DeutschlandRadio/DEUTSCHLANDFUNK Sendung:
Hintergrund/Feature Dienstag, 23. Juli 2002
Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr
PROSUMIEREN STATT KONSUMIEREN
Tauschhandel in Argentinien
von Gaby Weber
UNKORRIGIERTES MANUSKRIPT
Atmo: Mutual
Erzählerin:
Ein Samstagmittag in Buenos Aires. Das selbstverwaltete Sozialwerk
„Sentimiento“ ist völlig überfüllt. Waren wechseln den Besitzer, nicht gegen
Geldscheine, sondern gegen selbstgedruckte Kreditscheine, „Créditos“. Es wird
gehandelt, aber nichts verkauft, so die Organisatorin Graciela Draguicevic:
O-Ton: La persona que no prosume ...
1.
Zitatorin:
Ein Mitglied muss prosumieren. Das heißt: produzieren und konsumieren
zugleich. Jeder muss im Klub irgend etwas anbieten, um Créditos zu erhalten,
mit denen er Waren erwerben kann. Den neuen Mitgliedern teilen wir Créditos zu,
damit sie etwas in der Hand haben und anfangen können.
Erzählerin:
Auf kleinen Tischen werden Bücher und Lebensmittel angeboten, auf anderen
Kosmetik und selbstgemachte Sandalen. Pappschilder und Etiketten sind
handgemalt, 5 C, 2 C,
20 C. C steht für Crédito, Kreditschein, ausgegeben vom Tauschklub und gültig
im Tauschklub.
Atmo: Acá se troca ...
1.
Zitatorin:
Hier finden alle, was sie brauchen, alte und neue Kleider, Schuhe, CDs,
Früchte, Kuchen und Säfte. Auch Klempner und Anwälte. Niemand hat Geld, aber
das ist nicht nur ein Problem, sondern auch ein Ausweg.“
Erzählerin:
Die Créditos erfreuen sich größter Beliebtheit, zunehmend akzeptieren sie
auch Taxiunternehmen und Restaurantketten. Urlaubsreisen werden mit Créditos
finanziert, gebrauchte Autos, Grundstücke und Wohnungen. In der
13.000-Seelen-Gemeinde Calchaqui im armen Norden des Landes können mit den
Kreditscheinen sogar die Steuern bezahlt werden. 40 Prozent der Dorfbewohner
sind arbeitslos, die einzige Währung, die sie in die Hand bekommen, sind die
Tausch-Tickets.
Hinten links schneidet Isabel Haare, zusammen mit ihren Kolleginnen. Die Kunden sitzen, wie im Friseursalon, auf bequemen Sesseln, vor Spiegeln, mit Umhang und Handtuch. Jede arbeitet auf eigene Rechnung, das erspare Ärger bei der Abrechnung, meint Isabel. Die 22-Jährige war lange arbeitslos, sie ist unverheiratet und muss zwei Kinder ernähren. Sie wohnt im Vorort Caseros, und um in den Tauschklub zu kommen, schwingt sie sich morgens aufs Fahrrad und klettert dann in einen alten Vorstadtzug.
O-Ton: Yo trabajo de peluquera ...
2.
Zitatorin:
Wir sind insgesamt fünf. Ich bin Friseuse, eine Kollegin macht Maniküre,
die anderen beiden sind Fußpflegerin und Kosmetikerin. Der Junge schneidet den
Männern die Haare. Ich komme seit vier Monaten jeden Samstag her, von zwölf bis
siebzehn Uhr. Ich wasche, schneide, frisiere, föne, mache Strähnchen und
Dauerwelle, färbe Haare - eben alles, was eine Friseuse macht. Ich besuche auch
Kunden zu Hause, und die bezahlen mit richtigem Geld, hier im Tauschklub
arbeite ich auf der Grundlage von Créditos. Mit ihnen kaufe ich Essen und
Kleider für mich und die Kinder. Das funktioniert gut, leider sind wir nicht
krankenversichert.
Atmo:
Straßengeräusche, Gehupe
Erzählerin:
Vor dem Tor warten Menschen geduldig auf Einlass. Bei schönem Wetter werden
Tische im Hof aufgebaut, aber heute droht Regen. Viele haben sich schon in der
Früh zu Fuß auf den Weg gemacht, bepackt mit Waren oder Werkzeugen. Leider
nimmt der Fahrscheinautomat im Omnibus nur Pesos. Die meisten, die hier
tauschen, leben am Stadtrand und haben kein Bargeld.
