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Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung

ISBN 3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994

 

 

 

 

 

 

 

 

V. Die neue Denkschule

 

Die meisten Köpfe der ersten Denkschule, zu der auch Dr. Christen und Ernst Frankfurth gerechnet werden können, sanken schneller als erwartet dahin. Doch die von ihnen vertretenen Grundtendenzen wirkten fort: sowohl die physiokratische als auch die freiwirtschaftliche.

 

Werner Zimmermann, Repräsentant der lebensreformerischen Grundtendenz, überlebte als einziger Kopf der ersten Denkschule den Zweiten Weltkrieg. Er hat dann noch in der Internationalen Freiwirtschaftlichen Union und durch zahlreiche Vorträge gewirkt, insbesondere durch den Schweizer WIR-Ring, dessen Hauptgründer er gewesen, doch sein unmittelbarer Einfluß auf die neue NWO-Bewegung war gering. Mit "Ich bin" (1948) schuf und hinterließ er ein mehr esoterisches Werk, das eine Brücke zur Anthroposophie und Theosophie schlug.

 

Zur zweiten NWO-Denkschule gehörten mehr oder weniger all jene, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg um eine geistige Neuorientierung bemühten. Das war nicht mehr ein geistiger Zirkel, sondern eine lose Gruppierung durcheinanderwirbelnder Persönlichkeiten. In der Schweiz spielten Friedrich Salzmann, Hans Bernoulli und Fritz Schwarz eine große Rolle - sie bildeten auch den Kern der Internationalen Freiwirtschaftlichen Union und sorgten in ihr für eine geistige Kontinuität, die in Deutschland zersplittert war. Im Mittelpunkt der zweiten Denkschule stand Karl Walker als ihre geistmächtigste Persönlichkeit, die der NWO einen neuen Weg zu bahnen versuchte und als erster eine fundamentale Kritik an der Gesellschen Lehre übte, woraus sich der Umriß eines anderen NWO-Modells ergab. Walker grub so tief, daß er den Übergang zu einer dritten Denkschule bildete. Er ragt in sie hinein, doch hat diese noch nicht alle seine Impulse aufgenommen und weitergedacht.

 

War die erste Denkschule weitgehend vom Ersten Weltkrieg, der russischen Revolution und der deutschen Novemberrevolution geprägt, so die zweite vom Erlebnis der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Demgegenüber lag der dritte Denkschule die geschichtliche und kulturelle Zäsur des Weltwendejahrs 1968 zugrunde, wo auch der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West übersprungen wurde.

 

Seitdem sind die freiwirtschaftlichen Vorstellungen und Ziele in einen weit größeren Zusammenhang eingebunden, als das früher der Fall war. Sie treten aus ihrer Exklusivität heraus. Vorarbeit haben jene Freiwirte geleistet, die in der Grünen Bewegung tätig waren. Schon dadurch lockerte sich der freiwirtschaftliche Eurozentrismus. Mit Yoshito Otani kam erstmals der Gesichtspunkt eines anderen Erdteils hinzu. Obwohl die von ihm vorgeschlagenen Reformen denen Gesells glichen, läßt er sich nicht in dessen Lehre einordnen, vor allem wegen der anderen Ausgangspunkte und Schlußfolgerungen. Auch sonst ist die Zugehörigkeit zur NWO-Bewegung nicht mehr an ein Bekenntnis zu Gesell gebunden (obwohl es zuweilen noch verlangt wird). Neben dessen NWO-Modell sind andere Modelle getreten, seine Kernidee der "rostenden Banknote" hat jedoch alle Wandlungen überlebt. Von Silvio Gesell gilt nur noch das Wesentliche, während das Zeitbedingte abgestreift wird. Schon die von Prof. Suhr eingebrachten Vorstellungen haben das klargemacht, noch deutlicher wird es bei den neuen Gedanken Bruno Jehles. Was Karl Walker als erster zu sagen wagte - daß außer Gesell noch eine Reihe anderer Denker beachtet werden müsse - ist inzwischen fast selbstverständlich geworden. Am häufigsten werden nun Rudolf Steiner und Yoshito Otani neben ihn gestellt.

 

Andere Persönlichkeiten als die Genannten sind in anderen Kapiteln gewürdigt worden.

 

 

 

 

 

 

Triebfeder Lebenskraft - Yoshito Otani

 

Die NWO-Bewegung wollte so wissenschaftlich wie möglich sein. Otani mißtraut der europäischen Wissenschaft, die auf einseitiger Ausbildung intellektueller Fähigkeiten beruhe und mit unzähligen Menschenleben spiele. Sie sei hochmütig und arrogant gegenüber den Völkern anderer Kontinente, weil sie sich einbilde, die höchste Zivilisation zu repräsentieren.

 

Otani unterzieht auch die europäische Kultur, christlich-abendländisch genannt, einer beißenden Kritik. Sie hat sich mit dem Revolver in der einen und der Bibel in der anderen Hand ausgebreitet. Der Glaube an einen einzigen Gott (Monotheismus) sei für die menschliche Gesellschaft gefährlich und vergiftend. Seine Ergänzung ist der staatliche Absolutismus. Das Christentum ist zur Ideologie entartet und alles andere als allgemeingültig. Selbst die Europäer müssen sich von ihm befreien, wenn sie vorankommen wollen. Es sei ein "Gotteskapitalismus" und Rauschgift für das Volk.

 

Der Europäer steht auf dem Kopf, lebt in einer "Maskengesellschaft" (1) und darf nicht sein, was er ist. Auf ihm lastet die Herrschaft der Ideen über das Leben. Zum Wiederkäuer und geistig träge geworden, kann er kaum noch eigenständig denken. Auch seine Lernfähigkeit ist eingeschlafen. Der Ausgangspunkt und Nährstoff des Denkens sollte nicht eine Theorie, sondern das strömende Leben sein. Otani beklagt auch den europäischen Individualismus. Unter Freiheit versteht er die Möglichkeit und Fähigkeit, nach eigenem Ermessen zu handeln. Sie ist nicht der höchste Wert, sondern ein Mittel zum Zweck. Wo freie Verträge geschlossen werden können, hat die Anarchie als Ideal keinen Sinn. Überdies kann keine Gesellschaft ohne Gesetze und Ordnung auskommen. Ein System ist immer da, doch wenn man sich seine Lebensform selbst wählen darf, braucht man es nicht umstürzen. Sich frei fühlen ist eine Beziehungsfrage. Es kommt ebenso auf Sicherheit an, etwa in einem eigenen und möglichst auch selbsterbauten Haus.

 

Die Bewußtseinsentfaltung ist immer eine persönliche, weshalb es laut Otani keine kollektive Menschheitsentwicklung gibt. Jeder einzelne bedarf der Balance von Intellekt und Sinnlichkeit (die den meisten Europäern fehle). Zum sportlichen Training sollte ein seelisches treten. Ein seelisch verkrüppelter Wissenschaftler sei eine Gefahr. Was die noch wenig entwickelte Sozialwissenschaft betrifft, so muß sie von ihren ideologischen Voraussetzungen befreit werden, um ihrerseits ein Befreiungsinstrument zu werden. Die Soziologie hat nur Vorarbeit geleistet. Es darf auch nicht bei Theorien und Forschungen bleiben. "Das Zusammenwirken in der Gesellschaft bringt eine ungeheure Kraft in Gang." (2) Bisher ist sie entweder gar nicht entdeckt oder falsch gelenkt worden. Sie richtig und auf ein positives Ziel zu lenken, dazu bedarf es einer echten Sozialwissenschaft, die größtenteils noch erarbeitet werden muß. Otani hat in seinen Essays dafür eine Reihe Bausteine geformt und bereitgestellt.

 

Die jeweilige Gesellschaftsform ist für ihn niemals ein willkürliches Produkt irgendwelcher Theoretiker und Politiker, sondern ein naturgesetzliches Gebilde mit ganz bestimmten Normen, denen man sich wohl oder übel anpassen sollte. Der christliche Dualismus von Gut und Böse könne da gar nichts erklären. Es handelt sich jeweils um eine Erscheinungsform der allgemeinen Lebenskraft. Brechen soziale Konflikte aus, so ist die Ursache nicht in der Gesellschaft zu suchen (wie das Silvio Gesell tat), sondern beim Menschen. Die essentiellen Grundlagen beider sind die Sicherung der Freiheit und des Existenzrechts. Sie hängen fest zusammen. "Nur die Freiheit kann unsere Existenz wirklich sichern, und nur eine sichere Existenz die Freiheit." (3) Jede Gesellschaftsform, die nur eine der beiden Grundlagen zu bieten hat, ist für Otani eine Fehlkonstruktion. Aber das gilt s. E. für beide Systeme, sowohl für das kommunistische als auch für das demokratische.

 

Das menschliche Problem fange freilich womöglich erst dann an, wenn beide von vornherein gesichert sind: Freiheit und Existenz. Weil wir mit dem Bestehenden und Erreichten nie zufrieden sind? Weil die menschlichen Bedürfnisse immer über das Gegebene hinauswachsen? Darauf gibt Otani keine Antwort. Er geht davon aus, daß eine Gesellschaftsform, die sowohl Freiheit als auch Sicherheit garantiert, noch nirgends existiert und erst geschaffen werden muß. Hierarchisch aufgebaute Organisationen sind hierzu untauglich. Es bedürfe einer Basisorganisation mit wohlgeordneter Spitze, die sich am Kompaß der Sozialwissenschaft orientiert.

 

Eine erste gesicherte Erkenntnis ist, daß alle Systeme und Ideologien ein schicksalhaftes Paradoxon in sich tragen, weil sie von Anbeginn "schon ihre Möglichkeiten und die Grenze ihrer Entwicklung aufzeigen". (4) Über diese Grenze hinaus haben sie keine Entwicklungschancen. Darum müssen sie sich, um die Menschen weiter zu halten, "mit den Mitteln der Autorität zum Mythos verwandeln". So der Kapitalismus wie der Kommunismus. Beide sind an ihre Grenze gestoßen. Ihr moderner Mythos sei viel stärker und unbegreiflich umfangreicher als jeder frühere. Otani hatte sich seine Analyse zum Ziel gesetzt. Er nahm hierbei die Linie der Urdemokratie wieder auf, welche durch theokratische Religionen untergraben worden sei. Von daher kommt sein Atheismus, verwurzelt in dem aufklärerischen Axiom, der heutige Mensch bedürfe der Krücke des Gottesglaubens nicht mehr und müsse im Zuge seiner Reifung zur Mündigkeit ohne sie auskommen lernen. Ob er ein zur Freiheit veranlagtes Wesen mit eigenen Entwicklungsgesetzen sei, könne man nicht a priori sagen. Das entscheidet sich erst da, wo er auf eigener Grundlage anfängt, sich selbst aus eigener Kraft zu entwickeln. Sonst ist die Freiheit für Otani kaum mehr als Gerede und eine Phrase.

 

Auch eine Volkswirtschaft erscheint ihm nicht als Faktum gegeben. Sie entsteht erst, wenn die Menschen mit ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in wechselseitige Beziehungen treten. Deshalb könne auch bloße Faktenbetrachtung die volkswirtschaftlichen Probleme nicht lösen. Lebenskraft und Wille spielen eine gewaltige Rolle. Weder eine materialistische noch eine idealistische Betrachtungsweise wird sie ergründen. Im volkswirtschaftlichen Prozeß wirken Fakten und Gedanken mit. Das Geld wirkt nur, wenn und solange es sich in Bewegung befindet - es ist an sich nicht der entscheidende Faktor. Diesen verkörpert der Mensch. Er realisiert sowohl Fakten als auch Gedanken und setzt beide in Bewegung. Sie sind die beiden Pole im täglichen Leben, wo sie zusammengebracht werden müssen. Der Sozialwissenschaft obliegt es, diese Bewegungsvorgänge zu verfolgen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Dazu dürfen sie allerdings nicht in Momentaufnahmen zerlegt werden, wie das die europäische Wissenschaft zu tun pflegt. Sie sind nur als Ganzes, als in sich geschlossener Komplex zu begreifen, als ein lebendiges und flutendes Beziehungsgefüge der Menschen.

 

Die Probe aufs Exempel dieser erst entstehenden Sozialwissenschaft wird nach Otani eine Strukturreform des Geldes und eine Bodenreform rein. Im Geld drückt sich die menschliche Organisationsfähigkeit aus. Und Kapital ist "ein Gegenstand, der eine primäre Monopoleigenschaft in der Wirtschaft hat" (5), wodurch zusätzlicher Gewinn herausgeschunden wird, im Kommunismus ebenso wie im Kapitalismus. Um diese Ausbeutung zu beenden, muß das heutige ,Warengeld' durch ein ,Tauschgeld' ersetzt werden, das nicht gehortet und so auch nicht in seiner Menge künstlich begrenzt werden kann. Das Geld sei eigentlich Staatseigentum und müsse daher einer öffentlichen Kontrolle unterworfen werden: durch ein Währungsamt, das die Notenbank ablöst. An bestimmten Stichtagen wird das jeweilige Bargeld umgetauscht, abzüglich einer Nutzungsgebühr. Auf diese Weise soll das Geld dem Rhythmus der Wirtschaft angepaßt und diese aus seiner Abhängigkeit befreit, auch eine Kapitalbildung großen Stils angeregt werden. Dann erst könne die Technik ihre bisher gehemmten Möglichkeiten entfalten und der kleine Mann sich an seinem Betrieb beteiligt fühlen. Pendler wird es kaum noch geben. Die Industrie stellt sich auf Qualitätsproduktion um, was einer weiteren Ausplünderung der Naturschätze Einhalt gebieten würde (trotz schrankenloser Vermehrung des Kapitals?).

