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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
II. Die
neuen Organisationen
Wiederum
entrollte sich das Problem, ob die Natürliche Wirtschaftsordnung eine Frage der
politischen Macht oder des allmählichen Aufbaus von unten her sei. Im
Unterschied zur früheren NWO-Bewegung entschieden sich nun die meisten
Freiwirte für den politischen Weg, zumal er kürzer als je zu sein schien, bis
nach der westdeutschen Währungsreform von 1948 ein jäher Rückschlag eintrat.
Die Flut des Masseninteresses und Massenandrangs wich einer Ebbe, welche nicht
mehr weichen wollte. Dennoch fühlten sich maßgebende Freiwirte nach wie vor
,100 m vor dem Ziel'.
Es kam auch
abermals die Frage auf, ob die Natürliche Wirtschaftsordnung einer
weltanschaulichen Begründung bedürfe oder ihr Genüge in Strukturreformen finde.
Sie wurde in gewisser Hinsicht dadurch gekappt, daß man nicht mehr nur von
einer neuen Wirtschaftsordnung, sondern auch von einer natürlichen Gesellschaft
und Kultur sprach, womit Otto Lautenbach den Anfang gemacht. Das ,organische
Denken' war nun integriert, doch auf der intellektuellen und wirtschaftlichen
Ebene setzte sich abermals der Individualismus durch. Einzelne Persönlichkeiten
spielten wieder eine große, sogar übermächtige und ausschlaggebende Rolle. Sie
ergriffen die Initiative und formten die verschiedenen Organisationen nach
ihrem eigenen Bild. Indes entstand nun eine freiwirtschaftliche Internationale,
die diese Organisationen ein wenig abzugleichen, auch innerlich zu
demokratisieren versuchte.
Der
Freiwirtschaftsbund (FWB)
Neuanfänge
Zunächst
bildete sich ein Arbeitskreis aus Mitarbeitern jener "Schule der
Freiheit", die als Zeitschrift zwischen 1933-43 erschienen und aus der
schließlich auch ein Widerstandskreis hervorgegangen war. Die ersten
Ortsgruppen wurden in Stuttgart und Esslingen gegründet, in Esslingen und
andernorts zunächst als politische Partei, doch setzte Otto Lautenbach mit
seinen Rundbriefen bald einen einheitlichen Organisationsrahmen durch. Weitere
Ortsverbände entstanden in Ulm, Vaihingen, Frankfurt/Main, Heidelberg, Mosbach,
Heidenheim und anderen Städten. In Nürnberg bildete sich zunächst ein NWO-Bund,
in München gleich ein Freiwirtschaftsbund, der erst am 9.6.1947 genehmigt wurde
- als inoffizielle Arbeitsgemeinschaft von etwa 50 Freiwirten und
Interessenten, die monatlich zusammen kamen, hatte er längst ein reges Leben
entfaltet.
Am 7.4.1946
fand in Ludwigsburg mit 69 Delegierten aus 32 örtlichen Vereinigungen die erste
Zonentagung statt. Hauptredner war Otto Lautenbach. Er führte aus,
entscheidende Grundlagen wären bereits 1932 auf dem Comburg und 1943 durch das
Pfingstprogramm gelegt worden. Daran könne man anknüpfen und weiterbauen. Die
Tagung beschloß die Gründung eines neuen Freiwirtschaftsbundes und wählte einen
Zentralausschuß für die amerikanische Zone, der Otto Lautenbach, Dr. PaulDieh,
Walter Hoch, Paul Jahnson und Otto Schiefer umfaßte. Er sollte die Genehmigung
beantragen. Die nachgewiesene illegale Tätigkeit einiger seiner Mitglieder
ermöglichte eine ziemlich rasche Anerkennung durch die Militärregierung. Über
Lautenbach verhängte sie allerdings wegen bestimmter Artikel in der NS-Zeit ein
Publikationsverbot. Er trat am meisten hervor, war aber auch am meisten
umstritten. Einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem NS-System wich er
aus. Über Hitler verlor er kein einziges Wort.
Irgendwie
gelang es Otto Lautenbach, die Aufhebung des Publikationsverbots zu erreichen,
so daß er schon 1946 als Herausgeber und Chefredakteur jener "Blätter der
Freiheit" in Erscheinung treten konnte, die zum Organ des neuen FWB werden
sollten. Er schuf sich auch den Vita-Verlag.
Die
offizielle Gründung des neuen FWB erfolgte im September 1946. Sie wurde
eingeleitet von einer öffentlichen Kundgebung im Stuttgarter Schauspielhaus.
Das Württembergische Staatstheater spielte die Overtüre zu Mozarts Oper
"Figaros Hochzeit".
Anschließend
rezitierte Harald Bender den "Olympischen Siegesgesang" von Rolf
Engert, dem Gedächtnis Silvio Gesells gewidmet. Nach diesem Prolog zogen sich
die rd. 300 Freiwirte, davon 100 aus der britischen, französischen und
russischen Besatzungszone, zu ernster Arbeit in andere Räume zurück. Diese
Arbeit wurde hauptsächlich in sechs Kommissionen geleistet:
-
Programmkommission
- Kommission
für Satzungsfragen und Organisationsaufbau
- Kommission
für wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Forschung
- Kommission
für Presse und Werbung
- Kommission
für Gewerkschafts- und Parteiarbeit
- Kommission
für praktische freiwirtschaftliche Arbeit, die Unternehmen mit
freiwirtschaftlichem Firmenschild überprüfen wollte.
Otto
Lautenbach war Obmann der 6. und letzten Kommission. Ihr legte Will Noebe
seinen Siedlungsplan und Hugo Kreidel sein Projekt eines freiwirtschaftlichen
Unternehmerrings vor. Lautenbach begrüßte es zwar, daß von Freiwirten Tauschringe
und Siedlungsgenossenschaften gegründet würden. Nur dürften sie nicht mit dem
Anspruch eines freiwirtschaftlichen Unternehmens auftreten und müßten vom FWB
säuberlich getrennt werden. (So war schon der alte FWB mit Hunkels
"Selbsthilfe der Arbeit" verfahren.) Die Kommission machte es von
ihrer Genehmigung abhängig, ob sich ein Unternehmen freiwirtschaftlich nennen
könne.
Im Plenum
des 1. Bundestags sprach zunächst Werner Zimmermann über Fortschritte der
freiwirtschaftlichen Idee in der Schweiz und den angelsächsischen Ländern. Das
programmatische Grundsatzreferat hielt Otto Lautenbach. Er wandte sich gegen
die irrtümliche Auffassung des Kapitalismus als einer einheitlichen
wirtschaftspolitischen Macht. In Wahrheit handele es sich nicht um ein System,
sondern um eine Interessenverflechtung der verschiedensten Menschen, Stände und
Berufsgruppen.
Lautenbach
warnte auch vor einer trügerischen Darstellung der Freiwirtschaft als
Ostwestsynthese, als einer Legierung von historischen Sozialismus und historischen
Liberalismus. Sie bedeute vielmehr eine völlig neue Sicht der Dinge und bewirke
in beiden Lagern eine Scheidung der Geister quer durch alle Parteien.
Allerdings könne sie nicht mehr in derselben Darstellungsweise und mit
denselben Argumenten vertreten werden wie vor 1930. Die Welt hat sich seit dem
Wirken von Keynes und Beveridge, seit dem Abkommen von Bretton Woods und der
Gründung einer Weltbank entscheidend verändert. Der Kapitalismus konsolidiert
sich in der neuen, widerstandsfähigen Form einer staatlichen
Investitutions-Planwirtschaft, die ohne Gefährdung von Zins und Rente
Vollbeschäftigung garantiert. "Nur bei klarer Erkenntnis und
Berücksichtigung dieser realpolitischen Gegebenheiten können wir zielbewußt den
Weg gehen zur Verwirklichung der Freiwirtschaft." (1)
Der erste
Bundesvorstand des neuen FWB ging aus geheimen Wahlen hervor und setzte sich
wie folgt zusammen:
Dr. Paul
Diehl (50 Stimmen)
Otto
Lautenbach (46 Stimmen)
Dr. Hermann
Stolting (45 Stimmen)
Walter Hoch
(36 Stimmen)
Hanna
Blumenthal-Führer (32 Stimmen)
Otto
Schiefer (27 Stimmen)
Wilhelm
Beckel (27 Stimmen).
Lautenbach
genoß zwar die Unterstützung der meisten Delegierten, doch das größere
Vertrauen wurde Dr. Diehl entgegengebracht.
Struktur und
Arbeitsweise
Im Entwurf
der Bundessatzung war ein Präsident vorgesehen. Die Delegierten entschieden
sich jedoch für ein dreiköpfiges Präsidium, das zugleich als Geschäftsführung
fungierte.
Der FWB
erhielt eine neuartige Struktur, die freilich erst nach einigen Jahren
ausgereift war:
Ehrenpräsident:
Prof. Dr. Paul Diehl
Präsidium:
Otto Lautenbach, Walter Hoch, Walter Großmann
Bundesvorstand:
fünf Mitglieder
Sieben
Kommissionen, die permanent tätig waren.
Bundesrat,
zusammengesetzt aus den Mitgliedern des Vorstands und der Kommissionen.
Dem
Freiwirtschaftsbund angeschlossen waren die Akademie Schule der Freiheit, die
Gesellschaft für wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Forschung sowie
Lautenbachs Vita-Verlag.
Das
Sekretariat der Akademie Schule der Freiheit befand sich in
Heidelberg-Ziegelhausen, wo auch Lautenbachs Vita-Verlag residierte. Das
"Darmstädter Echo" schrieb über die Eröffnung der Akademie,
angesichts des hohen Niveaus ihrer ersten Vorträge sei zu hoffen, "daß
sich in Heidelberg ein geistiger Quellpunkt bildet, dessen Einflüsse auf das
öffentliche Leben in Deutschland nicht unbemerkt bleiben dürften". (2)
Auch weitere 30 Zeitungen und Zeitschriften berichteten über die erste Tagung
positiv. Die Akademie diente als Diskussionsforum und Begegnungsstätte, aber
auch als Schulungszentrum für FWB-Führungskräfte. Die Gesellschaft für
wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Forschung ging aus der
gleichnamigen Kommission hervor. Sie sollte eine Forschungsstätte sein und enge
Beziehungen zu wissenschaftlichen Kreisen knüpfen, um diese zur Rezeption der
Gesellschen Lehre zu bewegen. Ihre offizielle Gründung als eingetragener und
rechtsfähiger Verein fand erst am 8.11.1952 statt. In den Vorstand wurden
gewählt:
Prof. Dr. Hans Bernoulli; Basel
Hans Brodbeck, Luzern
Dr. Paul Diehl Gräfeling
Prof. Dr. Olga von Plotho, Göttingen
Karl Walker, Berlin
Dr. Ernst Winkler, Gräfeling.
In einem
ersten Rundschreiben an die Mitglieder der Gesellschaft hieß es, zunächst sei
die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel nötig, um eine
Schriftenreihe herauszugeben. Es erschienen jedoch nur Dr. Winklers
"Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung" und Karl Walkers
Broschüre "Das Buchgeld", beide in Lautenbachs Vita-Verlag.
Die drei F
des früheren FWB wurden gestrichen. An ihre Stelle trat als neues Bundessymbol
das Kreuz im Ring. Dieser Beschluß folgte einem Antrag von Hanna
Blumenthal-Führer.
Der neue
Freiwirtschaftsbund konstituierte sich als Bund für natürliche Ordnung in
Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft. Lautenbach polemisierte gegen die
Radikal-Soziale Freiheitspartei von einem grundsätzlichen Standpunkt aus.
Seines Erachtens konnte die Freiwirtschaft als Partei mit den großen Parteien
nicht konkurrieren, als eine überparteiliche Bewegung hingegen auch quer durch
diese Einfluß gewinnen. Dies erwies sich als richtig. Bereits für die
"Aktion Warenmark" konnten zahlreiche außerhalb des FWB stehende
Persönlichkeiten gewonnen werden, von denen eine ganze Reihe der CDU, SPD oder
FDP angehörten.
Ihre
öffentliche Resonanz war erstaunlich groß. Über die Warenmark als Brücke zur
Währungsordnung wurde in zwei Vortragsreihen von Wilhelm Merks und Otto
Lautenbach in ca. 50 Städten gesprochen, wo sie überall auf sehr lebhaftes
Interesse stießen. Es war eine starke Beteiligung der Behörden und der
Wirtschaft festzustellen. Mehrere öffentliche Ämter und die Spitzen einiger
großer Industriebetriebe sollen geschlossen erschienen sein. Fast alle
Zeitungen berichteten über den Warenmarkplan. In den Geschäftsstellen des
Freiwirtschaftsbundes liefen Hunderte von Zuschriften und
Zustimmungserklärungen ein, darunter von Sparkassen und der Badischen
Kommunalen Landesbank (Girozentrale). Keine freiwirtschaftliche Initiative hat
die Gemüter so bewegt wie die Warenmark-Aktion.
Noch 1946
brachte der Freiwirtschaftsbund in hoher Auflage sechs Flugschriften heraus.
Nr. l stand unter dem Titel "Unserer Jugend eine freie Zukunft", Nr.
6 "Planwirtschaft - die Sklaverei des 20. Jahrhunderts". Laut dieser
Flugschrift, von Prof. Diehl verfaßt, weicht das volkswirtschaftliche Prinzip
des höchsten Nutzeffekts für den Konsumenten dem Prinzip des höchsten Gewinns,
sobald sich Kartelle oder staatliche Monopole bilden.
Ziel und Weg
Das Programm
des FWB wurde in Ziel und Weg unterteilt. Das Ziel war ein Natürliche
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, "die freie Welt von Morgen ohne
Vorrechte . . . in der soziale Gerechtigkeit mit einem Höchstmaß von
persönlicher Freiheit verbunden ist". Es sollte die Grundbedingung für
eine von der äußeren Welt ungehemmte Entwicklung freier, selbstverantwortlicher
Menschen sowie für das natürliche Wachstum einer wahren Gemeinschaft geschaffen
werden.
Der neue FWB
übernahm in wesentlichen das Programm des alten, nur ersetzte er die festen
Standbegriffe Freigeld, Freiland, Festwährung durch flüssige und dehnbare
Formulierungen:
1. Rückkauf
des gesamten Grund und Bodens in das Eigentum der Gesellschaft und seine
Verpachtung zur freien Bewirtschaftung;
2. Verteilung
der Grundrente auf die Mütter je nach der Zahl ihrer Kinder unter 16 Jahren;
3. Regelung
der Menge des umlaufenden Geldes durch ein Währungsamt, daß unter allen
Umständen einen gleichbleibenden durchschnittlichen Preisstand aller Waren zu
gewährleisten hat nach dem Großhandelsindex;
4.
Beherrschung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Die Geldzeichen werden durch
geeignete technische Mittel unter Umlaufzwang gestellt.
Diese vier
Maßnahmen würden das arbeitslose Einkommen beseitigen, den einzelnen befreien
und der Menschheit eine höhere Entwicklung eröffnen.
Von einer
Verstaatlichung des Bodens war keine Rede mehr, doch die "Kasse der
Gesellschaft", in welche die Grundrente zunächst einfließend sollte,
konnte nur die Staatskasse sein.
Erstmals
widmete ein freiwirtschaftliches Programm der Außenpolitik einen besonderen
Abschnitt. Sie sollte, sobald in freiwirtschaftlicher Hand, die ungehemmte
Durchführung der innenpolitischen Forderungen sichern. Zur Richtlinie wurde
gemacht: Freihandel, Ablehnung jedes internationalen Währungsabkommens,
Gründung zwischenstaatlicher Noteninstitute und Förderung des internationalen
Warenaustauschs.
Der
Freiwirtschaftsbund behauptete, seine Grundsätze wären "unbestreitbare und
weithin anerkannte Ergebnisse wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher
Forschung". Er betreibe eine wissenschaftlich abgesicherte Politik (was
sonst nur die Marxisten in Anspruch nehmen).
Was seinen
Weg betraf, so wollte der FWB die Mitte finden "zwischen Umsturz und
Entwicklung". Sein revolutionäres Wirken werde sich auf das Grundsätzliche
beschränken, auf die radikale Umgestaltung des Geld- und Bodenrechts.
Dafür gebe
es drei Voraussetzungen:
1.
"eine revolutionäre Situation"
2.
"geistige Durchdringung der Umwelt mit unserer Idee"
3.
"eine zu politischem Handeln geeignete und gewillte Organisation, die nach
der Natur ihres Ziels nur ein überparteilicher politischer Kampfbund sein
kann".
Der FWB
glaubte, er befinde sich bereits in einer revolutionären Situation, welche mit
allen zweckdienlichen Mitteln genützt werden müsse. Es liege an den Freiwirten,
die zweite und dritte Bedingung zu schaffen. "Dann findet uns die nächste
revolutionäre Situation bereit zur bewußten und gewollten Tat, die allein die
natürliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu gestalten vermag."
Lautenbach war sich klar, daß die potentiell revolutionäre Nachkriegssituation
bald abklingen würde, aber er rechnete bereits mit einer zweiten revolutionären
Welle, auf der die Freiwirtschaft zur Macht reiten könne.
Wie in der
"Schule der Freiheit" zwischen 1933-43 sollte wieder ein organisches
Denken den harmonischen Ausgleich zwischen menschlicher Willensfreiheit und der
"Unerbittlichkeit ewiger Gesetze" sichern, "welche die belebte
und unbelebte Natur durchwalten. Indes war nun auch vom "heiligen
Menschenrecht der persönlichen Freiheit" die Rede. Abermals konnte man von
einem "Aufstand des Lebens" lesen, nur war sein Träger diesmal nicht
der Nationalsozialismus, sondern das Individuum. Der neue Freiwirtschaftsbund
hoffte eine Volksbewegung zu werden", die durch die Parteien hinweg und
durch die Parteien hindurch sich entfaltet". Unabhängig von den
politischen Gestaltungen der Gegenwart trage der FWB eine Kraft in sich, die
ihn des Zwangs enthebe, zu jedem politischen Geschehen Stellung zu nehmen, sich
in den politischen Tageskampf verwickeln oder gar seine Politik vorschreiben zu
lassen. Er behielt sich vor, zur Erreichung seines Ziels "alle
zweckdienlichen Mittel" anzuwenden, darunter - wie im Programm des
Fisiokratischen Kampfbundes von 1924 - den Generalstreik. Nur waren ihm die
meisten Mittel nicht zugänglich. Notgedrungen mußte er sich mit Aufklärung
begnügen.
Organisatorischer
Aufbau - schließlich ein Orden
Der
Bundesvorstand setzte sich aus einem dreiköpfigen Präsidium und einem
fünfköpfigen Beirat zusammen. Die Ortsgruppen hatten einen dreigliedrigen
Vorstand, die Kreis- und Landesverbände sollten einen fünfgliedrigen haben.
Auch die
Mitgliedschaft wurde dreigegliedert. Die Passiven bildeten den äußersten Ring,
der gleichsam ein Puffer war, die Aktiven den inneren Verbindungsring, die
Vertrauenswürdigsten und die führenden Köpfe sollten schließlich in einem Orden
zusammengefaßt werden, der den innersten Ring und den Kern des Ganzen gebildet
hätte. Natürlicher wäre es gewesen, mit der Kernbildung zu beginnen. Zur
Gründung des freiwirtschaftlichen Ordens kam es nicht mehr. Dieser Plan sank
mit Otto Lautenbach in Grab.
