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Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung

ISBN 3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994

 

 

 

 

 

 

III. Wie die NWO-Bewegung entstand und wie Gesell sich verhielt

 

Es ist schon erwähnt worden, daß Georg Blumenthal die Physiokratische Vereinigung und Paulus Klüpfel den Freiland-Freigeld-Bund gründeten. Doch diese Organisationen wären schnell gestrandet oder aufs weite Meer der deutschen Revolution hinausgetrieben - deren erste Wellen schon 1916 anliefen -, hätte sich um sie und andere Stützpunkte keine Bewegung gebildet.

 

Silvio Gesell streute Samenkörner aus. Er hoffte, der Krieg und die sich zupitzenden sozialen Verhältnisse würden sie zum Keimen bringen. Zu diesem Zweck hielt er öffentliche Vorträge, wo immer ihm das möglich war, ohne nach der Zuhörerzahl zu fragen. So 1911 bei Gelegenheit eines Kongresses für Volksernährung in Berlin.

 

Nur 12 - 15 Kongreßteilnehmer fanden sich in einem Nebenraum ein, um Gesell zu hören, der ihnen völlig unbekannt war. Gustav Simons hatte seinen Vortrag unter dem Titel "Etwas Neues vom Gelde" angekündigt. Wie einer der Teilnehmer berichtete, war er zunächst sehr trocken. "Zahlen, Geld; Geld, Zahlen. "Gesell legte Statistiken vor und erläuterte sie. Aber "eine neue Welt von Gedanken strömte uns entgegen." Dieser Mann wollte doch tatsächlich das ganze Geldwesen umstülpen. "Den Zins wollte er vernichten!" Unglaublich. Dergleichen hatte man noch nie gehört, und so verwegen war noch keiner gewesen. Wenn nur nicht seine Materie so trocken wäre.

 

Als Gesell aufhörte, herrschte für einen Augenblick Totenstille im Raum. Das Gesicht eines dunklen Herrn, der abgesondert gesessen und sich laufend Notizen gemacht hatte, war totenblaß. Der Busen eines Mädchens hingegen wogte stürmisch: "Sie ging mit, sie verstand . . ."

 

Gustav Simons, der den Vorsitz führte, lud zu Meinungsäußerungen ein. Da sprang ein begeisterter junger Mann auf: "Um unsere verrotteten Geldverhältnisse zu bessern, schlage ich vor, daß wir alle Silvio Gesell zu unserem Finanzminister wählen!" (1)

 

Fast alle lachten, nur der junge Mann und Gustav Simons nicht (welcher den Enthusiasten starr und prüfend ansah). Sie fühlten, daß ein entscheidendes Wort gefallen war. Silvio Gesell lächelte. Aus dem kleinen Zuhörerkreis hatte er immerhin zwei junge Menschen gewonnen.

 

Gustav Simons trat in zwei Zeitschriften für die neue Lehre ein. Sie werde aus der jetzt gemeinschädlichen Volkswirtschaft eine gemeinnützige machen. Simons gewann Dr. Ernst Hunkel, der sogleich Feuer fing. Er war Kanzler des Deutschen Ordens und gründete die Freilandsiedlung Donnershag bei Sontra in Hessen, von wo er durch Wort und Tat die Gesellsche Idee in völkische Kreise hineintrug. Ihr Funke sprang rechts wie links von Person zu Person, immer weitere Kreise ziehend. Links vor allem durch Georg Blumenthal, der in nächtelangen Debatten eine ganze Reihe von Anarchisten und Syndikalisten überzeugen konnte.

 

Doch Gesell wußte, daß auch die beste Theorie wenig nützt, wenn keine soziale Macht hinter ihr steht. Diese lag im Unterschied zur politischen bei den Arbeitern und Soldaten. Auch die meisten Arbeiter standen nun im Feld, an den verschiedensten Fronten des Ersten Weltkrieges. Wie konnte man an sie herankommen?

