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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
IV. Die
neuen Wissensschäfte
Entfaltung
und Wandel des Seminars für freiheitliche Ordnung
Das Seminar
für freiheitliche Ordnung, aus der NWO-Bewegung und dem Impuls der Sozialen
Dreigliederung entstanden, blieb nicht auf die Bundesrepublik beschränkt. In
Linz begann ein österreichisches Seminar für Neuordnung der Kultur, der
Wirtschaft und des Rechts ab 1969 mit eigenen Tagungen.
Im gleichen
Jahr starb Diether Vogel, von dem die Sozial- und Bildungsinitiative
ausgegangen war. Aus diesem Anlaß trat der Vorstand zurück und es wurde ein
neuer gewählt:
Heinz-Hartmut
Vogel - Gerhardus Lang - Helene Vogel-Klingert - Jürgen Rauh.
Die
Kolloquien und Tagungen zogen immer mehr Menschen an. Unter den Teilnehmern
befanden sich zahlreiche Freiwirte und anthroposophisch orientierte
Persönlichkeiten. Das Seminar war von Anbeginn eine Begegnungs- und
Kooperationsstätte von Freiwirtschaft und Anthroposophie, die sich auch in
vielen ihrer Referenten überkreuzten. Voran bei den drei Brüdern Vogel. Jeder
schieb ein Buch. Alle drei waren der Freiwirtschaft Silvio Gesells und der
Sozialen Dreigliederung Rudolf Steiners verbunden, aber weder der einen noch
der anderen verschworen - ihre schöpferische Kraft ging über beide hinaus.
Dies
offenbarte sich am deutlichsten in dem Buch Lothar Vogels. Die Verwirklichung
des Menschen im sozialen Organismus" (1973). Er suchte nach einer Synthese
von Liberalismus und Sozialismus, die ihren Gegensatz überwinden sowie aus den
Sackgassen des Kapitalismus und Kommunismus herausführen könnte. In Goethe,
Schiller und Wilhelm von Humboldt erwachte s. E. das Ichbewußtsein der gesamten
Menschheit. Zunächst vom Positivismus überflutet, drängt es nun zur
Verwirklichung einer neuen Sozialordnung, deren Grundriß Rudolf Steiner mit seiner
Lehre von der Sozialen Dreigliederung gezeichnet, deren geistiges Fundament
auch Silvio Gesell mit gelegt. Lothar Vogels Buch enthält eine Soziologie der
Freiheit, die im je persönlichen Ich als gesamtmenschliche Weltordnung angelegt
sei. Die antisozialen Triebe sind notwendige Stufen der Individuation, welche
als ihren äußeren Rahmen eine assoziative Wirtschaft hervorbringen wird.
In einigen
Zweifelsfällen soll der Autor lieber auf Silvio Gesell als auf Rudolf Steiner
zurückgegriffen haben. Seine Weltanschauung hat jedoch anthroposophische
Grundzüge, was selbst in seinem Entwurf einer dynamischen Geldordnung zu spüren
ist. Indes sind alle Grundthesen der Freiwirtschaftslehre in dieser Soziologie
der Freiheit enthalten.
Die Arbeit
betrachtet Dr. Lothar Vogel "als Urphänomen der menschlichen Willensnatur,
als Schicksalsgestalt des Menschenlebens (und) als Ausdruck seiner autonomen
Existenz". (1) Sie sei ein "wertschaffender Prozess", der nicht
durch bloßen Kraftaufwand, sondern durch die Entwicklung einer in jedem Fall
qualitativen Fähigkeit ein Bedürfnis erfüllt. Wie Schiller das Spielen, so
charakterisierte Goethe das Lernen als eine menschliche Universalität. Die
Pädagogik ist allerdings in die Formalität des Humanismus und in die
Materialität des Realismus aufgespalten. Dieser unselige Dualismus sei für die
Bildungskatastrophe mitverantwortlich. Der Mensch ist für Lothar Vogel jene
Wesensgestalt, die Natur und Geist in sich vereinigt. Sowohl die überexakte
Wissenschaft als auch die übersteigerte Philosophie entfernen sich von seinem
Wesenskern, den nur eine Kultur- und Sozialantropologie erschließen könne. In
dieser höheren Wissenschaft vom Menschen hat auch die Religion ihren Platz;
ihrer weitesten Bedeutung nach menschheitlich wirkende Pädagogik, erscheint sie
im sozial-ethischen Willensimpuls und manifestiert sich in der Ehrfurcht, nun
insbesondere vor den Wesen und Kräften der Natur. (2) "In unserem
religiösen Leben vereinigen wir uns mit dem in der Welt wirkenden
Schaffensprinzip, von dem wir uns durch unsere leibliche und geistige
Entwicklung getrennt hatten." So verstandene Religion stellt unsere
ursprüngliche Allverbundenheit wieder her. Auf diese Weise wurden
Freiwirtschaft und Soziale Dreigliederung in einen größeren Zusammenhang eingebunden.
Dr. Lothar
Vogel war 1956 zu der zwischenorganisatorischen Tagung auf Burg Rheineck
gefahren. Die NWO-Bewegung kannte er von außen wie von innen. Angesichts ihrer
Schwächen räumte er ihr keinen bevorzugten Platz in der künftigen freien
Gesellschaftsordnung ein.
Die drei
Brüder Vogel waren bis 1969 die Troika des Seminars. 1971 fand dieses in
Eckwälden/Bad Boll seine endgültige Heimstätte. Als im folgenden Jahr das
Studium generale zugrunde ging, übernahm es dessen Funktion. 1973 wurde in zwei
Kolloquien die Frage geprüft, ob es einen dritten Weg zwischen Kommunismus und
Kapitalismus gibt. 1976 und 1977 fanden je acht öffentliche Seminare statt.
Standen wirtschaftliche Fragen wie Vollbeschäftigung oder Vermögensbildung zur
Debatte, so wurden sie in einem größeren Zusammenhang betrachtet, als das bei
Freiwirten sonst üblich war.
Anläßlich
eines Kolloquiums über Wirtschaftskrisen und ihre Überwindung, auf dem Prof.
Felix G. Binn das Hauptreferat hielt, legte Jobst von Heynitz sein Votum für
eine "eigentumsfreundliche Reform des Bodenrechts" (3) ein, das die
Bodennutzung unter seinen Schutz stellen und eine breite Streuung des
eigengenutzten Grundeigentums fördern soll. Die Wertzuwachs-Gewinne müßten
erfaßt und neutral verteilt werden, um den Verdrängungsdruck gegen
ertragsschwache und eigennutzende Grundeigentümer aufzuheben. Nicht oder fremd
genutzte Grundstücke sollten erworben und in eigengenutztes Grundeigentum
umgewandelt werden. Eine Kommunalisierung des Grund und Bodens wäre weder
nutzer- noch eigentumsfreundlich!
Das Seminar
für freiheitliche Ordnung befaßte sich mit der Überwindung des
gesellschaftlichen Konflikts zwischen Individual- und Sozialprinzip.
Heinz-Hartmut Vogel stellte mit Besorgnis fest, die soziale und freiheitliche
Entwicklung der Bundesrepublik stagniere - "aus mangelnder
ordnungspolitischer Einsicht". (4) Diese Stagnation zu überwinden war und
ist ein kontinuierliches Anliegen des Seminars. Dem kommunistischen
Gattungswesen wird das Bild des Freien Menschen gegenübergestellt.
Nach Dr.
Lothar Vogel gibt es außer den Marxisten "weite und weiteste Kreise, deren
soziales Empfinden und Vorstellen kollektivistisch ist. . . Zu ihnen gehören
alle jene gutwilligen altruistischen Leute, die ihr Ideal in einergroßen
menschlichen Verbrüderung sehen und deren Verwirklichung vom Wirtschaftlichen
her durch Neutralisierung des Kapitals erwarten". (5) Das konnte auch auf
die Sozialen Dreigliederer gemünzt sein, nicht zuletzt auf manche Freiwirte.
Die
freiheitliche Sozialbewegung sei anfangs einheitlich und eine Volkssache
gewesen: so in England, Island, der Schweiz und in den Satzungen der deutschen
Bauernrevolution. Sie hat sich erst im 17./18. Jahrhundert "aufgespalten
in den Liberalismus und in den Sozialismus". (6) In der Französischen Revolution
noch einmal zu gemeinsamen Aktionen vereint, traten sich diese später in
letzter Konsequenz als Kapitalismus und Kommunismus gegenüber. Diese
Fehlentwicklung soll korrigiert werden.
Das Seminar
für freiheitliche Ordnung erreichte Ende der 70er - Anfang der 80er Jahre einen
Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens. Die Kolloquien und Tagungen folgten nun
regelmäßig aufeinander. Sie strahlten immer weiter aus.