 

Hinsichtlich der Bodenfrage knüpft Otani bei Henry George an. Die von ihm ausgelöste Reformbewegung sei zwar recht erfolgreich gewesen, habe jedoch im Bodenmonopol die einzige Ursache der sozialen Mißstände gesehen. Diese würden aber auch durch das gültige Geldrecht und andere traditionelle Rechtseinrichtungen mitbewirkt. Schon unter den Römern, die ohne Traditionen und überlieferte Volksrechte gewesen wären, sei das Geld zum Privatbesitz und der Boden zur käuflichen Waren geworden. Erst nach dem Untergang des Römischen Reiches verschwanden diese "imperialistischen Rechte". (6) An seine Stelle traten wieder die Volksrechte der mittel- und nordeuropäischen Völker, zu denen das Feudal- und Lehnswesen nicht im Widerspruch stand. Bis zum 12. Jahrhundert spielte das Geld in Europa keine bedeutende Rolle mehr. Dadurch stagnierte zwar die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, aber ohne Gefahr einer Verschuldung und Enteignung des Bodens. Dieser war Gemeinbesitz und wurde nach der Familiengröße zur Nutzung verteilt. So soll es auch künftig wieder sein. Die Wiedereinführung des römischen Rechts, dessen Rezeption durch Kaiser Maximilian im Jahre 1495, hatte zur Folge, daß der Boden zum Privateigentum der geistlichen und weltlichen Herren wurde, welche die Landbevölkerung in Pacht- und Leibeigenschaftsverhältnisse hinabdrückten. Sie verlor nun einen großen Teil ihrer persönlichen Freiheit und Sicherheit.

 

Wollte man das Grundeigentum wieder enteignen und die Grundrente für Staatsausgaben verwenden, würde das Bodenmonopol nicht beseitigt, sondern zentralisiert, was weder mit Demokratie zu vereinbaren wäre noch einen wirtschaftlich optimalen Nutzen brächte. "Die Fruchtbarkeit der Erde kann nur durch das Interesse des Bauern erhalten werden, der den eigenen Boden unter dem Pflug hat und sich voll und ganz mit dem Lebenskreis verbunden fühlt, dem seine Arbeit dient." (7) Andererseits führte das private Besitzrecht am Boden zur Enteignung der Völker und zu seiner Konzentration in wenigen Händen. Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht Otani in der Kommunalisierung, also in der Sozialisierung des Bodens durch die Gemeinden, die das Recht auf Nutzung verpachten.

 

Aber auch in diesem Fall hätte - wie nach einer Verstaatlichung - der Bauer nicht mehr den eigenen Boden unter dem Pflug, sondern würde in ein Pachtverhältnis hinabgedrückt. Die Unterschiede zwischen Verstaatlichung und Kommunalisierung sind gering, ja für den Bauern gleich Null. Es wird durch beide entwurzelt.

 

Hintenherum führt Otani auch die Zentralisierung ein. Zur Erfassung und Verteilung der Grundrente sind ihm zufolge sowohl ein Planungsamt als auch ein Grundbuchamt nötig. Das Planungsamt soll sogar die jeweilige Nutzungsart bestimmen, wozu es "mit Fachkräften besetzt sein" (8) müsse, die auch den Nutzungswert des Bodens ermitteln und festlegen. Dessen Verpachtung soll jeweils an den Meistbietenden erfolgen.

 

Dieses Konzept stimmt im wesentlichen mit dem der INWO überein, die es womöglich von Otani übernahm. Er ließ allerdings offen, ob seine Vorschläge realisierbar sind. Was die kommunistischen Länder betrifft, so glaubte er, daß die Durchführung der neuen Bodenordnung "keine Schwierigkeiten machen" wird, sobald sie "vom Staatskollektiv befreit" sind. Anders in den westlichen Ländern. Hier sei jedoch eine Entschädigung für die "finanzielle Ablösung des Grundeigentums" (sprich Enteignung) für die Allgemeinheit untragbar. Ein Aufkauf des Bodens, wie ihn Gesell vorgeschlagen hatte, kommt für Otani nicht in Frage; er wäre wegen der dazu nötigen riesigen Summen faktisch auch unmöglich.

 

Das Grundbuchamt soll bei einer Veränderung der Nutzungsart und des Lagerwertes den Verkehrswert und die Grundrente neu abrechnen, wozu wiederum viele Fachkräfte erforderlich wären. Das von Gesell vorgeschlagene Bodenamt hat sich bei Otani verdoppelt. Gleichwohl nimmt er eine antibürokratische Position in Anspruch. Wenn Gesell von der Geldreform sagte, daß sie durch eine Bodenreform ergänzt werden müsse, so geht Otani von der Bodenreform aus, die durch eine Geldreform ergänzt werden soll, weil sie allein keinen großen Erfolg hinsichtlich des gesamten Soziallebens haben könne.

 

Außerdem strebt er noch eine Rechtsreform an. Sie soll die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln und auf eine neue Basis stellen, um die jetzige Gleichgültigkeit und Atomisierung zu überwinden. Otani möchte die Richtung, in der sich die Gesellschaft entwickelt, "im ganzen verändern". (9) Dazu würde politische Aktivität bei weitem nicht ausreichen, wohl nicht einmal eine Revolution. Sein Ziel ist dasselbe wie das von Gesell: eine natürliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie soll mittels der Sozialwissenschaft verwirklicht werden. Also wiederum mit einer Neuen Lehre? Otani lehnt alle Ideologien ab. Genau besehen möchte er nicht die bestehenden Systeme verändern und revolutionieren, sondern die Grundlagen, auf denen sie beruhen. Wenn sich Gesell auf das Proletariat stützen wollte, so faßt Otani die Mittelschichten ins Auge. Sie sollen gleichsam das Grundgerüst gesellschaftlicher und menschlicher Kooperation werden, wozu sie zunächst in dynamische Bewegung gebracht werden müßten.

 

Trotz seiner ostasiatischen Mentalität wird Yoshito Otani vom kausalen Denken Europas und der Gewalt seiner expandierenden Mechanik mitgerissen. In seinem Modell befindet sich ein technokratischer, von beiden anonymen Kräften gebildeter Strang. Als Gegenpol zu diesem vertritt er die vitalistische Auffassung, der menschlichen Entwicklung liege eine unüberwindbare Lebenskraft zugrunde, die der Antrieb zu allen Rebellionen sei. Sie bediene sich sowohl der Materie als auch des Geistes, mache diese zu ihren Instrumenten und arbeite sich mit ihrer Hilfe aus beengenden Verhältnissen heraus. Sie reagiert von selbst, wenn das Leben wie heute in große Gefahr gerät. Beim Menschen ist der Umfang seiner Lebenskraft an Denken, Bewußtsein und innere Ordnung gebunden. Falls er die höchste Stufe seiner inneren Ordnung erreicht, kann er sie beobachten und lenken.

 

Das sind die philosophischen und vitalistischen Prämissen, welche Otanis Modell zugrundeliegen. Es ist aber, wie gesagt, auch dem doppelten Sog des kausalen Denkens und der industriellen Mechanik Europas ausgesetzt, die an ihm zehren und es in Richtung Technokratie weitertreiben. Schon Gesells Denkmodell war diesen es deformierenden Kräften ausgesetzt, aber noch nicht im gleichen Maße. Seit seinem Tode (1930) ist der Industrialismus mächtig fortgeschritten; er unterwirft sich einen Bereich des menschlichen Lebens nach dem anderen. Otanis freiheitsuchende Lebenskraft rebelliert dagegen, sein Pragmatismus strebt selbst nach einer perfekten Technik.

 

 

 

 

 

 

 

Großmutter, warum hast du so große Zinsen? Was Helmut Creutz dazu sagt

 

Auf dem "Markt der Möglichkeiten" eines Evangelischen Kirchentages, bei dem Helmut Creutz einen freiwirtschaftlichen Informationsstand eingerichtet, wurde für fast 10000 DM NWO-Literatur verkauft. Kein anderer Freiwirt hätte einen solchen Umsatz erreicht.

 

Zu einer Gedenkfeier im Silvio-Gesell-Heim, wo ich diese Information einer ,Feuerrede' von Hein Beba entnahm, waren auch mehrere Jugendliche gekommen, sämtlich durch die Bekanntschaft mit Helmut Creutz dazu angeregt. Sie fuhren jedoch recht enttäuscht wieder ab. Was Creutz aufgebaut, hatten andere Freiwirte durch ihre ideologische Bevormundung wieder eingerissen. Von seiner nüchternen Art geht mehr Überzeugungskraft aus. Sie entstrahlt einer selbstbewußten, aber nachdenklichen Persönlichkeit, die sich für neue Argumente und Tatsachen offen hält. Creutz spricht nicht die Glaubenskraft der Menschen, sondern ihren Erkenntnisdurst und ihren gesunden Verstand an. Er gaukelt niemandem ein Paradies auf Erden vor. Die NWO-Theoretiker der Weimarer Republik hatten emphatisch erklärt, mit der Geld- und Bodenreform werde für alle Zeit die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet sein. Creutz sagt nur: "Die zinsbedingte Ausbeutung des Menschen wird reduziert" (10) Er ist stets um eine sachlich-präzise Klärung der Vorgänge und Begriffe bemüht, wozu er sich meist der statistischen Methode bedient.

 

Bei seinem öffentlichen Wirken kommen ihm die Erfahrungen in der Wirtschaft sehr zustatten, die er als selbständiger Architekt sammeln konnte. Neben seinem Beruf äußerte er sich als Publizist zu Problemen der Bildungspolitik und der Arbeitswelt ("Haken krümmt man beizeiten" und "Gehen oder kaputtgehen"). Ende der 70er Jahre bekam Helmut Creutz eine Zuschrift von einem alten Freiwirt, der von einem seiner Bücher beeindruckt war und ihn anregte, sich mit der Broschüre "5000 Jahre Kapitalismus" von Hans Kühn zu beschäftigen. Er las diese Broschüre und besorgte sich weitere Literatur zur Kritik von Geld, Zins und Wachstum. Binnen kurzer Zeit erschloß sich ihm eine neue Sicht der Welt, die ihn faszinierte und zu dem Entschluß führte, seinen Beruf nach einer Übergangszeit aufzugeben und sich mit ganzer Kraft der Verbreitung der neugewonnen Einsichten zu widmen. Als Praktiker war Helmut Creutz dagegen gefeit, nunmehr in einen Elfenbeinturm von Theorien und Modellen zu steigen. Er begann vielmehr, die Realität wirtschaftlicher und ökologischer Krisenentwicklungen anhand von Zahlen, Daten und Fakten so darzustellen, daß ihr Sinnzusammenhang von innen aufleuchtete. Für ihn liegen im Geldwesen und Bodenrecht gravierende Störfelder des sozialen Lebens.

 

Helmut Creutz will Problembewußtsein wecken statt ausgearbeitete Lösungsmöglichkeiten für Probleme aufzudrängen, die in der Öffentlichkeit noch gar nicht als Probleme erkannt sind. Für Vorträge, zu denen er von Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen, von kirchlichen Gruppen und Institutionen, auch von Parteien und Gewerkschaften eingeladen wird, hält er grafische Darstellungen bereit, die sich als didaktische Mittel zur Veranschaulichung wirtschaftlicher Zusammenhänge bewähren und sich gleichsam in den Köpfen der Beschauer festsetzen. Eine Auswahl von solchen Grafiken hat er zu einer Ausstellung zusammengefaßt, die auf Kirchentagen und Öko-Messen viele Besucher anzieht. Sie soll das Publikum zu selbständigem Nachdenken anregen.

 

Was jüngeren Leuten an Helmut Creutz besonders gefällt, ist seine freilassende Art. Er wirft ihnen wegen skeptischer Fragen weder die Lehre Gesells an den Kopf, noch will er selbst ,Gesellianer' genannt werden. So entfaltet er einen Aktionsradius, wie ihn noch niemand in der NWO-Bewegung jemals gehabt hat. Indem er für eine ökologische Steuerreform eintritt, geht er auch über ihr Kernanliegen hinaus. Überhaupt entspringt sein ganzes Engagement einem ökologischen Impuls; in seiner Heimatstadt Aachen gehörte er zu den Mitgründern der Grünen.

 

Nachdem ihm der Zusammenhang zwischen Zins und Wirtschaftswachstum deutlich geworden, geht es Helmut Creutz darum, den Zinsschleier zu lüften, der das Gesicht der Bundesrepublik immer dichter verhüllt, auch das der Weltwirtschaft. Sein Ansatz ist die Unterscheidung zwischen natürlichem, linearen und exponentiellem Wachstum der Wirtschaft.

 

a) Natürliches Wachstum ist abnehmend und entspricht etwa den Prozeßabläufen in der Natur. Anfänglich rasante Wachstumsschritte gehen zurück, um sich schließlich auf einer optimalen Höhe zu stabilisieren - wie Lebewesen im Erwachsenenalter. Kein Baum wächst unbegrenzt in den Himmel.

 

b) Lineares Wachstum setzt einen gleichbleibenden Verlauf voraus. Jährlich soll sich das Bruttosozialprodukt um einige Prozent vergrößern. Dies wird als normal erachtet, obwohl ein gradliniger Verlauf in irrealen Größenordnungen endet. In der Bundesrepublik verpflichtet ein Gesetz aus dem Jahr 1967 die Wirtschaft sogar zur Stabilität durch ständiges Wachstum! (Als könnte man das Wachstum von Getreide fördern, indem man an den Halmen zieht.)