In der Reihe stehen in letzter Zeit immer mehr gut gekleidete und dezent
geschminkte Damen, mit großen Reisetaschen. Sie bieten Kleidung aus besseren
Zeiten an, das kleine Schwarze, den Baby-Doll, das Chanel-Kostüm. In diesen
Tagen geht es in Argentinien nicht nur den Armen schlecht. Die Mittelschicht
und sogar die obere Mittelschicht kämpft ums Überleben.
Im selben Tempo, wie die reale Wirtschaft und die reale Währung im Chaos versinken, wächst die Bedeutung der Tauschklubs. Die Leute haben keine Arbeit mehr und kurzfristig keine Aussicht auf einen Job. Sie haben, im wahrsten Sinn des Wortes, nichts mehr zu essen. Alle haben aber irgend etwas, das sie entbehren können, alte Kleider, Bilder, Andenken. Dafür bekommen sie Lebensmittel. Das macht sie satt. Den Initiatoren des Tauschklubs gehe es nicht nur ums physische Überleben, erklärt Graciela. Die These, dass eine revolutionäre Situation entstehe, wenn es den Leuten schlecht gehe, sei längst widerlegt. Deshalb habe man eine neue Strategie entwickeln müssen.
O-Ton: La gente con la pansa vacia ...
1.
Zitatorin:
Wer hungert, denkt nicht. Er hat nur eines im Kopf: wie er sich und seine
Familie heute ernährt. Er denkt nicht an die Veränderung der herrschenden
Verhältnisse. Unser Ziel ist die Veränderung der Verhältnisse.
Erzählerin:
Im Sozialwerk machen die Menschen die Erfahrung, dass dies möglich ist,
dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Längst werden dort
nicht nur abgetretene Schuhe und ausgediente Kinderkleidung gehandelt. Die
Organisatoren wollen Einfluss auf die reale Wirtschaft nehmen, auf die
landwirtschaftliche und auf die industrielle Produktion. Sie wollen Produzenten
und Konsumenten zusammenführen, ohne Zwischenhändler, ohne multinationale
Konzerne.
Bei einer landwirtschaftlichen Kooperative in der Provinz Corrientes kauft Graciela tonnenweise Reis ein. Sie bezahlt die Bauern mit Pesos, denn mit Créditos können sie in ihrem Dorf wenig anfangen. Die Pesos stammen aus den geringen Eintrittsgebühren, die das Sozialwerk von Mitgliedern des Tauschklubs verlangt. In Buenos Aires wird der Reis abgepackt und etikettiert und gelangt um die Hälfte billiger als in den Supermärkten zum Verbraucher. Man wolle sich auch mit der pharmazeutischen Industrie anlegen, kündigt Pedro Cazes, eines der Gründungsmitglieder von Sentimento an.
O-Ton: Uno de los proyectos ...
1.Zitator:
Im dritten Stock des Sozialwerkes werden wir eine Krankenstation
einrichten, in der Fachärzte behandeln. Wir setzen auf Vorbeugung und
diagnostizieren und heilen Krankheiten. Mehrere Behandlungszimmer sind
vorgesehen, und wir werden auch Röntgenuntersuchungen machen. In der Apotheke
im Erdgeschoss werden Medikamente mit Créditos zu kaufen sein, Generika,
nachgemachte Produkte, die argentinische oder brasilianische Labors herstellen
und über uns auf den Markt bringen.
Erzählerin:
Pedro Cazes leitet die pharmazeutische Abteilung des Posadas-Krankenhauses.
Der Tauschhandel trage zwar archaische Züge, räumt er ein, aber zugleich sei er
eine Alternative zum globalisierten Kapitalismus; vor allem in der
pharmazeutischen Industrie. Viele Medikamente sind durch Patente geschützt und
dürfen nicht nachproduziert werden. Das treibt die Preise in die Höhe. Pedro
Cazes hat mit argentinischen Laboratorien verhandelt, die ihre nachproduzierten
Pillen in den Tauschhandel bringen wollen. Bei diesem Deal sieht er sich auf
der Seite des Rechts. Laut internationaler Rechtsprechung dürften Patente
missachtet werden, wenn ein „nationaler Notstand“ vorliege. Dies sei im Falle
Argentiniens eindeutig der Fall. Breite Bevölkerungskreise seien verarmt und
könnten sich lebenswichtige Arzneien nicht leisten. Der Tauschklub sei aber
kein rechtsfreier Raum, die Medikamente werden - wie die Labors und die Ärzte -
von Verbraucherorganisationen und dem Gesundheitsministerium kontrolliert.
