüche
zugedeckt wurden, in einer vom Alltag abgehobenen Besessenheit, die ihm
verdächtig war. Er erlebte Leprakranke, die zum Hospital von sehr weit kamen,
oft zu Fuß, wodurch "die Wunden an ihren Füßen zusätzlich schwer verletzt
wurden" (44). Im Hospital erhielten sie dann meist nur einige Tabletten.
Konnte er dem zusehen, ohne etwas zu tun?
Bruno Jehle
kam der Gedanke an eine Volksklinik. In Zusammenarbeit mit mehreren Indern
konnte er eine solche in Kaleru einrichten und im April 1983 eröffnen. Bald
wünschte auch die Bevölkerung anderer Dörfer Gesundheits-Stationen. Jetzt sind
bereits vier Peoples Clinics da. In Indien entstand ein regionales Projekt, das
vieler Medikamente bedarf. Sie werden in der Schweiz gekauft, wofür viel Geld
gesammelt werden muß. Außerdem war es nötig, das Projekt beratend zu betreuen
und alljährlich hinzufliegen. (auf eigene Kosten natürlich). Hier hat sich
Matina Hämmerli intensiv beteiligt. Überhaupt sind Bruno und Matina nicht
auseinanderzudenken. Sie werden von einem Spenderkreis unterstützt, auch von
einigen anderen Leuten, die einen Teil ihres Urlaubs in Indien verbringen und
dort Hand anlegen.
Als Bruno
Jehle im Februar 1991 wieder einmal in Indien war, hatte er dort eine weitere
Idee: das Bonus-System.
Es geht von
einer Lage in den armen Ländern Asiens und Afrikas aus, die durch Massenelend,
Stadtflucht, Korruption und Naturzerstörung gekennzeichnet ist, auch durch den
Zerfall der Preise für landwirtschaftliche Produkte wegen kapitalintensiver,
industrieller Anbaumethoden. Finanzielle Hilfe ende in Indien meist beim
örtlichen Geldverleiher oder in der Stadt, wegen Schuldverpflichtungen der
Armen und dem kumulativen Charakter des Zinses. Wie kann trotzdem mit dem Geld
der Entwicklungshilfe Gerechtigkeit geschaffen werden?
Eine
Möglichkeit bestünde darin, es in eine Schuld umzuwandeln, die durch
Arbeitsleistung abgetragen werden kann, so daß keine Zinseszinsen entstehen.
Durch Geschenke
würde hingegen der Markt verzerrt. Die Spendengelder können in einen Fond
eingebracht werden, der Projekten Kredite gewährt.
"Und
nun kommt der zusätzliche Schritt, wo wir zirkulationsfördernd eingreifen. Die
Projekte zahlen den Mitarbeitern den ortsüblichen (Minimal-) Lohn in
Landeswährung. Hinzu kommt ein Arbeitsbonus in Form von Gutscheinen, Marken
oder Münzen. Die Schuld gegenüber dem Fond kann nur in Form dieser Wertträger
zurückbezahlt werden. Außerdem kann dieses ,alternative Geld' den Austausch
unter den angegliederten Projekten bestimmen." (45)
Ein gut
durchdachtes Konzept müsse jeweils auf die lokale Situation abgestimmt und erst
noch erarbeitet werden. Das Bonus-System ist ein Vorschlag, ein theoretischer
Ansatz. Es hat jedoch auf dem INWO-Kongreß in Konstanz und in anderen Kreisen
bereits ein beachtliches Ende gefunden.
Auch die
Idee der Denkfabrik dürfte von Bruno Jehle stammen. Sie unterscheidet sich
wesentlich von den "Wissenschaftlichen Kommissionen", die der alte
Freiwirtschaftsbund FFF sowie die Radikal-Soziale Freiheitspartei, später auch
die Liberalsozialistische Partei der Schweiz hatte. Schon weil sie ein
besonderer und autonomer Arbeitsbereich ist. Was in der Radikal-Sozialen
Freiheitspartei ein ideologisches Kontrollorgan war, soll sich in der INWO
Schweiz auf Initiative gründen. Indes besteht dieselbe Tendenz zur geistigen
Zentralisierung.
