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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
III. Wie die
NWO-Bewegung entstand und wie Gesell sich verhielt
Es ist schon
erwähnt worden, daß Georg Blumenthal die Physiokratische Vereinigung und Paulus
Klüpfel den Freiland-Freigeld-Bund gründeten. Doch diese Organisationen wären
schnell gestrandet oder aufs weite Meer der deutschen Revolution
hinausgetrieben - deren erste Wellen schon 1916 anliefen -, hätte sich um sie
und andere Stützpunkte keine Bewegung gebildet.
Silvio
Gesell streute Samenkörner aus. Er hoffte, der Krieg und die sich zupitzenden
sozialen Verhältnisse würden sie zum Keimen bringen. Zu diesem Zweck hielt er
öffentliche Vorträge, wo immer ihm das möglich war, ohne nach der Zuhörerzahl
zu fragen. So 1911 bei Gelegenheit eines Kongresses für Volksernährung in
Berlin.
Nur 12 - 15
Kongreßteilnehmer fanden sich in einem Nebenraum ein, um Gesell zu hören, der
ihnen völlig unbekannt war. Gustav Simons hatte seinen Vortrag unter dem Titel
"Etwas Neues vom Gelde" angekündigt. Wie einer der Teilnehmer
berichtete, war er zunächst sehr trocken. "Zahlen, Geld; Geld, Zahlen.
"Gesell legte Statistiken vor und erläuterte sie. Aber "eine neue
Welt von Gedanken strömte uns entgegen." Dieser Mann wollte doch
tatsächlich das ganze Geldwesen umstülpen. "Den Zins wollte er
vernichten!" Unglaublich. Dergleichen hatte man noch nie gehört, und so
verwegen war noch keiner gewesen. Wenn nur nicht seine Materie so trocken wäre.
Als Gesell
aufhörte, herrschte für einen Augenblick Totenstille im Raum. Das Gesicht eines
dunklen Herrn, der abgesondert gesessen und sich laufend Notizen gemacht hatte,
war totenblaß. Der Busen eines Mädchens hingegen wogte stürmisch: "Sie
ging mit, sie verstand . . ."
Gustav
Simons, der den Vorsitz führte, lud zu Meinungsäußerungen ein. Da sprang ein
begeisterter junger Mann auf: "Um unsere verrotteten Geldverhältnisse zu
bessern, schlage ich vor, daß wir alle Silvio Gesell zu unserem Finanzminister
wählen!" (1)
Fast alle
lachten, nur der junge Mann und Gustav Simons nicht (welcher den Enthusiasten
starr und prüfend ansah). Sie fühlten, daß ein entscheidendes Wort gefallen
war. Silvio Gesell lächelte. Aus dem kleinen Zuhörerkreis hatte er immerhin
zwei junge Menschen gewonnen.
Gustav
Simons trat in zwei Zeitschriften für die neue Lehre ein. Sie werde aus der jetzt
gemeinschädlichen Volkswirtschaft eine gemeinnützige machen. Simons gewann Dr.
Ernst Hunkel, der sogleich Feuer fing. Er war Kanzler des Deutschen Ordens und
gründete die Freilandsiedlung Donnershag bei Sontra in Hessen, von wo er durch
Wort und Tat die Gesellsche Idee in völkische Kreise hineintrug. Ihr Funke
sprang rechts wie links von Person zu Person, immer weitere Kreise ziehend.
Links vor allem durch Georg Blumenthal, der in nächtelangen Debatten eine ganze
Reihe von Anarchisten und Syndikalisten überzeugen konnte.
Doch Gesell
wußte, daß auch die beste Theorie wenig nützt, wenn keine soziale Macht hinter
ihr steht. Diese lag im Unterschied zur politischen bei den Arbeitern und
Soldaten. Auch die meisten Arbeiter standen nun im Feld, an den verschiedensten
Fronten des Ersten Weltkrieges. Wie konnte man an sie herankommen?