 

Gesell entschloß sich, eine Reihe von Kriegsflugblättern herauszugeben und an die Frontsoldaten zu richten. 1915, als er gemeinsam mit Paulus Klüpfel das erste verfaßte, bedurfte es noch eines patriotischen Tons, um sie auch innerlich zu erreichen. Noch glaubten die meisten, für das Land ihrer Väter und Kinder zu kämpfen. Bei diesem Glauben knüpften Gesell und Klüpfel an. Sie proklamierten das allgemeine Menschenrecht auf den Erdboden: es sei am ewigen Gottesthron befestigt. Aber unser Volk ist nicht frei aufgewachsen "Wir sind von Kindestagen an . . . unter Grundherren und Fronknechten groß geworden. Die Arbeit gliedert und eint das Volk, der Besitz zerreißt es. "Ein verknechtetes Volk und ein geknechteter Boden könnten nur durch Freiland erlöste werden:

 

"Macht ist gut und der Allmacht Erbe. Nur Übermacht ist vom Teufel - Übermacht und Ohnmacht. Mächtig soll jeder Mensch sein. Wenn einmal die Macht in aller Hände ist, liegt die Übermacht in der Ecke. Sie war ja nur stark von vieler anderer Schwäche. Wir müssen also die äußeren Machtmittel an alle verteilen und die Übermachtmittel zerbrechen. Die äußeren Übermachtmittel aber sind der Kapitalzins und der Privatgrundbesitz." (2)

 

Nur dem Freien sei wohl, nur der Freie sei gut. Das Pfingstflugblatt des Jahres 1915 war in einer leidenschaftlichen Sprache und aus einer Sprachgewalt verfaßt, die von prophetischer Kraft zeugte. "Jedem der Ertrag seiner Arbeit."

 

Im Mai 1915 traten Gesell und Klüpfel in Eden dem Deutschen Verein Freiland bei, der dort seit 1911 seinen Sitz hatte. Sein Ziel war der Erwerb und die Freimachung von Land, das nicht seinen Mitgliedern gehören, sondern Eigentum des deutschen Volkes werden sollte. Von den Mitgliedsbeiträgen flossen nur zwanzig Prozent in einen Werbefonds, achzig Prozent in einen Freilandfonds. Die lebenslängliche Mitgliedschaft konnte durch einmalige Zahlung von 100 RM oder durch kostenlose  Übergabe eines lastenfreien Stück Lands an den Verein erworben werden. So legte es § 6 der Vereinssatzung fest, nicht ohne Erfolg.

 

Als das erste Flugblatt hinausging, konnten die als Brüder angesprochenen Soldaten lesen, ihnen sei der Kaufbrief des ersten Stück Freilands gutgeschrieben. "Mit der Freilandhoffnung im Herzen sind wir unbesiegbar geworden." Andernfalls werde Deutschland den Krieg verlieren.

 

"Du gingst im guten Glauben zur Schlacht - wir haben den Glauben dir wahrgemacht. Seinen Erlöser erlöst sein Land. Frei-Land!"

 

Der Deutsche Verein Freiland e. V. wurde eine ständige Einrichtung. Am 12. Februar 1919 forderte er von der Weimarer Nationalversammlung, in der neuen Verfassung "die Überführung des gesamten deutschen Bodens in das Gemeineigentum des deutschen Volkes grundsätzlich festzulegen." Allein durch freien, jeder Spekulation entzogenen und in Erbpacht gelegten Volksboden würde eine feste Grundlage für den Wiederaufbau der zertrümmerten Wirtschaft geschaffen. Die Eingabe war unterzeichnet von Otto Jackisch, Karl Bartes und Dr. Richard Bloeck, den nunmehrigen drei Vorstandsmitgliedern des Deutschen Freilandvereins. -

 

Silvio Gesell hatte inzwischen auch in der Schweiz eine Reihe von Persönlichkeiten gewonnen. So Dr. Theophil Christen, einen bekannten Arzt, als er 1915 in Bern auf einer Tagung des Vereins für Steuer- und Bodenreform das Wort ergriff. Christen betrachtete die soziale Frage als einen Teil der sexuellen. (3) Er schien der rechte Mann zu sein, um Gesells Theorie mit "wissenschaftlichen Schnörkeln" zu versehen. Tatsächlich verfaßte er bald ein Flugblatt über die Kaufkraft des Geldes, worin die Gesellsche Lehre erstmals in wissenschaftliche und mathematische Formeln umgesetzt war.