O-Ton: Lo novedoso ...
1.
Zitator:
Wir behandeln nicht anders, weder besser noch schlechter. Die technischen Standards
bleiben gleich. Das Neue ist die Kommerzialisierung nicht über hergebrachte
Wege, sondern über den Tauschhandel. So verhindern wir die astronomischen
Gewinnspannen bei Arzneien.
Erzählerin:
Landesweit sind in den Tauschklubs über zweieinhalb Millionen Familien
eingeschrieben, mit anderen Worten: acht Millionen Argentinier, ein Viertel der
Bevölkerung, verdanken ihnen ihre Existenz. Dank der Créditos haben sie etwas
im Kochtopf. Obwohl die Tausch-Tickets keine Bürgschaft aufweisen, vertrauen ihnen
die Marktteilnehmer. Ein paralleles Währungssystem ist entstanden, auf das die
Zentralbank keinen Einfluss hat. Das „normale“ Währungssystem hingegen, über
das die Zentralbank wacht, ist am Rande des Zusammenbruchs. Die Regierung hat
ihre Zahlungsunfähigkeit erklärt und den Peso abgewertet. Bankguthaben wurden
eingefroren, die Arbeitslosigkeit nimmt täglich zu. Niemand hat mehr Geld in
der Tasche.
Atmo:
Demo, Getrommel
Erzählerin:
Jeden Tag wird in Buenos Aires demonstriert. Mal sind es Arbeitslose aus
der Vorstadt, ein anderes Mal Hausfrauen mit Kochtöpfen. Die Proteste zwangen
im Dezember den Präsidenten zum Rücktritt, und der Peronist Eduardo Duhalde
übernahm die Regierung. Wie lange er sich im Amt halten kann, ist ungewiss. Der
Peso ist im letzten Halbjahr auf fast ein Viertel seines Wertes gesunken, in
den Supermärkten explodieren die Preise, während die Löhne auf der Stelle
treten. Die Menschen haben fast die Hälfte ihrer Kaufkraft eingebüßt. Und ein
Ende der Krise ist nicht in Sicht. Die internationalen Finanzorganisationen,
die jahrelang Argentinien als „Musterschüler“ feierten, der brav ihre Rezepte
übernahm, fordern für neue Kredite die Entlassung von zehntausend Staatsbediensteten
und die Privatisierung der letzten beiden öffentlichen Banken, der „Banco de la
Nación“ und der „Banco de la Provincia de Buenos Aires“. Wer sie kauft, erhält
auch die Bürgschaften, die diese Banken halten, riesige Ländereien in der
Pampa. Dann können die neuen Eigentümer die Höfe der zahlungsunfähigen
Landwirte zwangsversteigern. Dann droht in der Pampa ein Aufstand.
Atmo:
vor der Bank, Gehämmer
Erzählerin:
In Buenos Aires wird heute vor der Banca Nazionale de Lavoro demonstriert.
Bürger in Anzug und Krawatte, bewaffnet mit Hammer und Brecheisen, schlagen
gegen die Stahlplatten, hinter denen sich das italienische Geldinstitut
verbarrikadiert. Die Polizei sieht zu, wie ein Loch in die Stahlplatten
geschlagen wird, das Fernsehen dreht für die Abendnachrichten.
Nur ein paar Großanleger konnten mit Hilfe befreundeter Bankiers ihr Geld ins Ausland transferieren. Die übrigen Einlagen – vom Girokonto bis zum Festgeld – wurden eingefroren, Dollareinlagen zum offiziellen Kurs in Pesos getauscht und in Staatsobligationen umgewandelt, die keiner haben will. Dieser Schritt sei nötig, sagen die Politiker, um das Finanzsystem vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren. Die Menschen haben dafür wenig Verständnis. Die Leute wollen ihr Geld zurück, sagt Graciela.
O-Ton:
Los bancos se han robado
1.
Zitatorin:
Die Banken haben schamlos gestohlen, und Opfer sind diesmal die Mittel- und
die Oberschicht, den Armen ist ja nichts mehr wegzunehmen. Was würden die
Deutschen machen, wenn ihnen die Banken alles wegnehmen? Das kann doch auch in
Europa passieren! Denn das Kapital beschreitet illegale Wege, wenn es legal
keine Profite mehr machen kann.