Gesell
entschloß sich, eine Reihe von Kriegsflugblättern herauszugeben und an die
Frontsoldaten zu richten. 1915, als er gemeinsam mit Paulus Klüpfel das erste
verfaßte, bedurfte es noch eines patriotischen Tons, um sie auch innerlich zu
erreichen. Noch glaubten die meisten, für das Land ihrer Väter und Kinder zu
kämpfen. Bei diesem Glauben knüpften Gesell und Klüpfel an. Sie proklamierten
das allgemeine Menschenrecht auf den Erdboden: es sei am ewigen Gottesthron
befestigt. Aber unser Volk ist nicht frei aufgewachsen "Wir sind von
Kindestagen an . . . unter Grundherren und Fronknechten groß geworden. Die
Arbeit gliedert und eint das Volk, der Besitz zerreißt es. "Ein verknechtetes
Volk und ein geknechteter Boden könnten nur durch Freiland erlöste werden:
"Macht
ist gut und der Allmacht Erbe. Nur Übermacht ist vom Teufel - Übermacht und
Ohnmacht. Mächtig soll jeder Mensch sein. Wenn einmal die Macht in aller Hände
ist, liegt die Übermacht in der Ecke. Sie war ja nur stark von vieler anderer
Schwäche. Wir müssen also die äußeren Machtmittel an alle verteilen und die
Übermachtmittel zerbrechen. Die äußeren Übermachtmittel aber sind der
Kapitalzins und der Privatgrundbesitz." (2)
Nur dem
Freien sei wohl, nur der Freie sei gut. Das Pfingstflugblatt des Jahres 1915
war in einer leidenschaftlichen Sprache und aus einer Sprachgewalt verfaßt, die
von prophetischer Kraft zeugte. "Jedem der Ertrag seiner Arbeit."
Im Mai 1915
traten Gesell und Klüpfel in Eden dem Deutschen Verein Freiland bei, der dort
seit 1911 seinen Sitz hatte. Sein Ziel war der Erwerb und die Freimachung von
Land, das nicht seinen Mitgliedern gehören, sondern Eigentum des deutschen
Volkes werden sollte. Von den Mitgliedsbeiträgen flossen nur zwanzig Prozent in
einen Werbefonds, achzig Prozent in einen Freilandfonds. Die lebenslängliche
Mitgliedschaft konnte durch einmalige Zahlung von 100 RM oder durch
kostenlose Übergabe eines lastenfreien
Stück Lands an den Verein erworben werden. So legte es § 6 der Vereinssatzung
fest, nicht ohne Erfolg.
Als das
erste Flugblatt hinausging, konnten die als Brüder angesprochenen Soldaten
lesen, ihnen sei der Kaufbrief des ersten Stück Freilands gutgeschrieben.
"Mit der Freilandhoffnung im Herzen sind wir unbesiegbar geworden."
Andernfalls werde Deutschland den Krieg verlieren.
"Du
gingst im guten Glauben zur Schlacht - wir haben den Glauben dir wahrgemacht.
Seinen Erlöser erlöst sein Land. Frei-Land!"
Der Deutsche
Verein Freiland e. V. wurde eine ständige Einrichtung. Am 12. Februar 1919
forderte er von der Weimarer Nationalversammlung, in der neuen Verfassung
"die Überführung des gesamten deutschen Bodens in das Gemeineigentum des
deutschen Volkes grundsätzlich festzulegen." Allein durch freien, jeder
Spekulation entzogenen und in Erbpacht gelegten Volksboden würde eine feste
Grundlage für den Wiederaufbau der zertrümmerten Wirtschaft geschaffen. Die
Eingabe war unterzeichnet von Otto Jackisch, Karl Bartes und Dr. Richard Bloeck,
den nunmehrigen drei Vorstandsmitgliedern des Deutschen Freilandvereins. -
Silvio
Gesell hatte inzwischen auch in der Schweiz eine Reihe von Persönlichkeiten
gewonnen. So Dr. Theophil Christen, einen bekannten Arzt, als er 1915 in Bern
auf einer Tagung des Vereins für Steuer- und Bodenreform das Wort ergriff.