 

c) Das exponentielle Wachstum arbeitet sogar mit Verdoppelungsraten. In jeder Zeiteinheit soll sich die Ausgangsmenge verdoppeln. Das ist widernatürlich und sprengt mit zunehmender Beschleunigung auch alle Vorstellungsgrößen. Die Absurdität des exponentiellen Wachstums zeigt das indische Schachbrettmärchen. Der Brahmane erbat vom König für das erste Feld des Spielbretts 1 Getreidekorn, für das zweite 2, für das dritte 4 Körner usw. Der König hielt den Wunsch des Brahmanen anfangs für bescheiden - doch mußte er bald einsehen, daß er diesen Wunsch nie würde erfüllen können. So würde die 63-fache Verdoppelung eines einzelnen Getreidekorns mehr als 9000 Billiarden Körner und mehr als 400 Milliarden Tonnen Getreide ergeben. "Abläufe mit Verdoppelungsraten gibt es im Naturbereich allenfalls als krebsartig wuchernde und damit krankhafte Erscheinungen, die zum Kollaps des Gastorganismus führen, mit dem sie selbst zugrundegehen. Trotz all dieser Tatbestände gehen wir jedoch im wirtschaftlichen Bereich ständig mit exponentiellen Wachstumsgrößen um." (11) Bei 2 %igem Wachstum wächst eine Ausgangsmenge in 72 Jahren um das Vierfache, bei 3 % auf das Achtfache, bei 4 % auf das 16-fache, bei 5 % auf das 36-fache, bei 9 % auf das 512-fache und bei 12 % auf das 4096-fache! Noch in den 70er Jahren hielt man in der Bundesrepublik eine jährliche Steigerung des Energieverbrauchs von 6 - 7 % für nötig, was zum Bau weiterer Atomkraftwerke führte.

 

Schon die Anhebung der Zinsen um 0,01 % kann das Endergebnis enorm verändern. Der Zinseszins bewirkt das Wachstum des Geldvermögen mit Verdoppelungsraten. Die Zeitdauer der Verdoppelung hängt von der Zinshöhe ab. Wie Helmut Creutz ausgerechnet hat, floß 1982 etwa ein Viertel des gesamten Sozialprodukts jede vierte Mark - als Zinseinnahme an die Banken und anderen Kapitalbesitzer ohne konkrete Gegenleistung.

 

Durch Plakate und Annoncen der Banken wird der Eindruck erweckt, daß jeder reich werden könne, ohne einen Finger krumm zu machen, wenn er sein Geld nur ,arbeiten' lasse: es vermehre sich von selbst. Aber die leistungslosen Zugewinne stammen aus der Leistung aller arbeitenden Menschen. Sie werden in dem Maße ärmer, wie die Kapitalbesitzer reicher werden: diese Schere scheint sich immer weiter zu öffnen. Die von der Volkswirtschaft zu tragende Zinslast ist seit den 50er Jahren in der Bundesrepublik kontinuierlich größer geworden. Während die Leistung von 1950 - 1982 nominell um das 16-fache gestiegen ist, sind das Sachkapital auf das 25-fache und das Geldkapital (und damit die Verschuldung) auf das 42-fache geklettert. "Wenn im Jahre 1968 100 DM in die Bundeskasse flossen, dann kassierten die Banken jeweils 41 DM Zinsen. Im Jahre 1982 kamen dagegen auf l00 DM Bundeseinnahmen bereits 107 DM Zinsen." (12) Der öffentliche Haushalt ist fast hoffnungslos verschuldet. Demgegenüber sind die Zinserträge der Banken hochgeschnellt, diejenigen der Bankanleger sogar auf das 9,5-fache der Größe von 1968. Außer dem Staat verschuldet auch die Wirtschaft. Viele Unternehmer riskieren keine Investitionen mehr. Ende 1982 war allein die Schuldenlast des Bundes auf über 300 Milliarden DM gewachsen. Wie der Bundeskanzler zugeben mußte, reichte die Neuverschuldung durch Kredite kaum noch aus, um die jährliche Zinslast abzutragen. 1982 waren die Zinsausgaben des Bundes "höher als die gesamten Ausgaben für Kindergeld, Bafög, Wohngeld und Mutterschaftsgeld". 1983 mußten die öffentlichen Kassen rund 60 Milliarden Zinsen zahlen, täglich 164 Millionen.

 

Helmut Creutz tritt für maßhaltendes Wirtschaften ein, für ein Geld mit der Fähigkeit zur Selbstbegrenzung des Wachstums. Akkumulation und Konzentration der Geldvermögen führen, sobald sie überproportional sind, zu einer entsprechenden Überentwicklung der Schulden und zu Einkommensumschichtungen von der Arbeit zum Besitz. Die Zinslasten der Arbeitenden schlagen sich bei den Besitzern der Geldvermögen als Erträge nieder und bewirken ein erneutes Wachstum derselben mit entsprechender Zunahme des Verschuldungszwanges. "Wir haben es also hier mit einer sich selbst beschleunigenden Problemspirale zu tun, mit einem unnatürlichen Regelkreis." (13)

 

Die Zinspreisbildung müsse ebenso den Kräften von Angebot und Nachfrage unterworfen werden wie alle anderen Marktpreisbildungen. Sinkende Zinsen sind zwar wünschenswert, aber mit ihnen nimmt die Zurückhaltung des Geldes zu und damit die Deflationsgefahr. Andere Freiwirte sprechen vom ,satanischen Zins', für Helmut Creutz ist er der 'Knappheitspreis des Geldes', als welcher er sich aber wegen der Macht des Geldes den normalen Marktmechanismen entziehen kann.

 

Geld müsse durch eine Änderung seiner Struktur entmachtet werden, um seine exponentielle Selbstvermehrung bis ins Unendliche und den damit verbundenen Wachstumszwang zu überwinden. Um Ersparnisse dezentral, also ohne eine allmächtige Planungsbürokratie in bedarfsgerechte Investitionen zu leiten, soll der Zins um Null pendeln.

 

Helmut Creutz denkt und spricht sehr viel präziser als jene, die von einer Beseitigung des Zinses reden. Er hält auch kein besonderes Freigeld mehr für erforderlich, zumal es viele Leute verunsichern würde. Seines Erachtens genügt es, die jetzige DM unter Angebotszwang zu stellen. Als Praktiker hat Helmut Creutz dafür auch eine Methode vorgeschlagen. (l4) Auf neuen Geldscheinen soll nicht nur die Vermehrung der Geldmenge (durch Fälschungen) unter Strafandrohung gestellt werden, sondern auch ihre Verminderung (durch Zurückhaltung vom Markt). Das Geld müsse allen spekulativen Mißbräuchen durch eine Weitergabepflicht entzogen werden.

 

Dem Einwand, die Wünsche der Menschen wären unbegrenzt - so daß die Wirtschaft wachsen müsse -, setzt Creutz entgegen, dies gelte vor allem für die Superreichen, nicht für jene, die für die Erfüllung ihrer Wünsche selber arbeiten müssen, "Außerdem wird jeder ab einer bestimmten Grenze feststellen, daß noch mehr Besitz nicht freier, sondern unfreier macht". (15) Die oft überzogenen Wunschvorstellungen würden einerseits von millionen- und milliardenschweren Minderheiten geprägt, andererseits von einer gewissenlosen Werbung, die immer aggressiver und materialverschlingender wird.

 

Auch mit den Entwicklungen auf den Immobilienmärkten hat sich Helmut Creutz eingehend beschäftigt und errechnet, daß der Wert des gesamten Bodens in der Bundesrepublik von etwa 146 Mrd (1950) auf mehr als 2400 Mrd DM Ende 1983 gestiegen ist. Das entspricht einer Steigerung um das 16-fache in 33 Jahren. Der leistungslose Wertzuwachs von rund 2250 Mrd DM konzentriert sich in den Händen einer Minderheit, weil die meisten der rund 10 Millionen Grundstücksbesitzer nur kleinere Flächen haben, und entspricht weitaus mehr als der Wirtschaftsleistung eines Jahres (1983: 1670 Mrd DM). Noch stärker als die gesamten Bodenwerte sind die Werte der Wohngrundstücke um das 38-fache von 12 Mrd 1950 auf 1010 Mrd DM 1982 gestiegen. Die allergrößten mühelosen Wertzuwächse konnten jene erzielen, deren Acker- und Weideflächen in Bauland umgewandelt wurde. Sie sind für Helmut Creutz aber "nur die eine Seite der Bodenunrechtsmedaille": Da nämlich der Boden als Sachkapital angesehen wird, beanspruchen die Besitzer wirtschaftlich genutzter Flächen auch eine Bodenwertverzinsung, die "heute bei mindestens 50 Mrd DM jährlich liegen dürfte". In seinem Buch "Bauen-Wohnen-Mieten" erläuterte Creutz die Auswirkungen dieser Ungerechtigkeiten auf das Wohnen als Grundbedingung menschlicher Existenz, auf den Bau von Eigenheimen und Mietwohnungen, darüberhinaus auf Städtebau, Raumordnung und Architektur. Anstelle von Enteignungen oder eines sofortigen Rückkaufs von Bodenflächen - der völlig unbezahlbar wäre - schlägt er vor, durch den Staat oder die Gemeinden alle mit dem Bodenbesitz verbundenen leistungslosen Einkommen "in voller Höhe steuerlich abzuschöpfen. Legt man für den jährlichen Wertzugewinn einen Betrag von rund 100 Mrd DM zugrunde und für die ,Bodenrente' einen von 50-100 Mrd DM, dann liegt der mögliche Rückfluß an die Allgemeinheit im Jahr also bei etwa 150-200 Mrd DM". Er könne als Familienlastenausgleich verwendet werden. Der Boden verliere dabei seine Eigenschaft als Spekulationsmittel. Infolgedessen sinke auch sein Preis. Creutz deutet die Möglichkeit an, daß die öffentlichen Hände später Land erwerben und langfristig verpachten könnten. (16)

 

Bodenrecht und Geldordnung spielen auch in der Dritten Welt eine große Rolle. In vielen Ländern, die durch hohe Kreditaufnahmen im Ausland in die Schuldenfalle geraten sind, dominiert noch immer der in Kolonialzeiten entstandene Großgrundbesitz. In einer ausführlichen Studie hat Helmut Creutz die Stichhaltigkeit der Argumente überprüft, die gemeinhin als Erklärung für die Ursachen der Schuldenkrise angeführt werden. Er hat darin auch das Für und Wider von Schuldenerlassen und Zinsverzichten abgewogen und dargelegt, weshalb er eine allgemeine Senkung des Zinsniveaus für die wirksamste Hilfe zugunsten der armen Länder hält. (17)

 

Nach der Wende in Osteuropa glaubte Creutz zunächst nicht daran, daß eine Wirtschaftsunion DDR-BRD möglich sei. Dazu müßten erst die gravierenden Unterschiede abgebaut werden. Auch eine gesamtdeutsche Währung könne wohl nur am Ende aller Anpassungsbemühungen stehen. "Es wäre aber zu überlegen, ob man nicht mit einergemeinsamen Währung anfangen sollte", die auf Angebotszwang gegründet sei.

 

Im Juni 1990 schlug Helmut Creutz eine Reform des Gesundheitswesens vor. Das jetzige sei ebenso falsch konstruiert wie das ganze System. Die Beiträge sollten gesplittet werden. "Eine Hälfte fließt wie bisher in den Gemeinschaftstopf, die andere Hälfte wird auf einem persönlichen Konto des Versicherten bei der Krankenkasse gutgeschrieben. Hat dieses Konto einen Stand von beispielsweise 4000 DM erreicht, braucht der Versicherte nur noch die erste Hälfte in den Gemeinschaftstopf weiter einbezahlen. Das heißt, sein Monatsbeitrag halbiert sich. Beansprucht der Versicherte irgendeine Leistung, wird der Betrag in voller Höhe von seinem persönlichen Konto abgebucht Danach setzt die volle Beitragszahlung solange wieder ein, bis sein Konto erneut ein Guthaben von 4000 DM ausweist. Gehen die Behandlungskosten über diesen Guthabenbestand hinaus, werden alle weiteren Kosten aus dem Gemeinschaftstopf bezahlt." (18)

 

Im Sommer 1993 ist in einem größeren Münchener Verlag ein Buch von Helmut Creutz mit dem Titel "Das Geldsyndrom "erschienen. Es ist gleichsam eine Zusammenfassung aller seiner Untersuchungen über reale wirtschaftliche Entwicklungen, wodurch die Theorien der NWO-Bewegung erstmals festen Boden unter den Füßen bekommen.

 

 

 

 

 

 

 

Dieter Suhr und das Neutrale Geld

 

Marx hatte die ,Ausbeutung des Menschen durch den Menschen' kritisiert. Suhr sprach von der ,Entfaltung des Menschen durch die Menschen'. Dieser positive Gesichtspunkt ermöglichte ihm eine hoffnungsvollere Sicht der Dinge. Er knüpfte wieder bei Hegel an, der seines Erachtens das soziale Problem klarer als Marx erkannt hatte, doch hielt er es für ein Vorurteil, daß dieser ein Gegner der Marktwirtschaft gewesen sei. Er habe sich allerdings immer tiefer in den Versuch verstrickt, das Geheimnis der Ausbeutung in den Produktionsverhältnissen zu entdecken, wobei es zu einer verhängnisvollen Abkehr von den menschlichen Bedürfnissen und zu einem Produktionsfetischismus kam. Die vielfältige Gleichheit der Menschen wurde von Marx auf die Gleichheit ihrer Arbeit reduziert, ,obwohl er zu Beginn seines Hauptwerks betont hatte, die Arbeit zähle nur, soweit sie Bedürfnisse befriedige. Am Ende kam er mit sich selbst nicht mehr ins Reine.