Die Idee der
Denkfabrik mündet in eine neue Strategie ein, welche erreichen will, daß es in
absehbarer Zeit keine öffentlichen Diskussionen über Wirtschaftsfragen mehr
ohne die Präsenz der Freiwirtschaft gibt. Diese muß also aus ihrem z. T. selbst
erbauten Ghetto heraus und zu einem ins öffentliche Bewußtsein integrierten
Faktor aufgebaut werden. Damit verbunden ist der Gedanke, der jetzigen Lobby
eine freiwirtschaftliche Lobby entgegenzustellen, was freilich einen gewaltigen
und vorerst kaum erschwinglichen finanziellen Aufwand erfordern würde.
Die
herkömmlichen Parteien und Organisationen einschließlich der physiokratischen
und freiwirtschaftlichen waren oder sind in der Regel pyramidenförmig
aufgebaut. Gegen diese hierarchischen Modelle entwarf Bruno Jehle gemeinsam mit
Matina Hämmerli ein eigenverantwortliches. "Denn Eigenverantwortung und
Hierarchie stehen sich unversöhnlich gegenüber. Wir müssen die bestehenden
Organisationsmodelle demaskieren und auf ihren Gehalt prüfen." (16)
Statt sie
jedoch prinzipiell zu verwerfen, sollte sich die Freiwirtschaft das, was gut
und nützlich daran ist, zu eigen machen. Auch müßte man menschenwürdige
Strukturen, durch die sie allmählich ersetzt werden könnten, zuerst einmal
kennen und erproben, um praxisfähige Alternativen zu erreichen. Dies ist
kennzeichnend für das experimentelle Denken und Handeln Jehles. Es beugt einer
Kluft zwischen Theorie und Praxis vor.
Er stellt
zwei Spannungsfelder menschlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen fest:
Individuum und Gruppe, Ego und Sozial. Sie drehen sich jeweils um eine Achse.
Bei Individuum und Gruppe ist es die Achse der Identität, bei Ego und Sozial
die der Interessen. Das Identitätsbewusstsein reicht womöglich vom isolierten
Einzelnen bis zur ,Reinheit des Volkskörpers' im faschistischen Staat. Die
Interessen können sich diagonal gegenüberstehen. Werden sie nicht durch eine
steuernde Kraft in ein übergeordnetes Modell (Organisation, Firma, Staat etc.)
integriert, bricht eine solche Körperschaft bei schließlicher Unvereinbarkeit
der Gegensätze in einer Konkurrenzsituation auseinander. Die Integration kann
gewaltsam und hierarchisch, aber auch durch das Bewußtwerden der Zusammenhänge
erfolgen, was höhere Ansprüche an den einzelnen stellt als Fügung in ein
autoritäres System.
"Zwar
sind viele bereit, gegen Autoritäten aufzubegehren, die Freiheit in ihrem
ganzen Umfang wird aber leider kaum ertragen."
Außerdem muß
die Transparenz der Zusammenhänge laufend neu erarbeitet werden. Sonst trübt
sich der Blick, was wieder eine trübe hierarchische Ordnung ermöglicht, die
einem finsteren Labyrinth gleicht, in dem der Weg nach oben nur durch Verzicht
auf eigene Unabhängigkeit gegangen werden kann. "Dabei etabliert sich der
alte Priesterherrschaftsklüngel. Er tritt uns als Papsttum, als
Technokratentum, als Starelite der multimedialen Gesellschaft und natürlich als
Managerwelt entgegen. Von dorther werden alle Lebensbereiche geregelt.