Christen betrachtete die soziale Frage als einen Teil der sexuellen. (3) Er
schien der rechte Mann zu sein, um Gesells Theorie mit "wissenschaftlichen
Schnörkeln" zu versehen. Tatsächlich verfaßte er bald ein Flugblatt über
die Kaufkraft des Geldes, worin die Gesellsche Lehre erstmals in
wissenschaftliche und mathematische Formeln umgesetzt war.
Auch Ernst
Schneider, Direktor des Berner Oberseminars, und Fritz Trefzer, Vizedirektor
des Schweizer Versicherungsamtes, zwei weitere führende Mitglieder des Vereins
für Steuer- und Bodenreform, konnte Gesell überzeugen. Obwohl eher ein
schlechter als ein guter Redner, verfügte er über eine ungewöhnliche
Beredsamkeit, die selbst Intellektuelle packte und fesselte.
Gesell war
ein gewaltiger Mensch. Seiner Persönlichkeit entströmte eine starke
Ausstrahlung. Er war imstande, auch hochgeistige und im Geschäftsleben
erfolgreiche Menschen zu bezaubern. Friedrich Salzmann lernte ihn im Hause
seiner Eltern kennen, wobei er etwas Eigentümliches erlebte:
"Männer,
die mir an Wissen und Können weit überlegen waren, trugen ihre Meinung über die
verschiedensten Fragen vor Gesell, als sei er ihnen von Natur aus als
Schiedsrichter bestellt. Und ich hörte zu, wie er in knappen und langsam
gesprochenen Sätzen die Dinge immer dorthin stellte, wo sie augenscheinlich
hingehörten. Die gleichen Männer, von denen ich so viel gelernt habe, wurden
hier zu den bescheidensten Schülern, die ich je gesehen." (4)
Eine zeremonielle
Umgangsweise war Gesell völlig fremd. Selbst ein urwüchsiger Mensch, ging er
ohne Umschweife auf solche Persönlichkeiten zu, die ihm wertvoll und wichtig
erschienen, beispielsweise auch auf Fritz Schwarz (5), den er bei einem
Spaziergang anregte, sich mit der Rolle des Geldes in der Geschichte zu
befassen. Gesell brachte amerikanische Weite und die argentinische Pampa mit.
Den engen europäischen Maßstäben war er in Lateinamerika entwachsen. Das wirkte
sich in seiner Rede und Verhaltensweise aus, die gleichsam ein besonderes Aroma
enthielten und kleinliche Bedenken von vornherein beschwichtigten.
Gesell hielt
seine Idee für einen "Kraftwirbel", der immer mehr Menschen erfassen
und schließlich durch "grundstürzende" Reformen Geschichte machen
würde. In Deutschland fand er den größten Widerhall. Aus Stettin stieß Hans
Timm, aus Erfurt Otto Maaß, aus Hamburg Friedrich Bartels, aus Greifswald Karl
Polenske, aus Siebenbürgen Paul Klemm zu ihm. Dieser Stirnerianer entzündete
seinerseits Rolf Engert und berichtete ihm von seiner Zwangsvorstellung, das
Einschlafen der neuen Physiokratie wäre "gleichbedeutend mit dem Untergang
der Erde". (6) Auf Einladung Klemms machte Silvio Gesell in Begleitung von
Hans Timm, den er anscheinend für einen seiner befähigsten Schüler hielt, eine
Reise nach Siebenbürgen, wo er in mehreren Veranstaltungen sprach; zu den
Gewerkschaften konnte er allerdings auch dort keinen Zugang finden.
Aus der
Namenlosigkeit tauchte ein blasser junger Mann auf, Martin Hoffmann, der
Theologie studiert hatte und wie der Grieche Diogenes in freiwilliger Armut
lebte, nachdem er das Elend des Proletariats kennengelernt. Am 24. September
1920 schrieb er an Georg Blumenthal, zu einem ständigen Abonnement des
"Physiokrat" sei er aus finanziellen Gründen noch nicht imstande.