Erzählerin:
Während die Argentinier das Vertrauen in ihre Regierung und in ihre
Währung, den Peso, verloren haben, wächst das Vertrauen in die eigene Kraft und
das Vertrauen in die selbst gedruckten Papiere der Tauschklubs. Sie stellen die
herrschenden Wirtschaftstheorien in Frage, nach der der Wert einer Ware steigt,
je knapper sie ist. Das heißt, um den Kurs einer Währung stabil zu halten und
Inflation zu verhindern, muss die Geldmenge begrenzt werden. Deshalb gab die
argentinische Zentralbank – auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds -
nur wenige Pesos aus. Seit der Abwertung klettert die Inflation, der Peso wird ständig
abgewertet. Die Tauschklubs hingegen geben großzügig ihre Créditos aus. Schon
heute sind 60 Millionen „Tausch-Tickets“ im Umlauf, jeden Tag werden 250.000
weitere Tickets an neue Mitglieder ausgegeben. Dies fördere den Konsum und
kurbele die Wirtschaft an, nicht nur die Tauschwirtschaft, sondern auch die
„normale“ Wirtschaft.
O-Ton:
La gente compra en los supermercados ...
1.
Zitatorin:
Unsere Mitglieder kaufen in den Supermärkten der Umgebung. Dort kaufen sie
Zutaten für Empanadas und Kuchen, die sie bei uns anbieten: Mehl, Eier und
Zucker. Die Geschäftsleute profitieren von unseren Tauschmärkten, wir nehmen
ihnen keine Kunden weg, sind keine Konkurrenz. Die beiden Kreisläufe
überschneiden sich.
Erzählerin:
In den Supermärkten muss mit Pesos gezahlt werden. Créditos sind eine
Erfindung in der Not, Tauschen und „prosumieren“ stoßen an ihre Grenzen, sind
an sich kein Modell, räumt Graciela ein. Aber darum geht es ihr auch: um ein
neues Modell:
O-Ton: No es como ultimo ...
1.
Zitatorin:
Es ist nicht unser erklärtes Ziel, die Argentinier in ein Volk von
Tauschhändlern zu verwandeln. Ein Land kann sich mit Tauschhandel alleine nicht
entwickeln. Aber er hilft uns zu überleben, bis wir eine neue solidarische
Wirtschaftsordnung geschaffen haben.
Erzählerin:
Wie nirgendwo auf der Welt herrscht in Argentinien Währungschaos.
Zweiundzwanzig Währungen sind im Umlauf, die legal oder zumindest nicht illegal
sind. Da ist zunächst der US-Dollar, den die Argentinier als das einzig
wirkliche Zahlungsmittel ansehen. Sein aktueller Kurs hängt an der Kasse im
Supermarkt, in Läden, Restaurants und Reisebüros aus, dort ist Wechselgeld
vorrätig. Währung Nummer zwei ist der Peso, ausgegeben von der argentinischen
Zentralbank. Die Argentinier verachten den Peso, schließlich stehen für ihn
argentinische Politiker gerade, und denen traut man jede Manipulation zu.
Daneben haben die Provinzregierungen Wechsel und Obligationen ausgegeben, die
wie Spielgeld aussehen und deren Druckerschwärze oft verwischt, die aber
inzwischen nicht nur in der Provinz, sondern landesweit normale Zahlungsmittel
sind. Sie sehen wie kleine Formulare aus, auf denen ein Stempel prangt. Wichtig
ist aber nicht der Stempel, sondern die Nummer, denn bestimmte Seriennummern
sollte man nicht annehmen, weil ihre Laufzeit zu Ende geht. Niemand nimmt diese
Obligationen gerne, aber den meisten Geschäftsbesitzern bleibt nichts anderes
übrig, wollen sie nicht Kunden verlieren. Die Landesregierung von Buenos Aires
bezahlt ihre Beamten und Lieferanten ausschließlich mit diesen Papieren. Dazu
gesellen sich die Créditos der Tauschklubs, grüne und gelbe Papierchen, auf
denen sogar der Stempel fehlt. Um ihnen Seriosität zu verleihen und sie vor dem
Photokopieren zu schützen, hat die Zentralbank angeboten, die Tauschscheine in
der Staatsdruckerei zu drucken. Die Betreiber der Tauschklubs fürchten, dass
sich die Banker und damit auch der Internationale Währungsfonds einmischen.
Falschgeld fürchten sie weniger. Nicht das Geld sei wichtig, argumentieren sie,
sondern die in ein Produkt investierte Arbeitskraft. Und im Übrigen sind in
Argentinien Millionen professionell hergestellte Blüten im Umlauf, falsche
Peso- und Dollarscheine und photokopierte Wechsel und Obligationen. Wer
Créditos nachmachen will, fördere am Ende doch nur den Handel.