 

Auch Ernst Schneider, Direktor des Berner Oberseminars, und Fritz Trefzer, Vizedirektor des Schweizer Versicherungsamtes, zwei weitere führende Mitglieder des Vereins für Steuer- und Bodenreform, konnte Gesell überzeugen. Obwohl eher ein schlechter als ein guter Redner, verfügte er über eine ungewöhnliche Beredsamkeit, die selbst Intellektuelle packte und fesselte.

 

Gesell war ein gewaltiger Mensch. Seiner Persönlichkeit entströmte eine starke Ausstrahlung. Er war imstande, auch hochgeistige und im Geschäftsleben erfolgreiche Menschen zu bezaubern. Friedrich Salzmann lernte ihn im Hause seiner Eltern kennen, wobei er etwas Eigentümliches erlebte:

 

"Männer, die mir an Wissen und Können weit überlegen waren, trugen ihre Meinung über die verschiedensten Fragen vor Gesell, als sei er ihnen von Natur aus als Schiedsrichter bestellt. Und ich hörte zu, wie er in knappen und langsam gesprochenen Sätzen die Dinge immer dorthin stellte, wo sie augenscheinlich hingehörten. Die gleichen Männer, von denen ich so viel gelernt habe, wurden hier zu den bescheidensten Schülern, die ich je gesehen." (4)

 

Eine zeremonielle Umgangsweise war Gesell völlig fremd. Selbst ein urwüchsiger Mensch, ging er ohne Umschweife auf solche Persönlichkeiten zu, die ihm wertvoll und wichtig erschienen, beispielsweise auch auf Fritz Schwarz (5), den er bei einem Spaziergang anregte, sich mit der Rolle des Geldes in der Geschichte zu befassen. Gesell brachte amerikanische Weite und die argentinische Pampa mit. Den engen europäischen Maßstäben war er in Lateinamerika entwachsen. Das wirkte sich in seiner Rede und Verhaltensweise aus, die gleichsam ein besonderes Aroma enthielten und kleinliche Bedenken von vornherein beschwichtigten.

 

Gesell hielt seine Idee für einen "Kraftwirbel", der immer mehr Menschen erfassen und schließlich durch "grundstürzende" Reformen Geschichte machen würde. In Deutschland fand er den größten Widerhall. Aus Stettin stieß Hans Timm, aus Erfurt Otto Maaß, aus Hamburg Friedrich Bartels, aus Greifswald Karl Polenske, aus Siebenbürgen Paul Klemm zu ihm. Dieser Stirnerianer entzündete seinerseits Rolf Engert und berichtete ihm von seiner Zwangsvorstellung, das Einschlafen der neuen Physiokratie wäre "gleichbedeutend mit dem Untergang der Erde". (6) Auf Einladung Klemms machte Silvio Gesell in Begleitung von Hans Timm, den er anscheinend für einen seiner befähigsten Schüler hielt, eine Reise nach Siebenbürgen, wo er in mehreren Veranstaltungen sprach; zu den Gewerkschaften konnte er allerdings auch dort keinen Zugang finden.

 

Aus der Namenlosigkeit tauchte ein blasser junger Mann auf, Martin Hoffmann, der Theologie studiert hatte und wie der Grieche Diogenes in freiwilliger Armut lebte, nachdem er das Elend des Proletariats kennengelernt. Am 24. September 1920 schrieb er an Georg Blumenthal, zu einem ständigen Abonnement des "Physiokrat" sei er aus finanziellen Gründen noch nicht imstande. Bereits im nächsten Jahr erklärte er sich bereit, "grundsätzliche Angriffe auf unsere Bewegung in ‚bürgerlichen' Zeitungen gut zu widerlegen".(7) Ihm ging es hierbei um eine klare Unterscheidung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten.