Alle
Mitglieder, auch die passiven, wurden zum Bezug der "Blätter der
Freiheit" verpflichtet. Für die Aktivisten erschienen gedruckte
"Verbindungsbriefe".
Zu
Funktionen im FWB konnte nach der revidierten Satzung vom November 1950 nur
noch gewählt werden, wer wenigstens 6 Monate Mitglied eines Verbindungsrings
war. Solche Ringe wurden den Vorständen aller Ortsgruppen
"beigeordnet". Sie sollten ihm die organisatorische Arbeit
erleichtern und den Kontakt zu den einfachen Mitgliedern vermitteln. Praktisch
waren solche Ringe nur in den Großstädten möglich. In Stuttgart bestand er aus
etwa 20 Aktivisten. Von je 10 Mitgliedern war im Durchschnitt nur einer aktiv.
Außer
Ortsgruppen und Kreisverbänden gab es im FWB auch Arbeitsgemeinschaften, für
die jeweils ein Vertrauensmann verantwortlich sein und die Verbindung zum
Bundesvorstand aufrechterhalten sollte. Eine davon wurde zum wichtigsten
Vehikel des FWB.
An der
Spitze wurden Kommissionen gebildet, die den Hauptvorstand berieten, aber auch
ein eigenständiges Leben führen sollten. Sie konnten sich durch die Zuwahl von
Fachleuten ergänzen und bestanden in der Regel aus sieben Mitgliedern.
Schließlich
wurde ein Bundesrat eingeführt, zusammengesetzt aus den vom Bundestag gewählten
Mitgliedern der Kommissionen und des Bundesvorstands.
Im Vergleich
zur früheren Organisationsform gab es also vier neue Elemente: die
Verbindungsringe, die Arbeitsgemeinschaften, die Kommissionen und den
Bundesrat. Otto Lautenbach war in organisatorischer Hinsicht ebenso beweglich
wie Hans Timm; mir scheint, er hat einiges von diesem gelernt.
Keine
NWO-Organisation war so systematisch aufgebaut wie der neue
Freiwirtschaftsbund, keine auch so ausgeklügelt. Bis ins kleinste durchdacht,
schien er für die Ewigkeit geschaffen zu sein. Dabei hing er ganz und gar von
der Person Otto Lautenbachs ab.
Disziplin,
Demokratie und der Geist Silvio Gesells
Im
Programmentwurf war die "uneingeschränkte Pflicht" der Mitglieder
gefordert, sich "vorbehaltlos" und "in der Öffentlichkeit
sichtbar" zu Ziel und Weg des FWB zu bekennen. Gegen diese Formulierung
Otto Lautenbachs und Kurt Sellins erhoben Wilhelm Brude, Karl Scherer, Hanna
Blumenthal-Führer, Heinrich Wick und Ludwig Schultheiß ernste Bedenken: sie
ließe sich mit den Grundsätzen der Demokratie und persönlichen Freiheit nicht
vereinbaren. So fiel denn die besagte Forderung unter den Tisch. Nicht in allen
Punkten hat sich Otto Lautenbach durchsetzen können. Er war gleichwohl
bestimmend für die Grundlinie des Programme und den Kurs des
Freiwirtschaftsbundes, nach Hans Joachim Führer aber "zu egozentrisch,
viel zu sehr Machtmensch und nicht geeignet, die Freiwirtschaft nach außen zu
vertreten". (3)
Heinrich
Wick beantragte, in die Präambel des Zielprogramms einzufügen, daß der FWB
seinen Kampf für eine natürliche Ordnung "auf demokratischer
Grundlage" führe. Dieser Antrag wurde einer Kommission überwiesen und auf
diese Weise abgebogen.
Dem
unteilbaren Ziel einer natürlichen Ordnung diene nur eine wesensgemäße
natürliche Taktik: die direkte Aktion, und zwar "in allen Abstufungen von
der bloßen Aufklärung bis zum unmittelbaren Eingriff in den politischen
Machtkampf". Es wurden genannt: Flugblätter, Plakate, Schreiben an
führende Persönlichkeiten, Eingaben an Parlamente, Versammlungen, Kundgebungen,
Demonstrationen, Generalstreik, Erzwingung und Beeinflussung eines
Volksentscheids. "Bei zentraler Leitung wird die Wirksamkeit solcher
Aktionen erhöht. . . " Direkte Aktionen unter zentraler Leitung! - das war
ein Widerspruch in sich. Örtliche Initiativen sollten mit dem Bundesvorstand
abgesprochen werden.
Entsprechend
dem Gepräge eines politischen Kampfbunds verlangte das Programm straffe
Bundesdisziplin. Die von den Bundestagen und vom Bundesvorstand gefaßten
Beschlüsse hätten für alle Mitglieder bindende Kraft. Den Minderheiten wurde
"weitestgehende Toleranz", aber keine Fraktionsfreiheit versprochen.
Opposition und Toleranz fänden dort ihre natürliche Grenze, wo die Einheit des
Bundes nach außen gefährdet sei. Das war anscheinend auch schon durch die
Infragestellung der Mütterrente der Fall.
Lautenbach
sagte, das Programm sei zeitlos gültig, die Art seiner Durchführung abhängig
von den gegebenen Wirklichkeiten. Seine Reden rissen viele Zauderer und
Skeptiker mit. In § 2 der Satzung hieß es, der Bund erstrebe die Verwirklichung
einer natürlichen Ordnung "in Übereinstimmung mit den Lehren Gesells in
der Formulierung des Bundesprogramms". Dieses galt als modernisierte und
aktuelle Ausdrucksform der NWO.
Unter den
Mitteln unterschied das Programm zwischen drei Methoden
1. der
logisch-pädagogischen durch wissenschaftliche Darstellung der
Freiwirtschaftslehre,
2. der
praktisch-wirtschaftlichen Methode durch das soziologische Experiment; von der
Anschauung und dem praktischen Nutzen her werde es das Interesse weiterer
Kreise wecken,
3. die
politisch-agitatorische Methode durch Propaganda und direkte Aktion, um die
Bevölkerung mit der freiwirtschaftlichen Idee zu durchdringen und in ihr den
Willen zu politischem Handeln zu wecken.
Durch die
drei Methoden sollten also stufenweise immer mehr Menschen erfaßt werden: von
den Intellektuellen bis zur Arbeiterschaft.
Mitbegründer
der Sozialen Marktwirtschaft
Die
Warenmark-Aktion hatte das Ziel der Indexwährung. Eine ihr zugrundeliegende
Denkschrift des FWB vom Januar 1947 erklärte, auf der derzeitigen
Währungsgrundlage mit offener Inflation könne der Übergang zu einer freien
Wirtschaft wegen der damit verbundenen wirtschaftlich-sozialen Gefahren
"nicht angeraten werden, obwohl ein Fortschreiten auf dem gegenwärtigen
Wege der totalen Bürokratisierung für die deutsche Wirtschaft noch schädlicher
ist". (4)
Eine zweite
Denkschrift, nun über wirtschaftliche Neuordnung, schlug eine
Währungsbereinigung, eine Finanzregelung und eine Bodenverwaltung vor, was nach
Dr. Winkler nichts anderes war als die "Anwendung des freiwirtschaftlichen
Zielprogramms auf die aktuelle Situation".
Die dritte
Denkschrift des Freiwirtschaftsbundes verlangte auch eine "neue soziale
Ordnung", wobei sie sich auf das Sofortprogramm von 1944 berief.
Am erfolgreichsten
war die "Aktion Sozialer Marktwirtschaft". Sie ging aus der
Gesellschaft für wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Forschung
hervor, die sich einfach umbenannte. In ihr hatte man sich Walter Euckens
erinnert, der in Freiburg ein gewichtiges Werk veröffentlicht, worin er sich
weit umfassender und konsequenter als Keynes für eine freie Wirtschaft
ausgesprochen. Euckens Werk war inzwischen zum Keimpunkt des Neoliberalismus
und zur Grundlage seiner Freiburger Schule geworden. Es enthielt einen Satz,
der auch von Silvio Gesell hätte stammen können: "Ohne Freiheit der Person
die soziale Frage zu lösen, ist unmöglich". Eucken vertrat allerdings den
Standpunkt, die besten Züge der Goldwährung müßten beibehalten werden - ihr
automatischer Charakter, die strengen Regeln, stabile Wechselkurse. Trotz
dieser Differenz entschloß sich der Freiwirtschaftsbund zur Zusammenarbeit mit
der Freiburger Schule. Ihr stand auch Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard
nahe; er war selbst ein Neoliberaler, las die Denkschriften des FWB und
gewährte den "Blättern der Freiheit" ein Interview. Lautenbach
scheint mehrere Gespräche mit dem Wirtschaftsminister geführt zu haben.
Gemeinsam gaben sie die Zeitschrift" Währung und Wirtschaft" heraus.
Euckens Neo-Liberalismus wollte der Wirtschaft eine rechtliche Rahmenordnung
geben und die Konzerne abbauen. Lautenbachs Freiwirtschaftsbund setzte sich zum
Ziel, in Westdeutschland eine freie Wirtschaft mit minimalem Kapitalismus zu
begründen, die durch Vollbeschäftigung sozial abgesichert und gegen den
östlichen Kollektivismus kommunistischer Prägung immunisiert war.
Die direkte
Kontaktaufnahme zwischen der freiwirtschaftlichen und der neoliberalen Schule
erfolgte wohl 1949. Im öffentlichen Teil der FWB-Bundestage von 1951 und 1952
sprachen auch prominente neoliberale Gäste: die Professoren Rüstow und Böhm,
Dr. Hellwig und Dr. Strickrodt. Die "Magna Charta der sozialen
Marktwirtschaft" von 1951 wurde bereits von beiden Schulen getragen,
obwohl ihre Federführung bei den Freiwirten lag. Die Zusammenarbeit gestaltete
sich immer enger. Am 23.1.1953 erfolgte in Heidelberg die Gründung der
Aktionsgemeinschaft Soziale Marktschaft (ASM). Sie schuf den organisatorischen
Rahmen für die Kooperation mit den Neoliberalen. Im Vorstand der ASM nahmen 4
Freiwirtschaftler (Lautenbach, Hoch, Winkler, Schwab) und 4 Männer der
Wirtschaft (Blum, Meier-Lenior, Kalbfleisch, Lang) Platz. Unter den 9
Mitgliedern des Beirats befanden sich je 3 Freiwirte und Neoliberale. Die
Aktionsgemeinschaft veröffentlichte eine Aufruf zur wirtschaftspolitischen
Entscheidung, der insbesondere an die Bundesregierung gerichtet war. Sie
erklärte ihre Absicht, "jenseits von Parteien und Interessengruppen für
die Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft zu arbeiten", wofür ein
Grundgesetz der Wirtschaftsordnung vorgeschlagen wurde. Der freie
Leistungswettbewerb sei unvereinbar mit monopolitischen Machtgebilden, dafür
gebunden an Freizügigkeit für Menschen, Geld, Kapital, Waren und
Dienstleistungen. Das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter und Angestellten in den
Betrieben könne zwar bejaht werden, es dürfe aber weder die wirtschaftlichen
Entscheidungen der Unternehmer beschneiden noch durch betriebsfremde
Funktionäre ausgeübt werden.
Die
Leitsätze der ASM fußten auf Kompromissen zwischen Freiwirtschaft und
Neoliberalismus. Laut Dr. Winkler war jedoch in ihnen "implizit die ganze
Freiwirtschaftslehre enthalten", welche im Laufe der theoretischen
Entwicklung und praktischen Realisierung mit innerer Notwendigkeit immer klarer
hervorzutreten versprach. Seines Erachtens hätte das geistige Ringen um eine
neue Wirtschaftsordnung unter der geschickten Regie Otto Lautenbachs
"zugunsten der freiwirtschaftlichen Position entschieden werden
können". (5)
In
Wirklichkeit war die günstigste Situation längst verpaßt, als die ASM gegründet
wurde, und sie konnte nur scheinbar wiederhergestellt werden. Die
Währungsreform vom Juni 1948 hatte die Weichen in anderer Richtung gestellt,
als sie der FWB (und die RSF) gestellt haben wollten. Eine weitere
Währungsreform hätte nur noch mit diktatorischer Gewalt durchgesetzt werden
können. Auch im Volk bestand kein Bedarf mehr nach freiwirtschaftlichen
Reformen. Adenauers Parole "Keine Experimente!" schlug ein. Dennoch
hat der FWB die Soziale Marktwirtschaft mitgegründet.
Die
Aktionsgemeinschaft wurde zur angesehensten wirtschaftswissenschaftlichen
Vereinigung in der Bundesrepublik. Männer von internationalem Ruf - Rüstow und
Röpke, Franz Böhm und Carl Nipperdey - traten ihr bei.
Wilhelm
Röpke führte die gewandteste Feder unter den Neoliberalen und schrieb viele
Leitartikel des Wirtschaftsteils der "Frankfurter Allgemeinen". Er
wollte "gegen die Gefahr des Jakobinismus einen Damm von Einrichtungen
bauen" (6), damit die Freiheft nicht der Gleichheit geopfert werde. Dem
stimmte Otto Lautenbach zu. Der Freiwirtschaftsbund wollte keine plebiszitäre
Demokratie, obgleich etwas mehr als die Neoliberalen - eine neue Währungsreform
und ein soziales Bodenrecht.
Eine erste
Arbeitstagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft fand am
20./21.5.1953 in Bad Nauheim statt. Wiederum wurde die Bundesregierung zur
"Entscheidung für die Freiheit" gedrängt. Die politische Demokratie
hänge in der Luft, solange sie noch keine freie Wettbewerbsordnung und Soziale
Marktwirtschaft zur Grundlage habe. Von der Freiburger Schule sprach Johann
Lang über die wirtschaftlichen Ursachen der Vermassung des Menschen und die
Notwendigkeit einer Befreiung.
Die zweite
öffentliche Arbeitstagung der ASM fand am 18./19.11.1952 in Bad Godesberg
statt, nahe dem Bonner Sitz der Bundesregierung. Referenten waren Lang, Rüstow,
Lautenbach, Böhm, Schmölders, Forberg, Hellwig, Lutz, Ilau und Meier-Lutz. Den
Höhepunkt bildete jedoch eine Ansprache des Bundeswirtschaftsministers Ludwig
Erhard, die nach Winkler grundlegende Bedeutung für die Begriffsbestimmung der
Sozialen Marktwirtschaft hatte.
An der
zweiten Arbeitstagung der ASM nahmen über 600 Persönlichkeiten aus Politik,
Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft teil! Ihre "Godesberger Erklärung"
enthielt eine programmatische Zusammenfassung der hauptsächlich
freiwirtschaftlichen Forderungen. Das publizistische Echo war gewaltig. Selbst
die sonst reservierte "Frankfurter Allgemeine" stellte fest:
"Hier wurde nicht zum Fenster hinaus geredet. Die Arbeitsgemeinschaft
unter Leitung von Otto Lautenbach hat sich zunächst einmal in den Vordergrund
des so wichtigen vorparlamentarischen Rahmens gespielt". (7) Sie werde von
der Öffentlichkeit ernst genommen. Wenn sie ein außerparlamentarischer Wachhund
bliebe, der bei Gefahren laut belle, so wäre das für alle ein Gewinn.
Doch der
Wachhund schlief ein. Eine schwere Krankheit warf Lautenbach um und ließ ihn
hoffnungslos dahinsiechen. Er hatte sich kurz vor dem Ziel gesehen, auch dem
persönlichen Ziel. Nun raffte ihn der Tod im Juli 1954 hinweg, erst 51 Jahre
alt. Worauf die Vertreter des FWB aus der Arbeitsgemeinschaft
hinauskomplimentiert wurden; man legte ihnen in aller Höflichkeit den Rücktritt
nahe.
Paul Diehl
schrieb, die eigentliche Problematik, eine den Fortbestand der freien Welt
garantierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sei seit dem frühen Tod
Otto Lautenbachs "mehr und mehr als allzuheißes Eisen in den Hintergrund
getreten" (8) Auch die Neoliberalen resignierten schließlich. Sie zogen
sich aus dem Vorstand der ASM in den Beirat zurück.
Das Ende des
Freiwirtschaftsbundes
Der
Freiwirtschaftsbund schien - wie die Anthroposophische Gesellschaft - eher ein
Organismus als eine Organisation zu sein. Und doch war er nur ein Mechanismus,
ein fein ausgeklügeltes Uhrwerk, in dem die Rädchen ineinandergriffen und um
einen gemeinsamen Mittelpunkt kreisten. Sobald derjenige ausfiel, der dieses
Uhrwerk geschaffen hatte und aufzuziehen pflegte, surrte es ab und verstummte.
Er gehorchte nur seiner Hand. Sobald Lautenbachs Energie erschöpft war, mußte
auch der Apparat zum Stillstand kommen. Er war so findig, daß andere
Initiativen, insbesondere von unten, überflüssig zu sein schienen. Alles ging
auf ihn zurück. Das Nervensystem des Freiwirtschaftsbundes lag in einem
einzigen Kopf, der wie ein Haupt auf seinen Rumpf gepfropft war. Obwohl er eine
ausgefächerte Struktur besaß, die sich von ihrem Urheber loslösen und
verselbständigen konnte, gewann er kein Eigenleben. Daher brach er nach Otto
Lautenbachs Tod lautlos zusammen. Es fanden zwar noch mehrere
Vorstandssitzungen statt, die auch über die Einberufung eines neuen Bundestags
berieten, doch dazu kam es nicht mehr. Auch die Gesellschaft für
wissenschaftliche und soziologische Forschung, das Kuratorium Schule der
Freiheit sowie der Vita-Verlag und all dessen Periodika gingen nach kurzer Zeit
ein.
Eine
Denkschrift über Otto Lautenbach, die in der letzten Bundesvorstandssitzung
angeregt wurde, fand nicht die nötige Unterstützung. Jedoch wurde eine
angebliche Verleumdung des Verstorbenen durch Bertha Heimberg, deren
diesbezügliche Äußerungen "ans Pathalogische grenzten", mit einer
letzten Kraftanstrengung zurückgewiesen. So endete der Fall Otto Lautenbach mit
einem Mißklang.
Der Freiwirtschaftsbund
war zu zentralistisch aufgebaut und wurde zu individualistisch geführt, als daß
er seinen Gründer länger als einige Monate hätte überleben können. Er hatte
schätzungsweise 3.500 Mitglieder. Diese Erbmasse konnte nur zum kleineren Teil
von der Freisozialen Union eingeheimst werden. Ein anderer Teil verstreute sich
auf andere NWO-Organisationen, der größere verschwand spurlos. So wiederholte
sich noch krasser, was schon bei Übergang von RSF in die FSU geschehen war.
H.-J. Führer
in Opposition - Politiker oder Utopisten?
Hans-Joachim
Führer, der Beziehung zwischen Jenny Blumenthal und Silvio Gesell entsprossen,
hatte dessen Lehre schon als Knabe wie Muttermilch eingesogen und die NWO wie
im Fieber gelesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er als Sanitäter über die
Schlachtfelder ging und im Blut waten mußte, war er für die Amerikaner als
Chefdolmetscher tätig. In dieser funktionalen Eigenschaft baute er ein
Dolmetscherbüro auf, das später von ihm in eine Genossenschaft umgewandelt und
schließlich den Mitarbeitern überlassen wurde.