O-Ton: Questiamos profundamente ...
1.
Zitatorin:
Wir lehnen nicht das Privateigentum an sich ab. Ein Individuum hat ein
Recht darauf, vor willkürlicher Enteignung geschützt zu werden, sein Besitz
hilft ihm bei der Gestaltung seines Privatlebens und garantiert ihm eine
gewisse Unabhängigkeit. Wir wollen, dass die Menschen gut leben, nicht im
Elend. Was wir total ablehnen, ist die übertriebene Akkumulation von Kapital.
Kapital, das über zwei und mehr Generationen vererbt und nicht ausgegeben
werden kann. Wir sagen: Alle Währungen müssen rosten, müssen vergänglich sein,
in Zyklen ihren Wert verlieren. Eine Währung und gespartes Geld soll einen
Menschen durch sein Leben begleiten, nicht über seinen Tod hinaus Gültigkeit
haben. Es soll nicht vererbbar sein.
Erzählerin:
Der Tauschhandel sei ein soziales, kein monetäres Phänomen, meint der
Wirtschaftswissenschafter Jorge Schwarzer von der Universität in Buenos Aires.
Den 80 Millionen ausgegebenen Créditos stehen über 20 Milliarden Pesos und fast
zwei Milliarden Wechsel und Obligationen gegenüber.
O-Ton: En terminos de dimensión ...
1.
Zitator:
Für die Makroökonomie fallen die Tausch-Tickets kaum ins Gewicht, auch wenn
heute diese individuell hergestellten Geldscheine von immer mehr Menschen
benutzt werden. Wenn das so weiter geht, werden sie irgendwann zu einem
monetären Problem. Denn hier entsteht privates Geld, das den Peso ersetzt und
damit dann auch die Makroökonomie beeinflusst.
Erzählerin:
Ein ähnliches Phänomen war durch die Ausgabe von Kreditkarten entstanden,
erinnert sich Schwarzer, als private Banken durch die Bereitstellung von
Krediten ein neues Zahlungsmittel schufen, mit dem Waren und Dienstleistungen
erworben werden konnten. Auffallend an den Créditos sei aber, dass diesmal das
neue Geld nicht von den Reichen, vom Finanzsystem, stammt, sondern von den
Armen. Und zunehmend wird es auch von den Begüterten akzeptiert.
O-Ton: El dinero siempre es ...
1.
Zitator:
Jeder Geldschein ist real nur das Papier wert, auf dem er gedruckt ist,
also praktisch gar nichts. Ob der Geldschein zu Geld wird, hängt vom Vertrauen
ab, das die Menschen denjenigen entgegen bringen, die auf dem Schein
versprechen, ihn in Zukunft für einen bestimmten Gegenwert einzulösen. Warum
verachten wir Argentinier unseren Peso und lieben den Dollar? Weil den
Greenback nicht unsere korrupten Politiker, sondern die Federal Reserve
ausgegeben hat.
O-Ton: Pasó de mercado ...
2.
Zitator:
Was als folkloristischer Flohmarkt mit alten Schuhen und Kunsthandwerk
begonnen hat, ist in Zeiten chronischer Wirtschaftskrise und Staatsbankrott
eine reale Alternative geworden, die weltweit die Währungssysteme verändern
wird.
Erzählerin:
Ruben Ravena organisierte am 1. Mai 1995 den ersten Tauschklub Argentiniens
in einer Garage in Bernal, im Süden der Hauptstadt. Heute leitet der 38-Jährige
ein Museum für Botanik und verdient genug, um seinen Lebensunterhalt zu
finanzieren, aber damals lebten er und seine beiden Freunde aus der Öko-Gruppe
von der Hand in den Mund. Und so ging es den meisten ihrer Nachbarn:
Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter, ledige Mütter. Sie litten besonders unter
der Währungspolitik der damaligen Regierung, die zur Bekämpfung der Inflation
den Peso an den US-Dollar gebunden hatte und per Gesetz daran gehindert war,
Geld zu drucken, das nicht durch Devisenreserven gedeckt war. Dies führte dazu,
dass zu wenig Geld im Umlauf war, die Löhne zu niedrig, die Preise zu hoch. Und
da niemand Geld in der Tasche hatte, druckten die Klubs es eben selbst. Ihr
Geld, ihre Créditos. Vorbei an den Auflagen von IWF und Weltbank.