Bereits im nächsten Jahr erklärte er sich bereit, "grundsätzliche Angriffe
auf unsere Bewegung in ‚bürgerlichen' Zeitungen gut zu widerlegen".(7) Ihm
ging es hierbei um eine klare Unterscheidung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.
Alsbald
bildeten sich noch andere Organisationen als die erstgenannten. Die junge
Bewegung schien sich schon in ihrer Entstehungsphase zu zersplittern. Das
befürchtete auch Dr. Christen, der schon im August 1918 Verbindung mit
Blumenthal aufnahm. Er wollte die national Denkenden und die Internationalisten
einander näher bringen, soweit sich beide an Gesell orientierten. Sehr
bedauerte Christen den frühen Tod von Paulus Klüpfel: "Wir haben
niemanden, der so wie er philosophisch denkt und die Gesellsche Lehre in ein
Weltbild einbauen könnte." (8) In der Tat war Paulus Klüpfel der einzige
philosophische Kopf unter den frühen Gesellianern; er sollte auch von den
späteren nicht mehr übertroffen werden. Christen erkannte im Vergleich dazu die
eigenen Grenzen als Wissenschaftler. Aber er tat sehr viel für die
NWO-Bewegung. Aus seinem verschollenen und erst im August 1990 wiedergefundenen
Briefwechsel mit Georg Blumenthal geht hervor, daß er Ende 1918 und 1919
Rundbriefe in Umlauf setzte, die alle Empfänger mit einem Beitrag versehen und
dann weitergeben sollten. Auf diese Weise wollte er ein schöpferisches Band
zwischen den regsten Gesellianern knüpfen. Er rügte Blumenthal, weil dieser
seinen ersten Beitrag noch einmal rundgehen ließ. Wenn er keine freie Meinung
dulde und von seinem Standpunkt nicht abgehen wolle, verleide er auch den
anderen Empfängern die Sache. Er könne doch in seinem Verlag den
internationalen Gedanken vertreten, dem Mimir-Verlag aber den nationalen und
völkischen überlassen. "Die völkischen Kreise sind groß, und auch in ihnen
müssen wir werben." (9) Die Gesellianer sollten es wie der Apostel Paulus
halten, der den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche war. Von
Abschwächungen des Programme sei bei keinem Rundbriefteilnehmer die Rede gewesen,
"ausgenommen vielleicht bei Herrn Schöll, der aber bereits
bekehrt ist." (10)
Christen
bemerkte, daß sich mehrere Gruppen bildeten, die mit verschiedenen Methoden
dasselbe Ziel ansteuerten. Für seine Person wollte er in Berlin sowohl der
Physiokratischen Vereinigung ale auch dem Freiland-Freigeld-Bund beitreten,
"um jede Arbeitsmöglichkeit auszunutzen." In München lägen die Dinge
so, daß es einstweilen besser mit einem Bund für Freiwirtschaft gehe.
"Wenn Sie aber eines Tages hierher kommen und eine physiokratische
Ortsgruppe gründen, so werde ich mich auch dieser anschließen." (11)
Den Münchner
Bund für Freiwirtschaft, den Dr. Christen anscheinend selbst gegründet hatte,
wollte er im Dezember 1918 auf ganz Deutschland ausdehnen. Das System der Rundbriefe
hatte sich nicht bewährt; nun sei die Zeit der öffentlichen Werbung und des
organisatorischen Zusammenrückens gekommen. In einem Aufruf vom 29. Dezember
1918 schlug Dr. Christen vor, den Bund für Freiwirtschaft als einen Sammelpunkt
der verschiedenen Gruppen überall zu gründen. Jeder Angesprochene sollte sich
ihm mit einer Ortsgruppe anschließen. In einem beigelegten Werbeblatt hieß es:
"Der Bund für Freiwirtschaft wirbt Anhänger im ganzen Reich. Seine Ziele
sind für alle redlichen Arbeitenden, Arbeiter wie Unternehmer, Festbesoldete
wie Selbständige, Gelehrte wie Handwerker, Bauern wie Städter, Frauen und
Männer von lebenswichtigem Interesse. Wir bitten alle, die sich von der
Wahrheit unserer Gedanken überzeugt haben, Ortsgruppen zu bilden oder sich
bestehenden Gruppen anzuschließen. Bisher bestehen solche in Berlin (Fr.