Von 1946-48
war H.-J. Führer ehrenamtlicher Geschäftsführer für den Kreisverband Stuttgart
des FWB. Nach seinen Angaben hatte der Kreisverband 1946 240, 1948 480
Mitglieder, auch einen besoldeten Angestellten namens Parschke. Zum
Vertrauensring der Aktivisten gehörten allerdings nur ca. 20 meist jüngere
Leute; er bereitete öffentliche Versammlungen vor, klebte Plakate und kam in
kürzeren Abständen als die gewöhnliche Mitgliedschaft zusammen, zeitweise
wöchentlich. Die öffentlichen Veranstaltungen des Kreisverbandes waren bis zur
Währungsreform gut besucht. Er hatte einen Mäzen, der viel Geld in die Kasse
fließen ließ.
Zu Otto
Lautenbach, der in seinen Augen Generalsekretär des Freiwirtschaftsbundes, aber
zu arrogant und überheblich war, geriet Hans-Joachim Führer bald in ein
kritisches Verhältnis. Ihm mißfiel, daß es neben dem offiziellen Bundesvorstand
einen zentralen Kreis mehr privater Art gab, der die Karten im Hintergrund
mischte - bestehend aus Lautenbach, Hoch und Recke.
Emmy Wagner,
eine Freiwirtin, die im KZ geschmachtet hatte, veröffentlichte aufgrund ihrer
darin gesammelten Erfahrungen ein Buch unter dem Titel "Liebesmacht bricht
Machtliebe". Darüber wurde im privat-zentralen Kreis gewitzelt. H.-J.
Führer kam gerade hinzu, als Otto Lautenbach höhnisch sagte: "Diese Ziege
mit ihrer ,Liebesmacht'!" Hock und Recke stimmten in sein spöttisches
Gelächter ein.
Führer
fühlte sich abgestoßen. Dies um so mehr, als er 1948, bis dahin Atheist, zur
Katholischen Kirche konvertiert war. Als Lautenbach noch sagte, die Emmy Wagner
sei wohl "eine Verrückte", stellte er sich die Frage: "Bin ich
nicht bei den falschen Leuten?" Otto Lautenbach war für ihn ein typischer
Nihilist und Materialist, das genaue Gegenstück zu Otto Schiefer, jenem
vollbärtigen und gehäbigen Stuttgarter Freiwirt, der, vom heiligen Glauben
erfüllt, daß die Rettung der Menschheit in den Gesellschen Reformen liege, sich
unermüdlich für die Freiwirtschaft betätigte und ihn selbst in den Kreisverband
eingeführt hatte. Führer entschloß sich zum offenen Auftreten gegen Otto
Lautenbach.
Ein erster
Schritt war sein Vortrag über Freiwirtschaft und Utopismus, der kopiert und
verbreitet wurde. Im Juli 1947 vor der Stuttgarter Ortsgruppe des FWB gehalten,
diente er gleichsam als Kriegserklärung, freilich als eine indirekte. Sei es
nicht ein Hohn, daß in eine Bewegung, die für sich den Anspruch reinster
Wissenschaftlichkeit erhebe, seit mehr als drei Jahrzehnten keine klare Linie
habe gebracht werden können? Was machte die Freiwirte zu verlachten Sektierern?
Wieso wurde die Kraft ihrer Organisationen durch Streit und Hader zerfressen?
Dabei wollten und wollen sie doch im Grunde alle dasselbe.
"Wir
müssen ergründen, wo das Gift liegt, das uns unsere klare Besinnung raubt. Wir
müssen die Natur des Dynamits erkennen, das uns trotz unserer theoretischen
Einigkeit immer wieder auseinandersprengt, die Besten aus unseren Reihen
treibt, die anderen aber zur Beute macht von Groll, Mißmut und
Hoffnungslosigkeit". (9)
H.-J. Führer
ging wie ein Historiker an diese Fragen heran. Die Wurzeln des Versagens der
NWO-Bewegung hätten in der geschichtlichen Situation gelegen, die Gesell bei
seinem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit vorgefunden. Dem Marxismus war es
bereits gelungen, bedeutende Volksmassen gegen den liberalen Kapitalismus auf
die Beine zu bringen. Die Leiden der gequälten Massen wurden entpersonifiziert
und bekamen durch seine Lehre einen hoffnungsvollen Sinn. "Die trostlose
Gegenwart erschien als ein historisch notwendiges Stadium auf dem Weg in eine
goldene Zukunft." Marx feuerte durch einfache und verständliche Formeln
an. Die im Banns des Marxismus aufbrechenden Massen waren taub für die
komplizierte Theorie der Freiwirtschaft, jedoch die herrschenden Klassen mit
Hilfe des Staates und der Kirchen mächtig genug, feste Dämme gegen die rote
Flut zu errichten und ihren Kampfeswillen durch Kompromisse zu zersplittern.
Gesell hätte
Führer zufolge eher auf die Unterstützung der Reaktionäre als auf die der Linken
rechnen können. Ihm war der Anschluß an die Hauptströmungen seiner Zeit
verwehrt. So blieb nur mühsame Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit. Doch die
Politiker verstopften sich ihre Ohren, und die proletarischen Massen waren mit
materiellen Versprechen schon durch den Marxismus gesättigt.
Unter diesen
Umständen mußte Gesell zufrieden sein, daß er in Deutschland wenigstens von
einer kleinen Männergruppe mit offenen Armen empfangen wurde. Diese Männer,
überwiegend Anarchisten und Utopisten, drückten der entstehenden NWO-Bewegung
ihren Stempel auf. Sie waren hauptsächlich Anhänger Max Stirners und lebten in
einem geistigen Vakuum, das auszufüllen die Freiwirtschaftslehre imstande war.
Gesell, von ihnen als Erlöser begrüßt, schien nicht zu ahnen, welche Gefahren
in dieser Verbindung schlummerten. Ihm ging es nur um die Verwirklichung seiner
Geld- und Bodenreform. "Wie und mit wessen Hilfe war ihm gleich."
Doch durch ihre Verbindung mit Stirner schnitt sich die Freiwirtschaft jeden
Weg zu einer Verständigung mit dem religiös denkenden Teil des Volkes ab.
Sie
"verlor den letzten Boden unter den Füßen". Damit nicht genug,
unterstrich sie schon durch ihre äußere Aufmachung das Sektiererhafte der
NWO-Bewegung. Gesell machte unverantwortliche Konzessionen. "Anarchistische
Forderungen nach Abbau des Staates wurden aufgenommen." Er verneinte auch
die Ehe und schuf damit Zwietracht unter seiner Anhängerschaft. Im
"Abgebauten Staat" von 1927 ließ sich Gesell vollends auf den
Anarchismus ein. Gedanklich mag er einen großen Schritt getan haben. Von seinem
eigentlichen, ursprünglichen Ziel - voller Arbeitsertrag und Brechung der
Zinsherrschaft - war er "weiter entfernt denn je". Durch die
Übernahme anarchistischer Forderungen verließ er den sicheren Boden der Wissenschaft,
öffnete er zugleich dem Streit und Hader das Tor.
Auch die
Lebensreformer spielten laut Führer in der NWO-Bewegung eine bedenkliche Rolle.
Angeblich sahen sie in der Freiwirtschaft nur ein Mittel zum Zweck, ihren Ideen
Geltung zu verschaffen. Ein finanzstarker Verleger mit politischen Ambitionen
hatte nach dem Besuch eines freiwirtschaftlichen Vortrages gesagt:
"Solange des Publikum bei ihren Veranstaltungen zusammengesetzt ist aus
Menschen mit langen Haaren, Schillerkragen, Sandalen, Dirndlkleidern und
Wandervogelkostümen, werde ich mich hüten, auch nur einen Pfennig in ein so
hoffnungsloses Unternehmen zu stecken".
Führer gab
zu, daß sich in dieser Hinsicht viel geändert hatte. Indes wären die
Lebensreformer, wenn auch nicht mehr der vorherrschende Typus, noch sehr stark
in der NWO-Bewegung vertreten. Ihren klarsten Niederschlag finde das im Mangel
am politisch-kämpferischen Willen. Der Lebensreformer ruft nur zur inneren
Umkehr auf, zur Besinnung, nicht zur Tat. Aufgabe des Politikers ist es hingegen,
"eine Gemeinschaft in dem gemeinsamen Willen zu einer nach außen
gerichteten Tat zusammenzuschmieden". Die Personalunion von
Lebensreformern und Politikern hat sich verheerend ausgewirkt "und unserer
ganzen Bewegung ihr charakteristisches Gepräge gegeben".
Bezeichnenderweise setzt sich der FWB eine natürliche Ordnung von Kultur,
Gesellschaft und Wirtschaft zum Ziel. "Kann die natürliche Ordnung der
Kultur, der Gesellschaft jemals die Aufgabe einer politisch-revolutionären Tat
sein?" Handelt es sich nicht vielmehr um einen allmählichen Prozeß,
"dessen Voraussetzung die innere Umkehr des Einzelnen ist"? Dies aber
heiße, Jahrzehnte zu warten, bis zum Abschluß des menschlichen Reifeprozesses,
statt in kühner politischer Tat die Geld- und Bodenreform durchzuführen, gegen
welche Widerstände auch immer.
Auf diese
Weise warf Hans Joachim Führer Otto Lautenbach vor, einen gänzlich falschen
Kurs zu verfolgen. Er sei kein Politiker, sondern ein verkappter
Lebensreformer, folglich auch ein Utopist! Vor seinen Hörern beschwor Führer
"den Grabeshauch des Utopismus, unter dem jede Bewegung erstarren
muß". Er setzte ihn auch weitgehend mit Anarchismus gleich. Schon einmal
habe die NWO-Bewegung durch die "Verquickung von Freiwirtschaft und
Anarchismus resp. Lebensreform" den zweifelhaften Ruf bekommen,
utopistischen Traumbildern nachzujagen. Hier liege der Keim ihrer Uneinigkeit
und die Ursache ihres Versagens, den Glauben an den realen Machtanspruch der
Bewegung zu erwecken.
Führer
richtete seine Kritik auch gegen die Radikal-Soziale Freiheitspartei, deren
Wurzeln in der Fisiokratie lägen. Alle Freiwirte hätten Grund, sich an der
politischen Aktivität und dem Draufgängertum der RSF zu erfreuen. Ihr
Verfassungsentwurf für ein stockkatholisches Land fordert jedoch die
Legalisierung der freien Liebe. Aus geistigem Hochmut und stirnerischer
Borniertheit wird eine ganze Generation an ihrem wundesten Punkte gepackt und
der Feigheit beschuldigt. Davon verspricht man sich die Gewinnung der Massen!
Aber auch
der FWB hat noch nicht die letzte Konsequenz aus den Fehlern der Vergangenheit
gezogen. Sein Warenmarkplan, die Finanzbereinigung, eine 75 %ige
Vermögensabgabe - "hier wie dort wühlt der utopische Gedanke weiter".
Führer verlangte eine sofortige, geballte Kraftanstrengung, und "den toten
Punkt mit einem Schlage zu überwinden und durch greifbare Erfolge der Bewegung
neuen Schwung und Auftrieb zu geben". Alle utopisch wirkenden
Programmpunkte und Forderungen müßten ausgemerzt werden. Erforderlich sei eine
angriffsfreudige Taktik, die politische Breitenwerbung und Breitenwirkung
erziele. Dann werde der Durchbruch nicht lange auf sich warten lassen.
Freiwirtschaftliche Programme dürften weder eine philosophische Dissertation
noch der Abriß einer sich in fernen Zeiten vielleicht herausbildenden
vollkommenen Gesellschaftsordnung sein - der "Welt von morgen". Sie
müßten vielmehr den Bedürfnissen des Gegenwartsmenschen in der heutigen Welt
entsprechen und sich auf die Grundpfeiler der künftigen Ordnung beschränken. "In
unserem Falle also Geld- und Bodenreform". Ein weltanschauliches Programm
halte alle anders orientierten Menschen - obwohl sie wertvolle Bundesgenossen
sein könnten - von der aktiven Beteiligung ab.
Führers
Vortrag war eine Herausforderung Otto Lautenbachs. Er stellte dessen
Führungsanspruch und Politik so radikal in Frage, daß ein Gegenschlag nicht
ausbleiben konnte.
Zuvor schoß
Hans Joachim Führer noch einen zweiten Pfeil ab. Auf einem Bundestag des FWB
sprach er sich gegen die Mütterrente und für die Streichung dieses
Programmpunktes aus. Die Mütterrente gehöre nicht zu den Kernforderungen und
sei in gewisser Hinsicht utopistisch. Bewußt oder unbewußt gekoppelt mit der
freien Ehe und Liebe, locke diese den Abenteurertyp in die Bewegung, was sie
nur belaste. Er entstehe die verantwortungslose Haltung: illegitime Kinder
bezahlt der Staat, ich selbst brauche keine Alimente aufzubringen. Damit dürfe
sich der FWB nicht länger diskreditieren.
Führers
Antrag - hinter ihm stand der Stuttgarter Kreisverband - fand ein breites Echo.
Hanna Blumenthal-Führer, Hans-Joachim Führers Halbschwester, hielt das
Korreferat. Es herrschte aber die Stimmung vor, gegen Lautenbach kommen wir
nicht auf. Der Vorschlag wurde mehrheitlich abgelehnt. Bald darauf ging ein
Ausschlußantrag um. Hans Joachim Führer kam dem Ausschluß durch seinen Austritt
aus dem Freiwirtschaftsbund zuvor.
Die Ketzerei
des Dr. Ernst Winkler
Führers
Ausscheiden aus dem Freiwirtschaftsbund, dessen Bundesvorstand er als
eigenwilliger Interpret seines Vaters Silvio Gesell heftig angegriffen, konnte
um so leichter verschmerzt werden, als Otto Lautenbach in Dr. Ernst Winkler
kurz zuvor einen ebenso eifrigen wie loyalen Mitarbeiter gefunden hatte.
Mathematiker und theoretischer Physiker mit philosophischen Interessen, aber
Laie auf dem Gebiet der Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft (die er als
solche in Frage stellte), war er zunächst erst recht allergisch gegen eine
vermeintliche Sekte (den FWB) gewesen, die anscheinend ein wirtschaftliches
Sonderprogramm zur Weltanschauung erheben wollte.
Winkler
pflegte jedoch freundschaftlichen Umgang mit Dr. Paul Diehl, einer bedeutenden
Persönlichkeit, die schon in der Weimarer Republik für Gesells Ideen gestritten
und schließlich sogar ihr Leben eingesetzt hatte. Freilich hätte er die
Gespräche am liebsten auf philosophische Probleme und künstlerische Ereignisse
beschränkt. Statt dessen wurde Winkler von Diehl immer häufiger mit
Freiwirtschaft traktiert. Er fand das sehr lästig. Wirtschaftliche Fragen, die
sich zudem laufend enger um das Geld drehten, mißfielen ihm. Dagegen sträubte
sich sein philosophische Natur. Diehl - so schien es - drängte ihm geradezu
monomane Ideen auf, mit Berufung auf einen unbekannten, aber angeblich genialen
Sozialreformer namens Silvio Gesell, der anscheinend ein seltener Querkopf
gewesen war. Diehls Behauptung, das Geld sei naturwidrig, dünkte ihm ebenso
primitiv wie unglaubhaft. Und geradezu absurd die angebliche Folge, der
lächerliche Zinsfuß von 4 oder 5 % sei die Queue sozialer Ungerechtigkeit,
aller Kriege und kulturellen Niedergänge. Nein, das konnte ihm nicht aufgeredet
werden. Dieser Gesell war offenbar einer fixen und dubiosen Idee verfallen.
Aber Diehl
blieb hartnäckig, und als alle Versuche mißlangen, den penetranten Gesprächen
eine andere Wendung zu geben, beschloß Winkler im Stillen, den Stier bei den
Hörnern zu packen. Er entlieh Gesells "Natürliche
Wirtschaftsordnung", den 1. Band des Marxschen "Kapitals" sowie
Schriften von Keynes, Böhm-Bawerk und Walker. In fünf Wochen, Tag und Nacht
lesend, war er durch. Dr. Winkler hatte die wirtschaftswissenschaftliche
Begründung der abenteuerlichen Freiwirtschaftslehre prüfen und ad absurdum
führen wollen. Nun stellte er fest, daß die unterschiedlichen Zinstheorien der
meisten Autoren von ihren Vorurteilen durchsetzt waren. Eine interessante, aber
logisch unhaltbare Ausnahme fand er lediglich in der Zinstheorie Silvio
Gesells. Unhaltbar insofern, als Gesell den Zins auf die gleiche Stufe wie die
Preise stellte, obwohl es grundsätzlich verschieden Arten von Angebot und
Nachfrage sind, welche auf dem Warenmarkt die Preise, auf dem Kapitalmarkt die
Zinsen bestimmen. Es war seines Erachtens ein grober Gedankenfehler Gesells,
nicht zwischen Warenmarkt und Kapitalmarkt unterschieden zu haben.
"So war
ich denn auf mein eigenes, mathematisch und naturwissenschaftlichgeschultes
Denken angewiesen." Dr. Winkler fragte nach den immanenten
Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft, wobei er sich auf den nach seiner
Überzeugung zuverlässigen Boden der mit statistischen Gesetzen arbeitenden
Naturwissenschaft begab. Das grundlegende Gesetz sei ein im
marktwirtschaftlichen Rahmen zweckmäßiges, im Sinne des berechtigten
Eigennutzes bedachtes Verhalten der weit überwiegenden Mehrheit der
Wirtschaftsteilnehmer, die im fairen Wettbewerb für ihre eigene Leistung ein
Optimum an Gegenleistung zu erhalten wünschen. Ein selbstsüchtiges Verhalten
zum Schaden anderer müsse durch entsprechende Gesetze unterbunden werden. Die
Selbstlosigkeit, Verschenken statt Verkaufen, wäre innerhalb der Wirtschaft so
selten, daß sie davon nicht beeinträchtigt würde. Ihre Funktionsfähigkeit hängt
demnach, jenseits von Selbstsucht und Selbstlosigkeit als den beiden Extremen,
vom eigennützigen Verhalten der meisten Menschen ab.
Winkler
wertete zahlreiche Notizzettel aus, die er während seiner Lektüre beschrieben.
Er arbeitete mit schrittweisen Gedankenexperimenten, wobei er sich nur zum
Abschluß jedes Kapitels eine sozialpolitische Wertung erlaubte. Seine
Stufenfolge Urwirtschaft, kapitalfreie Geldwirtschaft, geldfreie
Kapitalwirtschaft und kapitalistische Geldwirtschaft mündete in eine ideale
Wirtschaftsordnung. Zu seinem Erstaunen entsprach sie im wesentlichen dem
Konzept von Silvio Gesell. Dr. Winkler hatte diesen im Zuge des eigenen Denkens
und Forschens nicht überwunden, sondern überhaupt erst entdeckt! Auch vor
seinem geistigen Auge war das Urbild der NWO aufgeleuchtet.
Deshalb ließ
er sich von Otto Lautenbach überreden, sein Manuskript unter dem Titel
"Theorie der Natürlichen Wirtschaftsordnung" zu veröffentlichen. Was
den falschen Eindruck erweckte, er habe Gesells Hauptwerk nur kommentiert.