Eigeninitiative erscheint inkompetent, sinnlos oder gar illegal, so daß in der
Folge die Unmündigkeit noch verstärkt wird." (47)
Dieser
Tendenz müsse etwas entgegengesetzt werden, was eine andere Entwicklungsreihe
ermöglicht. Die Wurzeln einer solchen Denkweise wären sicherlich in der
Alternativbewegung zu finden, aus der Bruno Jehle ja auch kommt. Er paßt nicht
ganz in die NWO-Bewegung hinein, ragt vielmehr über sie hinaus, da er in ihr
nicht aufgehen kann. Er ist imstande, auch ihre hierarchischen Strukturen zu
sprengen. Auch bei ihm zeichnet sich ein neues Modell der Natürlichen
Wirtschaftsordnung ab. Die Freiwirtschaft dünkt ihm nicht als der einzig wahre
Weg, auf den man schwören sollte, vielmehr als eine Möglichkeit, die zwar
manches für sich hat, deren Verwirklichungschance aber erst noch überprüft
werden muß und am besten überprüft werden kann, wenn sie in der Praxis auf ihre
Grenze stößt. Daraus wird man lernen und ersehen können, was weiter getan
werden sollte. Es geht um eine gerechte Welt, nicht um ein Prinzip. Zu dieser
gerechten Welt können viele Wege führen, aber einige werden sicher Sackgassen
sein.
Yoshito
Otani
1 Yoshito
Otani, Licht und Schatten Europa, S. 115
2 ebenda,S.
278
3 Otani,
Untergang eines Mythos, S. 8
4 ebenda
5 ebenda, S.
187
6 ebenda, S.
167
7 ebenda, S.
172
8 ebenda, S.
176
9 ebenda, S.
315
Helmut
Creutz
10 Dritter
Weg 1/90
11 in:
Wachstum bis zur Krise?, Berlin 1986, S. 9 ff
12 ebenda, S.
29
13 Dritter
Weg 10/1990
14 Die
Sicherung des Geldumlaufs in der Praxis, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 68.
Folge (1986), S. 26-29
15 Führt
eine Zinssenkung durch umlaufgesichertes Geld zu noch mehr Wachstum?, in:
Zeitschrift für Sozialökonomie 89. Folge (1990), S. 14-24
16 Bauen -
Wohnen - Mieten, Hann.-Münden 1987, S. 93-101
17 Die
Dritte Welt wird immer ärmer!, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 86. Folge
(1990), S. 3-20
18 Dritter
Weg 6/1990
Dieter Suhr
19 Die
Kommenden 3/89
20 ebenda
21 in:
Wachstum bis zur Krise, S. 50
22
Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 89, S.13
23 Vortrag:
Das Freigeldexperiment von Wörgl, S. 4
Margrit
Kennedy
24 Geld und
Boden (Vortrag), S. 7
25 Margrit
Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation, Steyerberg 1990, S. 100
26 ebenda,
S. 78
27 ebenda,
S. 89/90
28 ebenda,
S. 16
29 ebenda,
S. 109
30 ebenda,
S. 97
31 ebenda,
S. 36
32 Faltblatt
Permakultur im Lebensgarten Steyerberg
33 ebenda
Werner Onken
34 Brief
Werner Onkens an den Autor vom 20.12.1991
35 Werner
Onken, Karl Marx und Silvio Gesell, Heft 2/1975, S. 51
36 Werner
Onken, Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, 1982, S. 185
37
SG-Kommentare März 1977
38 in:
Wachstum bis zur Krise?, S. 83
39
Perspektiven, einer ökologischen Ökonomie, Hann.-Münden (jetzt Lütjenburg),
1983, S. 58
40
Zeitschrift für Sozialökonomie Juni 1988
41 Werner
Onken, Die Harmonie des Kosmos, der Verlust des Paradieses und die Heilung der
Welt, Vervielfältigtes Manuskript 1987, S. 34
42 in: Gerechtes
Geld - Gerechte Welt, Lütjenburg 1992, S. 44
43 ebenda,
S. 47/48
Bruno Jehle
44 Peoples Clinic, Dokumentation 87, S. 8
45 evolution 12/91
46
Spannungsfelder (Unveröffentlichtes Manuskript), S. 2
47 ebenda
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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von
W. Roehrig