Heft 146 von
"Fragen der Freiheit" war Silvio Gesell gewidmet. Wie John Law hat er
laut Prof. Oswald Hahn seine Zeitgenossen in Aufregung versetzt,
wissenschaftliche Schulen auseinander gebracht "sowie Generationen von
Studenten beschäftigt". Es sei möglich, daß seine Theorie des
Schwundgeldes in den USA" eine Auferstehung erfährt und von dort aus
begeisterte Aufnahme in Europa findet". (7)
Oswald Hahn
war Professor an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Weitere
Aufsätze dieses Heftes stammten von Heinz Hartmut Vogel, Wolfgang Triebler,
Hans Cohrssen, Jacob Schellenberg und Hans Hoffmann. Schellenberg, der noch
einen besonderen Beitrag über Aspekte des universellen Dreigliederungsimpulses
zur Verfügung stellte, verglich Silvio Gesell mit Rudolf Steiner. Er hatte noch
Vorträge beider gehört und war von beiden fasziniert gewesen. Sie hätten
gleichermaßen als freie, auf sich selbst gestellte Individualitäten geforscht
und gehandelt. Auch aus einer "unverkennbaren Verwandtschaft der
Ideen-Richtung". (8) Die Verbindungsbrücke habe der deutsch-schottische
anarchistische Dichter John-Henry Mackay geschlagen. Fraglos sei es der
ethische Individualismus, dem gleichermaßen Silvio Gesells und Rudolf Steiners
Erneuerungsimpuls entsprangen.
In einem
besonderen Heft erörterten die "Fragen der Freiheit" Mitte 1980 die
Problematik des Zinses und Gesells Zinstheorie, wobei Dr. Ernst Winkler seine
Korrekturvorschläge zur Weiterentwicklung der freiwirtschaftlichen Idee
darlegen konnte. Im gleichen Jahr brachte das Seminar seine Broschüre über die
Geschichte der NWO-Bewegung als Sonderdruck unter dem Titel
"Freiheit?" heraus. Sie befaßte sich hauptsächlich mit dem neuen
Freiwirtschaftsbund und seiner Teilhabe an der Sozialen Marktwirtschaft.
Ende 1982
wurde ein Doppelheft von "Fragen der Freiheit" für einen umfassenden
Vergleich Silvio Gesells mit Rudolf Steiner zur Verfügung gestellt. Jacob
Schellenberg hatte bereits 1921 - in einem Vortrag, als beide noch lebten -
ihre Schicksalswege nebeneinander gestellt. Nun unternahm er es, hierbei seine
Darstellung in Heft 146 bedeutend erweiternd, die Parallelität in ihren
Schriften aufzuzeigen. Zu fragen ist, ob der Anarchismus nur für Rudolf Steiner
oder auch für Silvio Gesell eine große Versuchung war, durch die er "in
eine Art Abgrund gerissen werden sollte". Beide hatten nach Schellenberg einen
ureigenen Schicksalsauftrag. Steiner erfüllte ihn durch die Ausbildung der
Anthroposophie. "Silvio Gesell war die weniger angenehme Aufgabe zuteil,
die noch nicht gemeisterten Einrichtungen der Währung, des Geldwesens und des
Bodenrechts zu untersuchen." (9)
Allmählich
machte die Eckwälder Akademie selbst eine Art Dreigliederung durch, indem sie
zwei weitere Seminare ausgliederte. Nach Erwerb eines eigenen Hauses mit
Vortragssaal und Nebenräumen entstand das Trithemius-Institut als übergreifende
Einrichtung für drei Körperschaften mit abgegrenzter Verantwortung:
1. Seminar
für freiheitliche Ordnung (Dr. Gerhardus Lang / Jobst von Heynitz),
2.
Medizinisches Seminar (Dr. Heinz-Hartmut Vogel),
3. Kunst-
und Kulturanthropogisches Seminar (Dr. Lothar Vogel).
Die soziale
Dreigliederung wird als universelles Gesetz begriffen, dem sich alle
öffentlichen Einrichtungen anpassen sollten.
Ab 1982 gab
es getrennte Kolloquien, was jedoch zu einer gewissen Zersplitterung führte.
Manche Hoffnung wurde enttäuscht:
"Die
Tagungsveranstaltungen des Seminars für freiheitliche Ordnung gingen zurück,
während die neue Initiative, das Bad Boller Medizinische Seminar, einen
erfreulichen Aufschwung erlebte und eine gewisse Fundierung- auch der
finanziellen Erfordernisse für das Haus - erbrachte. Das Kunst- und
Kulturanthropologische Seminar entwickelte sich nicht, wie erhofft, über
kleinere Unternehmungen hinaus." (10)
So zeigten
sich auch die Grenzen der Dreigliederung. Außerdem stand ein Generationswechsel
an. Im März 1987 trat der Vorstand des Seminars für freiheitliche Ordnung
zurück, um Jüngeren Platz zu machen. Der Beirat wählte einen neuen Vorstand,
bestehend aus Fritz Andres (Kirn), Eckhard Behrens (Heidelberg), Hugo Schwenk
(Rosenheim) und Gawan Vogel (Messel).
Zum
Vorsitzenden wurde Eckhard Behrens, zum stellvertretenden Vorsitzenden Hugo
Schwenh bestellt. Mit diesen beiden Persönlichkeiten gingen Freiwirtschaft und
Anthroposophie eine neue Allianz ein.
Inzwischen
haben weitere öffentliche Seminare stattgefunden. Auf einem sprach Werner Onken
über die Persönlichkeit und das Werk Silvio Gesells. Dr. Lothar Vogel
referierte über die Ideengeschichte des ethischen Individualismus. Auch Dieter
Suhr, Werner Rosenberger und Eckhard Behrens hielten Vorträge. Diese Veranstaltung
vom Oktober 1989 war eine Gemeinschaftstagung des Seminars für freiheitliche
Ordnung und der Internationalen Vereinigung für Natürliche Wirtschaftsordnung
(INWO).
Nach der
DDR-Revolution eröffnete das Seminar für freiheitliche Ordnung in den neuen
Bundesländern die Initiative gegen Bodenspekulation. Der Verkauf
gemeindeeigener Grundstücke an Privatleute sollte nach Möglichkeit gestoppt
werden. In einem Aufruf wurde empfohlen, solche Grundstücke zur privaten
Nutzung im Erbbaurecht zu vergeben.
Doch da das
Erbbaurecht in der ehemaligen DDR kaum bekannt war, startete das Seminar eine
Aufklärungskampagne, die im Frühjahr 1991 anlief. Rund 6000 Bürgermeister und
Oberbürgermeister erhielten ein Informationsblatt, dem ein
Muster-Erbbaurechts-Vertrag beilag. Nachdem einige Zeitungen darüber berichtet
hatten, wurde den Interessenten mündliche Beratung angeboten. In allen neuen
Bundesländern war sie freilich kaum möglich. Zunächst erfolgte die Beratung in
der Umgebung Berlins. Verschiedene Bürgermeister-Dienstbesprechungen boten ein
Forum, um das Erbbaurecht zu erläutern und Fragen in einem größeren Kreis zu
beantworten. An den betreffenden Dienstbesprechungen nahmen jeweils bis zu 60
Bürgermeister oder ihre Stellvertreter teil. Vorstandsmitglieder des Seminars
gingen in die einzelnen Kreise. Im Land Brandenburg fand ein Tagesseminar über
das Erbbaurecht (für 20-100 Jahre) statt. Daneben wurden Einzelgespräche
geführt, auch in anderen Bundesländern. Alle Mitglieder des Berliner Senats
erhielten ein besonderes Schreiben, das auf die Vorteile des Erbbaurechts
hinwies. Es wirkte sich insbesonders auf die Haltung der SPD-Fraktion aus. Auch
Beamte der Landrats-, Liegenschafts- und Finanzämter zeigten sich zugänglich.
Verlagerung
auf ein weiteres Standbein -
Die
Sozialwissenschaftliche Gesellschaft (SG)
Die
Sozialwissenschaftliche Gesellschaft war noch immer nicht das, was sie ihrer
eigenen Aufgabenstellung nach hatte werden wollen - das wissenschaftliche
Institut der NWO-Bewegung und ihre Forschungsgemeinschaft.
Ihr
fähigster Kopf, Karl Walker, hielt zwar glänzende Vorträge, die zumeist auch
gedruckt wurden, aber allein konnte er die geistigen Probleme nicht meistern.
Aus seinen Stellungnahmen zu diesen und jenen Fragen, die er seit 1970 auf Einzelblättern
verbreitete, entwickelten sich die "SG-Kommentare". Die SG gab sie
auf seinen Vorschlag hin heraus, in einer Auflage von 500 Stück. Doch auch hier
fehlte eine Arbeitsgemeinschaft. Die "SG-Kommentare" fanden zunächst
erhebliches und steigendes Interesse, mußten aber 1980 eingestellt werden.
Angeblich wegen einer ,Konzentration der Kräfte', in Wahrheit nur der Kraft
Ekkehard Lindners, der die SG-Kommentare wegen des schlechten und sich weiter
verschlechterndes Gesundheitszustandes von Karl Walker 1974 übernommen hatte.
Lindner war
bei der Neuwahl des Vorstands im Jahre 1972 unter dem 1. Vorsitz von Dr. Hans
Doerner zum 2. und faktisch geschäftsführenden Vorsitzenden gewählt worden. Er
konnte dafür sorgen, daß die SG-Literatur von der Stiftung für persönliche
Freiheit und soziale Sicherheit (Hamburg) finanziell gefördert wurde und im
Gauke-Verlag eine Heimstatt fand.