Zunächst blieb das Manuskript allerdings jahrelang bei Otto Lautenbach liegen,
bis es dieser bei nochmaligem Durchblättern geeignet fand, eine Brücke zwischen
Freiwirtschaft und offizieller Wirtschaftswissenschaft zu schlagen. 1952
veröffentlichte er es in seinem Vita-Verlag. Das Buch schlug tatsächlich eine
Brücke, allerdings nur zu einzelnen Wirtschaftswissenschaftlern, die es recht wohlwollend
besprachen. In der "Freisozialen Presse" hingegen wurde es ungünstig
und fast herabsetzend rezensiert, was den Verkauf nahezu blockierte. Ein großer
Teil der Auflage blieb liegen.
Dem lag
zugrunde, daß Dr. Winkler einen eigenwilligen Denkweg beschritten und es gewagt
hatte, Gesell zu revidieren, was als eine Art Majestätsbeleidigung ausgelegt
wurde. Winkler sprach von einem Denkfehler Gesells, der den Zins fälschlich aus
dem Geldkapital statt aus dem Realkapital abgeleitet habe, wodurch er in
Verlegenheit geriet, die Höhe seines Fußes zu bestimmen. Der volle
Arbeitsertrag sei ein utopistisches Ziel, realistisch nur der Leistungsertrag.
Gesells theoretische Zinserklärung ist unhaltbar, seine pragmatische - den Zins
"in einem Meer von Kapital ersäufen" - wirklichkeitsnahe.
Der Autor
glaubte in seiner Bescheidenheit, zur Ausgestaltung der Natürlichen
Wirtschaftsordnung als wissenschaftliche Theorie nur einen unzulänglichen
Anfang gemacht zu haben. Er unterschätzte sich selbst und demzufolge auch seine
Arbeit. Karl Walker würdigte ihn freilich als den "bedeutendsten Kopf
unter den deutschen Freiwirten der Nachkriegszeit".
Winkler
begründete den seines Erachtens selbständigen Charakter des Produktionskapitals
durch das Modell einer geldlosen Tauschwirtschaft. Er relativierte auch Gesells
These von der grundsätzlichen Überlegenheit des Geldes über die Ware. Sie habe
nur Gültigkeit für die Zeit der Wirtschaftsdepression, welche in der Tat als
Auswirkung der Überlegenheit des Geldes die schleichende Krankheit des
Kapitalismus sei. "Demgegenüber ist die Inflationsperiode gerade umgekehrt
charakterisiert durch die im Tauschsinn verstandene Überlegenheit der Ware über
das von Kaufverlust bedrohte Geld." (10)
Was für
Gesell die Ursache des Zinses, ist laut Winkler ein Hindernis für dessen
Verschwinden. Er bescheidet sich aber. Gesell habe als erster die
entscheidenden und praktisch wirksamen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens
durchschaut. Für die Wirtschaftswissenschaft bedeute er dasselbe "wie der
schwäbische Arzt Robert Mayer für die Physik". Unser heutiges Leben sei
undenkbar ohne die moderne Technik, welche auf der seinerzeit verlachten
Erkenntnis Robert Mayers von der Erhaltung und Umwandlung der Energie beruhe.
Eine gleich große Bedeutung könne die ebenfalls verlachte Erkenntnis Silvio
Gesells "nicht nur für die Wirtschaftswissenschaft, sondern für eine
tiefgreifende Umgestaltung des gesamten menschlichen Lebens und Zusammenlebens
haben". (S. 169)
Auf einmal
gab es zwei Varianten der Freiwirtschaft nebeneinander - eine Gesell sche und
eine Winklersche. Beide waren aus eigenständigem Denken und Forschen
hervorgegangen. Das wurde jedoch bei Winkler nur vereinzelt anerkannt. Seine
Revision Gesells machte viele Freiwirte unruhig - unter ihren Füßen begann
gleichsam der Boden zu wanken. Die Unruhe war verständlich. Sie entlud sich
jedoch in dem sektiererischen Vorwurf, Dr. Winkler sei ein Ketzer, der sich an
Gesells Werk versündigt habe. Bertha Heimberg erklärte von London aus,
gleichsam als Dogma in Person: "Ich kenne zwar Winklers Buch nicht, aber
es ist auf jeden Fall falsch!" Es brauche und sollte daher nicht gelesen
werden.
Winkler
stand auf einmal, weil er die wissenschaftliche Methode des Hinterfragens auch
auf Gesell angewandt, als ,Besserwisser' da, dem wie einem schwarzen Kater
nicht über den Weg getraut werden dürfe. Dabei hatte er der Freiwirtschaft ein
wissenschaftliches Fundament geben wollen. Es blieb jedoch eine Frage, ob er
der ,dogmatischen' NWO Gesells tatsächlich eine ,dynamische' gegenübergestellt.
War seine Theorie nicht eher neoliberal als freisozial? Und konnten
mathematische Gesetze mehr als Durchschnittswerte beweisen?
Ein
freiwirtschaftlicher Rezensent hielt Dr. Winkler für "schlimmer als Rosa
Luxemburg" So tief wurde ihm sein Fehltritt nachgetragen, als wäre er ein
roter oder gelber Infiltrant. Er hatte Gesell vom Denkmalssockel gestürzt und
scheinbar auch seiner wissenschaftlichen Würde beraubt. Dabei wollte er dessen
Zinstheorie eigentlich nur "bereinigen". Sein Anliegen war ferner
"1. die
geniale Entdeckung Gesells zu verteidigen gegen dessen eigene fehlerhafte
Theorie (die notwendigerweise den Volkswirtschaftlern den Zugang zu dieser
Erkenntnis versperrt)
2. das
geniale Gesamtkonzept zu verteidigen gegen die banalisierende Auslegung durch
seine (zumeist recht blinden) Anhänger." (11)
Als echter
Wissenschaftler war Dr. Winkler (wie Karl Walker) außerstande, die
Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells als ein Patentrezept zu akzeptieren,
"dessen Einführung (und sei es durch einen Diktator wie Stalin oder
Hitler) mit einem Schlag alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme
löst, unbegrenzte wirtschaftliche Dauerkonjunktur, ewigen sozialen und
politischen Frieden, also mit einem Wort das Paradies auf Erden schafft".
Das erschien ihm zwar lieb und gut gedacht, aber angesichts der widerborstigen
Menschheit praktisch unmöglich. Wie Bernstein den Marxschen Utopismus
desillusioniert, so desillusionierte Winkler den Gesellschen - beide in
Hochachtung vor ihrem Meister, und als ideologisch unbestechliche
Wissenschaftler, die zwischen Prophetie und Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden
wußten. Silvio Gesell war für Dr. Ernst Winkler paradoxerweise "durch
falsche Schlüsse zu einem richtigen Ergebnis gekommen". Die klassische
Freiwirtschaftslehre stand demnach auf dem Kopf. Von seiner eigenen meinte
Winkler, sie stünde auf den Füßen. Die Hortbarkeit des Geldes sei nicht die
Ursache des Zinses, wohl aber der Grund für dessen Nichtverschwinden. Der
Kapitalzins quelle nicht aus der Unvergänglichkeit des Geldes, wie Gesell
behauptet, vielmehr aus der Sachkapitalrendite. "Insofern hat die
offizielle Wirtschaftstheorie recht gegenüber der Freiwirtschaftslehre."
Winkler wollte ihr die Möglichkeit des Rechthabens nehmen. Er gedachte die
Freiwirtschaftslehre hieb- und stichfest zu machen. Im Zuge seines
5-Wochen-Studiums war er innerlich vom Saulus zum Paulus geworden, für die
Außenwelt jedoch vom dilettantischen ,Philosophen' zum ideologieverdächtigen
,Wirtschaftswissenschaftler'. So saß er nun zwischen zwei Stühlen. Mit seinem
Buch war Dr. Winkler ans "Licht der Öffentlichkeit" getreten,
freilich in der höchst unerquicklichen Doppelrolle "als Außenseiter der
offiziellen Wirtschaftswissenschaft und als Ketzer der Freiwirtschaft".
(12)
Innerhalb
des Freiwirtschaftsbundes wurde er zum getreuen, immer dienstbereiten Gehilfen
Otto Lautenbachs, dessen bester Formulierer" für immer weiter greifende
Ideen und Pläne, jener Mann, der das theoretische Fundament des neuen FWB und
die geistige Gestaltung schuf, ohne sie mit dem eigenen Namen zu siegeln. Er
verfaßte eine Reihe Grundsatzartikel und Grundsatzreferate, versuchte auch, die
Natürliche Wirtschaftsordnung durch eine natürliche Ethik zu ergänzen. Zunächst
geschah das unter dem Pseudonym Karl Jung.
Als sich Dr.
Winkler endlich zum eigenen Namen bekannte, war ein Teil seiner geistigen Spur
schon verwischt. Indes stieg er schließlich bis zum dreiköpfigen Präsidium des
Freiwirtschaftsbundes auf. Er war auch Mitverfasser jener "Charta der Sozialen
Marktwirtschaft" die in gewissen Grenzen Geschichte gemacht. So wurde
Winkler aus einem bloßen Theoretiker zu einem Mann der Tat. Als der Bogen
seiner Aktivitäten überspannt war und zu brechen drohte, zog er sich zurück,
doch die Freiwirtschaft holte ihn wieder ein. Nach dem Tode Otto Lautenbachs,
dessen qualvollem Sterben er hilflos zusehen mußte, war Dr. Winkler in der
Arbeitsgemeinschaft freiwirtschaftlicher Christen und im Seminar für
freiheitliche Ordnung tätig. Bis er endlich in seine Klause flüchtete, um noch
ein Buch über Einstein zu schreiben und seine Relativitätstheorie
weiterzudenken.
Otto
Lautenbach, dessen Abgründigkeiten ihm nicht verborgen blieben, war in seinen
Augen "ein genialer Politiker, der den Freiwirtschaftsbund als Mittel und
Sprungbrett zur Verwirklichung seiner weitausschauenden, freiwirtschaftlich
inspirierten Ideen gegründet hatte", jedoch die revolutionäre Situation
der ersten Nachkriegsjahre ungenützt verstreichen ließ. Vergebens hatte Winkler
auf eine Synthese von Macht und Geist gehofft, die aus seiner Zusammenarbeit
mit Lautenbach sprießen sollte. Schließlich mußte er einsehen, daß auch Wort
und Tat nur bei Gott identisch sind. Er hatte die taktischen Richtlinien des
FWB entworfen, wofür er in den Hauptvorstand gewählt worden war.
In einem
Rundbrief am 5.11.1956 teilte er einer Reihe von Freiwirten mit, daß er sich
nicht länger an einen freiwirtschaftlichen Terminkalender festschmieden lasse.
Aus eigenem Entschluß und in freier Wahl wolle er zwar weiterhin, "je nach
Gelegenheit und Möglichkeit", soweit es seine Zeit und Kraft erlaube,
"mit Wort und Schrift im Dienst der freiwirtschaftlichen Idee" tätig
sein, lehne jedoch grundsätzlich jede Art von Dauerverpflichtung ab. Dr.
Winkler gedachte, endlich aus sich selber heraus zu leben. Aber die
Freiwirtschaft ließ ihn nicht gänzlich los.
Noch immer
stand er zu seinem Buch, ja er ergänzte es durch sehr wichtige Aussagen, zuerst
im Anschluß an Nell-Breuning, dann in einem Aufsatz über die mögliche Mutation
des kapitalistischen Wirtschaftssystems.
Dr. Winkler
unterschied nun zwischen Darlehns-, Kapital- und Wucherzins, die geschichtlich
aufeinander gefolgt wären. Davon sei nur der Wucherzins verwerflich, ihn zu
verbieten wäre berechtigt.
Der
Darlehnszins dient dem Zweck, die Geldverlegenheit oder Notlage eines anderen
Menschen zu überbrücken. Den Kapitalzins zahlen Unternehmer, deren Eigenkapital
nicht ausreicht, etwa eine Fabrik zu gründen. Bei Beanspruchung von
Fremdkapital ist es für Winkler "selbstverständlich, auch moralisch
berechtigt, daß der Geldgeber einen vernünftigen Anteil an der zu erwartenden
Rendite in Form eines Zinses verlangt, als Gegenleistung für seine
Kapital-Investition". (10) Diese Gegenleistung muß auch mehr als 2 %
betragen, weil dem Kapitalgeber sonst die Liquidität, die freie Verfügbarkeit
über sein Geld, wichtiger ist. Es würde einen schwerwiegenden und hemmenden
Eingriff in den Wirtschaftskreislauf bedeuten, wollte man den Kapitalzins auf
die gleiche Stufe stellen wie den Wucherzins. Dieser tritt in der Regel erst
dann stark vermehrt auf, wenn die fortgesetzte Wirtschaftsexpansion sich dem
Sättigungspunkt nähert. Nun wird nicht mehr die Notlage eines Einzelnen
ausgenutzt wie eventuell bei einem Darlehn, sondern die Notlage der gesamten Wirtschaft.
Erst in diesem Falle, so Winkler, haben wir es mit einem kapitalistischen Zins
zu tun, dem ein Schwundsatz oder eine Sondersteuer auferlegt werden könnte.
Das war eine
starke Einschränkung der Gesellschen Theorie, die den Zins schlechthin ausschalten
wollte, wenngleich sie ihn nicht - wie manche seiner glühendsten Anhänger - für
,verbrecherisch' erklärte.
Dr. Winkler
stellte auch Gesells Kurzdefinition des Kapitalismus als ,Zinswirtschaft' in
Frage. Der Zins sei nicht an den Kapitalismus gebunden, durch den er nur eine
besondere, ausbeuterische und wucherische Form erhalte. So wurde in die
Freiwirtschaftslehre die Geschichte eingeführt, welche von Gesell ausgeklammert
worden war, als er davon sprach, daß die soziale Frage durch seine Reformen ein
für allemal gelöst werde.
Was den
Kapitalzins betrifft, so wird er nach Winkler auch in einer Natürlichen
Wirtschaftsordnung notwendig sein! Gesell hat ihm zufolge den Fehler gemacht,
den Kapitalzins mit dem Wucherzins über einen Leisten zu schlagen. Der erstere
ist jedoch produktionsfördernd, der zweite produktionshemmend. Man sollte also
die jeweiligen Erscheinungsformen des Zinses nach ihrer Rolle im
Wirtschaftskreislauf prüfen, statt ihn einfach schlechthin zu verwerfen. Auch
dies war historisch gedacht.
Vom
historischen Standpunkt aus kommt es auf klare Begriffe und Unterscheidungen
an, die jedoch nie absolut gedacht, vielmehr dem Fluß der Erscheinungen
unterworfen werden müssen.
Laut Winkler
ist der Unternehmergewinn im Gegensatz zum Profit ("Zinsertrag des
unternehmerischen Eigenkapitals oder Zinseinkommen des funktionslosen
Investors") ein reines Leistungseinkommen, dessen Bedeutung auch die
Kapitalbildungsprämie habe. Der Freiwirtschaft wird seines Erachtens das
organische Ergebnis einer Mutation unseres Wirtschaftssystems sein, falls der
begonnene Prozeß des wissenschaftlichen Umdenkens weitergehe und sich auch der
Politik bemächtige. Für ihn ist sie jedoch ein idealtypisches Modell der
nachkapitalistischen Marktwirtschaft. Dieses wird im Unterschied zu den
Vorstellungen von Adam Smith nur mit einer "gesetzlichen
Rahmenordnung", andererseits "ohne staatlichen Dirigismus"
funktionsfähig sein. Bei ihrer Verwirklichung setzte Winkler weniger auf die
Freiwirte als "auf den gesellschaftlichen Bewußtseinswandel und die Neuen
Sozialen Bewegungen. Das hat er mit den erwähnten Ergänzungen seines Buches
freilich erst 1984 näher ausgeführt. Schließlich in einem gewissen Überschwang,
mit einem Rückrutsch in die Sozialutopie: "An die Stelle des Arbeitsmarktes
und des abwegigen Lohnverhältnisses treten neue Formen wirtschaftlicher
Kooperation . . . Sie werden die alten institutionalisierten Formen ablösen,
die unter dem Diktat des Profits entstanden sind gegenwärtig an den durch sie
erzeugten Widersprüchen . . . zu zerbrechen beginnen. Das krasseste Beispiel
ist die geradezu absurde Erscheinung der Arbeitslosigkeit; sie ist unmöglich
und undenkbar in einer nachindustriellen Gesellschaft".
Aber
vielleicht sind manche Sozialutopien schon wirklichkeitsgesättigter als die für
unumstößlich gehaltenen Realitäten noch. Wir leben in einer Umbruchssituation,
die durch insgeheime Kräfteverschiebungen ungeheuren Ausmaßes gekennzeichnet
ist. In der Jahrtausendwende werden sie sich offenbaren.
Der Neue
Bund (NB)
Will Noebe
schlug sich aus der Tschechoslowakei teils auf offener Straße, teils auf
Schleichwegen bis nach Neustrelitz in Mecklenburg durch. Doch die Gebäude
seiner Verlagsbuchhandlung und Vorratslager waren bis auf die Grundmauern
niedergebrannt. Das Bankguthaben von 50 000 RM hatten die Russen gesperrt,
seine Verwalterin konnte ihm jedoch aus Wohnungsmieten einige Tausend Mark
übergeben. Damit brach er nach Berlin zur dortigen Zweigniederlassung seines
einstigen Verlags auf, die seit Sommer 1945 im amerikanischen Sektor lag. In
der erhaltenen Kellerwohnung eines ausgebombten Hauses gab Noebe die
Zeitschrift "Telos" zunächst in der Form vervielfältigter Rundbriefe,
in einer spärlich geheizten Küche mit geliehener Schreibmaschine und einer
Hilfskraft von neuem heraus.
In derselben
Küche gründete Will Noebe Ende 1945 zusammen mit Karl Walker und anderen
Freiwirten den Neuen Bund. Mittels Zeitungsannoncen und öffentlichen Anschlägen
erhielt er die Adressen von 300 alten Lesern und freiwirtschaftlichen
Gesinnungsgenossen.
"So
bescheiden die Anfänge aber auch materiell waren, ideell hat es kaum eine
Arbeitsperiode gegeben, die dankbarer gewesen wäre. Denn der sich stetig auf
bald rd. 1000Personen erweiterte Kreis alter Leser und neuer Freunde erwies
sich trotz Kälte, Trümmern und Lebensmittelknappheit als begeisterungsfähig und
einsatzbereit." (13)
Will Noebe
erwirkte für sich eine gesamtdeutsche Redelizenz. Er begann alsbald mit Fahrten
durch die sowjetische Besatzungszone, wo er im weiten Schwung des Sämanns
erneut die Gesellschen Samenkörner streute. Schon nach einem Jahr bestanden in
allen Großstädten der SBZ sowie in einer Reihe kleiner Städte Gruppen oder
Stützpunkte des Neuen Bundes, mit denen Noebe durch Vertrauensleute und
"Telos"-Rundbriefe in ständigem Kontakt blieb.