Holze-Bitter, Berlin-Steglitz), Eisleben (Direktor Weißleder), Elberfeld (Herr
F. Schulze), Erfurt (Herr O. Maaß), Leipzig (Herr W. Beckmann), München (Herr
Dr. Th. Christen), Regensburg (Herr Dr. Engert), Stuttgart (Herr F. Schöll),
Ulm (Herr Dr. Pfleiderer). Im gleichen Sinne arbeitet eine physiokratische
Vereinigung".
Dies war der
erste Versuch, eine Art Einheitsorganisation zustande zu bringen. In sich
sollte sie mannigfaltig gegliedert sein und die verschiedensten Methoden
gewähren lassen. Der Versuch blieb erfolglos. Die zehn Gruppen reduzierten sich
jedoch durch regionale Zusammenschlüsse auf vier.
Schon aus
diesem kurzen Abriß geht hervor, daß die neue Bewegung alles andere als eine
einstimmige war. Aus dem Mittelpunkt der Gesellschen Idee strebte sie gleichsam
in alle Himmelsrichtungen auseinander. Es gab eine
internationalistisch-physiokratische Variante, eine national-völkische
Spielart, eine freisozialistische, lebensreformerische und akratische Tendenz
sowie eine ausgesprochen stirnerianische Richtung. Würden sie sich früher oder
später doch unter einen Hut bringen lassen? - Wie in anderen Fällen gab es in
der NWO-Bewegung Organisationsmenschen und Bewegungsmenschen. Die einen
strebten nach Kristallisationen der Idee, andere zogen das Meer der Bewegung
vor. Obwohl sie vielleicht auch diesem oder jenem Bund angehörten, waren sie
gleichsam das flüssige Element. Die Organisationen erstarren so schnell wie
Lava und werden dann leicht zum Selbstzweck. Ohne den Gegenpol der Bewegung
neigen sie auch zum Dogmatismus und zur bloßen Verwaltung des geistigen Erbes,
das unter Umständen alle für sich allein beanspruchen möchten; Jedoch wird sich
jede Bewegung im Sande verlaufen, die aus ihrer Mitte keine Organisationen
hervorbringt.
Einer der
Bewegungsmenschen, auf dessen Namen ich in Tausenden von Seiten nur ein
einziges Mal gestoßen bin, war Peter Spürkel. Seit seinem 15. Lebensjahr
kämpfte er für die soziale Befreiung des Menschen, insbesondere der
Arbeiterschaft zunächst in den Reihen der SPD, dann im Freiwirtschaftsbund. Er
war Straßenbahnschaffner und sprang in seiner Trambahnuniform für einen
verhinderten Referenten ein. Das war im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen. In die betreffende
Versammlung kam auch eine Wandervogelgruppe mit Hein Beba, dem es, als er Peter
Spürkel hörte, wie Schuppen von den Augen fiel. Als Mann des Volkes drückte er
sich einfach und verständlich aus. Spürkel machte mit seinen schneeweißen
Haaren und in seiner Beweiskraft einen so gewaltigen Eindruck auf den jungen
Beba, daß er sich entschloß, dem Freiwirtschaftsbund beizutreten und einen
freiwirtschaftlichen Jugendverband zu gründen. Nach der Novemberrevolution war
Spürkel, vom Vertrauen seiner Kollegen getragen, zum Vorsitzenden des
Betriebsrates der Gelsenkirchener Verkehrswerke gewählt worden. Gesell hatte
ihm den Horizont und die Aussicht auf eine neue Welt eröffnet. Er wollte diese
Welt noch erleben und tat alles, was in seinen Kräften stand, um sie herbeizuführen.
Für den Fall, daß er vorher dahingehen müßte, wollte er in dem Bewußtsein
sterben, "bis zum letzten Augenblick meines Lebens im Kampf für die Welt
Gesells meine Pflicht getan zu haben."