Die
Zeitschrift "mensch - technik - gesellschaft" war 1969 vorübergehend
eingestellt worden und mußte wiederbelebt werden. 1970 erschienen allerdings
nur zwei Hefte, 1971 drei, 1973 wieder nur zwei, 1974 und 1975 konnten nur je
ein Heft herausgebracht werden. Die Redaktion lag formal bei der SG, die
Hauptlast jedoch auf den Schultern von Bernd Hasecke. Von diesem übernahm sie
im März 1977 Claas-Hermann Jannsen alias Elimar Rosenbohm, über den endlich
eine kontinuierliche Herausgabe zustande kam. Sie war möglich durch eine
Vereinbarung des SG-Vorstands mit der besagten Stiftung, welche die
Finanzierung übernahm. Nun "Zeitschrift für Sozialökonomie" genannt,
behielt sie im Untertitel den früheren Namen bei. Durch die Mitarbeit von Prof.
Felix Binn keimten Hoffnungen auf einen kritischen Dialog mit den akademischen
Nationalökonomen auf.
Durch
Rosenbohm, der auch unter seinem wahren Namen Beiträge schrieb, kam ein recht
freimütiger Zug in die Zeitschrift, welche ihre ökonomische und monetäre Enge
zu überwinden schien. Offen äußerte er seine Sympathie für Rudi Dutschke und
den gewaltlosen Anarchismus, öffnete sich auch für die Polnische Revolution und
die ökologische Ethik. Er veröffentlichte einige Arbeiten von Werner Onken,
der, von ihm eingeführt, Ende 1982 die Redaktion zunächst ehrenamtlich, später
hauptamtlich übernahm.
Inzwischen
war die Akademie für freie und soziale Ordnung längst eingegangen. Sie hatte
1973 ihr letztes Seminar abgehalten. Weitere Tagungen unterblieben, weil die
Bundeszentrale für politische Bildung keinen Zuschuß mehr gab. (11)
Seit 1986
finden unter der Leitung von Ekkehard Lindner zweimal jährlich die "Mündener
Gespräche" statt. Neben der Zeitschrift sind sie ,ein weiteres Standbein'
der SG. Die 1. Mündener Gespräche führten im November 1986 eine größere Zahl
neuer Interessenten an die Freiwirtschaftslehre heran. Diese sollte mit anderen
Lösungsvorschlägen konfrontiert werden, was insofern gelang, als Hermann
Laistner, Autor des Buches "Ökologische Marktwirtschaft", die Reihe
der Vorträge eröffnen und seinen Vorschlag einer Produktsteuer erläutern
konnte. Die anderen Referenten der von rund 50 Personen besuchten
Wochenendveranstaltung kamen sämtlich aus freiwirtschaftlichen Zusammenhängen.
Die 7.
Mündener Gespräche vom Oktober 1989 befaßten sich mit dem Thema: "Aufbruch
und Wegsuche in den Ländern des Staatssozialismus". Hierzu waren aus
Osteuropa ein polnischer und ein jugoslawischer Referent geladen. Die SG
scheute keine Kosten, um ihre lange Anreise zu ermöglichen.
Weitere
Themen der Mündener Gespräche warm unter anderem: "Freie Menschen, freie
Wirtschaft, freie Kultur" - "Anforderungen an ein modernes Bodenrecht
- Sozialpflichtigkeit und private Nutzung des Bodens"(ansatzweise schon
1989 erörtert) - "Versuche und Wege zu einer alternativen
Geldordnung". Dieselben Themen wurden auch im Seminar für freiheitliche
Ordnung behandelt, als handele es sich um konkurrierende Institutionen.
Die
Teilnehmerzahlen der Mündener Gespräche sinken. Da ist ein Niedergang zu
verzeichnen. (12)
Die SG
fördert das freiwirtschaftliche Schrifttum durch einen Spendenfond. Sie bekennt
sich zu den Grundsätzen der Menschenwürde, der Freiheit und sozialen
Gerechtigkeit, des Eigentums an selbst erarbeiteten Gütern, der
Völkerverständigung, des inneren und äußeren Friedens sowie einer freien, nicht
durch Monopole und Machtinteressen verfälschten Marktwirtschaft.
Die
"Zeitschrift für Sozialökonomie" ist inzwischen zum internationalen
Organ der Freiwirtschaft geworden, mit Lesern in den USA, in Kanada und
Australien, mit Redaktionsvertretern aus Österreich und der Schweiz. Sie konnte
ihren Mitarbeiterkreis erheblich erweitern, darunter auch um unabhängige
Geister, die sich zuweilen ein kritisches Wort über Silvio Gesell und seine
Theorien erlaubten. Eine Bereicherung über die traditionelle Lehre hinaus
brachten unter anderem Beiträge von Dieter Suhr, Helmut Creutz, Roland Geitmann,
Peter Ulrich und Gerhard Senft. Immer häufiger wird die ökologische Frage
aufgegriffen und unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, so daß man
allmählich auch von einer Zeitschrift für Sozialökologie sprechen kann. Sie
wird selbst in fernstehenden Kreisen gelesen. Ihre Aufsätze sind oft sehr fang
und allzu analytisch. Im Ganzen gesehen beginnt jedoch der Geist zu wehen, als
bereite sich in dieser Zeitschrift eine Regeneration der Freiwirtschaft vor.
Nach der
Umwälzung in Osteuropa von 1989/90 erklärte die Sozialwissenschaftliche
Gesellschaft: "Der Wettkampf der Systeme ist noch nicht entschieden."
Zwar habe der Kommunismus versagt und der effektiveren Marktwirtschaft Platz
machen müssen, doch die Macht des Kapitals bestehe weiter. Seine Monopolstellung
behindere das freie Spiel der Kräfte. "Der hochbürokratisierte
Wohlfahrtsstaat entmündigt die Menschen, die seine ,Wohltaten' suchen, und
führt auf Schleichwegen in den Sozialismus." (13)
Freiwirtschaft
ohne Dogma und eine neue NWO? (Karl Walker)
Einer der
schöpferischsten Freiwirte war Karl Walker. Mit dem Marxismus und Leninismus
hatte er sich 1960 in "Geist und Weltgestaltung" auseinandergesetzt,
tiefgründiger als Silvio Gesell. Er enthalte zwar eine Reihe zutreffender
Erkenntnisse, ihm fehle aber die Einsicht in die Zielstrebigkeit der Materie
oder der kosmischen Energie. Diese Zielstrebigkeit ist nach Walker der Beweis
für eine im ganzen Universum waltende Intelligenz, mag man sie Gott oder anders
nennen. Er selbst hatte keinen personalen Gottesbegriff, wurde aber mehr und
mehr ein gläubiger Mensch, je tiefer er das Geheimnis des Lebens wahrnahm.
Walker spürte in der Materie eine göttliche Richtkraft: "Das Teilhaben an
den Fähigkeiten des Schöpfers - wissens, zielstrebig wollen und gestaltend
handeln zu können - schließt eine diesen Fähigkeiten entsprechende
Verantwortlichkeit ein. Wir bekommen unsere Order aus dem geheimnisvollen
Dunkel der eigenen Brust. . . Wir haben wohl ein Höchstmaß von
Entscheidungsfreiheit erhalten, aber Gott hat uns nicht aus s e i n e r
Schöpfung entlassen." (14)
Gegen die
Ordnung des zielstrebigen Weltwillens und die Bestimmung des Menschen zu
handeln, sein inneres Sittengesetz zu entfalten, sei die wahre ,Sünde'. Das
ethisch Richtige ist auch sachlich richtig, das ethisch Falsche auch sachlich
falsch. Von der frühesten Regung des moralischen Bewußtseins, daß es
verwerflich sei, den eigenen Bruder zu töten, bis zur Einsicht des Unrechts von
Zins und Wucher bedurfte es einer fortschreitenden Verfeinerung der auf die
Unterscheidung von Gut und Böse gerichteten menschlichen Denkanlage.
Es ist
notwendig, das Gewissen weiter zu schärfen, um einem nochmaligen Rückfall wie
unter Hitler vorzubeugen. Unser ethisches Bewußtsein ist schon stärker
entwickelt als unsere moralische Kraft. Dieser Rückstand muß aufgeholt werden.
Im Raum des Geistigen sind Dinge möglich, die aus den ökonomischen
Verhältnissen nicht erklärt werden können.
Die
Menschheit sei der jetzige Träger einer kosmischen Staffette, welche dem Schöpfungsplan
folge, der auch eine Natürliche Wirtschaftsordnung vorsehe. Aber jeder Versuch,
sie gewaltsam und ohne Rücksicht auf die Andersdenkenden durchzusetzen, stünde
im Widerspruch zur natürlichen Gesetzlichkeit des Alls. Ebenso wäre es, wenn
sie mechanistisch und zentralistisch durchgeführt würde. Die Natürliche
Wirtschaftsordnung bedarf einer organischen und stufenweisen Entfaltung aus dem
Kleinen ins Größere, wie jedes Wachstum. Im Grunde geistgesteuert, wird sie
Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten ausgesetzt sein. Deshalb bedürfen die
Freiwirte eines in kosmische Zusammenhänge eingebetteten und festgegründeten
Weltbilds. Erstarrte Vorstellungen sollten durch lebendige ersetzt werden. Die
Kraft und Wirkung einer Idee hängt nicht davon ab, ob sie richtig ist, sondern
in welchem Maße sie die Menschen erfaßt und ihre Energie mobilisiert.