 

Diese Auseinandersetzung mit der Marxschen Lehre hatte etwas Leichtfüßiges. Suhr ließ sich auf ihre Fragestellung gar nicht erst ein, sondern stellte sie selber in Frage, was seine geistige Souveränität bewies.

 

Ebenso leichtfüßig setzte sich Dieter Suhr mit Rudolf Steiners "Sozialem Hauptgesetz" auseinander, demzufolge "das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen um so größer ist, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich selber beansprucht. . . und seine eigenen Bedürfnisse aus den Leistungen der anderen befriedigt werden". Das Soziale Hauptgesetz soll, wie Steiner sagte, durch seine praktische Anwendung den Egoismus mit Stumpf und Stiel ausrotten. Es beruht auf dem Prinzip des Altruismus, der sich hauptsächlich in Schenkungen ausdrücken soll. Viele Anthroposophen bestreiten das Recht auf Eigennutz, andere sind für ein leicht modifiziertes Leistungsprinzip. Dieter Suhr wollte diesen Streit zwischen Ethikern und Ökonomen weder schlichten noch entscheiden, formulierte aber Einwände gegen den ,Schenkungsaltruismus'. Die Elementarstruktur der zwischenmenschlichen Begegnung und damit auch der sozialen Vergemeinschaftung sei Gegenseitigkeit. Im Sozialen Hauptgesetz wird indes die Leistung für andere betont. Das ist der Gegenspruch zum Zeitalter des Individualismus.

 

Bei Marx die Abkehr, bei Steiner die Wiederhinwendung zu den menschlichen Bedürfnissen - sie entspricht der klassischen Tradition abendländischer Sozial- und Wirtschaftsphilosophie. Neu am Sozialen Hauptgesetz ist jedoch, "daß die Menschen subjektiv und emotional ihr Eigeninteresse vollkommen ablegen ‚sollen' um dann subjektiv-moralisch oder sogar religiös einen vollkommenen Altruismus zu verwirklichen, bei dem man einander alles nur noch schenkt". (19)

 

Dies hielt Dieter Suhr für fragwürdig. Mit Schenkungen könne ein volkswirtschaftlicher Wohlfahrtsverlust einhergehen, auch eine moralische Demütigung der Beschenkten. Soweit sie als Almosen erforderlich werden, sind sie Symptome der Ungerechtigkeit, auch eine Ersatzlösung, die im Interesse der Reichen läge. Besser wäre Gegenseitigkeit, da sie beiden Seiten nutzt. Suhr erstrebte eine innige Verbindung zwischen dem gesunden Eigeninteresse selbständiger Persönlichkeiten und der kommunikativ verbindenden Mitmenschlichkeit. Auch das Prinzip der Gerechtigkeit lege sie nahe.

 

"Angesichts der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit, die auch Steiner hervorhebt, kann es nur darum gehen, das Eigeninteresse, das i n  j e d e m Fall im Spiel ist, ethisch zu läutern und zu überhöhen, ohne es zu leugnen und zu verdrängen." (20)

 

Vielleicht wäre das auch im Sinne des Sozialen Hauptgesetzes. Steiners objektiver Altruismus, der in den Strukturen neuartiger Einrichtungen verankert werden soll, sei als Gegenpol zu krankhaften Überspitzungen des ökonomischen Eigeninteresses verständlich, das aber gewiß nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden könne. Ein Schlüssel zu den von ihm geforderten Einrichtungen liege im Geld.

 

Dieter Suhr bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als einen "sympathisierenden Außenseiter" der Anthroposophie. So hätte er, danach gefragt, wohl auch sein Verhältnis zur Freiwirtschaft umrissen, die er "zugleich mit Wohlwollen und kritischer Distanz" fast zehn Jahre lang begleitete (wie es in einem Nachruf von Klaus Wulsten und Werner Onken hieß). Sein Tod wurde als unersetzlicher Verlust empfunden, ja als weiterer Schicksalsschlag der Freiwirtschaft.

 

Das Grundprinzip seines Denkens war die Gegenseitigkeit, auch im verfasssungsrechtlichen Sinne. Das individuelle Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit lasse sich nicht in Abgrenzung von den Mitmenschen realisieren, es bedürfe vielmehr des Einklangs mit ihnen. Anscheinend faßte Prof. Suhr auch die Gerechtigkeit - Inbegriff der sozialen Frage - vor allem als ein rechtliches Problem auf. Er arbeitete eng mit dem Seminar für freiheitliche Ordnung zusammen, das ihn posthum als einen genialen Denker würdigte. Demnach ist die NWO-Bewegung von einem Genie befruchtet worden. Im Sinne des Anthroposophen Josef Beuys war er ein sozialer Plastiker. Dieter Suhr arbeitete aber darüber hinaus am überlieferten Bilde des Menschen. Sowohl das idealistische als auch das materialistische Menschenbild dünkte ihm einseitig. Tatsächlich scheint er beide durch seine Verfassungstheorie erschüttert zu haben.

 

Wie Laurens van der Post als weißer Afrikaner geboren, war er in seiner Jugend zwischen Südwestafrika und Deutschland hin- und hergependelt. Er hatte zunächst Physik und sodann die Rechtswissenschaften studiert. Aber schon als Assistent an der Bochumer Universität befaßte er sich auch mit sozialen Fragen. Der spätere Professor für öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik war zeitweilig Mitglied des Bayrischen Verfassungsgerichtshofes. Nach seinen beiden grundlegenden Werken "Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung" und "Entfaltung des Menschen durch die Menschen" schöpfte er aus einem Fundus eine ganze Reihe von Schriften zum Thema Geld, die man auch als Suhrsche Serie zum Thema Freiwirtschaft bezeichnen könnte. Darunter befinden sich je eine Studie über die marxistische Politische Ökonomie und Rudolf Steiners Begriff des alternden Geldes.

 

Der Kapitalismus erschien Dieter Suhr als ein monetäres Syndrom mit einer vom Zinsbazillus befallenen Währung. Zug um Zug folgte er jenen Gedanken, die sich Marx über das Geld gemacht hatte, wobei er einen tiefen Widerspruch entdeckte. Einerseits soll Geld nur das Äquivalent der Waren sein, andererseits besitze es die größte Tauschkraft und Schlagfertigkeit - anscheinend maß ihm Marx eine größere Bedeutung zu als seine Epigonen und erkannte halbwegs schon seine Überlegenheit über die Waren.

 

Das Geld war für Suhr ein Produktionsmittel, eine Verwirklichungs-Bedingung der Arbeit, auch der arbeitsteiligen Wirtschaft. Seine Überlegenheit bewirke jedoch eine asymmetrische Struktur von Kauf und Verkauf. Die Macht des Geldgebers besteht darin, es zurückhalten zu können, wenn es von anderen am dringendsten gebraucht wird. Von ihm Abhängige sind genötigt, dafür Zinsen zahlen zu müssen. So entsteht Mehrwert heckendes Geld. Dessen Machtstellung ist die Wurzel der Trennung von Arbeit und Eigentum.

 

In einem anderen Buch hat sich Dieter Suhr mit einem "Geld ohne Mehrwert" befaßt. Es würde die Marktwirtschaft von monetären Transaktionskosten entlasten. Nur durch ein solches Neutrales Geld könne sie vom Kapitalismus befreit werden. Es entspräche der sozialen, ökonomischen und ökologischen Vernunft. Suhr hielt es für verwandt mit dem "alternden Geld", das Steiner erwogen.

 

Seines Erachtens ist eine Wirtschaft, in der Zins erpreßt werden kann, auf Arbeitslosigkeit programmiert. Als es in Deutschland nach 1945 schlecht ging, erblühte die Wirtschaft; je besser es uns ging, desto mehr verblühte sie. Der nunmehrigen Massenarbeitslosigkeit stehen anschwellende Ströme von Zinszahlungen gegenüber. Soziale Gerechtigkeit kann sich der Staat nicht leisten, jedoch immer größere Verschuldung.

 

Wie ist der ungestillte private und öffentliche Bedarf mit dem Leistungsangebot der Arbeitslosen zusammen zu bringen? "Die Wirtschaft stagniert, weil der Bedarf nicht zum Angebot und das Angebot nicht zum Bedarf kommt. Der Austausch stockt. . . " In unserer Wirtschaft gibt es Geld, dem der Bedarf fehlt, und Bedarf, dem das Geld fehlt. Das erstere führt nicht zur Nachfrage nach Waren, sondern nach Zinsen und Renditen. Die Zinsen belasten die Unternehmer und die Letztverbraucher, sie entziehen ihnen wiederum Geld, obwohl sie ohnehin davon zu wenig haben. Können die Zinsen nicht mehr aufgebracht werden oder ist der Zinssatz zu hoch, bleibt der betreffende Bedarf endgültig unbefriedigt und die gesamte Wirtschaft stockt. So gründet die Massenarbeitslosigkeit letzten Endes in Einkommen ohne Leistung. Die Geldströme fließen in die falschen Kassen, wo sie eigentlich gar nicht gebraucht werden. Es findet eine ständige Subventionierung der Kapitalrentner durch die Produzenten und Endverbraucher statt: "Subventionierung der Bedarfslosen durch die Bedürftigen". (21)

 

So deckte Suhr einen Widerspruch auf, den Marx und Steiner übersehen hatten. Er ist mit einem krankhaften Wachstum der Wirtschaft verknüpft. Gemeinsamer Nenner ihrer Siechtums-Symptome sei zunächst der Zins. Dieser erzeugt nicht nur das leistungslose Einkommen, sondern stellt auch den entscheidenden Kostenfaktor dar. Er richtet eine Kostenschranke auf, "die zu überwinden die Selbstheilungskräfte des Marktes auf lange Sicht nicht ausreichen".

 

Suhr brachte ein plastisches Beispiel. Die Zinsströme wachsen so überproportional an, "als ob bei einem Kind ein Fehler im Blutkreislauf dazu führe, daß immer mehr des umströmenden Blutes nicht durch die Lunge, sondern an ihr vorbeiflösse. So wenig wie dieses Blut mit Sauerstoff aufgeladen würde, so wenig wird das Geld in den Zinsströmen mit Bedarf aufgeladen". Ihm gesellt sich nur die verhängnisvolle Sucht nach dem Mehrwert zu. Dieser sei letztlich der gemeinsame Knotenpunkt aller Siechtumsymptome.

 

"Um dem Mehrwert beizukommen, muß man den Zins beeinflussen und senken." Dazu müßte man dem Geld Durchhaltekosten anheften. Das hatte auch Keynes erwogen, aber diese Idee nicht weiterverfolgt. Suhr griff sie wieder auf und dachte Keynes auf seine Art zu Ende. Er schlug vor, die Durchhaltekosten so zu dosieren, daß sie den Liquiditätsvorteil des Geldes, auf dem seine Überlegenheit beruht, in etwa aufzehren. Dann bleibt ein Geld ohne Mehrwert übrig.

 

Diesen abzuschöpfen, darin sah Prof. Suhr das geeignetste Mittel, um die Unersättlichkeit des angelegten Geldes zu bezwingen und das kranke Wirtschaftssystem zu heilen. Das sei eine keynesianische Alternative zum Keynesianismus. Die Durchhaltekosten würden an einem Kassenbestand nur in dem Maße zehren, wie er wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Es brächte nach wie vor einen Gewinn, sein Geld zu verleihen.

 

Man bekommt vom Markt eine Prämie dafür, daß man auf die Liquidität (Zurückhaltbarkeit) seines Geldes verzichtet. Die Neigung zu Risiko-Anlagen würde eher gefördert als gehemmt. Wer mit solchem Kapital Gewinne kassiere, habe sie auch verdient.

 

Keynes hatte die Idee des gestempelten Geldes zwar für gesund, aber kaum praktikabel gehalten. Suhr sah eine bequemere und elegantere Möglichkeit. Wenn die Bundesbank nach einer entsprechenden Änderung des Währungsgesetzes einen Teil des anfallenden Geldes in Form von Giralgeld statt in Banknoten ausgeben würde, böte es keinerlei technische Schwierigkeiten, dieses Giralgeld mit Durchhaltekosten zu belasten. Es gäbe ja schon Buchungsgebühren. So wäre das Giralgeld ,schlechter' als die Banknoten, müßte aber gleichwohl als gesetzliches Zahlungsmittel überall und von jedermann angenommen werden, ebenso wie früher die Geschäftsleute sich mit schlechteren Münzen abfanden, wenn ihre Kunden die besseren behalten wollten. Geld ohne Mehrwert hätte keinen gespaltenen Wert. Das Geld ohne Bedarf käme zum Bedarf ohne Geld, sogar zum Nulltarif. Aber es wird nicht geschenkt. An die Stelle des Zinses treten beim Entleiher Durchhaltekosten. Das Mehrwertsyndrom - die Hortung des Geldes - entfällt wie von selbst. Das war die Therapie von Dieter Suhr.

 

Er hat auch Gesell weitergedacht. Der Eigennutz wurde von ihm in eine Polarität eingespannt. Jeweils beide Partner sollen einen Vorteil haben. Die Gegenseitigkeit muß nicht nur eine solche der Leistung, sondern auch des Zugewinns sein.