 

Alsbald bildeten sich noch andere Organisationen als die erstgenannten. Die junge Bewegung schien sich schon in ihrer Entstehungsphase zu zersplittern. Das befürchtete auch Dr. Christen, der schon im August 1918 Verbindung mit Blumenthal aufnahm. Er wollte die national Denkenden und die Internationalisten einander näher bringen, soweit sich beide an Gesell orientierten. Sehr bedauerte Christen den frühen Tod von Paulus Klüpfel: "Wir haben niemanden, der so wie er philosophisch denkt und die Gesellsche Lehre in ein Weltbild einbauen könnte." (8) In der Tat war Paulus Klüpfel der einzige philosophische Kopf unter den frühen Gesellianern; er sollte auch von den späteren nicht mehr übertroffen werden. Christen erkannte im Vergleich dazu die eigenen Grenzen als Wissenschaftler. Aber er tat sehr viel für die NWO-Bewegung. Aus seinem verschollenen und erst im August 1990 wiedergefundenen Briefwechsel mit Georg Blumenthal geht hervor, daß er Ende 1918 und 1919 Rundbriefe in Umlauf setzte, die alle Empfänger mit einem Beitrag versehen und dann weitergeben sollten. Auf diese Weise wollte er ein schöpferisches Band zwischen den regsten Gesellianern knüpfen. Er rügte Blumenthal, weil dieser seinen ersten Beitrag noch einmal rundgehen ließ. Wenn er keine freie Meinung dulde und von seinem Standpunkt nicht abgehen wolle, verleide er auch den anderen Empfängern die Sache. Er könne doch in seinem Verlag den internationalen Gedanken vertreten, dem Mimir-Verlag aber den nationalen und völkischen überlassen. "Die völkischen Kreise sind groß, und auch in ihnen müssen wir werben." (9) Die Gesellianer sollten es wie der Apostel Paulus halten, der den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche war. Von Abschwächungen des Programme sei bei keinem Rundbriefteilnehmer die Rede gewesen, "ausgenommen vielleicht bei Herrn Schöll, der aber bereits

 bekehrt ist." (10)

 

Christen bemerkte, daß sich mehrere Gruppen bildeten, die mit verschiedenen Methoden dasselbe Ziel ansteuerten. Für seine Person wollte er in Berlin sowohl der Physiokratischen Vereinigung ale auch dem Freiland-Freigeld-Bund beitreten, "um jede Arbeitsmöglichkeit auszunutzen." In München lägen die Dinge so, daß es einstweilen besser mit einem Bund für Freiwirtschaft gehe. "Wenn Sie aber eines Tages hierher kommen und eine physiokratische Ortsgruppe gründen, so werde ich mich auch dieser anschließen." (11)

 

Den Münchner Bund für Freiwirtschaft, den Dr. Christen anscheinend selbst gegründet hatte, wollte er im Dezember 1918 auf ganz Deutschland ausdehnen. Das System der Rundbriefe hatte sich nicht bewährt; nun sei die Zeit der öffentlichen Werbung und des organisatorischen Zusammenrückens gekommen. In einem Aufruf vom 29. Dezember 1918 schlug Dr. Christen vor, den Bund für Freiwirtschaft als einen Sammelpunkt der verschiedenen Gruppen überall zu gründen. Jeder Angesprochene sollte sich ihm mit einer Ortsgruppe anschließen. In einem beigelegten Werbeblatt hieß es: "Der Bund für Freiwirtschaft wirbt Anhänger im ganzen Reich. Seine Ziele sind für alle redlichen Arbeitenden, Arbeiter wie Unternehmer, Festbesoldete wie Selbständige, Gelehrte wie Handwerker, Bauern wie Städter, Frauen und Männer von lebenswichtigem Interesse. Wir bitten alle, die sich von der Wahrheit unserer Gedanken überzeugt haben, Ortsgruppen zu bilden oder sich bestehenden Gruppen anzuschließen. Bisher bestehen solche in Berlin (Fr. Holze-Bitter, Berlin-Steglitz), Eisleben (Direktor Weißleder), Elberfeld (Herr F. Schulze), Erfurt (Herr O. Maaß), Leipzig (Herr W. Beckmann), München (Herr Dr. Th. Christen), Regensburg (Herr Dr. Engert), Stuttgart (Herr F. Schöll), Ulm (Herr Dr. Pfleiderer). Im gleichen Sinne arbeitet eine physiokratische Vereinigung".