Die
offizielle Gründung des Neuen Bundes sollte mit einem öffentlichen Paukenschlag
erfolgen. Dafür schien im Herbst 1947 die Zeit gekommen. In Erwartung der
Lizenz versammelten sich mehr als 1000 Menschen im damals größten Saal
Westberlins. Ein bekanntes Orchester spielte klassische Musik. "Wir saßen
in Mänteln, der Putz fiel von den Wänden, aber die Augen leuchteten." (2)
Die von einer Kontrollratssitzung des gleichen Tages erwartete Lizenz blieb
jedoch aus; man mußte ergebnislos auseinandergehen. Es gab keine
einvernehmliche Sitzung des Alliierten Kontrollrates mehr. Aber Will Noebe gab
nicht auf.
Der NB ließ
sich im Berliner Vereinsregister als Idealverein eintragen, worunter man
Vereinigungen versteht, welche die Verwirklichung einer Idee erstreben. In
diesem Falle die Idee einer Natürlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Natürlich in dem Sinn, daß sie der Natur des Menschen entspricht und die volle
Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet. "Diese Gewähr ist nur
gegeben, wenn sich in ihr das Höchstmaß persönlicher Freiheit mit dem Höchstmaß
sozialer Gerechtigkeit verbindet". Da das weder im Kapitalismus noch im
Kommunismus der Fall sei, müsse die erstrebte Ordnung sowohl die Ursachen der
Unfreiheit als auch die der sozialen Ungerechtigkeit überwinden - die
Urmonopole Geld und Boden. Nur wache, denkende und mit sozialem Gewissen
begabte Menschen würden sich für diese sozialökonomische Gesamtlösung einsetzen
- wie seit jeher für bahnbrechende Ideen. Diese Elite zieht schließlich die
träge Masse mit.
Der NB
wollte den ganzen Menschen erfassen, weil nur der innerlich Ergriffene sich
freudig und freiwillig mit Gesinnungsfreuden zusammenschließt. Hinsichtlich der
weiteren Schritte bekannte er sich zur direkten Aktion. Deren erste war die
Bildung einer Freilandgenossenschaft m.b.H. Sie entsprang der Ansicht, eine
Natürliche Ordnung lasse sich am besten in demokratischer Freiheit aus den
Ansätzen selbstverantwortlicher Gruppeninitiativen entwickeln, was nur allmählich
und gewaltlos geschehen könne.
Der Neue
Bund sollte keine Organisation im herkömmlichen Sinne sein, sondern auf
geistiger Verwandtschaft beruhen und dem Abbau der Vermassung dienen. Da Noebe
und Walker überzeugt waren, der Mensch sei mehr als ein homo ökonomicus,
begnügte sich sein Programm nicht mit einer neuen Wirtschaftsordnung:
"Der
NEUE BUND erstrebt eine Lebensordnung, in welcher die veräußerlichen
Menschenrechte der Freiheit mit den Grundprinzipien der sozialen Gerechtigkeit
in Übereinstimmung gebracht werden." (14)
Diese neue
Lebensordnung würde, wenn auf ewige Gesetze gegründet, in lebendiger
Zwanglosigkeit sich entwickeln. Sie bedürfe der Bindung, "die im Kleinen
wie im Großen von ungezwungen entscheidenden Menschen auf der Basis gegenseitiger
Übereinkunft anerkannt werden".
Das Ziel war
eine umfassende Reorganisation des gesellschaftlichen Lebens. Auf dem Weg dazu
sollten Teilaufgaben realisiert und entsprechende Unternehmungen geschaffen
oder beraten werden, da die neue Lebensordnung nicht übergangslos durch einen
Akt der Gesetzgebung dekretiert werden könne. Sie wachse vielmehr aus der
Freiwilligkeit vorbildlichen Handelns. Mitglied konnte jedermann ohne Rücksicht
auf seine Parteizugehörigkeit werden, doch sollten es nur Wahlverwandte und
Gebildete sein. Der erste Bundesvorstand bestand aus Will Noebe, Paul Diehl und
Herbert Hahn.
Noebes
Energiestrom konnte sich außerhalb Berlins nur in die Sowjetische
Besatzungszone ergießen. Hier wurden die Lockerungen der ersten Nachkriegszeit wieder
aufgehoben. Schritt um Schritt vollzog sich eine forcierte Bolschewisierung.
Die UdSSR zwang der sowjetischen Besatzungszone entgegen den Versprechungen der
neugegründeten KPD ihr politisches System auf. Sie bediente sich außerdem des
,kapitalistischen' Saugrohrs der Aktiengesellschaft zur maximalen Ausbeutung
der deutschen Arbeiterschaft, um entgegen dem Potsdamer Abkommen der
Siegermächte einen Großteil der laufenden Produktion nach Rußland zu pumpen.
Die KPD Piecks und Ulbrichts speiste ihre unruhig werdenden Genossen mit der
Losung ab: "Was die Sowjetunion stärkt, stärkt auch uns!"
Gegen diesen
Staatskommunismus stalinistischer Prägung holte Will Noebe zum Gegenschlag aus.
Er verschaffte sich einige tausend Exemplare von Werner Zimmermanns Broschüre
"Sozialismus in Freiheit" und verteilte sie während seiner Reisen
durch die spätere DDR.
Schon der
Titel dieser Broschüre war eine Herausforderung der sowjetischen
Besatzungsmacht. Sie setzte ihre Jagdhunde auf Noebes Spur. Er reiste inkognito
durch die Lande, selbst manchen Freiwirtschaftlern nur als ,Dr. X.' bekannt. Es
dauerte einige Zeit, bis die auf ihn angesetzten menschlichen Jagdhunde
herausgefunden hatten, vor welcher Tür die Spur des Gesuchten endete.
Telefonisch informierten sie den NKWD-Chef der sowjetischen Besatzungszone, der
sogleich ein Sonderkommando zusammenstellte und durch die Nacht rasen ließ.
Am 11.
5.1948 wurde Will Noebe im Morgengrauen verhaftet und wie ein Schwerverbrecher
ins NKWD-Hauptquartier gebracht. Zuvor war in Westberlin versucht worden, ihn
aus seiner Wohnung zu locken und nach Ostberlin zu entführen. Er hatte gespürt,
daß sich über seinem Kopf etwas zusammenzog und deshalb die Vertrauensleute des
Neuen Bundes in der Sowjetischen Besatzungszone rechtzeitig gewarnt. Die
meisten der besonders exponierten konnten rechtzeitig nach Westberlin oder in
die Bundesrepublik fliehen. Dennoch wurden noch 16 verhaftet. Ein sowjetisches
Militärgericht verurteilte sie fast durchweg zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Drei
wurden wegen ,Spionage' vor Gericht gestellt.
Unter diesen
vermeintlichen Spionen befand sich die 19-jährige Hannelore Kleine. Zwischen
ihr und dem Ankläger des sowjetischen Militärtribunals entspann sich
folgender
Dialog:
"Was
hat Sie veranlaßt, gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung
aufzutreten?"
"Die
Überzeugung, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung eine Ordnung des
Zwangs und der Unterdrückung ist."
"Worauf
gründet sich Ihre Überzeugung?"
"Auf
die Erkenntnis, daß Sie und Ihre Genossen zwar dauernd angeben, nach den Lehren
von Karl Marx zu handeln, aber die Praxis das genaue Gegenteil beweist!"
"Das
können Sie doch gar nicht beweisen. Wir haben den Sozialismus genau so
aufgebaut, wie es theoretisch nach den Büchern festgelegt wurde. Nehmen wir zum
Beispiel die Frage der Kollektivierung in der UdSSR. Diese große sozialistische
Maßnahme wurde unter freiwilliger Mithife der Bauern durchgeführt Kein Bauer
wurde gewaltsam gezwungen, in eine Kollektivwirtschaft einzutreten . . . "
"Dann
müßte der sowjetische Dichter Scholochow ein Lügner sein!"
"Wieso?
Was hat Scholochow damit zu tun?"
"Haben
Sie noch nie etwas von seinem Roman ,Neuland unter dem Pflug' gehört? In diesem
Roman schildert Scholochow, wie die Bauern mit Gewalt in die Kollektivwirtschaft
hineingezwungen wurden."
"Das
mag schon sein, daß Scholochow das geschrieben hat. Aber er hat ja dieses Buch
auch unter damaligen Verhältnissen geschrieben, als er noch nicht frei von
kapitalistischer Denkweise war. . . Nun zu etwas anderem. Warum sind Sie gegen
die Planwirtschaft? Bei uns gibt es keine Ausbeutung mehr. Oder sind Sie da
anderer Meinung?"
"Selbstverständlich.
Die Ausbeutung ist gerade in der Sowjetunion größer als anderswo. Denn hier hat
der Staat den höchsten Zinsfuß festgesetzt, den es gibt, und diese Zinsen
müssen die einfachen Arbeiter aufbringen." (15)
Auch die
beiden anderen wegen ,Spionage' angeklagten Freiwirte waren standhaft. Zusammen
mit Hannelore Kleine bildeten sie eine Art Vertrauensrat des NB in der SBZ. Vom
Netz der Vertrauensleute, das Will Noebe drei Jahre lang geknüpft, blieben nur
wenige, aber immerhin einige Menschen übrig. Nun stand er selbst vor dem
Tribunal. Der Vernehmungsoffizier betrachtete ihn lange. Er hatte einen großen
Hecht aus dem Karpfenteich der SBZ gefischt, der ein für allemal unschädlich
gemacht werden mußte. In die Berliner Zentralgruppe des Neuen Bundes war ein
Spitzel eingeschleust worden, der belastendes Material vorlegte. Noebe hatte
ihn enttarnt und aus dem Arbeitskreis verjagt, doch das machte ihn selber noch
verdächtiger, eine antisowjetische Untergrundorganisation aufgezogen zu haben.
Er sollte die Namen seiner Helfer und Helfershelfer nennen. Noebe weigerte
sich. Ein Verhör nach dem anderen mußte erfolglos abgebrochen werden.
Anscheinend konnte dieser Konterrevolutionär nur durch eine Sonderbehandlung
zum Reden gebracht werden.
Sie bestand
in einem Monat schwerem Karzer. Noebe wurde nackt in eine Betonhöhle
hineingestoßen, deren Temperatur unter dem Gefrierpunkt lag. Er konnte
bestenfalls auf den Fersen hockend schlafen. Eine ständig glühende starke Birne
brannte ihm beinahe die Augen aus. Die Ernährung war auf das äußerste Minimum
reduziert.
Der
Vernehmungsoffizier hatte Noebe 8 Quartbogen und einen Bleistift mitgegeben.
Doch statt ein Geständnis schrieb er darauf in winziger Schrift seinen Roman
"Hakon Tornquist". Den Schweren Karzer überstand er im festen Glauben
an die Wahrheit und Sieghaftigkeit der Lehre Silvio Gesells. Ohne diesen
sozialreligiösen Glauben wäre der Hirnverletzte in der eisigen Betonzelle
höchstwahrscheinlich zugrundegegangen.
Das Hohe
sowjetische Militärgericht verurteilte Will Noebe zu dreimal 25 Jahren
Zwangsarbeit. Das kam einem Todesurteil gleich. Es bestand keine Aussicht,
jemals wieder freigelassen zu werden. Dennoch blieb Noebe zuversichtlich. Im
Zuchthaus Bautzen ermutigte er seine Leidensgenossen durch Gedichte, Vorträge
und sonntägliche Feierstunden. In Sibirien mit Berufsverbrechern
zusammengeworfen, gewann er sogar deren Achtung, statt daß sie ihn beraubten
und erschlugen. Die Lageradministration sah nach siebeneinhalb Jahren ein, daß
sie den Unbeugsamen entweder erschießen oder freilassen mußte. Selbst in
Sibirien warb und gewann er neue Anhänger Silvio Gesells, mit denen er freiwirtschaftliche
Zukunftspläne schmiedete.
Nach seiner
Entlassung und Rückkehr mußte Will Noebe zum 4. Mal aus dem Nichts beginnen. Er
gründete wieder einen Verlag. Der Berliner Freundeskreis war dezimiert, das
Verlagsbüro von NKWD-Mitarbeitern geplündert. Doch letzte Freunde hatten 800
Adressen und eine Schreibmaschine gerettet. Noebe setzte sich hin und verfaßte
einen achtseitigen Rundbrief, den er in 10 000 Exemplaren verschickte, darunter
an etwa 200 Haftkameraden, die er in Gefängniszellen und Arbeitslagern
"mit der freiheitlichen Sozialordnung (Silvio Gesells)
bekanntgemacht".
Das war die
erste Veröffentlichung des neugegründeten Verlags, ermöglicht durch einen
Vertrauenskredit des Druckers. Sie erbrachte einen Lesergrundstock für die
Neuherausgabe der Zeitschrift "Telos" - und den "Ansporn, die
Arbeit auch aus dem faktischen Bettelzustand herausfortzusetzen". (16) Der
Neue Bund, dessen Leitung Karl Walker während Noebes erzwungener Abwesenheit
übernommen - am 4.12.1952 hatte in Berlin-Charlottenburg sogar ein Bundestag
stattgefunden - wurde reaktiviert. Er scheint aber nie über 80 -100 Mitglieder
hinausgekommen zu sein und blieb nunmehr auf Westberlin beschränkt.
Lautenbachs
Freiwirtschaftsbund hatte erklärt: "Wir bauen die freie Welt von
morgen!" Dem setzte der Neue Bund entgegen:
"Die
Welt von morgen beginnt heute!" Und er fuhr fort: "Nur Narren lernen
nicht aus der Erfahrung. Die Erfahrung der Menschheit ist ihre Geschichte.
Immer wieder senkt sich ihre Waage, jedes Abwärts der Untergang einer Kultur.
Gewogen also und zu leicht befunden?
Der Mensch
ist kein mißlungenes Experiment der Geschichte. Mißlungen sind bis heute allein
seine Experimente, sich eine seiner Natur gemäße Ordnung des Zusammenlebens zu
schaffen. Daher blieb er der Macht und ihrem Mißbrauch überantwortet. . . Die
Risse im Fundament erkennen, ist daher das Erste, das Wesentliche, das Zweite,
die Mauer des absichtvollen Schweigens zu brechen, das verächtliche Geschwätz
zu beenden, den Protestierenden und Hungernden das Ziel zu weisen . . . "
Dieser
Aufruf des Neuen Bundes wurde in 10 000 Exemplaren verbreitet. Sein Vorstand
setzte sich nun aus folgenden Personen zusammen:
Vera Bauer
Will Noebe
Paul Diehl
Felix
Rochalski
Herbert Hahn
Hermann
Speelmann
Emmy Wagner
Noebe faßte
die Freiwirtschaft sowohl selbsthelfend als auch esoterisch auf, praktisch und
seelenkundlich zugleich. Gesell hatte für ihn den Umriß eines neuen Weltbildes
geschaffen, "welches wir in den Grundlagen bereits i n u n s gestaltet
haben und das es nunmehr auszubauen gilt". Die Natürliche
Wirtschaftsordnung war für ihn zunächst eine innerliche, seelische Struktur.
Sie müsse aus der Seele herausgesetzt und in der Außenwelt nach dem inneren
Modell erbaut werden. Dagegen wehren sich die Bequemlichkeit und die Trägheit,
auch in den Freiwirten selbst. Die Freiwirtschaft "entsteht nicht kampflos
in uns". Das Leben sei stets ein Überwinden von Gegensätzen. Aber gerade
daraus erwachse jene innere Reife, auf die das äußere Fundament der Natürlichen
Lebensordnung sich stützen muß.
Martin Buber
sagte einmal, in allen Kämpfen stünden sich heute zwei Menschengruppen
gegenüber. "Solche, die die ,Verhältnisse' bessern wollen und andere, die
den ,Menschen an sich' bessern wollen. "Es gab diese beiden Gruppen auch
in der NWO-Bewegung, Lautenbach und Batz gehörten zur ersten, Noebe zur
zweiten, obwohl er durchaus dazu neigte, an beiden Enden zugleich anzusetzen.
Die
interzonale Zusammenarbeit und der Menschheitsbund
Am 19.8.1946
fand eine erste interzonale Besprechung in Ludwigsburg statt. Es erschienen
dazu 20 Freiwirte aus den drei Westzonen. Aus der sowjetischen Besatzungszone
hatte niemand kommen können. Aber auch der Zentralausschuß der Radikal-Sozialen
Freiheitspartei (RSF) war nicht vertreten. Er hatte mit der durchsichtigen
Begründung abgesagt, die Einladungsfrist wäre zu kurz gewesen und man hätte
sich vorher über die Tagesordnung einigen müssen. Trotzdem kam es zu einer
fruchtbaren Aussprache. Es wurde angeregt, in der französischen Zone ebenso zu
arbeiten wie in der amerikanischen, womit sich Hein Beba und Friedrich Brobeck
einverstanden erklärten.
Die zweite
interzonale Beratung am 15.12.1946 sollte in einem größeren Rahmen stattfinden,
jedoch kamen nur 17 Freiwirte. Dafür hatte diesmal auch die RSF Delegierte
geschickt: Richard Batz, Alois Kokaly und Albert Leckebusch aus der britischen
Zone, ferner Paul Knickenberg als Vorsitzender der Kölner RSF. Vom
Freiwirtschaftsbund der amerikanischen Zone waren Otto Lautenbach, Paul Diehl,
Hanna Blumenthal-Führer und Otto Schiefer da, außerdem als ,Gäste und
technisches Personal' Paul Jahnsohn, Kurt Sellin und Ernst Winkler. Aus der
französischen Zone kamen Hein Beba, Friedrich Brobeck, Herbert Haaf, Diether
Vogel und Wilhelm Bäurle. Der letztere wurde einstimmig zum Verhandlungsleiter
gewählt. Das Ergebnis der 2. Tagung war die Einigung, einen Interzonalen
Ausschuß zu bilden, der möglichst bald konstituiert werden sollte.
Ein 3.
Treffen fand am 23.3.1947 in Köln statt. Zuvor hatte die RSF eine scharfe
Erklärung gegen die Warenmarkaktion des FWB veröffentlicht, die theoretisch
unfundiert und ohne ihr Einvernehmen in Gang gesetzt worden sei, weshalb sie
sofort zurückgezogen und jegliche Propaganda dafür eingestellt werden müsse.
"Sollte der Freiwirtschaftsbund dieser Erwartung nicht stattgeben, würde
sich der Zentralausschuß der RSF zu seinem Bedauern gezwungen sehen, das
bereits angenommene Abkommen über die interzonale Zusammenarbeit wieder zu
kündigen." (7)
Diese
ultimative Erklärung wurde durch eine offizielle Antwort des
FWB-Bundesvorstands zurückgewiesen und die Warenmarkaktion in persönlichen
Briefen richtiggestellt.
Nach Köln
kamen Batz, Sonnenschmidt und Thielen von der RSF, Lautenbach, Hoch und Dr.
Diehl vom FWB, Beba und Rapp vom Freiwirtschaftsbund der französischen Zone,
als ,Gäste' Hamelbeck, Hoffmann, Kierdorf, Zitter, Dr. Winkler, Knickenberg und
zeitweise Heinrich Schwab. Als Verhandlungsleiter wurde einstimmig Karl-Heinz
Sonnenschmidt gewählt.