 

Dieter Suhr war ein Ordo-Liberaler, der Gesell näherstand als Eucken und Rüstow, in seiner Diagnose und Therapie aber mehr von Keynes ausging. Er gehörte zur NWO-Bewegung im weitesten Sinne dieses Begriffes. Für Margrit Kennedy hat er wesentlich dazu beigetragen, die Freiwirtschaft auf den neuesten Stand zu bringen. Für andere Freiwirte besteht sein Verdienst vor allem darin, Verständnisbrücken zur Fachwissenschaft geschlagen zu haben.

 

Wohl unvermeidlich bediente er sich mehr einer wissenschaftlichen als einer populären Sprache. So auch bei seiner definitiven Erklärung des Neutralen Geldes:

 

"Um Kassehalter zu motivieren, ihr Geld auch ohne Zins weiterzugeben, und um zugleich wieder Symmetrie in die Marktverhältnisse zu bringen, so daß Chancengleichheit in der ökonomischen Kommunikation zwischen Geld und anderen Gütern wiederhergestellt wird, muß die kommunikative Überlegenheit des Geldes auf geschickte ökonomische Weise irgendwie kompensiert werden. Die Sache ist einfach: man muß mit der Geldhaltung nur gerade so viel Kosten verbinden, wie mit ihr ökonomischer Nutzen einhergeht." (22)

 

Ganz einfach war das nicht zu verstehen. Man könnte geradezu von einer wissenschaftlichen Verklausulierung des Neutralen Geldes sprechen. Aber auch Gesells NWO war schon schwierig genug.

 

Professor Suhr nahm an zwei transnationalen freiwirtschaftlichen Kongressen teil und hielt dabei jeweils einen Vortrag: in St. Vith wie in Wörgl. Die neue Wirtschaftskrise war für ihn ein monetäres Recycling-Problem. Dieses Problem könne am besten gelöst werden, wenn man den Liquiditätsvorteil des Geldes durch eine Ausgleichsabgabe beseitigt, ihm jedoch "seine Liquiditätseigenschaft beläßt". (23) Das Rezept von Wörgl sei für die Deflationskrise von heute nicht aktuell. Suhr ermutigte jedoch zu neuen Selbsthilfe-Versuchen, aus denen vielleicht die eine oder andere praktikable Lösung herausgefiltert werden könne.

 

 

 

 

 

 

 

Margrit Kennedy - Sanfte Evolution und Permakultur

 

Margrit Kennedy hat Architektur studiert und als Diplom-Ingenieurin abgeschlossen. Als Architektin, Stadtplanerin und Ökologin war sie außer in der Bundesrepublik auch in Schottland, in den USA und Nigeria tätig. Die Unesco übertrug ihr Forschungsprojekte.

 

Alle ökologischen Probleme sind ihres Erachtens technisch lösbar, falls das dafür nötige Geld aufgetrieben werden kann. Aber was für ein Geld? Müßte es nicht anders beschaffen sein als das heutige?

 

Auf die Frage, welche Funktion das Geld eigentlich hat, stieß Margrit Kennedy erst mit 40 Jahren. Spielt es nicht eine zerstörerische Rolle, statt der Wirtschaft und dem Menschen zu dienen? Sie konnte nicht begreifen, weshalb die Ökonomen die Wahrheit über das verheerende Geldsystem verschweigen. Wie Hans Cohrssen glaubt Margrit Kennedy, daß die technischen Schwierigkeiten einer Geldreform kleiner sind als das Problem, ein allgemeines Verständnis dafür zu wecken. Vielleicht ließ sich das am besten durch ein aufrüttelndes Buch erreichen?

 

Margrit Kennedy schrieb dieses Buch: "Geld ohne Zinsen und Inflation ". Es hat ungewöhnlich viel Beachtung gefunden und ist zum freiwirtschaftlichen Bestseller geworden. Mehrere Auflagen folgten kurz aufeinander, desgleichen Übersetzungen ins Schwedische, Dänische, Finnische und Norwegische. In ganz Skandinavien, wo die freiwirtschaftlichen Ideen bisher noch nie Fuß fassen konnten, sind sie von Margrit Kennedy wie Saatkörner ausgestreut worden. 1990 erschien bereits die 4. überarbeitete Auflage. Die englische Originalausgabe von 1987 ist mit der deutschen Version nicht identisch. Das Buch spricht, wovon ich mich selbst überzeugen konnte, auch volkswirtschaftliche Laien an. Einem trockenen Stoff wurde Leben beigemischt.

 

Die Autorin, der das gelang, ist keine ,Freiwirtin' im traditionellen Sinne, sondern eine originelle Persönlichkeit mit eigenen Ansichten, obwohl sie Silvio Gesell als "genialen Außenseiter" (24) schätzt, auch von Yoshito Otani viel gelernt hat (womöglich noch mehr), desgleichen von Dieter Suhr und Helmut Creutz. Ihre sozialpolitischen Ideen basieren auf der weiterentwickelten Freiwirtschaftslehre, gehen aber auch ihren eigenen Weg.

 

Margrit Kennedy distanzierte sich in ihrem Buch vorsichtig "von den allzu begeisterten und naiven Geldreform-Anhängern in der Vergangenheit", die geglaubt hätten, alle Probleme würden schlagartig und automatisch durch die Einführung von Freigeld gelöst. Ohne spezielle Programme und besonderes Engagement für soziale und ökologische Probleme könne nur eine Erleichterung herauskommen. Die anstehenden Reformen sind keine Solotänzer, sondern wichtige Aspekte einer schon stattfindenden und tiefgreifenden globalen Transformation. Möglicherweise kommen die Freiwirte dabei sogar ins Hintertreffen. Was an Selbsthilfe-Aktionen in Skandinavien, den USA oder Kanada bereits läuft, scheint von anderen Leuten in Gang gebracht worden zu sein. Margrit Kennedy hält diese Experimente freilich für unzureichend. Sie sollten möglichst unter verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen ausgelöst werden, auch miteinander abgestimmt sein, um für das ganze Land aussagekräftige und zuverlässige Ergebnisse erbringen zu können. Strukturschwache Gebiete kämen am ehesten in Frage und wären für einen Wandel wohl auch am offensten, da in ihnen nur zu gewinnen und nichts zu verlieren sei. Dabei wird man an Karl Walkers Mahnung aus dem Jahre 1946 erinnert, daß die Freiwirte selbst Hand anlegen müssen, wenn sie zum geistigen Zentrum einer großen Reformbewegung werden wollen, die an Schlagworten kaum interessiert sein dürfte.

 

Margrit Kennedy hält außer der Geld- und Bodenreform auch eine Steuerreform für nötig. Sie soll in zwei Richtungen vorangetrieben werden:

 

1. statt der Einkommen künftig die Produkte zu besteuern;

 

2. in die Produktsteuer auch die ökologischen Kosten der jeweiligen Produktion einzurechnen, um die Umweltschäden auszugleichen. Die Menschen würden sich dann den Kauf eines neuen Autos oder eines neuen Fahrrads zweimal über legen, da ihre Reparatur billiger wäre.

 

Die neue Wirtschaftsordnung soll eine ökologische Marktwirtschaft sein. Den Produktpreisen würde ein steuerfreies Einkommen gegenüberstehen, woraus sich wahrscheinlich ein umweltschonenderes Konsumverhalten ergäbe.

 

Margrit Kennedy setzt hierbei auch auf das spirituelle Wissen und die spirituellen Techniken, welche sich in vielen Teilen der Welt ausbreiten. Sie weisen in der Tat auf tiefgreifende Bewußtseinsänderungen bei Millionen Menschen hin.

 

"Ihre Arbeit für inneren Wandel legt die Basis für äußeren Wandel, in dem die friedliche Transformation des Geldsystems ein wichtiger Aspekt ist." (26)

 

Den Freiwirten falle hierbei eine große Verantwortung zu, weil sie die Möglichkeiten einer Geldreform besser kennen als viele andere.

 

Die Autorin erwartet jedoch mehr von den Frauen, welche ökonomisch gesehen noch immer "50 % weniger wert sind". Der größere Teil des weiblichen Geschlechts fühle intuitiv, daß mit dem heutigen Geldsystem etwas nicht stimmt. Ihr langer Kampf um Gleichberechtigung und wirtschaftliche Unabhängigkeit habe die Frauen sensibler gemacht als die Männer. Es sei daher zu erwarten, daß sich viele von ihnen maßgeblich für ein gerechteres Tauschmittel einsetzen werden. Margrit Kennedy rechnet sogar alle lebendigen Systeme zur ,Frauenwelt'. Demgegenüber automatisiere die ,Männerwelt', indem sie "alles, was nach eigenen Gesetzen wächst und lebt, auszuschalten sucht". (27) Diese verschiedene Haltung zum Leben sei wichtig, wenn jene Kräfte erkannt werden sollen, die eine Veränderung des Geldsystems unterstützen könnten. Am meisten würden es die Frauen begrüßen, daß nun ein sanfter evolutionärer Weg möglich ist. Denn Revolutionen brächten immer menschliches Leid. Margrit Kennedy fordert für die Frauen einen zweiten Lastenausgleich, aber nicht aus Steuermitteln, sondern aus der Grundrente. Die Mütter und Frauen jeder Gemeinde sollten den Boden "selbst nach sozialen, städtebaulichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten verwalten". (28)

 

Margrit Kennedy bezog auch den Standpunkt der Dritten Welt. Kapitalismus und Kommunismus sind zwei "Unrechtssysteme, welche die Kolonialmächte eingeführt haben und welche sie heute schlimmer ausbeuten als die ehemaligen Kolonialherrn". (29) Eigentlich müßte die Veränderung des Geldsystems zuerst in der Dritten Welt erfolgen, die am meisten unter ihm leide.

 

Ist die soziale Frage vor allem eine Rechtsfrage, die nur durch neue Gesetze und eine starke Parlamentsfraktion gelöst werden kann? So sieht es nach diesem Buch aus. Margrit Kennedy scheint jedoch Basisarbeit vorzuziehen. Ein jeder soll zunächst im Familienkreis über die drei Reformen sprechen, dann im Bekanntenkreis, schließlich mit einflußreichen Leuten - von Mund zu Mund, statt von Flugblatt zu Flugblatt.

 

Wirtschaftliches Wachstum gehe mit sozialer und ökologischer Verelendung einher, wobei das Geld eine zentrale Rolle spiele. Die Leiter der Zentralbanken nutzen den Zins als Steuerungs-Instrument. "Das ist, als wolle man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben." (30) Der Zins soll durch eine Umlaufgebühr ersetzt werden. Margrit Kennedy beruft sich auf Dieter Suhr, aber auch auf John L. King (demzufolge der Zins eine "unsichtbare Zerstörungsmaschine" ist). Was punktuell schon in Schwanenkirchen und Wörgl (1932) erprobt worden sei, müsse nun auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene fortgeführt werden. Der Zins sei eine Zollbarriere. Obwohl das gegenwärtige Geldsystem verfassungswidrig ist, läßt es sich vermutlich nicht auf einmal abschaffen. Bei der Erprobung in einer Region könnten das alte und das neue Geldsystem in Koexistenz nebeneinander bestehen, bis sich der größere Nutzen des letzteren erwiesen hat. Das Neutrale Geld sei zwar stabiler, aber wegen der Benutzungsgebühr auch ,schlechter', weshalb es so schnell wie möglich ausgegeben werden will. "Genau das ist die Absicht". Mit dem alten Geld soll weiterhin all das bezahlt werden, was außerhalb der Versuchsregion eingekauft wird. Für die Übergangszeit wäre ein fester Wechselkurs von 1:1 angebracht. Die Versuchsregion, wo immer sie entstehen mag, vergleicht Margrit Kennedy mit einer Freihandelszone.

 

500 Milliarden Dollar vagabundieren rings um die Welt. Durch das Neutrale Geld könnten soziale und ökologische Projekte umsetzbar werden, die sich heutzutage nicht ,rentieren'. Die Versuchsregion wird womöglich zur Super-Schweiz, zu einem großen Geldmagneten, weil die erzielten Gewinne durch keine Inflation mehr gefährdet wären. Jetzt müsse die Inflation um so mehr angeheizt werden, je größer die Lücke zwischen den nationalen Einnahmen und staatlicher Verschuldung ist. In der Bundesrepublik sei bei 300 %iger Steigerung der Einnahmen die Zunahme der öffentlichen Verschuldung um 1160 % zu verzeichnen (worauf schon Helmut Creutz hingewiesen hatte). Die ständige Umverteilung des Geldes zugunsten der Superreichen ist für Margrit Kennedy eine weit subtilere und effektivere Form der Ausbeutung als jene, die Marx zu beheben versuchte. Der Mehrwert entsteht in der Produktionssphäre, seine Verteilung geschieht überwiegend in der Zirkulation, ja in immer größerem Umfang in der Geldsphäre. Das Geld müsse daher zu einer staatlichen Dienstleistung werden, für die eine Nutzungsgebühr gezahlt wird. Es soll dem Wohl der Gemeinschaft statt der Bereicherung Einzelner dienen. Bei dem jetzt schon weithin üblichen giralen Zahlungsverkehr wäre die Nutzungsgebühr sehr einfach zu erheben. Man bräuchte die Geldguthaben auf dem Girokonto nur mit monatlich 1/2 % zu belasten, also mit 6 % im Jahr:

 

"Jeder, der auf seinem Girokonto mehr Neutrales Geld hätte, als er für Ausgaben im laufenden Monat benötigt, würde - um Verluste zu vermeiden, den Überschuß auf sein Sparkonto überweisen, wo es keiner Gebühr unterliegt." (31)

 

Dort brächte es zwar keine Zinsen mehr, behielte aber seinen Wert. Dessen Stabilität hinge allerdings von einer vernünftigen Geldpolitik der Notenbank ab, sie setze auch eine genaue Anpassung an die für alle Transaktionen notwendige Geldmenge voraus.