 

Dies war der erste Versuch, eine Art Einheitsorganisation zustande zu bringen. In sich sollte sie mannigfaltig gegliedert sein und die verschiedensten Methoden gewähren lassen. Der Versuch blieb erfolglos. Die zehn Gruppen reduzierten sich jedoch durch regionale Zusammenschlüsse auf vier.

 

Schon aus diesem kurzen Abriß geht hervor, daß die neue Bewegung alles andere als eine einstimmige war. Aus dem Mittelpunkt der Gesellschen Idee strebte sie gleichsam in alle Himmelsrichtungen auseinander. Es gab eine internationalistisch-physiokratische Variante, eine national-völkische Spielart, eine freisozialistische, lebensreformerische und akratische Tendenz sowie eine ausgesprochen stirnerianische Richtung. Würden sie sich früher oder später doch unter einen Hut bringen lassen? - Wie in anderen Fällen gab es in der NWO-Bewegung Organisationsmenschen und Bewegungsmenschen. Die einen strebten nach Kristallisationen der Idee, andere zogen das Meer der Bewegung vor. Obwohl sie vielleicht auch diesem oder jenem Bund angehörten, waren sie gleichsam das flüssige Element. Die Organisationen erstarren so schnell wie Lava und werden dann leicht zum Selbstzweck. Ohne den Gegenpol der Bewegung neigen sie auch zum Dogmatismus und zur bloßen Verwaltung des geistigen Erbes, das unter Umständen alle für sich allein beanspruchen möchten; Jedoch wird sich jede Bewegung im Sande verlaufen, die aus ihrer Mitte keine Organisationen hervorbringt.

 

Einer der Bewegungsmenschen, auf dessen Namen ich in Tausenden von Seiten nur ein einziges Mal gestoßen bin, war Peter Spürkel. Seit seinem 15. Lebensjahr kämpfte er für die soziale Befreiung des Menschen, insbesondere der Arbeiterschaft zunächst in den Reihen der SPD, dann im Freiwirtschaftsbund. Er war Straßenbahnschaffner und sprang in seiner Trambahnuniform für einen verhinderten Referenten ein. Das war im Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen. In die betreffende Versammlung kam auch eine Wandervogelgruppe mit Hein Beba, dem es, als er Peter Spürkel hörte, wie Schuppen von den Augen fiel. Als Mann des Volkes drückte er sich einfach und verständlich aus. Spürkel machte mit seinen schneeweißen Haaren und in seiner Beweiskraft einen so gewaltigen Eindruck auf den jungen Beba, daß er sich entschloß, dem Freiwirtschaftsbund beizutreten und einen freiwirtschaftlichen Jugendverband zu gründen. Nach der Novemberrevolution war Spürkel, vom Vertrauen seiner Kollegen getragen, zum Vorsitzenden des Betriebsrates der Gelsenkirchener Verkehrswerke gewählt worden. Gesell hatte ihm den Horizont und die Aussicht auf eine neue Welt eröffnet. Er wollte diese Welt noch erleben und tat alles, was in seinen Kräften stand, um sie herbeizuführen. Für den Fall, daß er vorher dahingehen müßte, wollte er in dem Bewußtsein sterben, "bis zum letzten Augenblick meines Lebens im Kampf für die Welt Gesells meine Pflicht getan zu haben."