In dem
Protokoll von Dr. Winkler heißt es: "Zu Beginn der Sitzung ließen die
Delegierten der RSF durchblicken, daß die persönliche Zusammensetzung des
Bundesvorstands oder wenigstens der Delegierten des Freiwirtschaftsbundes in
der amerikanischen Zone die Zusammenarbeit erschwere. Auf Dr. Diehls
Aufforderung zu offener Aussprache erhoben Richard Batz und Peter Thielen
Einwände gegen die Person Lautenbachs. "
Lautenbach
bestritt die gegen ihn erhobenen politischen Vorwürfe energisch. Winkler, Hoch,
Schwab und Knickenberg traten ihm zur Seite. Die Zumutung der RSF-Delegierten
wurde als unberechtigte Einmischung in die inneren Angelegenheiten des FWB
abgelehnt. Worauf die 3. Tagung in eine sachliche Beratung eintrat. Der
Interzonale Ausschuß wurde konstituiert, jedoch behielt sich die RSF die Ratifizierung
dieses Abkommens durch ihren nächsten Parteitag vor.
In die
internationale Zusammenarbeit einbezogen werden wollte unerwartet der
Menschheitsbund Bremen (den es schon vor 1933 gegeben hatte und der damals vom
FKB als ,Verwandte Bewegung' bezeichnet worden war). Bereits 1945 von der
englischen Militärregierung genehmigt, strahlte er nach Hamburg, Ostfriesland
und Hannover aus. Nun bestand sein Ziel in der "Vereinheitlichung der
Freiwirtschaftsbewegung durch Gründung einer umfassenden Organisationsform".
An seiner Ostertagung 1947 nahmen je 1 Vertreter des FWB (Lautenbach), der RSF
(Junge) und des Neuen Bundes (Noebe) teil. Am nähesten stand der
Menschheitsbund dem Neuen Bund; er schlug vor, diesen Namen auch der
umfassenden NWO-Organisation zu geben.
Otto
Lautenbach äußerte Bedenken. Auf diesem Wege könne die bedauerliche
Zersplitterung der deutschen Freiwirtschaftsbewegung kaum überwunden, durch das
Hinzutreten einer weiteren Organisation nur vertieft werden. Der einzige
derzeit praktisch mögliche Weg zur Vereinheitlichung der NWO-Bewegung führe
über den Interzonalen Ausschuß. Diese These setzte sich in einer längeren
Aussprache allgemein durch. Der Bremer Menschheitsbund wurde in den
Interzonalen Ausschuß aufgenommen und durch ihn erweitert. Außerhalb blieben
jedoch der NWO-Bund Rudolf Zitzmanns und der Neue Bund (insbesondere wegen der
besonderen Lage Berlins).
Der
RSF-Parteitag ratifizierte das Abkommen nicht. Kaum konstituiert, hing der
Interzonale Ausschuß in der Luft. Zur Vereinheitlichung der NWO-Bewegung war er
außerstande. Ihre weitere Entwicklung und Degeneration verlief über die
verschiedenen Organisationen. Erst mit der Freisozialen Union schien sich eine
Konzentration zu vollziehen. Doch in Berlin bestanden 1957 drei NWO-Organisationen
nebeneinander: der Neue Bund, die FSU und ein besonderer Freiwirtschaftsbund,
gebildet von unabhängigen Freiwirten.
Die
Radikal-Soziale Freiheitspartei (RSF)
In der
britischen Besatzungszone entstanden nicht weniger als fünf freiwirtschaftliche
Parteien. Ihre weitere Entwicklung wurde von der stärksten und
lebenskräftigsten bestimmt.
Richard
Batz, der im Fisiokratischen Kampfbund eine große Rolle gespielt hatte, verwarf
nun die Bundesreform. Gemeinsam mit Alois Kokaly und Peter Thielen (der
zunächst Bedenken gehabt), gründete er am 27.1.1946 in Düsseldorf die
Radikal-Soziale Freiheitspartei (RSF). Dies war der Kern, um den sich die
anderen vier Parteien ansetzten. In der RSF gingen sie allesamt auf. Aus einer
lokalen Gründung breitete sich diese durch ihre Aufsaugung in der gesamten
britischen Zone aus. Aufgesaugt wurden:
die
Radikal-Sozialistische Freiheitspartei (Bottrop),
die
Freiwirtschaftliche Partei (Aurich),
die Deutsche
Friedenspartei (Köln) und
die
Freiwirtschaftspartei (Solingen).
Der
Vereinigungsparteitag fand bereits im Februar 1946 statt. Er beschloß ein
Zielprogramm, das folgende Forderungen verkündete:
1.
Überwindung aller Absatzstörungen und der Arbeitslosigkeit durch Einführung des
Freigelds.
2. Überführung
des unverdienten Zinseinkommens privilegierter Nutznießer in die Löhne und
Gehälter der Schaffenden.
3. Freiland
für alle und Aufhebung der privaten Grundrente, die den Müttern entsprechend
ihrer Kinderzahl gehört.
4.
Ausschaltung des Staates aus allen wirtschaftlichen und persönlichen
Angelegenheiten einschließlich der Ehe.
5. Abbau des
Staates und Durchführung aller noch verbleibenden öffentlichen Aufgaben durch
eine demokratische Selbstverwaltung.
6. Sicherung
des Friedens durch völlige Freizügigkeit der Menschen und Güter.
Entsprechend
der NWO-Tradition erwog die RSF zwar noch immer die Verstaatlichung des Grund
und Bodens, jedoch sollte für jene Bauern, die ihren Acker selbst bebauten,
eine Ausnahme gemacht und das Privateigentum beibehalten werden können. Das war
ein großer und mutiger Schritt über das Sozialisierungsschema hinaus. Es stand
zu erwarten, daß er bei rechtgläubigen Freiwirten vom Typus Bertha Heimberg auf
Widerspruch stoßen würde.
Mit diesem
Programm beteiligte sich die RSF 1946 an den ersten Wahlen in der britischen
Besatzungszone. Ihre Versammlungswelle erreichte auch die kleine Industriestadt
Peine, in der ich damals lebte. Ich erinnere mich noch an ihre Plakate. An der
Peiner RSF-Versammlung nahmen etwa 450 Hörer teil. Der Referent sprach gut und
vor einem vollen Saal, aus dem keinerlei Zwischenrufe kamen. Doch die Rede lief
ihm allzuglatt aus dem Mund. Er dozierte wie vor Studenten. Mir schien als ob
er die komplizierten Nachkriegsverhältnisse ungebührlich vereinfache. Freigeld
und Freiland sollten genügen, um Kriege und Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit
und Inflation ein für alle Mal zu verhindern, was von heute auf morgen möglich
sei.
Aber wenn
das so einfach und genial war, warum hatten sich dann die freiwirtschaftlichen
Forderungen nicht längst durchgesetzt? Der Redner sprach von einem gewissen
Silvio Gesell, der sie längst einwandfrei und wissenschaftlich begründet. Ich
hatte, wie wohl die meisten Versammlungsbesucher, diesen Namen noch nie gehört
oder gelesen. Niemand meldete sich zur Diskussion oder stellte eine Frage. Alle
waren stumm und irgendwie betroffen. Es brach ein geradezu peinliches Schweigen
aus, wie ich es noch in keiner Versammlung erlebt hatte. Sonst ging es bei
politischen Veranstaltungen ja immer recht lebhaft zu. Doch der RSF-Redner
hatte uns irgendwie eingeschüchtert, wohl durch seinen Anspruch auf
unumstößliche Wahrheit und Wissenschaftlichkeit. Gegen seine Argumente konnte
es keinen Widerspruch geben. Sie schienen unwiderleglich, aber dennoch nicht
realisierbar. Der einleuchtenden Theorie standen offenbar unüberwindbare
Hindernisse entgegen. Mit diesem Gefühl verließ ich die Wahlversammlung.
Die RSF
hatte sich einen wissenschaftlichen Beirat gewählt, der ihrer Politik den
Anschein äußerster Gründlichkeit geben sollte. Im August 1946 legte er ein
provisorisches und höchst umfangreiches Sofortprogramm vor, das nicht weniger
als 31 Seiten bedeckte. Die Präambel rechnete mit dem Dritten Reich unter dem
Gesichtspunkt eines "Finanzskandals" ab, da sich der Bargeldbestand
auf das 20-fache erhöhte. Das Hitler-Regime habe den größten Teil des deutschen
Volksvermögens "nutz- und sinnlos vergeudet". Dann hieß es: "Der
frivole Versuch, die im ehrlichen Wettstreit errungene Größe des deutschen Volkes
durch Verführung und Terror zum überheblichen Weltherrschaftsanspruch zu
steigern, hat uns in eine verzweifelte Lage gebracht. Nur die kälteste
Entschlossenheit, aus den unabänderlichen Tatsachen die . . . notwendigen
Schlußfolgerungen zu ziehen, kann den vom Krieg hinterlassenen wirtschaftlichen
Zustand überwinden." Das Sofortprogramm verlangte:
1.
Ungerechtfertigte Kriegs- und Schiebergewinne müssen vorab abgeschöpft werden.
2. Ordnung
der Geldverwaltung, u. a. durch "Erfassung der illegalen Bargeldbestände".
3. Gerechte
Verteilung des Geldes.
4.
Stabilisierung der Reichsmark.
5.
Fundierung der öffentlichen Schulden.
6. Ausgleich
des Staatshaushalts.
Alle
Zahlungsmittel sollten mit einer Frist von 14 Tagen aufgerufen und möglichst
bald in umlauffeste umgetauscht werden.
Barabhebungen
in neuen Noten müßten beschränkt sein:
"a) für
Löhne und Gehälter bis zum Höchstbetrag von monatlich 200 Mark für jeden Lohn-
und Gehaltsempfänger, zuzüglich 50 RM für jede Person, die von ihm unter halten
wird;
b) die
gleichen Beträge für den persönlichen Bedarf der Nicht-Lohn- oder
Gehaltsempfänger;
c) für Sonderzwecke auf Grund besonderer
Genehmigung". (18)
Die
Neuausgabe der Noten und sonstigen Geldzeichen sowie die laufende Regelung des
Geldumlaufs sollte durch ein zu schaffendes Währungsamt erfolgen. Um der
Durchkreuzung seiner währungspolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken, sei eine
Geldsteuer in Höhe von monatlich 1 % einzuführen (also jährlich von 12 %) und
fortlaufend auf jeden einzelnen Geldschein zu entrichten (durch Aufkleben von
Steuermarken oder Barzahlung).
Durch
Anpassung der Geld-Umlaufmenge an die Warenmenge hoffte die RSF, wieder eine
freie Lohn- und Preisbildung zu ermöglichen und jegliche Preisüberwachung überflüssig
zu machen. Die Zwangswirtschaft müsse radikal abgebaut werden.
Batz
glaubte, die politische Macht durch den Stimmzettel erobern zu können. In
Hamburg erhielt die RSF bei den Wahlen von 1946 jedoch nur 20034 Stimmen - 0,07
%. Dabei hatte sie in dieser Stadt, die eine ihrer Hochburgen war, 1200
Mitglieder. In dem Dorf Sebexen (bei Osterode) erhielt sie hingegen 52 % der
Stimmen, jedoch nur, weil ihr Kandidat ein sehr beliebter Lehrer war. Insgesamt
wurde die RSF von den Wählern bitter enttäuscht.
Sie gab eine
kleine Schriftenreihe und die Wochenzeitung "Der freie Mensch"
heraus. Um 1948 auch ein Historisch-politisches Handbuch, das zu den schönsten
Blüten der NWO-Literatur gehört. Es wurde allerdings nur als Manuskript
gedruckt. Doch ist es noch heute staunenswert, mit welchem Fleiß darin die
verschiedensten politischen, sozialen und geistigen Strömungen der
Vergangenheit aufgearbeitet wurden. Es stellte insbesondere die geschichtliche
Entwicklung des Liberalismus und der sozialen Bewegung dar, enthielt auch ein
indirektes Bekenntnis zum Universalismus Othmar Spanns. Jedoch brachte die RSF
es weder zu einem eigenen Verlag noch zu einer eigenen Zeitschrift.
Darüber
erregte sich Richard Batz auf dem 2. Parteitag am 13. Juni 1948 in Hamburg. Die
Schuld daran gab er einer widersinnigen Demokratie, dem politischen Ränkespiel
derselben Parteirichtungen, die das deutsche Volk der NS-Diktatur ausgeliefert
und ins Unglück hineingetrieben hätten. Nun erschleichen sie sich das Privileg
für die Wahrnehmung der allgemeinen Belange. "Die Presse wurde für die
alten Parteien mit Beschlag belegt." Solch eine ,Demokratie' könne keinen
Bestand haben. Sie werde in dem Augenblick zusammenbrechen, da die
Besatzungstruppen abzögen.
Richard Batz
sprach auf diesem Parteitag vom Aufstieg zu einem neuen und reineren
Menschentum, sobald es gelungen sei, das Führerhaus derer aufzubrechen, die zu
irrsinnigen Vernichtungsmitteln ihre Zuflucht nehmen wollten. Der Kommunismus
habe seinen Höhepunkt überschritten, aber auch der Westen lebe in einer
vorsintflutlichen Gesellschaftsform, welche allein durch die Gesellschen
Reformen modernisiert werden könne. Auf jeden Fall hatte Batz immer
weltpolitische, wenn nicht weltrevolutionäre Perspektiven parat, die er wie
Eierkuchen in die Luft zu werfen und zu wenden pflegte. Einige Altfreiwirte
haben ihn mir gegenüber eine ,charismatische Persönlichkeit' genannt.
Bei den
Bundestagswahlen von 1949 erhielt die RSF in der britischen Zone, in Bremen und
Stuttgart 217 267 Stimmen. In Bremen, wo sie im Juli 1947 einen Landesverband
gründen konnte, war es ihr allerdings im Vergleich zur letzten Senatswahl
gelungen, ihren Stimmenanteil zu verdreifachen. Dies wurde propagandistisch
gehörig ausgeschlachtet, konnte aber über den sonstigen Mißerfolg nicht
hinwegtäuschen. Als politische Partei hatte die RSF im Grunde schon
ausgespielt.
Richard Batz
hielt sie jedoch für die Avantgarde ganz Europas. In ihrem Namen bekannte er
sich zur Gewaltlosigkeit. Die NWO sei das Licht der Welt:
"Eine
wirklich befreiende und reinigende Idee, eine saubere Schlussfolgerung
menschlicher Vernunft bedarf der Gewalt zu ihrer Verbreitung nicht. Sie wird
sich im Streite der Geister die Herzen und Köpfe der Menschen erobern, bis
jeder Widerstand gegen sie sinnlos wird, bis einfach kein anständiger Mensch
mehr bereit ist, sich für dunkle Interessen einzusetzen, die das Licht
wirklicher Erkenntnis nicht vertragen können." (19)
Die RSF
sollte die Partei aller anständigen Menschen gegen die Dunkelmänner des 20.
Jahrhunderts sein. Ihr Hauptfeind sei der Kommunismus, dessen wahres Gesicht in
der Zuflucht zu Demagogie und Gewalt zutage trete. Er könne die ganze Welt und
das deutsche Volk in seinen Untergang mit hineinreißen. Für den umgekehrten
Fall, daß sich die Menschheit noch rechtzeitig zur NWO bekehren lasse, verhieß
ihr Batz eine kulturelle Blüte ohnegleichen. Die KPD bilde den äußersten
rechten Flügel, die RSF den äußersten linken Flügel der deutschen Parteien.
Einige Freiwirte bemerkten dazu sarkastisch: "Radikalsozialismus und
Nationalsozialismus sind nur feindliche Zwillingsbrüder." Sie hatten kein
Verständnis für die Eigenart der RSF.
Zwischen der
RSF und dem FWB entspann sich ein harter Konkurrenzkampf. Beide sprangen aus
ihren Besatzungszonen auch in die anderen über. So rief der FWB seine Freunde
in der britischen Zone ebenfalls zur Gründung des Bundes auf, wogegen die RSF
heftig protestierte. Sie versäumte aber nicht, sich auch in Stuttgart zu
organisieren, und veröffentlichte einen Aufruf: "RSF für ganz Deutschland".
Beide Seiten wollten alle Freiwirte vereinigen und spalteten sie doch.
Allerdings
gab es 1947 den Versuch, einen Zentralausschuß der deutschen NWO-Bewegung zu
bilden, der alle freiwirtschaftlichen Bestrebungen koordinieren,
Meinungsverschiedenheiten klären, Vorschläge austauschen und zur Entscheidung
wichtiger Fragen eine wissenschaftliche Kommission wählen sollte. An diesem
Versuch wirkten mit: Helmut Haacke vom FWB, Karl Walker vom Neuen Bund, Rudolf
Zitzmann vom NWO-Bund und Bernhard Hamelbeck von der RSF. Obwohl für den
Zentralausschuß bereits ein Satzungsentwurf vorlag, ist daraus nichts geworden.
Daß die RSF
von der öffentlichen Meinung ernst genommen wurde, zeigte ein Artikel des
Hamburger Journalisten Karl-Heinz Beuershausen über ihre Ziele. Ihr Vorschlag
die Wirtschaftslähmung durch ,Kreditsteuerung' zu überwinden, gleiche jedoch
dem Versuch, ein Auto zu steuern, dem man die Räder gestohlen. Ihre Absicht,
das gehortete Geld durch neue Banknoten zu ersetzen, führe zur Inflation, wenn
eines Tages die gehorteten Gelder panikartig auf den Markt zurückströmen. Der
Arbeitszwang, den sie über ein ,Zentralwirtschaftsamt' einführen wolle,"
führt zur bolschewistischen Sklaverei". (20)
Richard Batz
verfaßte einen Rundbrief an alle Parteimitglieder, um diese gegen solche
Argumente zu immunisieren. Die RSF setze sowohl die soziale als auch die
liberale Bewegung fort. "Ursprünglich waren diese Bestrebungen eins. Erst
der marxistische Irrtum hat sie auseinandergerissen. Die Freiwirtschaft fügt
sie wieder zusammen." (21)
Aber ein
Teil der Parteimitglieder wolle offenbar die marxistische Klassentheorie noch
enger fassen als die Kommunisten. Er äußerte sich hochmütig über Intellektuelle
und Akademiker. Diese würden jedoch in die RSF gar nicht aufgenommen. Am
hoffnungsvollsten für die Radikal-Soziale Freiheitspartei war, daß sie viel
jugendlichen Zuspruch hatte. Sie gründete einen Freisozialen Jugendverband.
Die RSF warb
hauptsächlich um die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Schon
die nächsten Wahlen würden ihnen Gelegenheit geben, ihre Macht mit dem
Stimmzettel in die Waagschale zu werfen.
Im Januar
1950 legte die Radikal-Soziale Freiheitspartei auch ihr neues Aktionsprogramm
vor: "zur Befreiung des deutschen Volkes aus einer unhaltbaren Lage"
sowie zur Überwindung der "durch Währungsschwindel und Spargutverschiebung
hervorgerufenen unmenschlichen Not der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge . . .
"
Eine
vierköpfige Delegation der RSF, bestehend aus Richard Batz, Alois Kokaly und
zwei anderen Mitgliedern des Parteivorstandes, nahm Gespräche mit dem Bund der
Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) auf. Es kam zu einer Vereinbarung für
die bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Sie wurde aber kurz
darauf vom Vorsitzenden des BHE widerrufen. Trotzdem veröffentlichte die
RSF-Zeitung am 30.4.1950 einen auch von den BHE-Vertretern Dr. Baur und Dr. von
Rheinbaben unterzeichneten Aufruf an alle Heimatvertriebenen und Entrechteten,
welcher den Eindruck erweckte und erwecken sollte, der gesamte BHE stünde
dahinter.