Im Januar
1970 begann Peter Weiz in Form kleiner Taschenbücher seine Schriftenreihe
"Beiträge zum liberalen Sozialismus" herauszugeben. Das erste Heft
füllten Karl Walkers "Überlegungen zur Werttheorie". Hinter diesem
unscheinbaren Titel verbarg sich eine fundamentale Auseinandersetzung mit
bestimmten Vorstellungen Gesells und zugleich eine Öffnung des verhängten
freiwirtschaftlichen Horizonts. Peter Weiz sagte in seinem Geleitwort, Walkers
Schrift enthalte weit in die Zukunft reichende Gedanken zur Theorie und Praxis
des Geldwesens; ihm sei sowohl die Verbindung von Kybernetik und klassischer
Schule (der Nationalökonomie) als auch eine Synthese von Marxschem Gedankengut
und dem liberalen Sozialismus gelungen, wie ihn erstmals Silvio Gesell
vertreten. War das Ergebnis eine Art NWO-Marxismus, etwa vergleichbar dem
Anarcho-Marxismus? Nein, eher ein neuer Entwurf der Natürlichen
Wirtschaftsordnung.
Silvio
Gesell hielt alle Theorien über den Wert der Waren für Produkte blühender
Phantasie. Darauf vertrauend, hatte auch Walker die Ansicht vertreten, der Wert
sei ein "Gespenst" und nur der Preis eine Realität. Nun waren ihm
Zweifel gekommen. Er hielt es für einen guten Grundsatz wissenschaftlicher
Arbeit, auch solche Theorien, die man für gesicherte Erkenntnisse zu halten
geneigt ist, von Zeit zu Zeit einer Nachprüfung zu unterziehen. Für den
geistigen Fortschritt könne die Auswertung einer besseren Einsicht erforderlich
sein.
Diese fand
Walker rückblickend bei Marx: der Wert einer Ware werde bestimmt durch die zu
ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Das sei schlüssig
und sollte nicht länger beiseitegeschoben, sondern akzeptiert und in die
Freiwirtschaftslehre aufgenommen werden. Obwohl Gesell den Wert für ein
Abstraktum hielt, hat er selbst von jeglichem Gebrauchswert abstrahiert. Was
Marx den Wert genannt, war bei ihm die "chemisch reine Ware". Die
ursprünglichste Methode, das Tauschverhältnis verschiedener Güter gegeneinander
abzuwägen, lag für Walker - wie schon bei Adam Smith - in der Abschätzung ihres
Arbeitsaufwands. Die Stückelung des Geldes machte eine Quantelung der
Arbeitsleistung möglich. Für Adam Smith war die Arbeit der wahre Maßstab des Tauschwerts
aller Waren. Marx erkannte zusätzlich, daß Gold deshalb zum Gelde wurde, weil
es die am dichtesten geronnene Arbeitszeit enthält und jede beliebige
Stückelung erlaubt. Walker fügte als dritter hinzu: durch das reine
Goldwährungssystem war die Gewähr dafür gegeben, "daß keiner zu einem
Anspruch auf die Güter anderer Marktteilnehmer kommen konnte, der nicht zuvor
mit einer wertgleichen Leistung diesen Anspruch erworben hat". (15) Erst
Papiergeld machte arbeitsloses Einkommen möglich! Es kann mühelos vom
Gewerbefleiß der anderen zehren. Das traf eine Kernthese Gesells und der
traditionellen Freiwirtschaft. Außerdem lassen sich Banknoten noch besser
horten als Münzen.
Walker
mahnte die Vertreter der Indexwährung, endlich die Wahrheit zur Kenntnis zu
nehmen. Für ihn war es ein offenbares Geheimnis, daß sie auf falschen
Voraussetzungen beruht. "Das globale Konzept der Geldmengenregulierung,
wie es zur Handhabung der Indexwährung empfohlen wird, besagt ja noch gar
nichts bezüglich des zweckmäßigsten Verfahrens." Auf dem Boden unfertiger
Grundansichten habe man den vollen Arbeitsertrag versprochen. Die Freiwirte
kämen nicht umhin, den Wert am richtigen Ort einzuordnen. Sein Verhältnis zum
Preis sei etwa das von Soll und Ist. "Der Wert stellt das Soll dar,
während der Preis eben der wirkliche Erlös ist." (16) In der entfalteten
modernen Wirtschaft müßten aber nicht nur die Arbeitsstunden bezahlt werden,
sondern auch die Kostenanteile der Vorarbeit (Kapitalverschleiß, Amortisation),
die immateriellen Leistungen organisatorisch-kaufmännischer Art sowie die
Dienstleistungen in Handel und Verkehr - das habe man bisher kaum beachtet. Aus
der Werttheorie hat sich die Kostentheorie entwickelt. Dem Mehrwert stehen
Mehrkosten gegenüber.
Die
marktwirtschaftlichen Preise pendeln um den Wert (wie schon Marx festgestellt
hatte). Indes lebt die ganze marktwirtschaftliche Dynamik von dem
naturgesetzlich wirkenden Trend, Wert und Preis in Übereinstimmung zu bringen.
Ihr Funktionieren wird freilich "durch unzählige Eingriffe, Pfiffigkeiten
und Besserwissereien" (auch von Freiwirten) gefährdet oder beeinträchtigt.
Ohne Werttheorie wäre ihr Mechanismus kaum durchschaubar und die unter einer
Indexwährung erforderliche Geldschöpfung orientierungslos. Entweder ist der marktwirtschaftlich
zustandekommende Preis gerecht, dann könne man nicht länger den vollen
Arbeitsertrag versprechen, oder die Ausmerzung des arbeitslosen Einkommens aus
den Preisen reduziert diese auf den Wert. Da müßten sich die
freiwirtschaftlichen Reformer - "unsere Theoretiker" - entscheiden.
Produktionsanregend
und orientierend wirkte auf dem Markt ein über die erwartete Gegenleistung
hinausgehender Gewinn, und diese Prämie sei die Verwirklichung eines legitimen
Anspruchs. Solche Marktverhältnisse könnten nicht erst mit der Geldwirtschaft
aufgekommen sein, diese macht aber die Abweichungen der Preisbildung vom Wert
erst rechnerisch sichtbar.
Walker
stellte die gesamte freiwirtschaftliche Theorie der Indexwährung in Frage,
welche nach Eugen Graske in der Weimarer Republik die verbindende und
inoffizielle Generallinie aller NWO-Bestrebungen war. Nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde sie zum offiziellen Generalnenner. Walker hielt sie für
konstruiert. Die mit der Allgesetzlichkeit in Übereinstimmung stehende Eigengesetzlichkeit
der ökonomischen Erscheinungen sei nun mit den Begriffen der Kybernetik
erfaßbar. Ein Thermostat steuert die Wärmezufuhr jeweils in Reaktion auf das
Spannungsverhältnis zwischen dem, was sein soll und dem, was wirklich ist. So
führte Walker die Kybernetik ihrerseits auf eine noch tiefere Gesetzlichkeit
zurück, die ihm allgemeinverbindlich zu sein schien. Auch die Marktwirtschaft
beruht auf dem Spannungsverhältnis zwischen Soll und Ist. Darüber hinaus
vollzieht sich alles Geschehen - ob in der materiellen, organischen oder
geistigen Welt - im Rahmen dieses Kräftespiels.
Die
Allgesetzlichkeit wird von Pendelausschlägen durchbrochen. "Materie, Stoff
Wirklichkeit sind als Elemente der realen Welt immer der blinden Dynamik des
Pendelschlags unterworfen. Sie finden, da der Zufall das Maß der Ausschläge
bestimmt, nicht von selbst die Mäßigung am ruhenden Pol des Soll, sondern
schlagen darüber hinaus, pendeln zurück und werden von der Unruhe der Welt
ständig in Bewegung gehalten." (17) Das Ideal, die Übereinstimmung von
Soll und Ist, "wird nie in Vollkommenheit und auf die Dauer erreicht"
- es können nur optimale Annäherungen erzielt werden.
So entsagte
Karl Walker ebenso der freiwirtschaftlichen Sozialutopie wie Eduard Bernstein
der marxistischen. Doch gleich diesem sah er gerade im Verzicht darauf die
Möglichkeit, eine im Kern richtige Theorie wieder zu aktualisieren und in
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bringen. Die Kybernetik diente ihm
hierzu als Medium und Hilfsmittel. Sie ermögliche eine bessere Einsicht in das
Wesen und die Funktionsweise der Marktwirtschaft, die durch Planung nur gestört
und verfälscht werden könne.