Für Hein
Beba war die Gelsenkirchener Versammlung mit Peter Spürkel "zu einer
Kirche geworden". (12) Er übernahm dessen Vermächtnis und trug es weiter
wie eine Fackel, die auch anderen den Weg zur sozialen Befreiung beleuchten
sollte.
Ein anderer
Bewegungsmensch ist Adolf Simat gewesen. Wie Peter Spürkel hat er keine
literarische Spur hinterlassen, da er weder Artikel noch Broschüren oder gar
Bücher schrieb. Als Rebell und Feuerkopf bekannt, der seine ganze
Persönlichkeit für die Sache der Enterbten und Ausgebeuteten in die Waagschale
warf, gehörte er zu den glühendsten Aktivisten im Ruhrgebiet. Simat hatte schon
als Schuljunge auf der Straße Flugblätter verteilt und war deshalb gemaßregelt
worden. Er wuchs im Elend einer Bergarbeiterfamilie auf und mußte nach der
Schulentlassung bald mit ins Revier. Als Bergmann gewann er das Vertrauen
vieler Kumpels, zog sich jedoch beim Kohlenhauen unter Tage eine Staublunge zu.
Das einzige Mittel, aus der Armut und Ausbeutung herauszukommen, schien ihm die
Empörung zu sein. Fest in der Arbeiterbewegung verwurzelt, sah Simat in den
FFF-Leuten zunächst Spalter und Zersplitterer, auch blasse Utopisten. 1920 war
er Kommunist und schwor noch auf Marx. Sein Kumpel John Muregger klärte ihn in
den Frühstücks- und Vesperpausen auf, wenn sie nebeneinander auf einer Kiste
saßen. Worauf Simat ebenfalls für Freiland und Freigeld zu kämpfen begann, mit
einer Leidenschaft ohnegleichen, die viele Menschen bewegte und sich im ganzen
Ruhrgebiet herumsprach. Im Frühjahr 1923 traten hauptsächlich auf seine
Initiative die Essener Bergarbeiter von sechs Zechen in den Streik. Sie zogen
in einem wohlgeordneten Demonstrationszug, an dem sich über 20000 Kumpel
beteiligten, durch die Straßen, voran drei große Schilder tragend:
"Nieder
mit Havenstein! Freigeld her!
Silvio
Gesell an die Macht!
Wir
verlangen 75 % Sachwertsteuer zur Tilgung der Reparationsschulden!"
Silvio
Gesell befand sich damals selber im Ruhrgebiet, um die Möglichkeit einer
praktischen Freigeldaktion zu erkunden. Auf mehreren Bergarbeiterversammlungen
und öffentlichen Kundgebungen wurde er zum Währungsdiktator ausgerufen, jeweils
umjubelt von Tausenden.
"Nie
hat unsere Bewegung Ähnliches erlebt als in den Frühjahrstagen von 1923. Adolf
Simat war einer der ältesten und erfolgreichsten Vorkämpfer unserer Bewegung im
Ruhrgebiet", (13) heißt es in einem Nachruf. Damals sei die Sache der
Physiokratie zu einer Massenbewegung geworden. Wenn die Freiwirtschaftslehre
keinem Ruhrproletarier mehr unbekannt war, so sei das in erster Linie Adolf
Simat zu verdanken gewesen, der unermüdlich von einem Revier zum anderen ging
und überall Mitkämpfer warb. Nach dem Essener Streik hatte ihn die
Bergwerksleitung entlassen und auf die Schwarze Liste gesetzt. Nun war er den
ganzen Tag für die Gesellsche Sache unterwegs, doch seine Familie litt große
Not und die Krankheit verschlimmerte sich zusehens. Adolf Simat hauchte sein
Leben bereits im 34. Lebensjahr aus. Er war einer der Grundfesten des
Kampfbundes FFF an Rhein und Ruhr, den er anscheinend Ende 1922 mitgegründet
hatte, empörte sich aber auch gegen überhebliche Funktionäre und
Phrasendrescher in der eigenen Organisation. "Gegen Heuchelei und unechtes
Getue in unserer Bewegung und gegen die Bonzen ist er oft genug
aufgestanden." (14) Der FKB betrachtete ihn als eine Art Märtyrer. Da er eine
Frau und Kinder hinterließ, wurde in seiner Zeitung zu einer Adolf-Simat-Spende
aufgerufen.