Die RSF
klagte an, allein in Schleswig-Holstein gebe es 494 ,Elendslager' für
Flüchtlinge und Heimatvertriebene, für ein einziges Arbeitsamt wären jedoch
600000 DM bewilligt, um einen weiteren ,Büropalast' zu errichten.
Den
Entrechteten zuliebe wurde Punkt III/6 des neuen Aktionsprogramms revidiert,
das die "Umwandlung der ehemals deutschen Gebiete in internationales
Freiland unter dem Protektorat der UNO" gefordert. Nun war von der
"Verwirklichung des völkerrechtlichen Anspruchs jedes Menschen auf seine
angestammte Heimat und sein Eigentum" die Rede. "Der Weg zurück in
die alte Heimat" sei eine Volksabstimmung unter den Heimatberechtigten
über ihre endgültige Staatsangehörigkeit nach dem Vorbild der Saarabstimmung
von 1935. Bis dahin sollten die umstrittenen Gebiete einer internationalen
Verwaltung - nicht mehr der polnischen - unterstehen.
Hein Beba,
der die Tradition des Freiwirtschaftlichen Jugendverbandes eingebracht und
fortgeführt hatte, legte im Januar 1950 den FSJ-Vorsitz nieder. Abgelöst durch
Fredi Kürten, zog er sich auf den Posten des Auslandsreferenten zurück. Beba
war mit der RSF unzufrieden. Am 15.8.1950 schrieb er an Artur Rapp: " . .
. ich nehme die Namensfrage nicht mehr allzu tragisch, die Hauptsache, das RSF
kommt weg".
Zahlreiche
Freiwirte, darunter einige der aktivsten, traten zu Richard Batz in Opposition.
Die RSF wurde sowohl wegen ihres Namens als auch wegen ihrer Politik in Frage
gestellt.
Ihr letzter
Parteitag fand im September 1950, nach Ausbruch des Korea-Krieges, in Bielefeld
statt. Batz hielt eine rein außenpolitische Einführungsrede, worin er die
eigentliche Schuld am Korea-Krieg dem ,Kapitalismus' zuwies. Ob es den
Kommunismus gebe, sei dafür nicht ausschlaggebend; falls er verschwinde, werde
man einen anderen Feind erfinden, der zu bekriegen sei. Aus dem Kapitalismus
werde auch der Dritte Weltkrieg wie die Pflanze aus der Knospe brechen. Doch
der Endsieg sei den Freiwirten sicher.
"Wenn
die Welt nicht vom Zufall regiert werden soll, wenn in der ganzen
Weltentwichlung noch ein höherer Sinn ist, dann kann es gar nicht ausbleiben,
daß die Vernunft, die mit Silvio Gesell einmal in die Weltgekommen ist, dann
auch siegt!" (25)
Batz
appellierte an den Einheitswillen der Freiwirte. Er wollte ein gutes Beispiel
geben. In Bielefeld verschmolzen drei NWO-Parteien:
- die
Radikal-Soziale Freiheitspartei
- die Freie
Soziale Partei, gegründet in der französischen Zone
- die
Soziale Freiheitspartei, hervorgegangen aus einer Opposition im
Freiwirtschaftsbund.
Das Ergebnis
der Vereinigung war die Freisoziale Union (FSU).
Die
Freiwirtschaftsbewegung FdFF Bertha Heimbergs
Bertha
Heimberg hatte die Arbeiter und Angestellten innerhalb des Weimarer
Freiwirtschaftsbundes vertreten, der sie 1929 zu seiner Geschäftsführerin
erwählte. Silvio Gesell sah in ihr eine Gewähr.
Sie wurde
jedoch im Nachhinein scharf kritisiert. Hans Schumann schrieb mir: "Bertha
Heimberg beherrschte den Freiwirtschaftsbund ziemlich selbstherrlich und
verhinderte die Bildung einer eigenen politischen Partei." (26) Für
Hans-Joachim Führer war sie rechthaberisch und eitel. In Werner Schmids
Gesellbiographie wird Bertha Heimberg als eine geschwätzige und zudringliche
Person abgefertigt, die sich Gesell am liebsten an den Hals geworfen hätte und
der sie sich auf ironische Weise vom Leibe zu halten wußte. Durch seine
Korrespondenz mit ihr schwingt jedoch ein warmer Ton. Er verglich Bertha
Heimberg mit Rosa Luxemburg: Dazu fehlte es ihr freilich noch an theoretischem
Schliff und revolutionärer Erfahrung, wenngleich nicht an rhetorischem Talent
und an verwegenem Mut. Fünf Jahre kämpfte sie im Untergrund gegen das braune
NS-System.
Als die
nationalsozialistische Diktatur samt ihren Plänen zur Hochzüchtung der
germanischen und nordischen Rasse endlich zerschlagen war, beobachtete Bertha
Heimberg von London aus mit größter Aufmerksamkeit, was sich in Deutschland
tat. Sie folgte jedem Schritt der RSF und des neuen FWB.
Am
kritischsten der RSF gegenüber, da eine Freiwirtschaftspartei nach wie vor
verfehlt sei, unterzog sie erst deren Zielprogramm, sodann auch ihr
Sofortprogramm einer scharfen Kritik. Die darin enthaltenen Fehler und
Abbiegungen vom geraden Kurs der Freiwirtschaftsbewegung würden sich bitter
rächen "und ohne Zweifel zum Versagen der Gesellschen Entdeckungen"
führen.
Die RSF
ersetze das Freigeld durch eine Geldsteuer - da dürfe man sich nicht wundern,
wenn der Finanzminister eines Tages den Schwundsatz nach den Bedürfnissen der
Staatskasse festsetze. Wird das Privateigentum an Grund und Boden für Bauern
erlaubt, wie es die RSF vorhabe, so müßte das gleiche Zugeständnis dem
Hausbesitzer, dem Handwerker für seine Werkstatt, dem Unternehmer für seine
Fabrik gemacht werden. "Was bleibt dann noch für Freiland übrig?" Nur
das verschuldete Grundeigentum. Und was bliebe für die Mütterrente? Nichts.
Kurz darauf
kehrte Bertha Heimberg nach Deutschland zurück und trat dem Freiwirtschaftsbund
bei, dessen Vorstand sie ihre Mitarbeit anbot. Er nahm das widerstrebend und
sehr kühl zur Kenntnis. Otto Lautenbach vertrat die Spitzenlinie der
Beeinflussung führender Persönlichkeiten, Bertha Heimberg die Massenlinie einer
Volksbewegung von unten. Dieser Gegensatz führte zu starken Spannungen. Der
Bundesvorstand löste sie dadurch, daß er die Widerstandskämpferin 1950 aus dem
FWB ausschloß.
Sie war
jedoch voller Tatendrang und einer Anhängerschaft sicher. Die Entrüstung über
ihren Ausschluß veranlaßte eine Reihe von Freiwirten, deren namhafteste Finckh
und Pfister waren, zum Austritt aus dem FWB. Mit ihnen gründete Bertha Heimberg
die "Freiwirtschaftsbewegung FdFF" (Freiwirtschaft durch Freigeld und
Freiland), welche den Anspruch erhob, eine jeglicher Bürokratisierung
vorbeugende Organisationsform gefunden zu haben. Ihr kurzes Programm ging auf
die Essentalien der Gesellschen Sozialreform zurück und wollte sie ohne
Kompromisse mit dem neuen Zeitgeist realisieren.
Die
Heimbergsche Organisation, welche auch als Freiwirtschaftsbewegung Deutschland
e.V. in Erscheinung trat, war der Internationalen Freiwirtschaftlichen Union
nicht angeschlossen. Anscheinend hat sie keinen Aufnahmeantrag gestellt. Ihr
Aktionsradius war sehr begrenzt und kam über das Ruhrgebiet kaum hinaus. Als
Periodikum veröffentlichte sie monatlich den "Freiwirtschaftlichen
Zeitspiegel", der hauptsächlich kurze Kommentare enthielt. Bertha Heimberg
schrieb einen Grundriß der Lehre Silvio Gesells. Sie versah das Vorwort Gesells
zur 3. Auflage der NWO mit einer langen Einleitung, was wiederum eine Broschüre
ergab. Außerdem ließ sie eine Neuauflage seiner zweiten Denkschrift für die
Gewerkschaften drucken. Bertha Heimberg setzte ihr voran, daß die
Wirtschaftskrisen, welche als Verfall des Kapitalismus angesehen würden,
"in Wirklichkeit seine Gesundungszeiten" sind. "Ohne sie, bei
ununterbrochener Fortsetzung der Konjunktur, müßte der Zins bei Null ankommen
und auf diesem Wege automatisch die Zinswirtschaft überwinden." Dagegen
kämen die Gewerkschaften nicht an. "Die Verzinsung des Kapitals ist ein Sperrgürtel,
der keine oder nur kurzfristige Zugeständnisse zuläßt." (28) Die
Gewerkschaften könnten jedoch durchsetzen, daß sich alle Löhne und Gehälter
automatisch an den Großhandelsindex anpassen. Betriebliche Mitbestimmung würde
sie hingegen in die kapitalistische Wirtschaftsordnung einflechten. Ihr
Vertrauensverlust könne nur durch einen Befreiungskampf zur Sprengung des Geld-
und Bodenmonopols wettgemacht werden. Ihr Sinn bestehe darin, den Kapitalismus
durch die Freiwirtschaft zu überwinden.
Die drei
Broschüren hatten sämtlich Taschenbuchformat. Sie wurden aus einem
Gesell-Heimberg-Fond finanziert. Darüber hinaus veröffentlichte Bertha Heimberg
ihre Briefe an 20 Staats- und Ministerpräsidenten. Sie hielt zahlreiche
Vorträge, litt jedoch an einer schweren Zuckerkrankheit und starb am 28.4.66 in
Essen.
Bertha
Heimberg wollte die Freiwirtschaftslehre aus Überwucherungen retten und vor
weiteren Deformationen schützen. Sie war durch und durch Puristin, auch in
ihrem einfachen Lebensstil. Ihr Verzicht auf persönliches Glück machte sie
bitter, in gewisser Hinsicht auch unerbittlich.
Bernhard
Pfister war laut Hein Beba "ihr ergebenster Paladin", die rechte Hand
Bertha Heimbergs, welche "durch ihre Arbeit sicherlich nicht zum Wohle
unserer Bewegung beiträgt". (22) Diese Ansicht scheint typisch für viele
Freiwirte gewesen zu sein. Schließlich wurde von anderen ein Komitee zur
Ehrenrettung Bertha Heimbergs gebildet.
Die
Freisoziale Union (FSU)
Äußerlich
gesehen ist die Freisoziale Union problemlos aus einer Umbenennung der
Radikal-Sozialen Freiheitspartei entstanden, die sich nur ein anderes Kleid
zugelegt. Sie bekannte sich jedoch im Unterschied zu dieser sogleich zu einem
Dritten Weg. Das ging mit einer Umgestaltung einher, welche von Hamburger Freiwirten
eingeleitet wurde, insbesondere von Johannes Schumann.
Nur
scheinbar gab es einen glatten Übergang von der einen zur anderen Partei. In
Osterode hatte die RSF über 100 Mitglieder. Nach ihrer Umgestaltung fiel der
Kreisverband - außer dem Ortsverband "zum Teil sehr starke Gruppen",
"sang- und klanglos auseinander". (30) Das war kein Einzelfall. Der
Osteroder Ortsverband verabschiedete eine Stellungnahme gegen die politische
Linie der Freisozialen Union.
Die
Freiwirtschaft sei die einzige Alternative zum Kapitalismus, der auch in den
kommunistischen Ländern herrsche. Deshalb gäbe es keinen dritten Weg zwischen
Kapitalismus und Kommunismus, nur ein entweder-oder.
Diese
Stellungnahme war hauptsächlich verfaßt von Hans Kühn, der aus Protest gegen
die Politik der FSU eine Freiwirtschaftliche Bewegung gründete (aber nur wenige
aktive Mitarbeiter fand). Seines Erachtens maßen viele Freiwirte dem
kommunistischen Experiment allzugroße Bedeutung zu, obwohl sein Kernstück die
Beibehaltung des Dauerwertgeldes sei. Wie Kühn wollten auch andere
RSF-Mitglieder nicht in die FSU übernommen werden. Die RSF hatte rund 5000
Mitglieder, wahrscheinlich entzog sich ein Drittel davon der neuen Partei, in
manchen Kreisverbänden sogar die Hälfte.
In
Niedersachsen hatte es 80 Ortsgruppen der RSF gegeben. Alle wurden
angeschrieben und um Abführung der Beiträge gebeten. Nur 13 antworteten, nur
eine schickte etwas Geld, (2,- DM), nur zwei forderten Redner an. Der
FSU-Landesgeschäftsführer Hermann Müller hatte sich einen Überblick verschaffen
wollen, "wo noch gearbeitet wird". (31) Das Ergebnis war
niederschmetternd. Nach anderthalb Jahren war die ehemalige RSF in
Niedersachsen auf ein Drittel oder gar ein Viertel ihres früheren Bestandes
zusammengeschrumpft.
Die FSU ging
Listenverbindungen ein, weil sie Schwierigkeiten hatte, die nötige Zahl von
Unterschriften für eine eigene Liste zu sammeln. So kam in Niedersachsen der
Parteifreund Weeke auf einer Liste der Niederdeutschen Union in den Landtag, wo
sie ihm einen Sitz im Wirtschaftsausschuß anbot. Viele FSU-Mitglieder erhofften
nun Wunder, andere waren für Wachsamkeit, um das freiwirtschaftliche
Gedankengut "nicht verunreinigen zu lassen". Sie verlangten, daß sich
Weeke sofort nach der Wahl als FSU-Abgeordneter erkläre. Hermann Müller
antwortete: "Laßt ihm doch Zeit. Er kämpft im Vorfeld".
Ende 1952
trat Richard Batz als Vorsitzender der FSU zurück, weil er die Mehrheit der
Partei nicht mehr hinter sich wußte. Zum Nachfolger wurde Wilhelm Radecke
gewählt, der 1933 den Rolandbund unter dem Hakenkreuz aufgezogen hatte.
Im September
1952 kam es zur Vereinigung der FSU mit dem Nauheimer Kreis um Professor Ulrich
Noack. Der gemeinsame Block der Mitte stellte sich im Ulmer Manifest auf den
Boden des Primats der nationalen Wiedervereinigung. Die deutsche Einheit sollte
nun auch das ,Hauptanliegen' der FSU sein. Allzulange hätten sich die Jünger
Gesells dem politischen Tageskampf ferngehalten, "um vom hohen Piedestal
über das Alltagsgetriebe hinweg der Fernsicht zu fröhnen . . . Sie betonten das
Ich und erstrebten die Menschheit, und in diesem Streben fand die Nation nur
geringen Raum. Die Nation ist heute in Gefahr. Sie ist zweigeteilt und muß
wieder zur Einheit werden. Dieses Gefahr macht uns heute zu nationalen Kämpfern
und gibt uns den politischen Impuls, der unserem Ruf in den weiten, die Gefahr
instinktiv erfassenden Kreisen unseres Volkes lauten Widerhall verschaffen
soll". (32)
Prof. Noack,
in den FSU-Vorstand kooptiert, übernahm für den Nauenheimer Kreis die freisozialen
Forderungen nach einer Änderung des Geld- und Bodenrechts.
Seine
konziliante Art ermöglichte im April 1953 ein Wahlbündnis mit der
Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns: GVP - Block der Mitte - FSU.
Noack, eine eindrucksvolle Persönlichkeit, zog mit seinen öffentlichen Reden
Tausende an, was die FSU als ihren Erfolg buchte; er verließ sie jedoch im Juni
1953, so daß auch die Essener Vereinbarung mit der GVP nicht mehr zum Tragen
kam.
Die FSU
stand wieder allein. Radecke gab Kurs auf ihren inneren Ausbau. Er vertröstete
seine Parteifreunde auf eine neue revolutionäre Situation. Im Februar 1954
unterschied er das vorbereitende Wirken der FSU von ihrem späteren Durchbruch,
der eine "Umsturzbereitschaft bei weiten Volksschichten" (33) voraussetzte,
die dann auch genutzt werden müsse. Die vorbereitende Phase sollte durch
Schulung, Ausbildung des Nachwuchses und Volksaufklärung ausgefüllt werden. Der
Kaptalismus habe nur Vorfeldstellungen aufgegeben. Die maßgebenden Leute wollen
sich nicht in Richtung Gesell entwickeln. Wirtschaftsminister Erhard nehme der
Freiwirtschaft viel Wind aus den Segeln, doch "die Friedenssehnsucht gibt
uns Propagandastoff". (34)
Werner
Zimmermann warnte Radecke: "Alles, was parteimäßigen Anstrich hat, wirkt
weithin abstoßend. Es führt dann zu Stagnation, Rückgang. Wir müssen die innere
Kraft aufbringen, umzukehren". (35)
Radecke fuhr
jedoch fort, Parteipolitik zu betreiben. 1955 steuerte er in
Nordrhein-Westfalen einen Wahlpakt mit der Deutsch-Sozialen Union (DSU) Otto
Straßers an, wiederum unter dem Primat der Wiedervereinigung, nunmehr mit
nationalistischem Zungenschlag. Auch dieses Wahlbündnis platzte, bevor es in
Kraft treten konnte. Damit war Radeckes Konzept der großen Sammlung endgültig
gescheitert. Als 1. Vorsitzender der FSU wurde er von Albert Bartels abgelöst,
unter dem die Rückbesinnung auf das soziale Anliegen der Partei und eine
Neuorientierung begann. Der nationale Impuls trat allmählich wieder hinter den
sozialen zurück.
Dieser
Wandlungsprozeß wurde 1958 unter dem Vorsitz von Dr. Ernst Schröder
stabilisiert. Der Einschnitt des Radecke-Kurses hinterließ jedoch eine tiefe
Spur im Kollektivbewußtsein der FSU. Sie drückte sich in geringschätzigen
Äußerungen über die deutsche Vergangenheitsbewältigung und die Entnazifizierung
aus. Der Zweite Weltkrieg sei auf jene ausländischen Politiker zurückzuführen,
die "Hitlers maßvolle Vorschläge" abgelehnt hätten; das
"angebliche Tagebuch der Anne Frank" liefere keinen stichhaltigen
Beweis für eine millionenfache Judenvernichtung. Solche Argumente gaben den
Schweizer Freiwirten sehr zu denken. Wer das ,Schmach-Diktat' von Versailles
und die zerbombten deutschen Großstädte beklage, sollte die zerbombte englische
Stadt Coventry ebensowenig vergessen wie Dresden und Hamburg.
Die FSU
nannte sich nun Partei der Demokratischen Mitte. Sie sei "in der Lage
1. das
Problem des Machtmißbrauchs durch Machtverteilung aufzuheben,
2. die
soziale Frage durch Sicherung des vollen Arbeitsertrages für alle arbeitenden
Menschen zu lösen,
3. den
Grundstein für ein freies Geistes- und Kulturleben zu legen". (36)
Zur
Bundestagswahl 1965 trat die Freisoziale Union unter der Parole an:
"Vollbeschäftigung ohne Inflation". Diesmal wollte sie sich in
direkter Konfrontation mit den großen Parteien profilieren. Anscheinend glaubte
ihr nunmehriger Vorsitzender Dr. Kurt Keßler, seine Partei habe ihr
vorbereitendes Wirken hinter sich und sei in die Phase des Durchbruchs
eingetreten. "Freisoziale Politik und freisoziales Denken sind entweder
universell oder überhaupt nicht. Wir stehen unter dem Gesetz des alles oder
nichts."