Marx habe
die Wertbildung richtig beurteilt, jedoch die Dynamik der Marktwirtschaft, ihre
Selbststeuerung und ihre positive Tendenz zu Nivellierung ungerechtfertigter
Ansprüche verkannt. "In diesem allzuraschen Urteil wurzelt die Idee der
Planwirtschaft." (18) Wollte Walker damit sagen, auch eine monetäre
Planwirtschaft (der Geldmengen- und Umlaufregulierung) sei überflüssig und
schädlich?
Er verließ
seinen großen Interessenskreis und konzentrierte sich fortan auf die SG, welche
ihm als das wichtigste Instrument der Freiwirtschaft erschien. "Wenn wir
es mit diesem für die ganze internationale Bewegung einzigen Zusammenschluß für
die wissenschaftliche Durchdringung der Probleme nicht schaffen, dann schaffen
wir es überhaupt nicht mehr." (19) Die SG müsse daher vom FSU-Stil
ferngehalten oder gereinigt werden, damit sie auch Mitglieder aus anderen
Parteien und diesen nahestehende Wissenschaftler gewinnen könne.
Walkers
Gesundheit war schon brüchig, aber er schonte sich nicht. Tristan Abromeit
versuchte, ihn zum geistigen Mittelpunkt eines alternativen Zentrums zu machen,
in dem er sich auch niederlassen sollte. Statt dessen zog Walker, obwohl ihn
das Angebot lockte, zu seiner Nichte nach Westberlin. Dort fand er freilich
keine Ruhe mehr. Unrast hatte ihn befallen, als wäre das Wichtigste noch nicht
getan. Von einer langen Reise mit vielen Umwegen kehrte er erschöpft zurück.
Doch zwischen Januar und Mai 1975 war er noch sehr produktiv.
Walker
konnte vor einer Generalversammlung der SG, die ihm endlich entgegenkam und ein
Forum bot, aussprechen, was ihn sachlich bedrückte und was er für notwendig
hielt. Sein Vortrag über die Fortentwicklung der freiwirtschaftlichen
Vorstellungen hatte, ohne daß sich jemand dessen schon bewusst war,
vermächtnishaften Charakter. Er wurde ergänzt durch ein besprochenes Band.
Dieses
befaßte sich freilich mit der Kritik bestimmter Freiwirte an Walkers Manuskript
über das Weltwährungssystem, so daß es zunächst eher reagierend als
richtungsweisend wirkte. Doch die grundsätzlichen Aussagen ließen nicht lange
auf sich warten. Die Gesellsche Theorie sei von den Freiwirten noch niemals
kritisch untersucht worden.
"Sie
wird fast so vertreten wie vor 80 Jahren, als Gesell seine ersten Einfälle zu
Papier brachte . . . Abgestandene Wiederholungen haben keine Überzeugungskraft.
Und so viel an Gesells Theorie auch richtig sein dürfte, Gesells entscheidende
Leistung läuft Gefahr, dennoch mit unterzugehen, weil auch das Festhalten an
Ungereimtheiten, die Diktion und Dogmatik der Lehre den Ruch der
Zeckenhaftigkeit an sich hat und nicht los wird." (20)
Das sind
harte Worte, für manche Freiwirte Hammerschläge auf den Kopf. Noch nie hat
einer der ihren so zu sprechen gewagt. Aber ist Walker überhaupt noch einer der
ihren, ein Gesellianer, oder ein heimlicher Marxist? Was ihm beispielsweise Dr.
Hamelbeck unterstellt, der aus dem grundsätzlichen Bekenntnis zur klassischen
Werttheorie (Smiths und Ricardos) eine Identifizierung mit der marxistischen
herauslas.
Walker
beklagte: auch wesentliche Einsichten, die schon einmal da waren, sind wieder
verlorengegangen (als wäre das Gedächtnis der Freiwirtschaft ein Faß ohne
Boden). Andererseits fehle vielen freiwirtschaftlichen Theoretikern die
Bereitschaft, sich über neue Probleme aus der heutigen Wirklichkeit heraus zu
informieren. Manche würden nicht einmal das geltende Wechselrecht kennen. Er
müßte eine extra Riesenarbeit schreiben, um ihnen klarzumachen, daß die Dinge
anders liegen, als sie sich vorzustellen lieben. Mit manchen
freiwirtschaftlichen Theorien verhalte es sich so, daß sie in einen Zug
eingestiegen sind, welcher trotz anfänglicher Parallelität der Strecke von
vornherein nicht der richtige war: in den falschen Zug der Quantitätstheorie,
die nur zwei Rezepte kenne - Geldvermehrung oder Geldverknappung - womit bei
komplizierten Problemen kaum noch etwas auszurichten sei. "Mit der
Quantitätstheorie kommen wir nach meiner Feststellung zum falschen Ziel
bedenklicher Methoden in der Geldschöpfungspolitik . . . So wie man auf der
Reise nach Basel plötzlich mit Schrecken feststellt, daß der Zug neben dem Main
einherfährt." (21)
Prof. Dr.
Hanns Linhardt der 1972 an einer Tagung der SG als Gast teilgenommen hatte,
berichtete über einen unauslöschlichen Eindruck: eine Spannung oder ein
Gegensatz lag zwischen Walker und seinen Zuhörern. "Bei ihnen mußte ich
eine Art Sektiererhaltung oder Bekehrungseifer feststellen, was bei Walker
völlig fehlte. Aus ihm sprach Gelassenheit, Ruhe, sachliche Konzentration und
Beherrschung." (22) Dieselbe Spannung trat nun wieder zutage, aber auch
dieselbe Gelassenheit und Sachlichkeit.
Walker hielt
sich nicht für ein Genie. Doch hatte er vielen anderen Mitgliedern der SG mehr
praktische Erfahrung voraus, die ihm eine wirklichkeitsbezogenere Beurteilung
der Probleme gestattete. Bei den meisten Autoren der Freiwirtschaftslehre
hängen, wie er sagte, ihre Theorien im luftleeren Raum, ohne Fundierung in der
realen mikroökonomischen Wirklichkeit. "Ich bin keineswegs glücklich
darüber, daß immer ich es sein muß, der an den morschen Zäunen rüttelt."
Morsche Zäune? Steht denn nicht Gesells NWO auf granitenem Fundament?
Als Mitglied
der SG betrachtete es Walker nie als seine Verpflichtung, sich einfach einer
herrschenden Meinung anzupassen, wenn seine Einsichten andere waren. Er hielt
es auch für falsch, über geistige Fragen abzustimmen und die
Mehrheitsentscheidungen allein der Mehrheit wegen für wahr zu erachten. Darin
stimmte er mit Steiner überein.
Zug um Zug
ging Walker auf nahezu alle Grundfragen ein. (Von der nahen Bundesstraße hört
man den Verkehrslärm.) Manche Kritik erinnerte ihn an die "halb
durchdachten freiwirtschaftlichen Vorstellungen" des FWB, der technische
Fortschritt vermehre und verbillige das Güterangebot. Daß dessen Verbilligung
deflationistisch wirken müsse, sei eine fixe Idee vieler Freiwirte, denen
offenbar betriebswirtschaftliche Einsichten fehlen. Die seit 25 Jahren
betriebene steuerliche Begünstigung der Investitionen schlage den alten
Gesellianern auch das letzte Argument für die konjunkturpolitische
Rechtfertigung der Geldvermehrung aus der Hand. Erstens, weil schon der normale
Kapitalertrag nie bis zum kritischen Zinssatz von 2 - 3 % abgesunken ist,
zweitens, weil die Steuerbegünstigungen die Rentabilität der Anlagen weitaus
nachhaltiger angehoben haben, als es der klassische Kapitalismus verlangt
hatte. "Darüber steht nichts in der NWO und kann auch nichts drin stehen.
Aber die ehrenwerten Herren, die heute Milliardäre sind, sind es doch nicht aus
Zins und Zinseszinz geworden . . ." (24)
Unglaublich!
Nicht aus Zins und Zinseszins? Gesell hat doch in der NWO geschrieben . . .
(Aber so denken Dogmatiker.)
Walker gab
zu bedenken, daß, wer ernst genommen will, sich über die anstehenden Probleme
aus der heutigen Wirklichkeit heraus informieren muß. "Man kann doch nicht
endlos nur vorgefaßte Meinungen als Argumente in die Debatte werfen und sich
auf der anderen Seite jedem Weiterdenken über die alten Theorien hinaus
verschließen. Wie würde ein Mercedes heute aussehen, wenn Daimler & Benz
darauf beharrt hätten, daß die von ihnen erfundene Motorkutsche immer so gebaut
werden müsse wie anno 1890 bei Gründung der Firma?" (25)
Zur
Fragwürdigkeit der alten freiwirtschaftlichen Rezepte brachte Walker noch ein
Beispiel. Das Ölangebot ist knapp geworden, die Ölpreise sind beträchtlich
gestiegen. Ist das eine Inflationsquelle? Läßt es sich mit
Geldmengenregulierung bewältigen? Die von der Freiwirtschaft übernommene
Quantitätstheorie reagiert auf solche Probleme mit Geldeinzug oder
Geldvermehrung. Aber weder das eine noch das andere hätte in diesem Falle
Erfolg. Mit der Geldmengenvermehrung würden die Preise mitsteigen, obwohl die
Quantitätstheorie das Gegenteil behauptet. Mit dem Geldeinzug würde die
Nachfragedrosselung auf alle Güter ausgedehnt.