 

Für Hein Beba war die Gelsenkirchener Versammlung mit Peter Spürkel "zu einer Kirche geworden". (12) Er übernahm dessen Vermächtnis und trug es weiter wie eine Fackel, die auch anderen den Weg zur sozialen Befreiung beleuchten sollte.

 

Ein anderer Bewegungsmensch ist Adolf Simat gewesen. Wie Peter Spürkel hat er keine literarische Spur hinterlassen, da er weder Artikel noch Broschüren oder gar Bücher schrieb. Als Rebell und Feuerkopf bekannt, der seine ganze Persönlichkeit für die Sache der Enterbten und Ausgebeuteten in die Waagschale warf, gehörte er zu den glühendsten Aktivisten im Ruhrgebiet. Simat hatte schon als Schuljunge auf der Straße Flugblätter verteilt und war deshalb gemaßregelt worden. Er wuchs im Elend einer Bergarbeiterfamilie auf und mußte nach der Schulentlassung bald mit ins Revier. Als Bergmann gewann er das Vertrauen vieler Kumpels, zog sich jedoch beim Kohlenhauen unter Tage eine Staublunge zu. Das einzige Mittel, aus der Armut und Ausbeutung herauszukommen, schien ihm die Empörung zu sein. Fest in der Arbeiterbewegung verwurzelt, sah Simat in den FFF-Leuten zunächst Spalter und Zersplitterer, auch blasse Utopisten. 1920 war er Kommunist und schwor noch auf Marx. Sein Kumpel John Muregger klärte ihn in den Frühstücks- und Vesperpausen auf, wenn sie nebeneinander auf einer Kiste saßen. Worauf Simat ebenfalls für Freiland und Freigeld zu kämpfen begann, mit einer Leidenschaft ohnegleichen, die viele Menschen bewegte und sich im ganzen Ruhrgebiet herumsprach. Im Frühjahr 1923 traten hauptsächlich auf seine Initiative die Essener Bergarbeiter von sechs Zechen in den Streik. Sie zogen in einem wohlgeordneten Demonstrationszug, an dem sich über 20000 Kumpel beteiligten, durch die Straßen, voran drei große Schilder tragend:

 

 

"Nieder mit Havenstein! Freigeld her!

 

Silvio Gesell an die Macht!

 

Wir verlangen 75 % Sachwertsteuer zur Tilgung der Reparationsschulden!"

 

 

Silvio Gesell befand sich damals selber im Ruhrgebiet, um die Möglichkeit einer praktischen Freigeldaktion zu erkunden. Auf mehreren Bergarbeiterversammlungen und öffentlichen Kundgebungen wurde er zum Währungsdiktator ausgerufen, jeweils umjubelt von Tausenden.

 

"Nie hat unsere Bewegung Ähnliches erlebt als in den Frühjahrstagen von 1923. Adolf Simat war einer der ältesten und erfolgreichsten Vorkämpfer unserer Bewegung im Ruhrgebiet", (13) heißt es in einem Nachruf. Damals sei die Sache der Physiokratie zu einer Massenbewegung geworden. Wenn die Freiwirtschaftslehre keinem Ruhrproletarier mehr unbekannt war, so sei das in erster Linie Adolf Simat zu verdanken gewesen, der unermüdlich von einem Revier zum anderen ging und überall Mitkämpfer warb. Nach dem Essener Streik hatte ihn die Bergwerksleitung entlassen und auf die Schwarze Liste gesetzt. Nun war er den ganzen Tag für die Gesellsche Sache unterwegs, doch seine Familie litt große Not und die Krankheit verschlimmerte sich zusehens. Adolf Simat hauchte sein Leben bereits im 34. Lebensjahr aus. Er war einer der Grundfesten des Kampfbundes FFF an Rhein und Ruhr, den er anscheinend Ende 1922 mitgegründet hatte, empörte sich aber auch gegen überhebliche Funktionäre und Phrasendrescher in der eigenen Organisation. "Gegen Heuchelei und unechtes Getue in unserer Bewegung und gegen die Bonzen ist er oft genug aufgestanden." (14) Der FKB betrachtete ihn als eine Art Märtyrer. Da er eine Frau und Kinder hinterließ, wurde in seiner Zeitung zu einer Adolf-Simat-Spende aufgerufen.