Das Ergebnis
war katastrophal. Hatte die RSF bei den Bundestagswahlen von 1949 0,9 % der
Wählerstimmen erhalten, so entfielen auf die FSU im Jahre 1965 0,0 % (lediglich
10.000 Stimmen).
Erwähnenswert
ist auch, daß sich die FSU um die Lebensreformer bemühte und sie einzubinden
versuchte. Georg Otto gründete einen Bund freisozialer Lebensreformer. Dieser
Bund hat jedoch nach seiner Auskunft kein eigenständiges Leben innerhalb der
FSU entfalten können.
Wie sah die
Freisoziale Union 1966 im Spiegel eines kritischen Sympathisanten aus?
Dies läßt
sich einer Art Denkschrift von Tristan Abromeit entnehmen.
Einer seiner
ersten Eindrücke war, das Wollen der FSU-Mitglieder decke sich anscheinend
nicht mit ihrem Handeln. Die FSU wirkte auf ihn wie eine Sekte mit dem Anspruch
auf Alleinseligmachung, obwohl die Freiwirtschaft nur eine von mehreren
Möglichkeiten sei, die anstehenden Probleme zu lösen.
"Die
FSU-Mitglieder (auch andere freiwirtschaftliche Gruppen) haben um einen Kern
wirtschaftstheoretischer Wahrheit eine feste Schale aus Mystik und Ignoranz
geschaffen, die den Kern am Keimen und Wachsen hindert." (37)
Die Teilhabe
an einer Wahrheit verführe die FSU zur Überheblichkeit und zu der Anmaßung, den
Schlüssel zur Lösung aller gegenwärtigen und zukünftigen Probleme zu besitzen.
Angeblich verhindern nur dunkle internationale Mächte ihren Erfolg, in Wahrheit
Gruppen mit anders gelagerten Interessen "und die eigene
Beschränktheit". Die FSU ist geistig isoliert. Sie betreibe ihre Politik
hinter einem Rauchvorhang und verlange von ihren Mitgliedern ein
Glaubensbekenntnis bezüglich der Freiwirtschaft. Rationale Argumente spielen
innerhalb dieser Weltanschauungs-Gemeinschaft eine unbedeutende Rolle. Als
politische Partei ein Gernegroß, verfüge sie über keinen Apparat, der ihr eine
laufende Einflußnahme ermöglichen würde. Ihre Tabus untergrüben ihre
Wirksamkeit, ihre Veröffentlichungen zeugten oft für Intoleranz und Aggression.
Dieses
Urteil wurde nach fünfjähriger Beobachtung in kritischer Distanz gefällt. Trotz
aller Schärfe war es wohlwollend. Ihr Urheber wollte die FSU geschmeidiger und
schlagkräftiger machen. Er war selber ein Freiwirt.
Auf dem
Bundesparteitag 1967 lag ein Antrag des Kreisverbandes Solingen vor, er möge
beschließen, den Namen Freisoziale Union ab sofort (wieder) in Radikal Soziale
Freiheitspartei abzuändern. Die "vornehme Tour der Anpassung an den Stil
und das Gehabe der großen Parteien" habe der FSU nur geschadet und ihr
Profil verwischt. Ein typisches Beispiel sei die Wahlparole von 1965 gewesen.
"Nicht in der Anpassung liegt die Chance der Partei, sondern heute einzig
und allein nur noch in der harten Provokation." (38)
Der
Parteivorstand empfahl die Ablehnung dieses Antrags, der aus dem linken Flügel
kam. Er drückte jedoch eine Stimmung aus, die auch in anderen Kreisverbänden zu
gären begann.
Der Mensch
ist in die Schöpfung hineingeboren -
Freiwirtschaftliche Christen (AfC)
Die
freiwirtschaftlich-physiokratische Bewegung zwischen 1913 - 33 war so
ausgeprägt sozialreligiös, daß eine christliche Richtung in ihr noch keinen
Platz hatte. Paulus Klüpfel, Pfarrer Burri, Dr. Ude und Benedikt Uhlemayr
bahnten ihr den Weg. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg fand sie einen
organisatorischen Ausdruck in der Arbeitsgemeinschaft freiwirtschaftlicher
Christen (AfC). Burri bescheinigte der christlichen Kirche, sie sei "über
1000 Jahre radikal antikapitalistisch" gewesen, dann jedoch mit der Aufhebung
ihres Zinsverbots dem "zweiten Sündenfall" (39) zum Opfer gefallen.
Darüber hinaus hätte sie sich mit ihrer Kapitulation vor dem Zins allen Dämonen
ausgeliefert. Diese Thesen machten den Grundbestand der AfC aus.
Die
Arbeitsgemeinschaft freiwirtschaftlicher Christen wurde am 22.10.1950
gegründet. Ihr hauptsächlicher Initiator war Wilhelm Vahrenholt, unterstützt
von Paul Bauschulte, Walter Bischof, Dr. Hamelbeck und anderen. Dem
Gründungsbeirat gehörten Fr. Schmutzler, P. Hornscheidt, Fr. Schmiedt sowie H.
Sindermann an.
Der erste
Vorstand setzte sich wie folgt zusammen:
1.
Vorsitzender P. Bauschulte
2.
Vorsitzender E. Nieland
Geschäftsführer
W. Vahrenholt
Als
Inspirator und ,geistlicher Protektor' galt von Anbeginn bis zu seinem Tode
Johannes Ude. Seine Persönlichkeit war von großer Anziehungskraft. Die
Mitgliederzahl stieg innerhalb eines Jahres nach der Gründung auf 80, in den
50er Jahren auf über 100, fiel jedoch 1967 auf 60 ab. Protestanten und
Katholiken bildeten anerkannte Meinungsgruppen.
Zu ihren
Jahrestagungen kamen jeweils etwa 40 Personen. 1960 und 1962 hielt Ude
öffentliche Vorträge, die als "herausragende Ereignisse" empfunden
wurden. Er hatte einen legendären Ruf.
Die AfC
wandte sich in zahlreichen Eingaben an die Kirchenleitungen, an bestimmte
Bischöfe und Kardinäle, an Kirchentage und das Konzil. Ihrer Darstellung nach
ist die Natürliche Wirtschaftsordnung eine christliche und als solche gleichsam
die Basis für das Reich Gottes auf Erden.
Eine
bedeutsame Rolle innerhalb der AfC spielte Alex Elfes, der in ihrer Zeitschrift
"Glaube und Tat" eine Studie über die Demokratisierung der Wirtschaft
veröffentlichte. Hierbei geht es um die Freiheit des Menschen, "sein Leben
in eigener Verantwortung gestalten und darüber hinaus nach seinen Anlagen und
Kräften an der Gestaltung des sozialen Ganzen mitwirken zu können". Dies
sei auch ein Anliegen der Natur, welche den Menschen im Modus der Freiheit
hervorgebracht hat. "Die Natur stellte ihn in eine Ordnung hinein, die
diesem Modus gemäß ist."
In die
Schöpfung hineingeboren, trägt der Mensch die Verantwortung für sie. Seine
Gebundenheit und Abhängigkeit ist eine Voraussetzung seiner Freiheit. Sie soll
die äußeren Bedingungen schaffen, damit die Schöpfung das Gute verwirklichen
kann.
Dazu muß der
gefallene Mensch befähigt werden, trotz seiner Gefallenheit hohen Werten und
Idealen zu folgen. Höchststufe ist die Kosmogenese. Der Mensch sollte sich
bewußt und aus innerem sittlichen Antrieb in ihren Dienst stellen.
Unter Kosmogenese
verstand Elfes eine von Natur gegebene ausgleichende Gesetzmäßigkeit, die im
Bereich der Wirtschaft durch das Geld- und Bodenmonopol verfälscht worden ist.
Geld und Zins stünden außerhalb der Ordnung von Raum und Zeit. Mit dem Boden
wird auch der Mensch zu einem Zubehörbesitz derer, die seine Eigentümer sind.
Das Geld macht zwei konträre Gesetzmäßigkeiten wirksam: ein der Wirtschaft
selbst innewohnendes Gesetz des gegenseitigen sozialen Ausgleichs und das jenem
Ausgleich entgegenwirkende Rentabilitätsgesetz.
"Von
diesen beiden einander entgegenwirkenden Gesetzen wird unsere Wirtschaft in
einem ständigen Wechsel von Konjunktur und Krise gehalten. Die Konjunktur
bringt das . . . Gesetz der gegenseitigen Angleichung mehr und mehr zur
Wirksamkeit. Die Bildung bzw. das Angebot an Sachkapital nimmt stärker zu als
die Nachfrage nach ihm, wodurch dann schließlich die Kapitalrente zum Sinken
gebracht. . . wird. Dann wird das der Wirtschaft eigene Gesetz von dem Gesetz
unseres Geldes, dem Rentabilitätsgesetz, abgelöst. Die Wirtschaft wird einem
,Gesundschrumpfungsprozß' unterworfen, d. h. die in der Konjunktur begonnene
Vermögensbildung in den breiten Volksschichten wird wieder rückgängig gemacht.
Denn die Rente lebt von der Armut, d. h. dem Mangel an Kapital. Die
Vermögensbildung muß deshalb in den Grenzen der Rentabilität gehalten bzw. auf
diese Grenzen immer wieder zurück- ,geschrumpft' werden. Durch dieses
Schrumpfen wird der Mangel an Sachkapital, damit seine Marktüberlegenheit und
mit ihr die Rentabilität . . . wiederhergestellt." (40)
Demzufolge
entspricht das Gesetz der Rentabilität nicht der Wirtschaft, sondern dem Gelde,
und durch dieses bricht es das der Wirtschaft eigene Gesetz des sozialen
Ausgleichs. Es verhindert auch den gerechten Lohn, eine der eigenen Leistung
gleichwertige Gegenleistung, die eigentlich in den Dingen selbst liegt und
daher selbstverständlich sein sollte.
Die soziale
Gerechtigkeit verfehlt ihre Erfüllung, wenn das mir Zustehende dem anderen
abgerungen und abgezwungen wird, statt mir von ihm in Freiheit als das Meine
zugestanden. Die Demokratisierung der Wirtschaft sollte ihre vom Staat
blockierte Eigengesetzlichkeit wiederbeleben.
Elfes
leitete die Natürliche Wirtschaftsordnung aus der Schöpfung ab. Wir Menschen
sind berufen, der Wirtschaft zu der in ihr angelegten, d. h. gottgewollten
Ordnung und Demokratie zu verhelfen. Demzufolge können die Gesellschen Reformen
als Schöpfungsaufträge betrachtet werden. Der Mensch ist nicht als Einzelwesen
gedacht, sondern in der Bezogenheit zum Ganzen der Schöpfung und Gesellschaft.
Er ist somit
abhängig von Gott und jener Ordnung, in die er von Natur auf besondere Weise
hineingesetzt. Je mehr ein Wesen an Geschöpflichkeit empfangen, desto tiefer
hat ihn Gott in Bindungen eingepflanzt. Selbst seine Vernunft legt ihm eine
größere Abhängigkeit auf als dem Tier. In ihrem Erkennen ist sie nur
"soweit wahr, als sie mit der Wahrheit dieser Schöpfungswirklichkeit in
Übereinstimmung" steht. Eine kollektive Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben
müsse zur Kollektivierung der Wirtschaft führen.
Eine
individuelle Mitbestimmung entspräche hingegen dem Freiheitsmodus des Menschen
und "immer höherer Entfaltung seiner Persönlichkeit".
Elfes
gedankenreiche Abhandlung wurde in der AfC-Zeitschrift "Glaube und
Tat" veröffentlicht, die ab 1955 sechsmal jährlich erschien. Als
sozialethischer Rundbrief hauptsächlich für die Mitglieder und Interessenten
bestimmt, erreichte sie kaum die Öffentlichkeit. Allmählich schmolz die
Zeitschrift von 16-20 auf 8 Seiten zusammen und nahm den Charakter eines
Informationsblattes an. Der Tenor war, daß der Mensch nicht gleichzeitig Gott
und dem Mammon dienen könne.
Die AfC
wendete moralische Maßstäbe auf vorgegebene gesellschaftliche Einrichtungen an
und wollte Modelle zur Verbesserung fehlerhafter Gesellschaftsstrukturen
erarbeiten. Ihre Richtschnur erblickte sie zum einen in der christlich
begründeten Sozialethik, zum anderen in wissenschaftlich abgesicherten
Forschungsergebnissen der Sozialökonomie. Sie verstand sich als eine
Vereinigung christlicher Männer und Frauen, die den von totalitären Mächten
bedrohten demokratischen Rechtsstaat durch Vervollkommnung der
marktwirtschaftlichen Grundlagen schützen und entwickeln wollte.
Innerhalb
der AfC bildete sich 1955 eine Aktionsgruppe um Paul Bauschulte, deren Ziel in
der Schaffung einer zinslosen Spar- und Kreditbank auf gemeinnütziger Grundlage
bestand. Die Veröffentlichung dieses Projektes in der FSU-Presse fand ein
überwiegend negatives Echo. Ein Teil der Kritiker schrieb, nur wenige Menschen
wären reif, ein soziales Werk durch eigene Opfer zu tragen. Andere meinten, die
Beseitigung des Zinses sei weder durch Zwangsverbote noch durch freiwillige
Verzichte zu erreichen. Die härtesten Kritiker sprachen von einer Verfälschung
der Gesellschen Lehre. Man könne sogar von einer Persiflage (Verspottung)
sprechen.
Anfänglich
hatte sich der damalige AfC-Vorsitzende Dr. Hans Zinner persönlich wie auch in
einem Rundschreiben vom 12.12.1955 sehr warm für das Projekt eingesetzt und
seine eigene Opferbereitschaft bekundet. Angesichts der massiven Kritik aus der
FSU wich er unter dem Motto zurück, demokratisch handeln heiße, der besseren
Einsicht zum Siege zu verhelfen. Er fühle sich verpflichtet, die von ihm
verehrte Aktionsgruppe um Paul Bauschulte zu bitten - "gäbe es in der
Bundesrepublik doch ein paar Millionen solch prächtiger Streiter um hohe
Ideale" - von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen. "Die Einheit und
Geschlossenheit der freiwirtschaftlichen Bewegung ist ein hohes Opfer
wert." (41)
Die
Aktionsgruppe habe es an nüchternem Realismus fehlen lassen. Das Raubsystem des
Zinskapitalismus müsse f r o n t a l angegriffen und überwunden werden durch
das Wohlstandssystem einer vom Zinszwange befreiten Wirtschaft. "Die Aktionsgruppe
Bauschulte ist in diesem notwendigem Ringen unentbehrlich, Mann für Mann. Den
Mahnern und Warnern in dieser Auseinandersetzung aber sei Dank gesagt! Sie
haben eine wichtige Funktion - erfolgreich - ausgeübt." Gleichzeitig mußte
Dr. Zinner bekanntgeben, für das Projekt einer zinslosen Spar- und Kreditbank
seien "in den letzten Wochen zahlreiche Zustimmungserklärungen und kleine
Geldspenden eingegangen ".
Angesichts
der schwachen NWO-Kräfte mußte man sich fragen, ob es wirklich erfolgversprechender
war, das "Raubsystem des Kapitalismus" frontal anzugreifen oder im
Stillen einen neuen Anfang zu setzen. Auch in der sozialistischen,
kommunistischen und anarchistischen Bewegung hatte diese Frage viele Gemüter
erregt. Die Kommunisten waren der Ansicht, es sei unmöglich, eine rote Insel im
kapitalistischen Meer zu errichten und zu behaupten, vielmehr müsse erst die
Staatsmacht erobert und sodann die neue Ordnung von dieser Zentrale aus
durchgedrückt werden. Demgegenüber empfahl der Anarchist Gustav Landauer ein
sofortiges Beginnen von unten her. Die Arbeiter sollten ihr Geld zusammenlegen
und sozialistische Siedlungen gründen, innerhalb deren Freigeld vielleicht das
beste Zirkulationsmittel wäre.
1 Dr. Ernst
Winkler, Grundbuch Geschichte des FWB bis September 1947, II/8-9
2
Darmstädter Echo 7.4.1949
3 Ziel und
Weg (Programm des FWB), S. 9
4 Die
Warenmark als Brücke zur Währungsordnung, Denkschrift vom 21.1.1947
5 Dr. E.
Winkler, Freiheit?, S. 75
6 W. Röpke,
Das Kulturideal des Liberalismus, S. 20
7
Frankfurter Allgemeine 272/1953
8 P. Diehl,
Macht oder Geist?, 1970, S. 12
9 H.-J.
Führer, Freiwirtschaft und Utopismus, außer im Anhang eines Rundbriefs von A.
Rapp bisher unveröffentlicht
10 Dr. W.
Winkler, Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung, S. 168
11 Dr.
Winkler am 3.8.1987 an den Autor
12 Dr.
Winkler, Autobiographische Notizen, S. 6
13
Telos-Dokumentation Nr. 8
14 Der Neue
Bund, Programm und Satzung
15 Hannelore
Kleine - Acht Jahre in sowjetzonalen Zuchthäusern, Hamburg o. J., S. 7-9
16
Telos-Dokumentation Nr. 8, S. 13
17 Dr.
Winkler, Grundbuch III/7
18 Die
Gefährten, August 1946
19 Richard
Batz, Der Weg in die Freiheit, S. 6
20 Die Welt
vom 13.8.1949
21
RSF-Rundbrief 11/1949: Um die Linie unserer Partei
22 ebenda
23
RSF-Rundbrief 6/1947
24
IFU-Mitteilungen 2
25 Der freie
Mensch 38/1950
26 J.
Schumann am 13.3.1984 an den Autor
27 Bertha
Heimberg am 28.3.1948 an den Wissenschaftlichen Beirat der RSF
28 B.
Heimbergs Vorwort zur 2. Denkschrift Gesells für die Gewerkschaften, S. 6 29
Hein Beba am 15.8.1950 an Arthur Rapp
30 Hans Kühn
am 28.11.1991 an den Autor
31
Niedersächsischer FSU-Rundbrief 12/51
32
Freisoziale Presse 42/52
33 ebenda
34 W.
Radecke im Febr. 1954 auf dem IV. IFU-Kongreß in Interlaken (1954) Protokoll S.
14
35
IFU-Mitteilungen 17, S. 15
36
Flugblatt: Was will die Freisoziale Union?
37 Tristan
Abromeit, Dokumentation A 4
38 Anträge
zum Bundesparteitag 1967, vorgelegt vom Parteivorstand
39 Eduard
Burri, Der Zins vom Standpunkt der christlichen Ethik, der Moral und der
Volkswirtschaft (mit Fritz Schwarz), Bern 1935, S. 7
40 Alex
Elfes, Demokratisierung der Wirtschaft, in: Glaube und Tat Nr. 5/1969, S. 7
41 Dr. Hans
Zinner, Rundbrief vom 8.1.1956
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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von
W. Roehrig