Walker
wandte sich auch an jene Freiwirte, die in der Mathematik die zuverlässigsten
wissenschaftlichen Beweise für wirtschaftstheoretische Aussagen sahen und ihm
eine diesbezügliche Schrift von H. W. Brandt zugeschickt hatten, welche bereits
vor 60 Jahren veröffentlicht worden war. Mathematische Wirtschaftstheorie sei
zwar in den letzten Jahrzehnten Mode geworden, aber nur mit dem Resultat
restloser geldtheoretischer Verirrungen. Gerade sie habe dem quantitativen
Denken eine zentrale Stellung eingeräumt. Sowohl die rohe als auch die
bereinigte Quantitätstheorie, deren Denkfehler Gesell in sein System eingebaut,
hat sich als unhaltbar erwiesen.
Walker
gestand seine geringe Hoffnung, mit solchen Darlegungen verstanden zu werden.
Er hatte schon Fälle von Korrespondenz, die ihn in eine gelinde Verzweiflung
brachten. Dabei wäre in einer halben Stunde Planspiel alles klar gewesen.
Unter
anderem sei es eine fixe Idee vieler Freiwirte, daß eine Verbilligung des
Güterangebots deflationistisch wirken müsse, wenn die Preise nicht durch
Geldvermehrung hochgehalten würden. Bestätigungen einer Theorie könne man viele
finden, auch täuschende. Aber erst, wenn sie außer der Verifizierung auch die
Falsifizierung überstanden hat, ist ihre Richtigkeit bewiesen. Er selbst könne
aber nicht in einer Stunde vermitteln, was er sich in vielen Jahren erarbeitet
habe.
Es ergab
sich recht klar: Walker war kein Gesellianer, sondern bestenfalls ein
Geselloge. Im gleichen Sinne, wie Ernst Bloch kein Marxist, vielmehr eine
Marxologe war, der eben deshalb über den Marxismus hinauszudenken vermochte.
Die NWO
keine Bibel, Gesell kein Papst
In seinem
Vortrag vom 26.4.1975 in Koblenz wandte sich Walker gegen den Personenkult
innerhalb der NWO-Bewegung. Es kommt auf die geistige Bewältigung weltweiter
Probleme oder wenigstens auf einen Beitrag zu ihrer Lösung an, "nicht auf
die stereotype Wiedergabe all dessen, was Silvio Gesell vor 80 Jahren aus der
Sicht seiner Zeit gedacht, gesagt und geschrieben hat". (26) Manche
Reformidee von damals sei heute einfach deplaziert. "Machen wir die NWO
nicht zur Bibel, machen wir Gesell nicht zum Papst!" Mit den
wissenschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit könne er auch Denkfehler
übernommen und in der Beurteilung dessen, was andere gedacht, geirrt haben. Er
hat seine eigene Theorie nicht auf frei erfundene Fundamente gestellt:
"Es
haben viele bedeutende Köpfe an der Theorie zum Bau der Wirtschaftsordnung
gearbeitet. Von Aristoteles über Thomas von Aquin, Adam Smith, Dr. Ricardo,
Jean Babtiste Say, Quesney, Proudhon, Marx, Böhm-Bawerk, Eucken, Sombart,
Wicksell, Cassel, Irving Fisher bis Keynes reicht die Reihe, in der noch viele
nicht genannt sind. Aber irgendwo in dieser Reihe der wichtigsten Köpfe hat
auch Gesell seinen Platz. Es hat jeder seinen Beitrag zur Aufhellung der
Probleme geleistet, aber nicht alles konnte von bleibendem Wert sein."
(27)
So wurde
Gesell relativiert und in die Geistesgeschichte eingeordnet, insbesondere in
die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft. Seine Theorien über den
Kapitalismus, den Urzins, die Wirtschaftskrisen und die Grundrente samt allen
daraus abgeleiteten Reformvorschlägen könne ihm niemand streitig machen. Anders
stehe es mit seiner Geldtheorie. Wenn die Freiwirtschaft darauf beharre, werde
sie unweigerlich scheitern. "Auf der Basis einer falschen Theorie schlagen
selbst richtige Dispositionen in Mißerfolge um." (28) Die von Gesell
abgelehnte Werttheorie ist jedoch "entgegen unserer jahrzehntelangen
Annahme" richtig gewesen. Umdenken sei das Vernünftigste, auch wenn es
vielen Freiwirten schwer fallen werde.
Schwer fiel
es auch Dr. Bernhard Hamelbeck. "Walker greift Gesells Geldtheorie an. Ich
halte sie für richtig. Auf S.2 behauptet Walker, Gesell habe d i e Werttheorie
verworfen. Darunter allein kann ich mir nichts denken, weil es d i e
Werttheorie nicht gibt. Es gibt viele Werttheorien. S.4 behauptet Walker, es gebe
Freiwirte, die behaupteten, es gebe keinen Wert. Ich kenne keinen solchen
Freiwirt, glaube auch nicht, daß es einen gibt. In Wahrheit gibt es viele
Werttheorien und Wertbegriffe. Gesell hat nichts davon gehalten. Ich halte auch
nicht viel davon. Eine Sache kann vielerlei Werte haben . . . einen
Liebhaberwert, einen Verschrottungswert, einen Bilanzwert. . . " (29)
Auf diese
Weise wurden Walkers Argumente entwertet, ja ins Lächerliche gezogen. In diesem
Fall durch den Vorsitzenden der SG. Zwischen Walkers Vorträge, die für alle
Mitglieder der SG abgezogen würden, schob er seine Gegenkritik: sie ging gleich
mit hinaus, sozusagen als offiziöse Stellungnahme der Sozialwissenschaftlichen
Gesellschaft. Obwohl sich Dr. Hamelbeck nicht auf sein Amt berief, gab es
seiner Gegenkritik zusätzliches Gewicht.
Am 5.
Dezember 1975 starb Karl Walker in einem Berliner Krankenhaus, ohne sein nach
eigenem Ermessen wichtigstes Manuskript (über das Weltwährungssystem) druckreif
machen zu können. Damit verlor die NWO-Bewegung, nicht nur in Deutschland,
ihren bedeutendsten Denker nach Gesell. In seinen letzten Vorträgen war zutage
getreten, daß er sich allmählich eine neuartige Vorstellung von Freiwirtschaft
erarbeitet hatte, ansatzweise auch ein neues Modell der Natürlichen
Wirtschaftsordnung.
Aus seinem
Nachlaß veröffentlichte die SG "Das Weltwährungssystem", von dem
Walker gesagt, dieses für Gesellianer so abtrünnig anmutende Manuskript sei die
wichtigste Schrift seines Lebens. Sie wurde gekürzt durch Jobst von Heynitz,
der ihm nahestand. In dessen Einführung hieß es aber, Walker habe sich (allzu)
schroff von der Quantitätstheorie abgewandt, "die er selbst ein Leben lang
vertreten". (30) Seit 1970 war das nicht mehr der Fall.
Ein anderer
Freiwirt schrieb über das Buch, die von Walker vertretene Geldtheorie Gesells
sei "von der Entwicklung und von der Wissenschaft voll bestätigt
worden". (31) Dabei hatte er doch gerade die Geldtheorie Gesells in Frage
gestellt. Sein eigener Beitrag ging in dieser anonymen Kurzrezension vollständig
unter. Posthum wurde Walker auf einen bloßen Anhänger und Interpreten Gesells
reduziert.
Die
Sozialwissenschaftliche Gesellschaft erklärte, sie halte "nach wie vor an
den Grundsätzen einer verfeinerten Quantitätstheorie fest". (32) Hieß das nicht:
an dem Mercedes von anno 1891?
Jedoch gab
sie durch Ekkehard Lindner eine Gedenkschrift zum Tode von Karl Walker heraus,
in der endlich ein Teil seines Zirkulars von 1946 über die Durchsetzung
gesellschaftlicher Neuerungen durch genossenschaftliche Selbsthilfe
veröffentlicht wurde. Auch die hinterlassene "Parabel vom überlasteten
Boot". Darin verglich Walker Silvio Gesell mit einem kühnen Fischer, der
weiter als alle anderen aufs Meer hinausfährt. Noch niemand hat sein Netz in so
große Tiefen gesenkt. Er fängt einen Fisch, wie ihn noch keiner gefangen. Doch
zugleich hievt er schweres Gerümpel vom Meeresboden in sein Boot, das damit
überfrachtet wird. Er und seine Gehilfen schauen nur auf den großen Fang. Doch
als sie landen wollen, hat das Boot wegen des Gerümpels zu viel Tiefgang: es
kommt nicht mehr durch die Klippenbarriere vor der Küste. Auf und ab kreuzend,
suchen sie eine passierbare Lücke. Vergebens. Darüber stirbt der Kühnste aller
Fischer. Der auf Eis gelegte große Fisch ist das gemeinsame Erbe der
Mannschaft, die weiterhin versucht, an der Küste zu landen. Einige schlagen
vor, das Gerümpel über Bord zu werfen, damit wenigstens der Fisch an Land
gebracht und das Boot entlastet wird: "Mit diesem Ballast schaffen wir es
nicht. Darüber sterben wir alle hinweg und die Welt erfährt nie etwas von
unserem Fang."