Silvio
Gesell selber gehörte eher zu den Bewegungs- als zu den Organisationsmenschen.
Er stand allen freiwirtschaftlichen und physiokratischen Organisationen - außer
dem national-völkischen Bund für krisenlose Volkswirtschaft - wohlwollend
gegenüber. Freilich auch ein wenig distanziert und wie von einer
Zuschauertribüne aus.
Lange
bevorzugte er keine. Nur gelegentlich besuchte Gesell einen Bundestag oder eine
Vertreterversammlung. In solchen Fällen setzte er sich nicht etwa an den
Vorstandstisch, sondern tauchte bei den Delegierten oder einfachen Mitgliedern
unter, als wolle er von seiner Person möglichst wenig Aufhebens machen. Wer die
Protokolle liest, wird ihn auf den meisten Seiten vergebens suchen. Bis er auf
einmal etwas gefragt wird und für kurze Zeit in Erscheinung tritt.
Diese
Zurückhaltung gab Gesell erst 1924 auf, nachdem er den Eindruck gewonnen hatte,
der Freiwirtschaftsbund sei größtenteils verbürgerlicht und steuere einen
falschen Kurs. Damals trat er fast demonstrativ dem Physiokratischen Kampfbund
bei, für den er sich einen festen Arbeiterstamm wünschte, einen proletarischen
Kern. Kämpfer wie Peter Spürkel und Adolf Simat standen ihm am nähesten. Er
meinte: "Physiokraten werden geboren." Sie könnten durch keine
Organisation erzogen werden. Schließlich zog sich Gesell aus dem
Physiokratischen Kampfbund heraus und stand nur noch als Berater zur Verfügung.
Doch der Bewegung hat er den größten Teil seines Vermögens geopfert,
insbesondere für ihre Zeitungen und Zeitschriften.
Eine sehr
wichtige, wenn nicht die wichtigste Keimzelle der NWO-Bewegung bildete sich
zwischen 1915-19 in der Gartenbaukolonie Eden bei Oranienburg. Hier lebten
zeitweilig Gesell, Landmann, Klüpfel, Simons, Polenske, Bartels, Bloeck und
Jackisch nahe beieinander. Eine solche Konzentration von NWO-Avantgardisten war
sonst nirgends gegeben. In Eden wurde das erste Kriegsflugblatt geschrieben und
der Deutsche Verein Freiland hatte hier seinen Sitz. Landmann stellte auch
schon ein Archiv der NWO-Bewegung zusammen. Theorie und Praxis fanden eine
gemeinsame Betätigungsstätte.
Mit ihrer
Genossenschaftssiedlung und reformpädagogischen Schule, mit ihrem Prinzip der
Gerechtigkeit "und des gegenseitig bestätigten Wohlwollens sowie der Milde
gegenüber dem Tier" (15), mit dem Reformbrot und den Vollwertwaren, mit
ihrem Gemeinschaftshaus und der gemeinnützigen Siedlungsbank hatte die
Gartenbaukolonie Eden beinahe den Charakter der Urgemeinde einer neuen Welt.