 

Margrit Kennedy kam auf den Vorschlag des Altgesellianers Wilhelm Merks zurück, Seriengeld in verschiedenen Farben herauszugeben, das in gewissen Zeitabständen ohne Vorankündigung eingezogen werden könne. Die Geldreform werde ihren Zweck - das Horten zu verhindern - aber nur erreichen, wenn sie von einer Land- und Steuerreform begleitet wird.

 

Bezüglich der Landreform müßten individuelles Eigeninteresse und soziale Verantwortung gekoppelt werden. Das Land sei nicht vom Staat, sondern besser von den Gemeinden zu erwerben, wozu sie zusätzliche Mittel bräuchten, etwa 3 % der Grundrente gemäß dem Bodenwert. Die jetzigen Eigentümer könnten den Boden in Erbpacht behalten, wenn sie ihn an ihre Gemeinde verkaufen - diese Möglichkeit sollte eingeräumt werden. Margrit Kennedy rechnet jedoch mit starkem Widerstand der Landbesitzer, weshalb es wohl realistischer wäre, den Bodenzugewinn über eine entsprechende Steuer für die Allgemeinheit abzuschöpfen. Zinsfreie Kredite würden nicht nur den Boden erschwinglich und seine Vergiftung teuer machen, es wäre endlich auch möglich, die Umstellung der hochindustrialisierten Intensiv-Landwirtschaft auf eine biologische Anbauweise ,flächendeckend' durchzuführen. Daraus könne sich wiederum ein ganzheitlicher Lebensstil entwickeln.

 

Werden jene, die vom heutigen Geldsystem profitieren, eine Änderung zulassen? Margrit Kennedy glaubt daran, falls ihnen bewußt gemacht wird, daß der Ast, auf dem sie sitzen, zu einem kranken Baum gehört, also bald abbrechen kann. Früher hätten die Profiteure dazu gezwungen werden müssen, nun befinden wir uns bereits in einem Neuen Zeitalter, das eine sanftere Verhaltensweise ermöglicht.

 

Zum Neuen Zeitalter gehört auch die Permakultur, welche den Menschen wieder in Einklang mit der Natur bringen will. Der von Bill Mollison und David Holmgrenn geprägte Begriff ist auf eine dauerhafte Landwirtschaft bezogen, die sich am Leitbild des Urwalds orientiert, also das Umgraben und Jäten von ,Unkraut' vermeidet. Agrikultur war womöglich die erste Kultur überhaupt, auf die sich im 18. Jahrhundert die Anschauung der französischen Urphysiokraten vom Boden als der Quelle des menschlichen Wohlstands gründete. Nun wird darunter eher "ein sich selbstentwickelndes Ökosystem mit mehrjährigen oder sich selbst aussäenden Pflanzen" (32) verstanden. Permakultur ist ein Konzept, das auch soziale, ethische und ökonomische Komponenten umfaßt. Ihr Sinn besteht darin, sich selbst erhaltende Systeme zu schaffen, "die dem Menschen außer Nahrung, Energie und Wärme auch einen neuen, sinnlichen Bezug zu elementaren Lebensgrundlagen schenken". (33) Der Garten- oder Landbesitzer soll nicht nach kurzfristiger und unvermeidlich ausbeuterischer Ertragsmaximierung streben, sich als Hüter von Kreisläufen und Zyklen verstehen, als Heger und Pfleger der Erde, die ihm anvertraut ist.

 

Margrit Kennedy hat mit ihrem Mann und anderen Mitarbeitern in Steyerberg, wo sie lebt, selbst eine örtliche Perma-Kultur wachsen lassen, eine Art Eigenwirtschaft der Natur, die nur wenig menschlicher Arbeit bedarf. Ein japanischer Bauer säte als erster sein Gemüse in Unkraut, und es gedieh! Aus steinhartem Gelände wurde nach 20 Jahren eine Obstplantage. Was in Japan möglich war, konnte vielleicht auch in der Bundesrepublik verwirklicht werden. So entstand der inzwischen schon berühmte Lebensgarten Steyerberg aus dem Margrit und Declan Kennedy täglich 40 % ihrer Nahrung bei einem durchschnittlichen Arbeitsaufwand von 5 Minuten pro Tag beziehen. Gleichzeitig wurde eine Munitionsfabrik des Dritten Reiches in Räumlichkeiten für eine öko-spirituelle Gemeinschaft umgebaut. Darin finden auch Seminare statt, die sowohl Naturerfahrung als auch ein zukunftsweisendes Denkmodell vermitteln.

 

Kennzeichnend für Margrit Kennedy ist die Verbindung von Ökologie, Feminismus, Spiritualität und Freiwirtschaft mit einer ganzheitlichen Lebensweise. Ausgehend vom Lebensgarten Steyerberg werden inzwischen auch andere Permakultur-Zentren aufgebaut. Da "kein Kontinent so von Hunger bedroht ist wie Westeuropa" (Gerd Schuster), sind sie für uns besonders wichtig.

 

 

 

 

 

 

 

 

Werner Onken - Freiwirtschaft als potentielle Heilsbewegung

 

Zur Neuen Denkschule gehört auch jener Freiwirt, dem die transnationale NWO-Bewegung die Herausgabe der Gesammelten Werke Silvio Gesells verdankt, eine Initiative, die sich nur mit großer Beharrlichkeit und gegen Widerstände durchsetzen konnte.

 

Werner Onken wuchs auf einem Dorf nahe der ostfriesischen Küste auf, wo er durch seine Schüchternheit und frühe Empfindsamkeit von den grobschlächtigeren Jungen geschieden war, zuweilen auch von ihnen gehänselt wurde. Später, als junger Mann, verweigerte er den Kriegsdienst. Während seiner Zivildienstzeit fing er "freiwirtschaftliches Feuer" (34), interessierte sich aber auch für den Marxismus. Im freiwirtschaftlichen Feuer begann Werner Onken das Studium der Ökonomie, um sowohl ihre herrschende Lehre als auch den Marxismus näher kennenzulernen. Er schrieb eine hervorragende Diplomarbeit über Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, die von einem linken Gewerkschaftler angenommen wurde. Ein Neoklassiker vereitelte jedoch die Promotion.

 

Ungeachtet dessen versuchte Onken zunächst, Gesell und Marx zu versöhnen, indem er ihre Gemeinsamkeiten zu einer Art Synthese verflocht. Das geschah in zwei Heften, die vom Arbeitskreis Dritter Weg herausgegeben wurden. Sie waren bemerkenswert undogmatisch. Marx und Gesell wurden als bedeutende geschichtliche "Räder zur Weiterentwicklung sozialistischer Theorien" aufgefaßt, als Verfasser von Endaussagen, zu denen man entweder ja oder nein sagen müsse. Was den Wert oder das ,Wertgespenst' von Waren betrifft, stützte sich Onken nicht auf Gesell sondern auf Walker, zu dessen Überlegungen er entsprechende Gedanken bei Marx gefunden, der noch immer anregend und unausgeschöpft sei.

 

Doch die in Rußland zur Macht gekommenen Marxisten wollten das Geld abschaffen, was die Wirtschaft verbluten und Millionen Menschen verhungern ließ, "weil kein Geld den gesellschaftlichen Stoffwechsel vermittelte". (35) Die Anregung zu dieser Abhandlung, welche insgesamt 85 Seiten umfaßte, erhielt Werner Onken 1974 durch einen Vortrag von Georg Otto. Das war sein Debüt, an das er sich nicht mehr gern erinnert, obwohl es zu seinem Weg gehörte. Er mußte zunächst durch Marx hindurch, um zu dem zu werden, was er ist.

 

Seine Diplomarbeit hatte eine liberal-sozialistische Haupttendenz, wobei er die Grundzüge eines sozialgerechten und umweltkonformen dritten Weges in der Wirtschaft herausarbeitete. Dieser setzt s. E. die Entmachtung der Urmonopole von Boden und Geldkapital voraus. Das wurde zum erstenmal auch philosophisch begründet. Unter Berufung auf John Stuart Mill und Herbert Spencer heißt es, der Boden sei das gemeinschaftliche Erbe der Menschen; er dürfe daher kein Privateigentum sein. Die Neoliberalen hätten sich als erste dem blinden Glauben an den zügellosen technischen Fortschritt widersetzt. In einer nachkapitalistischen Marktwirtschaft werde von der "überflüssigen zur natürlichen Erwerbskunst" (Aristoteles) übergegangen, von der harten Großtechnik zur sanften mittleren Technik; in dezentralisierten Assoziationsbetrieben sei auch die Überwindung der Lohnabhängigkeit denkbar.

 

Onken versprach sich viel von einem Ökologischen Humanismus, der die anmaßende technokratische Ansicht zurückweist, "daß der Mensch die Schätze der Natur ausplündern dürfe, um sein materielles Vergnügen zu maximieren und sein Leben ohne Rücksicht auf kommende Generationen zu genießen". (36) Wenn seine Wiedereinbindung in die kosmische Ordnung ihn nicht von neuem in die Unmündigkeit zurückwerfen soll, muß eine neugewonnene Ehrfurcht vor der Naturharmonie zur Entstehung einer herrschaftsfreien Religiösität führen, in welcher der Mensch als mündiger Partner Gottes anerkannt wird. Bei der Herausbildung dieser Haltung haben auch die Einflüsse von Paulus Klöpfel und Karl Walker mitgewirkt, vom letzteren dessen Buch "Geist und Weltgestaltung"; außerdem "Der Gotteskomplex" von Horst Eberhard Richter.

 

Onken ist Liberalsozialist. Als Sozialist wünscht er eine egalitäre Beziehung auch zwischen Gott und dem Menschen, der sich als Mitschöpfer der sozialen Harmonie betätigen soll. Als Liberaler weist er die Behauptung des Marxismus zurück, die bürgerlichen Grundrechte würden den Weg zur Freiheit blockieren. "Dieser Irrtum nimmt dem Kommunismus jegliche Berechtigung, bei der Gestaltung der Zukunft ein gewichtiges Wort mitzureden." (37) Der Liberalismus sei nicht an einem Zuviel individueller Freiheiten gescheitert, sondern an ihrer mangelnden Durchsetzung für alle Bevölkerungsschichten. Die konsequente Verwirklichung seiner Ordnungsprinzipien wurde immer wieder von den wirtschaftlichen Monopolen Boden und Kapital verhindert. Sie selbst durchzusetzen, ist er nicht mehr imstande. Aber auch die Kraft der Freiwirtschaft reicht dazu nicht aus.

 

Onken hoffte, daß es den osteuropäischen Dissidenten mit sozialistischem Selbstverständnis gelingen möge, an die freiheitlichen Traditionen des vormärzschen Sozialismus anzuknüpfen und ihren Antiliberalismus zu überwinden, den sie mit dem Kommunismus gemeinsam hatten. Wenn es zugleich dem westlichen Liberalismus gelänge, sich aus seiner kapitalistischen Umklammerung zu lösen, könne aus der Verschmelzung beider Bewegungen zu einem Liberalsozialismus eine ganz neue politische Kraft hervorgehen, die vielleicht imstande wäre, zur Verwirklichung der Menschenrechte in Ost und West neue Impulse zu geben. Bei alledem hielt sich Werner Onken auf Distanz zu nationalistischen Denkweisen. Unter den mir bekannten Freiwirten denkt er am meisten historisch, wobei er die politischen und sozialen Kräfte in Ost und West als eine Ganzheit betrachtet, deren innere Entwicklungstendenzen nur durch eine umgreifende Betrachtungsweise ergründet und in Rechnung gestellt werden können. Für ihn hatte der Sowjetkommunismus schon 1977 keine Zukunft mehr. 1983 begann Werner Onken mit dem Aufbau einer Freiwirtschaftlichen Bibliothek, die wie die von Paul Gysin geschaffene Schweizerische Freiwirtschaftliche Bibliothek die Möglichkeit schaffen soll, die Geschichte der von Gesell ausgegangenen Bewegung kritisch aufzuarbeiten. Sein historischer Blick erwies sich auch bei seiner Beurteilung des Wörgler Freigeld-Experiments. Fast alle anderen Freiwirte haben daraus den Schluß gezogen, in Wörgl sei ein für allemal die Realisierbarkeit und Prosperität der Freiwirtschaft bewiesen worden. Entgegen diesem Überschwang war Onken nüchtern genug, vor einer Überbewertung zu warnen: "Die im kleinen Rahmen erzielten Erfolge sind selbstverständlich noch kein hinreichender Beweis für die absolute Richtigkeit dieser Vorschläge und ihre Durchführbarkeit im großen Rahmen einer gesamten Volkswirtschaft" (38). Sie dürften auch deshalb nicht als Patentrezepte angepriesen werden, "weil sich dabei nur ein Bruchteil der Theorien Gesells verwirklichen ließ".