 

Silvio Gesell selber gehörte eher zu den Bewegungs- als zu den Organisationsmenschen. Er stand allen freiwirtschaftlichen und physiokratischen Organisationen - außer dem national-völkischen Bund für krisenlose Volkswirtschaft - wohlwollend gegenüber. Freilich auch ein wenig distanziert und wie von einer Zuschauertribüne aus.

 

Lange bevorzugte er keine. Nur gelegentlich besuchte Gesell einen Bundestag oder eine Vertreterversammlung. In solchen Fällen setzte er sich nicht etwa an den Vorstandstisch, sondern tauchte bei den Delegierten oder einfachen Mitgliedern unter, als wolle er von seiner Person möglichst wenig Aufhebens machen. Wer die Protokolle liest, wird ihn auf den meisten Seiten vergebens suchen. Bis er auf einmal etwas gefragt wird und für kurze Zeit in Erscheinung tritt.

 

Diese Zurückhaltung gab Gesell erst 1924 auf, nachdem er den Eindruck gewonnen hatte, der Freiwirtschaftsbund sei größtenteils verbürgerlicht und steuere einen falschen Kurs. Damals trat er fast demonstrativ dem Physiokratischen Kampfbund bei, für den er sich einen festen Arbeiterstamm wünschte, einen proletarischen Kern. Kämpfer wie Peter Spürkel und Adolf Simat standen ihm am nähesten. Er meinte: "Physiokraten werden geboren." Sie könnten durch keine Organisation erzogen werden. Schließlich zog sich Gesell aus dem Physiokratischen Kampfbund heraus und stand nur noch als Berater zur Verfügung. Doch der Bewegung hat er den größten Teil seines Vermögens geopfert, insbesondere für ihre Zeitungen und Zeitschriften.

 

Eine sehr wichtige, wenn nicht die wichtigste Keimzelle der NWO-Bewegung bildete sich zwischen 1915-19 in der Gartenbaukolonie Eden bei Oranienburg. Hier lebten zeitweilig Gesell, Landmann, Klüpfel, Simons, Polenske, Bartels, Bloeck und Jackisch nahe beieinander. Eine solche Konzentration von NWO-Avantgardisten war sonst nirgends gegeben. In Eden wurde das erste Kriegsflugblatt geschrieben und der Deutsche Verein Freiland hatte hier seinen Sitz. Landmann stellte auch schon ein Archiv der NWO-Bewegung zusammen. Theorie und Praxis fanden eine gemeinsame Betätigungsstätte.

 

Mit ihrer Genossenschaftssiedlung und reformpädagogischen Schule, mit ihrem Prinzip der Gerechtigkeit "und des gegenseitig bestätigten Wohlwollens sowie der Milde gegenüber dem Tier" (15), mit dem Reformbrot und den Vollwertwaren, mit ihrem Gemeinschaftshaus und der gemeinnützigen Siedlungsbank hatte die Gartenbaukolonie Eden beinahe den Charakter der Urgemeinde einer neuen Welt. Diese schien nicht aus politischen Theorien, sondern aus Lebensreform- und Gartenstadtbewegung hervorzuwachsen. J. Sponheimer, Anreger der Obstbaugenossenschaft Heimgarten (Schweiz), wollte die verheerende Macht der Stadtkultur brechen durch die Gründung ländlicher Siedlungen, "bei denen der Boden nicht von einzelnen monopolisiert wird". Die soziale Frage sei nur vom Lande her lösbar. Ähnlich dachten Gustav Landauer und Martin Buber, die wiederholt in Oranienburg zu sehen waren. Die mit der Obstbaukolonie liierte Neue Gemeinschaft der Brüder Hart, in der sie Vorträge hielten, sollte der Orden vom wahren Leben sein. Für Landmann war Eden eine "Stätte der Lebenserneuerung". (16)