Darüber
erbosen sich die anderen: "Was der Meister an Bord gezogen hat, das wollen
wir auch an Land schaffen. Das sind wir seinem Andenken schuldig. Nichts darf
über Bord geworfen werden." (33)
So kreuzen
sie weiter vor einer Barriere von Klippen, immer auf der Suche nach einer
kleinen Lücke, wo sie mit Fisch und Gerümpel durchkommen könnten. "Ihre
unverbrüchliche Beharrlichkeit halten sie für eine Tugend, die eines Tages zum
Erfolg führen müßte. Aber ob dann der Fisch noch etwas wert sein wird?"
Mit dieser
Frage auf den Lippen scheint Karl Walker gestorben zu sein. Er hat die
Natürliche Wirtschaftsordnung von neuem entdeckt und ihr ein modernes Fundament
geben wollen. Sie ist nicht an eine bestimmte Person, an Silvio Gesell
gebunden. Diesem gelang wie seinen Vorgängern nur eine Annäherung und die
Ausarbeitung eines bestimmten Modells.
Die
Natürliche Wirtschaftsbildung ist ein idealtypisches Urbild, welches
anscheinend durch eine ganze Reihe von Abbildern geht. Das Urbild schwebt über
allen sozialen Bewegungen, von denen es jede auf ihre Weise auslegt und zu
praktizieren sucht. Auch der Marxismus enthält ein Abbild, wenngleich ein
planwirtschaftlich verzerrtes.
Es bedarf
jedesmal einer Steigerung des gewöhnlichen Bewußtseins zur höheren Form der
Imagination, um die Natürliche Wirtschaftsordnung zu erschauen. Aus diesen
Schauungen gehen Fassungen hervor. Die erste Fassung hat Quesnay, die zweite
Proudhon vorgelegt. Gesell schuf ein Modell, das sie zu übertreffen schien und
weit systematischer war. Zum ersten Mal stand die Natürliche Wirtschaftsordnung
auch im Mittelpunkt einer sozialen Bewegung, die sich zu ihrer direkten
Verwirklichung bildete. Gesell schien alles durchdacht zu haben. Er war jedoch
wie Quesnay und Proudhon in eine bestimmte Zeit mit ihren Vorurteilen
eingeflochten. Die meisten Freiwirte verhielten sich zur Gesellschen NWO wie zu
einer Offenbarung. Erst Walker wagte es, ihre Grundlagen zu überprüfen und die
schwachen Stellen seiner Theorien abzuklopfen. Als schwächste Stelle erwies
sich Gesells Geldtheorie, welche wiederum auf der Quantitätstheorie fußte. Auf
diese hatte sich jedoch die Internationale Freiwirtschaftliche Union
festgelegt, auch die deutsche Sozialwissenschaftliche Gesellschaft. Letztere
beharrt auch auf Gesells Geldtheorie, wie alle NWO-Organisationen und
Institutionen. Mit ihr scheint die Freiwirtschaft zu stehen und zu fallen, als
hätte Karl Walker davor nicht gewarnt.
Es wird
daher angebracht sein, eine Skizze seines Werkes zu versuchen. Fast alles, was
er schrieb und in Vorträgen sagte, war direkt oder indirekt eine
Fortentwicklung freiwirtschaftlicher Vorstellungen. Ja, bereits eine
Unterscheidung zwischen Produktivität und Rentabilität aus dem Erstlingsbuch
von 1931. Die eine geht auf Kosten der anderen. Steigt die Rentabilität, der
zinsmäßige Kapitalertrag, so fällt die Produktivität, und umgekehrt.
Freiwirtschaft hat die Wirtschaft wirklich wirtschaftlich zu machen, jenseits
aller politischen Schlagworte, ganz praktisch und sachlich, auch jenseits des
Scheingesetzes der Rentabilität.
Im Grunde
begann Walker schon 1931, aber unbewußt, mit dem Aufbau eines eigenen Werkes,
das wie ein Embryo auch ein neues und verbessertes Modell der natürlichen Wirtschaftsordnung
enthielt. Nur wurde er bis Ende der 60er Jahre immer nur für einen
'Altgesellianer' gehalten. Seine Bescheidenheit verbot ihm, die eigenen
Verdienste herauszustreichen. Er hat einen großen Teil seines eigenen Werks in
den Dienst eines anderen gestellt, obwohl er ebenso selbständig dachte und zu
Erkenntnissen vorstieß, die sich mit denen Gesells im Laufe der Zeit immer
weniger deckten. Dessen NWO hatte drei Konstruktionsfehler: die Aufklärung, die
Darwinschen Begriffe von Auslese und Zuchtwahl, die Übernahme der
Quantitätstheorie.
Das
Grundmodell Silvio Gesells, wie es sich aus seinen ersten Büchern abhob, war
auch staatsdirigistisch. Das Geld sollte verstaatlicht und durch ein zentrales
Währungsamt dirigiert werden. Unter dem Einfluß der Philosophie Max Stirners,
die zu seinem Kompaß wurde, auch unter dem Eindruck der deutschen
Novemberrevolution und Bayrischen Räterepublik, machte sich bei Gesell eine
entgegengesetzte Tendenz zum Abbau des Staates bemerkbar. Schließlich wollte er
den Staat gänzlich ausschalten und durch eine Art Mütterbund ersetzen, wobei er
auch das zentrale Währungsamt (und eine zentrale Bodenverwaltung) strich. Das
waren die beiden Extreme des Gesellschen NWO-Modells, die sich in einem rechten
und einem linken Flügel der NWO-Bewegung spiegelten. Auch der innere
Widerspruch dieses Modells, Privateigentum in der Industrie bei gleichzeitiger
Sozialisierung des Grund und Bodens, blieb ungelöst.
In Walkers
Person vereinigten sich alle drei Grundströmungen der NWO-Bewegung: die
physiokratische (Brechung des Herrschaftsprinzips), die freiwirtschaftliche und
die lebensreformerische. Auf ihre politischen Flügel ließ er sich weder positiv
noch negativ ein, arbeitete vielmehr mit, ohne danach zu fragen. Alsbald war er
bemüht, von der NWO-Substanz die Gummihaut der Ideologie abzustreifen, in der
sie zu ersticken drohte. Gesells klassenkämpferische Haltung scheint Walker
zwar verständlich gefunden, aber befremdet zu haben, stand sie doch dem
Grundgedanken der NWO, wie er ihn sah, entgegen: einer volkswirtschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft. Die machtpolitische Durchsetzung der Freiwirtschaft fand
er unmöglich, sowohl über die Gewinnung der Wählermehrheit als auch über die
Zwangsmittel einer Diktatur, selbst wenn diese nur provisorisch aufgerichtet
werden sollte.
Gesell war
ein geistiger Aristokrat, der die Herrschaft der Edelsten wollte und den
Standpunkt vertrat, daß die Rechte der Massen eingeschränkt werden müßten.
Walker war ein Demokrat; obgleich vorübergehend von Hitlers Glanz geblendet,
hielt er das Volk für fähig, sich selber in freier Übereinkunft eine Ordnung zu
schaffen, allerdings könne es entgegen Rousseau auch irren. Die Menschenrechte
sollten bewahrt statt beschnitten werden. Demokratie biete Raum für die
Mitgestaltung aller. Sie habe allerdings das Herrschaftsprinzip übernommen, und
dieses müsse gekappt werden. Walker war jedoch niemals ein Stirnerianer. Vieles
hat er erst nach dem Zweiten Weltkrieg schriftlich formuliert. So in einem 1946
verfaßten Rundbrief, den er nicht veröffentlichen konnte. Darin erwies er sich
als Vermittler zwischen den beiden Hauptrichtungen der neuen NWO-Bewegung,
repräsentiert von Otto Lautenbach und Richard Batz. Auch als Ideenträger eines
dritten Weges, dem der genossenschaftlichen Selbsthilfe. Sowohl die
Physiokraten als auch die Freiwirtschaftler der Weimarer Zeit hatten die
Genossenschaften als gemeinwirtschaftlich abgelehnt. Walker schob ihr Vorurteil
nun beiseite und setzte sich für die Bildung von Siedlungsgenossenschaften ein,
welche Land erwerben und in Freiland umgestalten sollten.
Eine
genossenschaftliche Freilandbildung, Zug um Zug, hätte die Verstaatlichung oder
Kommunalisierung des Grund und Bodens, ein zentrales Bodenamt und die
Entschädigung der Eigentümer erübrigt. Durch das Beispiel der Tat würde
soziologische Macht geschaffen, die weit wichtiger und fortzeugender als
politische sei.