 

Werner Onken ist kein Theoretiker, obwohl er sich als Redakteur der freiwirtschaftlichen "Zeitschrift für Sozialökonomie" laufend mit theoretischen Dingen beschäftigen muß, aber ein eigenständiger Kopf, dem es um ordnungspolitische Klärungen und um weltanschauliche Grundlagen der NWO-Ideen geht. Er tritt einerseits für eine ökonomische Orientierung der ökologischen Bewegung ein, andererseits für eine ökologische Orientierung der Freiwirtschaft. Beiden hat er in einem längeren Aufsatz die Grundzüge der Umweltökonomik erläutert, auch die Kritik an deren Beschränktheiten dargestellt. Ohne ökologische Ethik sei eine umweltkonforme Wirtschaftsordnung kaum zu erreichen. Entsprang doch die Umweltmisere auch dem Herrschaftsstreben des Menschen, die Natur zu unterjochen und sich als ein Teil ihrer selbst hierarchisch über die zu erheben. Sie kann nicht durch öko-industrielle Entsorgungstechnologien behoben werden. Hingegen hält die ökologische Ethik zu einem sanften Umgang mit den Umweltgütern an und stellt "eine herrschaftsfreie, egalitäre Beziehung zwischen Mensch und Natur her". (39)

 

In einem Gedenkartikel zum 100. Todestag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen würdigte Onken auch die bäuerlichen Raiffeisengenossenschaften. Obwohl zu einer Weltbewegung geworden, fand eine Aushöhlung der Grundprinzipien statt. Sie ließen sich zu Instrumenten des modernen Bauernlegens machen - der sogenannten ,Grünen Revolution'. Das zinstragende Geld trieb einen Keil in die genossenschaftliche Selbsthilfe. Nun sollten die Raiffeisengenossenschaften die Rückkehr der aus den Dörfern verdrängten Bauern in die Landwirtschaft ermöglichen und zugleich deren Umstellung auf biologische Anbaumethoden fördern. Schon Raiffeisen hat den Raubbau am Boden beklagt und eine natürliche Düngung für die beste gehalten. Bis zur Verwirklichung der Gesellschen Geldreform könne das ländliche Genossenschaftswesen erheblich dazu beitragen, die sozialen und ökologischen Schäden der Herrschaft des Geldes über den landwirtschaftlichen Markt zu begrenzen. Es sollte erkennen, daß die Bauern "nicht nur untereinander, sondern auch mit der Natur in einer Art genossenschaftlicher Interessengemeinschaft stehen". (40) In der Tat hat sich schon im schottischen Findhorngarten herausgestellt, daß die Natur zu aktiver Mitarbeit bereit ist, wenn sie auf sensible Menschen mit ökologischer Ethik stößt, die behutsam mit ihr umgehen.

 

Werner Onken hofft, daß die ländlichen Genossenschaften ihre kapitalistischen Verformungen ablegen werden. Mit ihnen habe F. W. Raiffeisen eine Unternehmensform geschaffen, welche die Aktiengesellschaften überdauern und in einer nachkapitalistischen Marktwirtschaft ein Garant von Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung sein wird. Er ist der Überzeugung, daß die menschliche Evolution dahin geht, den homo oeconomicus durch den homo oecologicus abzulösen, also einen neuen Menschentyp zu formen, der den eisernen Ring des Egoismus von innen her sprengt. (Dafür spricht, daß bereits zahlreiche Kinder ein ökologisches Bewußtsein haben, als wäre es ihnen angeboren und zur Neuordnung der Welt mitgegeben.)

 

Onken hat nicht allein die soziale und ökologische Betroffenheit erfahren, vielmehr auch eine religiöse Erschütterung seiner Existenz. Sie äußerte sich in einem bisher unveröffentlichten Buch, das 1987 geschrieben worden ist. Es trägt einen für Freiwirte ganz ungewöhnlichen Titel: "Die Harmonie des Kosmos, der Verlust des Paradieses und die Heilung der Welt". Onken versuchte darin eine Synthese von Gesell und Hahnemann, des eigenwirtschaftlichen Sozialreformers und des Begründers der Homöopathie. Sie waren zwar keine Zeitgenossen, aber bei beiden liege ein Ansatz zur Heilung der kranken Welt vor.

 

Die harmonikale Ordnung der Wirtschaft nach den Vorschlägen Silvio Gesells ergebe eine ganzzeitliche Ordnungstherapie für Mensch und Gesellschaft, der die homöopathische Heilung individueller Krankheiten entspreche. Das Werk des ersteren trage zwar in mancher Hinsicht zeitbedingte Züge, "aber sein Kerngehalt verdient Beachtung und ist der Weiterentwicklung wert". (41) Hat Gesell nicht als erster entdeckt, daß die Harmonie des Universums schon seit rund 6000 Jahren durch schwerwiegende soziale Disharmonien gestört wird? Auf dem ihm wesensfremden Parkett des cartesianisch-technokratischen Denkens mußte seine ganzheitliche Therapie bei den eingeschachtelten Fachökonomen zwangsläufig auf Unverständnis stoßen. Andererseits war dieses linear-kausale Denken außerstande, die wirtschaftlichen Probleme zu meistern. Und die NWO-Bewegung zu schwach. Ohne ein weltanschauliches Fundament und Scheidewasser konnten Gesells Ideen keine Wurzeln in den Herzen der Menschen schlagen, sie wurden daher meist kopfmäßig, also intellektuell aufgefaßt, dazu von einem Menschenkreis verschiedenster und teilweise gegensätzlicher geistiger Herkunft, was fast unvermeidlich zu Spannungen und Streitereien führte.

 

Werner Onken unterschied zwischen zwei Denkreihen, die sich durch ihre Eigenarten konträr gegenüberstehen und zwischen denen sich jeder Mensch entscheiden muß:

 

1. einer mechanistisch-technokratischen, die mit Descartes begonnen und der sich Marx verhaftet gewesen; ihre Vorform war patriarchalisch, auf die Herrschaft des männlichen Geschlechts gegen Gott, die Natur und die Frau gegründet;

 

2. einer harmonikalen, die schon mit Pythagoras begann und sich durch Platon, Boethius Nicolaus von Kues bis zu Leibnitz und Kepler fortsetzte. In diesem Urstrom des harmonikalen Denkens hätten schließlich auch Gesell und Hahnemann gestanden, zwar nicht dessen bewußt, aber beide aus ihrer geistigen Grundhaltung heraus. Die individuelle Heilkunst Samuel Hahnemanns und die soziale Heilkunst Silvio Gesells bilden für Onken eine unteilbare Ganzheit - eine müsse die andere ergänzen. Die Unterstützung der natürlichen Selbstheilungskräfte in der Medizin und in der Ökonomie entspräche dem Grundgesetz des Lebens: der dynamischen Selbstordnung.

 

Für Hahnemann war der menschliche Organismus in seiner Ganzheit von Geist, Seele und Körper solange gesund, als er sich in einem dynamischen Gleichgewicht befand. In Gefühlen und Tätigkeiten harmonisch von seiner geistartigen Lebenskraft zusammengehalten, kann die Schwächung seiner Abwehrkräfte durch den heilenden Reiz einer kleinen Dosis Medizin ausgeglichen werden. Krankheit ist ein Leiden der Lebenskraft. Heilende Reize sieht Onken auch in den von Gesell vorgeschlagenen Reformen des Geldes und der Bodenordnung. Sie sollen die Krankheit des sozialen Organismus in Übereinstimmung mit den ewigen Naturgesetzen der Weltordnung heilen. Eine ähnliche Sicht hatte beispielsweise schon Will Noebe. Sie ergab sich aus den Gesichtspunkten der Lebensreform. Aber erst Werner Onken hat Silvio Gesell in das geistige Universum eingegliedert, in eine unsichtbare Weltharmonie, welche über den Wirren der Erde schwebt und sie besänftigen könnte.

 

Die NWO-Bewegung wäre bisher falschen und isolierten Strategien gefolgt, Versuchen der politischen Unterwanderung demokratischer oder totalitärer Parteien und direkter Verwirklichung, die nicht fruchten konnten. Onken ist der Ansicht, daß die Freiwirtschaft nur im gleichen Maße wie das Gottesreich verwirklicht werden könne. Er glaubt, die Natürliche Wirtschaftsordnung sei ein Teil des Schöpfungsplans. Hierbei geht er von einer Ganzheit der geistlichen und weltlichen Heilsbestrebungen aus, in der sich Glauben und Wissen polar ergänzen. Kritische Aussagen der Bibel, des Korans und anderer Weisheitslehren über die Verkäuflichkeit des Landes und über das Zinsnehmen ließen sich mit den Denkansätzen der Geld- und Bodenreform in Beziehung setzen.

 

Auf dem Konstanzer INWO-Kongreß vom September 1991 hielt Werner Onken eines von drei Hauptreferaten. Er verglich Gesell mit Hus; gleich diesem sei er ein "Vorreformator" gewesen, aber auf dem Gebiet der Ökonomie. Ist also noch ein Luther der Freiwirtschaft zu erwarten? Folgt man Onken, so hat Gesell zwar ihr Fundament gelegt, aber nicht das Haus erbaut, in welches die Freiwirtschaft einmal einziehen wird. Zur Vollendung seines Werkes bedarf es noch "ganzer Generationen von geistigen Baumeistern und Mithelfern, die über ihn hinausdenken". (42) Sie sollen neue Fragen stellen und eigene Wege gehen.

 

Onken wies auf das Fragmentarische der Gesellschen Staatstheorie hin, die zumindest ergänzt, wenn nicht korrigiert werden müsse. Der Zins sei noch weit mehr als ein sozialer Spaltpilz, nicht nur die Angel der sozialen Frage, sondern der archimedische Punkt im ganzen Weltgefüge. An diesem Punkt entscheide sich, ob die Menschenfamilie zu innerem Frieden und seelisch-geistiger Gesundheit gelangen, ob sie in den Gesamtorganismus unseres Planeten integriert werden könne. Die Freiwirtschaft sei eine Art Ketzerbewegung gegen die weltliche Priesterkaste der Nationalökonomen an der Spitze des Kapitalismus gewesen.

 

"Es ist die Schicksalsaufgabe des Menschen, das Geld vom universalen Spaltpilz zu einem universalen Bindemittel des Lebens umzugestalten . . . Die Erfüllung dieser Aufgabe im gleichsam höchsten Augenblick der Geschichte erfordert eine ganzheitliche Verbindung von Glauben und Wissen ..., sowie eine in der Transzendenz verankerte Lebenseinstellung, die es ermöglicht, die Macht Mammons über die Seelen der Menschen zu bezwingen." (43)

 

Onkens Vortrag fesselte seine Zuhörer so stark, daß nach seiner Beendigung zunächst ein großes Schweigen eintrat, ehe der Beifall begann. Er enthielt ein Arbeitsprogramm zur Fortführung und Vertiefung der NWO:

 

a) gedankliche Entwicklung einer herrschaftsfreien Rechtsordnung;

 

b) Bau von Gedankenbrücken zu Geistesverwandten in den Wissenschaften, Religionen und Künsten;

 

c) Reaktivierung der NWO-Idee in ihrem Ursprungskontinent Südamerika, da Gesell in Buenos Aires begann, eine freiheitliche Alternative zu kapitalistischem Wildwuchs und bürokratischer Diktatur zu entwickeln;

 

d) auf ungeklärte Fragen der Theorie und Praxis Licht zu werfen. Gesell habe der Menschheit ein "wertvolles geistiges Samenkorn" hinterlassen, das nach den Zeiten des Keimens und der Gefahr des Verdorrens im 21. Jahrhundert endlich kräftige Wurzeln treiben und zugleich wie ein Getreidehalm dem Himmel zustreben müsse.

 

Werner Onken ist der aufgehende Historiker innerhalb der Neuen Denkschule. Dafür zeugen seine Vorworte zu den einzelnen Bänden Silvio Gesells, die insgesamt einen geschlossenen Einführungskurs in sein Werk und sein Leben ergeben. Dafür sprechen ferner sein "Offener Brief an die osteuropäischen Reformer" und seine geschichtliche Skizze der Obstbaukolonie Eden, die aus der Lebensreform-Bewegung heraus entstanden war und wo Gesell seine letzten Jahre verbrachte. Seit den 80er Jahren verknüpft er die Menschengeschichte mit der Heilsgeschichte, wogegen sich freilich große Widerstände von seiten anderer Freiwirte regen. Die Freiwirtschaft ist seines Erachtens selber eine Heilsbewegung, und wenn sie dies bejahen würde, flössen ihr mächtige spirituelle Kräfte zu.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bruno Jehle - Hierarchie oder Eigenverantwortung?

 

Im Mittelpunkt der jüngeren Leute, die sich in den 80er Jahren der Schweizer Liberalsozialistischen Partei anschlossen, stand Bruno Jehle. Er hatte wie viele andere Jugendliche in den Tag hinein gelebt, bis er auf ein Buch gestoßen war: "Das geheime Leben der Pflanzen" (von Peter Tompkins und Christopher Bird). Erst durch dieses Buch ging ihm auf, daß die Pflanzen Lebewesen sind, und zwar höchst sensible, sogar fähig, die Gedanken der Menschen wahrzunehmen und unter ihnen leidend. Diese Erkenntnis stieß auf seine bisherige Gleichgültigkeit im Umgang mit Pflanzen. Sie erweckte ein Gefühl brennender Schuld, das ihn als 18-jährigen bis an den Rand des Selbstmords trieb. Hatte er nicht sein Recht auf Leben verwirkt, weil er andere Lebewesen mißachtet und wie Dinge behandelt? Bruno Jehle stellte selbst einige Experimente an. Sie bestätigten ihm die Forschungen von Tompkins und Bird. Worauf ihm klar wurde, daß er sein Leben von grundauf ändern mußte.