Diese schien nicht aus politischen Theorien, sondern aus Lebensreform- und
Gartenstadtbewegung hervorzuwachsen. J. Sponheimer, Anreger der
Obstbaugenossenschaft Heimgarten (Schweiz), wollte die verheerende Macht der
Stadtkultur brechen durch die Gründung ländlicher Siedlungen, "bei denen
der Boden nicht von einzelnen monopolisiert wird". Die soziale Frage sei
nur vom Lande her lösbar. Ähnlich dachten Gustav Landauer und Martin Buber, die
wiederholt in Oranienburg zu sehen waren. Die mit der Obstbaukolonie liierte
Neue Gemeinschaft der Brüder Hart, in der sie Vorträge hielten, sollte der
Orden vom wahren Leben sein. Für Landmann war Eden eine "Stätte der
Lebenserneuerung". (16)
Bartes,
Bloeck und Jackisch, die 1918/19 dem Deutschen Verein Freiland vorstanden,
gaben 1920 ein Buch über die ersten 25 Jahre der Obstbaukolonie heraus. Bis zu
einem gewissen Grade entstand die NWO-Bewegung im Schoße der Lebensreform,
welcher sich ein auffallend großer Teil ihrer führenden Köpfe verpflichtet
wußte. Voran Gesell selbst, der ausgerechnet im Steakland Argentinien zum
Vegetarier geworden war. Karl Bartes veröffentlichte ein Gedicht, dessen erste
Zeile 1983 zu einem Buchtitel werden sollte:
"Zurück,
o Mensch, zur Mutter Erde
empfange sie
mit Herz und Hand
damit sie
deine Heimat werde,
dein
Zufluchtsort, dein Vaterland." (17)
Nicht mehr
der Staat, sondern die Erde als Vaterland und zugleich als Mutter! Sie soll
unsere Heimat werden. So brach der planetarische Gedanke wie ein neuer Trieb am
Lebensbaum hervor.
Wie
weitgehend sich die NWO-Bewegung auch lange Zeit als eine rein wirtschaftliche
verstehen mochte, sie war eingebettet in eine kultur- und geistesrevolutionäre,
weit umfassendere Bewegung, die selbst über den sozialen Komplex hinausging.
Wahrscheinlich sind Gesells Vorstellungen vom künftigen Freilandreich und
abgebauten Staat, die er 1927 veröffentlichte, von der Gartenbaukolonie Eden
mitgeprägt worden. Es ist jedenfalls deutlich zu spüren, daß diesen
Vorstellungen nicht nur theoretische Erwägungen zugrundelagen.
1
Pfingstflugblatt 1915 "Deutsches Freiland"
2
Zeitschrift "Eine halbe Stunde Volkswirtschaft" vom 24.6.1933 und
Silvio Gesell, Gesammelte Werke, Band 8, Lütjenburg 1990
3 Theophil
Christen, Die menschliche Fortpflanzung, ihre Gesundung und ihre Veredelung,
Bern o.J.
4 Friedrich
Salzmann, An die Überlebenden, Heidelberg 1948, S. 6
5 Werner
Schmid, Silvio Gesell, Bern 1953, S. 125-26;
(Schmids wertvolle Biographie macht jedoch falsche Angaben über die
Gründung der Organisationen).
6 Rolf
Engert, Silvio Gesell in München 1919, Hann.-Münden, (jetzt Lütjenburg) 1986,
S. 18
7 Brief von
Martin Hoffmann-Diogenes vom 24.5.1921 an Georg Blumenthal
8 Dr.
Christen am 11.8.1918 an G. Blumenthal
9 Dr.
Christen am 27.8.1918 an G. Blumenthal
10 Dr. Christen
am 1.6.1919 an G. Blumenthal
11 ebenda
12 Vortrag
Hein Bebas "Die Welt Silvio Gesells wird Wirklichkeit" vom 17.4.1977
in Bern vor dem LSP-Parteitag
13 Letzte
Politik Nr. 3/33
14 Letzte
Politik Nr. 2/33
15 Edener
Gemeindeordnung
16 Näheres
in der Studie von Werner Onken "Die Genossenschaftssiedlung Eden bei
Oranienburg", in: Der Gesundheitsberater Nr. 9/1990, S. 6 ff
17 Ulrich
Linse, Zurück, oh Mensch, zur Mutter Erde, München 1983; der Autor hat die
Obstbaukolonie und Neue Gemeinschaft im Zusammenhang als "Aufbruch ins
neue Jahrhundert" dargestellt.
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Günter
Bartsch: Die NWO-Bewegung
ISBN
3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994
Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von
W. Roehrig