 

Bartes, Bloeck und Jackisch, die 1918/19 dem Deutschen Verein Freiland vorstanden, gaben 1920 ein Buch über die ersten 25 Jahre der Obstbaukolonie heraus. Bis zu einem gewissen Grade entstand die NWO-Bewegung im Schoße der Lebensreform, welcher sich ein auffallend großer Teil ihrer führenden Köpfe verpflichtet wußte. Voran Gesell selbst, der ausgerechnet im Steakland Argentinien zum Vegetarier geworden war. Karl Bartes veröffentlichte ein Gedicht, dessen erste Zeile 1983 zu einem Buchtitel werden sollte:

 

 

"Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde

empfange sie mit Herz und Hand

damit sie deine Heimat werde,

dein Zufluchtsort, dein Vaterland." (17)

 

 

Nicht mehr der Staat, sondern die Erde als Vaterland und zugleich als Mutter! Sie soll unsere Heimat werden. So brach der planetarische Gedanke wie ein neuer Trieb am Lebensbaum hervor.

 

Wie weitgehend sich die NWO-Bewegung auch lange Zeit als eine rein wirtschaftliche verstehen mochte, sie war eingebettet in eine kultur- und geistesrevolutionäre, weit umfassendere Bewegung, die selbst über den sozialen Komplex hinausging. Wahrscheinlich sind Gesells Vorstellungen vom künftigen Freilandreich und abgebauten Staat, die er 1927 veröffentlichte, von der Gartenbaukolonie Eden mitgeprägt worden. Es ist jedenfalls deutlich zu spüren, daß diesen Vorstellungen nicht nur theoretische Erwägungen zugrundelagen.

 

 

 

 

 

1 Pfingstflugblatt 1915 "Deutsches Freiland"

2 Zeitschrift "Eine halbe Stunde Volkswirtschaft" vom 24.6.1933 und Silvio Gesell, Gesammelte Werke, Band 8, Lütjenburg 1990

3 Theophil Christen, Die menschliche Fortpflanzung, ihre Gesundung und ihre Veredelung, Bern o.J.

4 Friedrich Salzmann, An die Überlebenden, Heidelberg 1948, S. 6

5 Werner Schmid, Silvio Gesell, Bern 1953, S. 125-26;  (Schmids wertvolle Biographie macht jedoch falsche Angaben über die Gründung der Organisationen).

6 Rolf Engert, Silvio Gesell in München 1919, Hann.-Münden, (jetzt Lütjenburg) 1986, S. 18

7 Brief von Martin Hoffmann-Diogenes vom 24.5.1921 an Georg Blumenthal

8 Dr. Christen am 11.8.1918 an G. Blumenthal

9 Dr. Christen am 27.8.1918 an G. Blumenthal

10 Dr. Christen am 1.6.1919 an G. Blumenthal

11 ebenda

12 Vortrag Hein Bebas "Die Welt Silvio Gesells wird Wirklichkeit" vom 17.4.1977 in Bern vor dem LSP-Parteitag

13 Letzte Politik Nr. 3/33

14 Letzte Politik Nr. 2/33

15 Edener Gemeindeordnung

16 Näheres in der Studie von Werner Onken "Die Genossenschaftssiedlung Eden bei Oranienburg", in: Der Gesundheitsberater Nr. 9/1990, S. 6 ff

17 Ulrich Linse, Zurück, oh Mensch, zur Mutter Erde, München 1983; der Autor hat die Obstbaukolonie und Neue Gemeinschaft im Zusammenhang als "Aufbruch ins neue Jahrhundert" dargestellt.

 

 

 

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Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung

ISBN 3-87998-481-6; Lütjenburg: Gauke, 1994

 

 

Im Juni 2001 gescannt, korrekturgelesen und ins Netz gestellt von W. Roehrig