 

Etwa zwei Jahre schlief er im Freien, um der Wahrheit und dem Leben näher zu kommen, Tag und Nacht auf der Suche nach dem eigenen Weg. Schließlich hatte er ihn gefunden. Bruno tat sich mit anderen jungen Leuten zusammen, die ebenfalls ein ökologisches Bewußtsein hatten. Sie gründeten eine Kommunität und machten einen Bioladen auf. Nun mußte eingekauft und weiterverkauft werden. Dieser Umgang mit Geld stieß sie auf die Frage der Gerechtigkeit. Bruno hatte einmal geglaubt, es müßte auch ohne Geld gehen. Nun zeigte sich das Gegenteil. Aber wenn es schon so war, dann sollte ebenso sorgsam damit umgegangen werden wie mit den Pflanzen. Doch wie? Und welche Rolle spielte das Geld überhaupt? Mit dieser Überlegung näherte sich Jehle der Freiwirtschaft. Er lud Hans Hoffmann ein, sprach auch mit anderen Freiwirten. War ihr Weg der seine? Was hatte Silvio Gesell über das Geld geschrieben?

 

Zu einer Denkschule gehört, wer einen eigenen und neuen Gedanken in sie einbringt. Bruno Jehle gebar einen solchen Gedanken. Er entsprang nicht theoretischen Überlegungen, sondern der Erfahrung. Es gibt Geld, das Gerechtigkeit sucht, schaffen wir sie ihm, bringen wir die Gerechtigkeit durch unser eigenes Tun an das Geld heran, damit sie sich endlich finden. Aus dem gerechten Geld kann womöglich eine gerechte Welt entstehen.

 

Bruno Jehle hatte einen Missionar nach Indien begleitet und kritisch beobachtet, was er dort aus seiner religiösen Gesinnung tat. Stülpte er nicht den Indern das Christentum über, statt sich auf ihre Probleme einzulassen? Stand er ihnen von Mensch zu Mensch bei oder warf er ihnen nur einige mitgebrachte Brosamen zu, womöglich allein denen, die sich taufen ließen?

 

Diese Begleitung brachte ein zweites Grunderlebnis. Bruno Jehle stellte in Indien himmelschreiende Mißstände fest, die durch erbauliche Reden und Bibelsprüche zugedeckt wurden, in einer vom Alltag abgehobenen Besessenheit, die ihm verdächtig war. Er erlebte Leprakranke, die zum Hospital von sehr weit kamen, oft zu Fuß, wodurch "die Wunden an ihren Füßen zusätzlich schwer verletzt wurden" (44). Im Hospital erhielten sie dann meist nur einige Tabletten. Konnte er dem zusehen, ohne etwas zu tun?

 

Bruno Jehle kam der Gedanke an eine Volksklinik. In Zusammenarbeit mit mehreren Indern konnte er eine solche in Kaleru einrichten und im April 1983 eröffnen. Bald wünschte auch die Bevölkerung anderer Dörfer Gesundheits-Stationen. Jetzt sind bereits vier Peoples Clinics da. In Indien entstand ein regionales Projekt, das vieler Medikamente bedarf. Sie werden in der Schweiz gekauft, wofür viel Geld gesammelt werden muß. Außerdem war es nötig, das Projekt beratend zu betreuen und alljährlich hinzufliegen. (auf eigene Kosten natürlich). Hier hat sich Matina Hämmerli intensiv beteiligt. Überhaupt sind Bruno und Matina nicht auseinanderzudenken. Sie werden von einem Spenderkreis unterstützt, auch von einigen anderen Leuten, die einen Teil ihres Urlaubs in Indien verbringen und dort Hand anlegen.

 

Als Bruno Jehle im Februar 1991 wieder einmal in Indien war, hatte er dort eine weitere Idee: das Bonus-System.

 

Es geht von einer Lage in den armen Ländern Asiens und Afrikas aus, die durch Massenelend, Stadtflucht, Korruption und Naturzerstörung gekennzeichnet ist, auch durch den Zerfall der Preise für landwirtschaftliche Produkte wegen kapitalintensiver, industrieller Anbaumethoden. Finanzielle Hilfe ende in Indien meist beim örtlichen Geldverleiher oder in der Stadt, wegen Schuldverpflichtungen der Armen und dem kumulativen Charakter des Zinses. Wie kann trotzdem mit dem Geld der Entwicklungshilfe Gerechtigkeit geschaffen werden?

 

Eine Möglichkeit bestünde darin, es in eine Schuld umzuwandeln, die durch Arbeitsleistung abgetragen werden kann, so daß keine Zinseszinsen entstehen.

 

Durch Geschenke würde hingegen der Markt verzerrt. Die Spendengelder können in einen Fond eingebracht werden, der Projekten Kredite gewährt.

 

"Und nun kommt der zusätzliche Schritt, wo wir zirkulationsfördernd eingreifen. Die Projekte zahlen den Mitarbeitern den ortsüblichen (Minimal-) Lohn in Landeswährung. Hinzu kommt ein Arbeitsbonus in Form von Gutscheinen, Marken oder Münzen. Die Schuld gegenüber dem Fond kann nur in Form dieser Wertträger zurückbezahlt werden. Außerdem kann dieses ,alternative Geld' den Austausch unter den angegliederten Projekten bestimmen." (45)

 

Ein gut durchdachtes Konzept müsse jeweils auf die lokale Situation abgestimmt und erst noch erarbeitet werden. Das Bonus-System ist ein Vorschlag, ein theoretischer Ansatz. Es hat jedoch auf dem INWO-Kongreß in Konstanz und in anderen Kreisen bereits ein beachtliches Ende gefunden.

 

Auch die Idee der Denkfabrik dürfte von Bruno Jehle stammen. Sie unterscheidet sich wesentlich von den "Wissenschaftlichen Kommissionen", die der alte Freiwirtschaftsbund FFF sowie die Radikal-Soziale Freiheitspartei, später auch die Liberalsozialistische Partei der Schweiz hatte. Schon weil sie ein besonderer und autonomer Arbeitsbereich ist. Was in der Radikal-Sozialen Freiheitspartei ein ideologisches Kontrollorgan war, soll sich in der INWO Schweiz auf Initiative gründen. Indes besteht dieselbe Tendenz zur geistigen Zentralisierung.

 

Die Idee der Denkfabrik mündet in eine neue Strategie ein, welche erreichen will, daß es in absehbarer Zeit keine öffentlichen Diskussionen über Wirtschaftsfragen mehr ohne die Präsenz der Freiwirtschaft gibt. Diese muß also aus ihrem z. T. selbst erbauten Ghetto heraus und zu einem ins öffentliche Bewußtsein integrierten Faktor aufgebaut werden. Damit verbunden ist der Gedanke, der jetzigen Lobby eine freiwirtschaftliche Lobby entgegenzustellen, was freilich einen gewaltigen und vorerst kaum erschwinglichen finanziellen Aufwand erfordern würde.

 

Die herkömmlichen Parteien und Organisationen einschließlich der physiokratischen und freiwirtschaftlichen waren oder sind in der Regel pyramidenförmig aufgebaut. Gegen diese hierarchischen Modelle entwarf Bruno Jehle gemeinsam mit Matina Hämmerli ein eigenverantwortliches. "Denn Eigenverantwortung und Hierarchie stehen sich unversöhnlich gegenüber. Wir müssen die bestehenden Organisationsmodelle demaskieren und auf ihren Gehalt prüfen." (16)

 

Statt sie jedoch prinzipiell zu verwerfen, sollte sich die Freiwirtschaft das, was gut und nützlich daran ist, zu eigen machen. Auch müßte man menschenwürdige Strukturen, durch die sie allmählich ersetzt werden könnten, zuerst einmal kennen und erproben, um praxisfähige Alternativen zu erreichen. Dies ist kennzeichnend für das experimentelle Denken und Handeln Jehles. Es beugt einer Kluft zwischen Theorie und Praxis vor.

 

Er stellt zwei Spannungsfelder menschlicher und zwischenmenschlicher Beziehungen fest: Individuum und Gruppe, Ego und Sozial. Sie drehen sich jeweils um eine Achse. Bei Individuum und Gruppe ist es die Achse der Identität, bei Ego und Sozial die der Interessen. Das Identitätsbewusstsein reicht womöglich vom isolierten Einzelnen bis zur ,Reinheit des Volkskörpers' im faschistischen Staat. Die Interessen können sich diagonal gegenüberstehen. Werden sie nicht durch eine steuernde Kraft in ein übergeordnetes Modell (Organisation, Firma, Staat etc.) integriert, bricht eine solche Körperschaft bei schließlicher Unvereinbarkeit der Gegensätze in einer Konkurrenzsituation auseinander. Die Integration kann gewaltsam und hierarchisch, aber auch durch das Bewußtwerden der Zusammenhänge erfolgen, was höhere Ansprüche an den einzelnen stellt als Fügung in ein autoritäres System.

 

"Zwar sind viele bereit, gegen Autoritäten aufzubegehren, die Freiheit in ihrem ganzen Umfang wird aber leider kaum ertragen."

 

Außerdem muß die Transparenz der Zusammenhänge laufend neu erarbeitet werden. Sonst trübt sich der Blick, was wieder eine trübe hierarchische Ordnung ermöglicht, die einem finsteren Labyrinth gleicht, in dem der Weg nach oben nur durch Verzicht auf eigene Unabhängigkeit gegangen werden kann. "Dabei etabliert sich der alte Priesterherrschaftsklüngel. Er tritt uns als Papsttum, als Technokratentum, als Starelite der multimedialen Gesellschaft und natürlich als Managerwelt entgegen. Von dorther werden alle Lebensbereiche geregelt. Eigeninitiative erscheint inkompetent, sinnlos oder gar illegal, so daß in der Folge die Unmündigkeit noch verstärkt wird." (47)

 

Dieser Tendenz müsse etwas entgegengesetzt werden, was eine andere Entwicklungsreihe ermöglicht. Die Wurzeln einer solchen Denkweise wären sicherlich in der Alternativbewegung zu finden, aus der Bruno Jehle ja auch kommt. Er paßt nicht ganz in die NWO-Bewegung hinein, ragt vielmehr über sie hinaus, da er in ihr nicht aufgehen kann. Er ist imstande, auch ihre hierarchischen Strukturen zu sprengen. Auch bei ihm zeichnet sich ein neues Modell der Natürlichen Wirtschaftsordnung ab. Die Freiwirtschaft dünkt ihm nicht als der einzig wahre Weg, auf den man schwören sollte, vielmehr als eine Möglichkeit, die zwar manches für sich hat, deren Verwirklichungschance aber erst noch überprüft werden muß und am besten überprüft werden kann, wenn sie in der Praxis auf ihre Grenze stößt. Daraus wird man lernen und ersehen können, was weiter getan werden sollte. Es geht um eine gerechte Welt, nicht um ein Prinzip. Zu dieser gerechten Welt können viele Wege führen, aber einige werden sicher Sackgassen sein.

 

 

 

 

 

 

 

Yoshito Otani

 

1 Yoshito Otani, Licht und Schatten Europa, S. 115

2 ebenda,S. 278

3 Otani, Untergang eines Mythos, S. 8

4 ebenda

5 ebenda, S. 187

6 ebenda, S. 167

7 ebenda, S. 172

8 ebenda, S. 176

9 ebenda, S. 315

 

 

Helmut Creutz

 

10 Dritter Weg 1/90

11 in: Wachstum bis zur Krise?, Berlin 1986, S. 9 ff

12 ebenda, S. 29

13 Dritter Weg 10/1990

14 Die Sicherung des Geldumlaufs in der Praxis, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 68. Folge (1986), S. 26-29

15 Führt eine Zinssenkung durch umlaufgesichertes Geld zu noch mehr Wachstum?, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 89. Folge (1990), S. 14-24

16 Bauen - Wohnen - Mieten, Hann.-Münden 1987, S. 93-101

17 Die Dritte Welt wird immer ärmer!, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 86. Folge (1990), S. 3-20

18 Dritter Weg 6/1990

 

 

Dieter Suhr

 

19 Die Kommenden 3/89

20 ebenda

21 in: Wachstum bis zur Krise, S. 50

22 Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 89, S.13

23 Vortrag: Das Freigeldexperiment von Wörgl, S. 4

 

 

Margrit Kennedy

 

24 Geld und Boden (Vortrag), S. 7

25 Margrit Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation, Steyerberg 1990, S. 100

26 ebenda, S. 78

27 ebenda, S. 89/90

28 ebenda, S. 16

29 ebenda, S. 109

30 ebenda, S. 97

31 ebenda, S. 36

32 Faltblatt Permakultur im Lebensgarten Steyerberg

33 ebenda

 

 

Werner Onken

 

34 Brief Werner Onkens an den Autor vom 20.12.1991

35 Werner Onken, Karl Marx und Silvio Gesell, Heft 2/1975, S. 51

36 Werner Onken, Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, 1982, S. 185

37 SG-Kommentare März 1977

38 in: Wachstum bis zur Krise?, S. 83

39 Perspektiven, einer ökologischen Ökonomie, Hann.-Münden (jetzt Lütjenburg), 1983, S. 58

40 Zeitschrift für Sozialökonomie Juni 1988

41 Werner Onken, Die Harmonie des Kosmos, der Verlust des Paradieses und die Heilung der Welt, Vervielfältigtes Manuskript 1987, S. 34

42 in: Gerechtes Geld - Gerechte Welt, Lütjenburg 1992, S. 44

43 ebenda, S. 47/48

 

 

Bruno Jehle

 

44 Peoples Clinic, Dokumentation 87, S. 8

45 evolution 12/91

46 Spannungsfelder (Unveröffentlichtes Manuskript), S. 2

47 ebenda

 

 

 

 

 

 

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Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung

ISBN 3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994

 

 

Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von W. Roehrig