In Berlin
und Nürnberg entstand auf Walkers Initiative der WIR-Ring, um auf dem Boden der
gegebenen gesetzlichen Ordnung des Gewerberechts den vollkommenen
Leistungsaustausch einzuführen. Mit diesen direkten Aktionen sollte soviel
Freiwirtschaft praktiziert werden, wie gerade möglich war. Ihre allzu
plötzliche und totale Verwirklichung wäre gegen das Gesetz des organischen
Wachstums.
Walker
strebte auch eine neue Verfassung an, die jeder dazu fähigen Gruppe erlauben
müßte, ihr Ideal von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung modellhaft zu
realisieren, ohne daß sie durch einen Regierungsbeschluß, durch eine Verfügung
oder durch eine politische Partei daran gehindert werden könnte. Er war
überzeugt, daß die freiwirtschaftliche Tatgruppe das beste Resultat erzielen
und Andersgesinnte viel besser ansprechen würde als etwa durch Flugblätter und
Broschüren. Sie müsse allerdings auf ihren Totalanspruch verzichten. (34)
In diesem
Zusammenhang entwickelte Walker schrittweise seine Idee einer neuen erweiterten
Demokratie, die über den Parteien- und Interessenkampf hinauskommen sollte.
Weder eine Minderheitsherrschaft noch eine Mehrheitsherrschaft sei noch
akzeptabel. Gegen beide erhöhe sich das neuartige Prinzip der freien
Übereinkunft. Politische und materielle "Staatsknete" sei für den
Massenmenschen, nicht für den Freien, der nach geister und materieller
Unabhängigkeit strebe, ohne zu vergessen, daß jede Gesellschaft auch einer
Führungsschicht bedürfe, die durch Funktionäre nicht ersetzt werden könne.
Das
Herrschaftsprinzip äußerte sich für Walker innerhalb der NWO-Bewegung im
Mechanisierungs- und Zentralisierungdrang. Auch Andersdenkende, ja allen
Völkern soll eine Natürliche Wirtschaftsordnung aufgepropft werden, die dann
eine künstliche und konstruierte wäre. Sie könne sich nicht als abstrakte Idee,
sondern nur in lebendiger Entwicklung durchsetzen, die von unten nach oben
gehen und bei den günstigsten Bedingungen ansetzen werde. Allein der Intellekt
versteift sich darauf, etwas Neues ohne Wachstum und Übergang abrupt in die
Welt hineinzustellen, ohne Rücksicht auf die Andersdenkenden. Die Freiwirte
könnten nur das geistige Zentrum des Strebens nach einer neuen Lebensordnung
sein, das viele Millionen Menschen erfassen müsse, wenn es Erfolg haben wolle.
Walker hatte
den Massenmenschen des braunen Dritten Reiches erlebt und sah nun die Gefahr,
daß ganz Europa von der roten Form des Kollektivismus verschluckt werden
könnte. Jedoch studierte er sehr eifrig, ob und wie in der Sowjetunion das
Rentabilitätsprinzip in Frage gestellt war. Die Lebensordnung der Zukunft
sollte aus dem Zusammenklang der positiven Bestrebungen in Ost und West
hervorgehen. Walker dachte synthetisch und suchte immer nach einem Ausgleich.
Freiheit und soziale Gerechtigkeit zusammen müßten die Grundpfeiler der neuen
Ordnung sein.
Der volle
Arbeitsertrag erschien ihm als ein unerfüllbares Versprechen. Jedoch könne ein
vollkommener Leistungsaustausch in Gang gebracht werden. Voraussetzung ist die
Überwindung des Rentabilitätsprinzips, wobei der Kapitalertrag (Zins) nicht mit
dem Unternehmergewinn gleichgesetzt werden dürfe. Die Arbeit des Unternehmers
kann einen Anteil am Erlös beanspruchen.
Der Mensch
ist nicht nur ein biologisches, vielmehr auch ein moraliches Wesen, das
zwischen Gut und Böse immer wieder seine Wahl treffen muß. Auch Walkers
Natürliche Wirtschaftsordnung gründete sich auf das Sittengesetz. Und sie
sollte der kosmischen Ordnung entsprechen, die er für ebenso geistgesteuert
hielt wie all jene Menschen, die nicht einer materialistischen Weltanschauung
verfallen sind. Eine solche Weltanschauung wirkt nach seiner Erfahrung
vertiefend. Der verfallene Mensch schneidet sich selbst von der Schöpfung ab.
Deshalb müsse die Transzendenz erneuert werden.
Walker
versuchte aber auch, über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus
hinauszukommen. Er sah ihn durch seinen Begriff einer organisch wachsenden
Ordnung überwunden. Die Entfaltung und Höherentwicklung des menschlichen Lebens
entspringt nicht der Hochzucht, sondern einem in der Schöpfung wirkenden
Weltenwillen, der sich im Humanismus und in den Grundsätzen des Christentums
ausspricht.
Die Welt ist
nicht vom Intellekt und nach Verstandeszwecken in Ordnung zu bringen. Man
sollte sie zu der ihr innewohnenden Ordnung kommen lassen, gemäß der
Eigengesetzlichkeit ihrer Teilbereiche. Die beiden Triebkräfte Hunger und Liebe
müssen in allen Abwandlungen respektiert werden, auch als Streben nach
Wohlstand, Anerkennung und Ruhm. Am wichtigsten und im Plan der Schöpfung am
tiefsten verankert ist jedoch der Freiheitstrieb, ohne den sich für Walker der
höhere Sinne des Lebens nicht erfüllen könnte.
Dieser
höhere Sinn verlangt eine Entwicklung des Menschen über den Eigennutz hinaus,
seine innere Entfaltung vom Egoismus zum Altruismus. Die großindustrielle
Produktion ist eine gesellschaftliche, welche sich mit Eigennutz, der für die
Manufakturzeit wichtig war, schlecht verträgt. Er wurzelt im Ichtrieb, der
nicht allein - wie bei Gesell - aus dem Selbsterhaltungsdrang erklärt werden
kann. Auch der Altruismus ist eine Naturanlage. Er will nicht nur das Wohl der
eigenen Brut, eher das der Gemeinschaft. In den industriellen Unternehmen könne
man Arbeiter und Techniker finden, denen mehr daran liegt, an einem großen Werk
beteiligt zu sein, als bloß ihrem Eigennutz zu frönen. Darauf hat Walker
gebaut. Er glaubte auch an eine Überwindung des Individualismus durch das
ganzheitliche Denken.
Das sind im
großen und ganzen die Grundsätze seines Modells der Natürlichen
Wirtschaftsordnung. Jedoch konnte er es nicht vollenden. Sein Werk blieb ein
Torso. Die 13. Mündener Gespräche vom März 1993 haben es nur ansatzweise
aufgearbeitet. Immerhin wurde ein erster Versuch gemacht.
Entfaltung und
Wandel des Seminars für freiheitliche Ordnung
1 Lothar
Vogel, Die Verwirklichung des Menschen im sozialen Organismus, Eckwälden 1973,
S. 17
2 ebenda, S.
305
3 Fragen der
Freiheit, Nr. 134, S. 46
4 Fragen der
Freiheit, Nr. 119, S. 3
5 ebenda, S.
5
6 ebenda, S.
6
7 Fragen der
Freiheit, Nr. 144, S. 5
8 ebenda, S.
48
9 Fragen der
Freiheit, Nr. 159, S. 15
10 Fragen
der Freiheit, Nr. I85, S. 89
Verlagerung
auf ein weiteres Standbein
11 Das
entnahm ich einem Brief von Karl Walker.
12 Zuweilen
kamen 50 Leute, im Herbst 1992 nur noch 25
13 Aus der
Einladung zu den 11. Mündener Gesprächen
Freiwirtschaft
ohne Dogma und eine neue NWO (Walker)
14 Karl
Walker, Geist und Weltgestaltung, Lauf 1960, S. 79
15 Karl
Walker, Überlegungen zur Werttheorie, S. 15
16 ebenda,
S.17
17 ebenda,
S. 30
18 ebenda
19 Vortrag
ohne Titel 1975 zur Kritik seines Manuskripts über das Weltwährungssystems, S.
2
20 ebenda
21 ebenda,
S. 6
22 in:
Einsam geblieben bei der Wahrhaftigkeit, Gedenkschrift zum Tode von Karl
Walker, S. 24
23
Bandabschrift Anfang 1975, S. 2
24 ebenda,
S. 6
25 ebenda,
S. 10
26
Fortentwicklung freiwirtschaftlicher Vorstellungen, S. 1
27 ebenda
28 ebenda
29 Dr.
Bernhard Hamelbeck, Eine Antwort auf Karl Walker, S. 1
30 Einführung
des Herausgebers von Karl Walker, Das Weltwährungssystem, S. 8
31
Zeitschrift für Sozialökonomie Sept. 1981, letzte Umschlagseite
32
Zeitschrift für Sozialökonomie, Heft 40, S. 30
33 Walkers
Fabel vom überlasteten Boot, in: Einsam geblieben..., S. 8/9
34 Karl
Walker, Diskussionsbeitrag zur Strategie und Taktik des Freiwirtschaftsbundes
(unveröffentlichtes Manuskript 1945/46)
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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von
W. Roehrig