O-Ton:
En el comienzo ...
2.
Zitator:
Anfangs waren wir zwanzig. Heute stellen wir mit fünfzehnhundert Knoten das
größte soziale Netz des Landes. Uns verbindet das „soziale Geld“, die Créditos,
das von den Klubs gedruckt und verteilt wird und meist auch in anderen Knoten
als Zahlungsmittel akzeptiert wird. Unter unserem Dach vereinen wir kleine und
mittlere Betriebe, denen das herrschende Wirtschaftsmodell keine Chance lässt.
Erzählerin:
Die Gründerväter suchten nicht nur eine praktische Lösung ihrer
Alltagsprobleme. Sie suchten und suchen nach einer theoretischen Alternative
zur herrschenden, kapitalistischen Logik des Marktes. Sie beziehen sich dabei
auf Silvio Gesell, den „Karl Marx der Anarchisten“, Autor des 1916 in Bern
erschienenen Buches „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und
Freigeld“. Gesell kritisierte Zinswucher und Spekulation und entwickelte eine Wirtschaftstheorie,
die ohne Zinsen und Inflation funktionieren sollte. Für seine Gegner aus dem
kommunistischen Lager war Gesell, der viele Jahre in Argentinien lebte, ein
„Idealist“ und „Träumer“. Für andere war er – wegen seiner Attacken gegen das
„jüdische Finanzkapital“ - ein Antisemit. Gesell wollte die kapitalistische
Ausbeutung unmöglich machen, indem er mit „Freigeld“, einem umlaufgesicherten,
mit ständiger, aber geringer Gebühr belasteten Zahlungsmittel jeden
Geldbesitzer dazu zwingen wollte, etwas mit seinem Geld anzufangen, statt es zu
horten. Am Ende sollte eine Wirtschaft stehen, die ohne Zinsen auskam. Die
Einkünfte aus der Verpachtung von Grund und Boden sollte die öffentliche Hand
verwalten, niemand sollte auf Kosten anderer oder von Zinseinkünften leben.
Gesell starb 1930. Seine Idee lebe aber weiter, so Ruben Ravena. Heute träumten
immer mehr Menschen von einer Gesellschaft, die nicht auf dem Terror des
Marktes beruhe. In einem Land wie Argentinien, in dem die Banken und der
Internationale Währungsfonds für die Verarmung breiter Bevölkerungsteile
verantwortlich seien, sollten endlich Lehren gezogen werden. So habe etwa sein
Tauschklub beschlossen, die von den Banken angebotenen Kredite abzulehnen. Auch
internationale Entwicklungsorganisationen suchten in den letzten Jahren Kontakt
zu den erfolgreichen Klubs und böten Finanzmittel an, meist Kleinkredite für
Selbständige, die aber bei genauem Hinsehen hohe Zinsen beinhalten.
O-Ton:
Nosotros en un principio ...
2.
Zitator:
Am Anfang haben wir verzweifelt Geld gesucht. Wir hofften, dass uns die
Vereinten Nationen unterstützen würden, die Welternährungsorganistion oder die
Kommission für Entwicklung und Handel. Das hat alles nicht geklappt. Jetzt
stehen wir auf eigenen Beinen, kommen selbst über die Runden und brauchen deren
Geld nicht mehr, müssen uns auch nicht um ihre Bedingungen scheren.
Erzählerin:
Das landesweite Netz der Tauschklubs ist über Knoten verbunden, man
kommuniziert über Email, das ist schnell und billig. Von La Quiaca an der
bolivianischen Grenze bis hinunter nach Feuerland schließen sich Bürger dem
Netz an. Die Mitgliedschaft muss schriftlich beantragt, die „Prinzipien des
globalen Tauschnetzes“ akzeptiert werden.
1.Zitator:
Erstens:
2.
Zitatorin:
Unsere menschliche Bestimmung hat nichts mit Geld zu tun.
1.Zitator:
Zweitens
2.
Zitatorin:
Wir machen keine Reklame für Waren oder Dienstleistungen, sondern helfen
uns gegenseitig, um unserem Leben einen tieferen Sinn zu geben: Arbeit.
Verständnis und einen gerechten Handelsaustausch
1.
Zitator:
Drittens
2.
Zitatorin:
Wir glauben, dass es möglich ist, auf dem Weg der gegenseitigen Hilfe die
kalte Konkurrenz, den Profit und die Spekulation zu überwinden.
Erzählerin:
Das hört sich an wie aus der Bekenntnisschrift einer Sekte oder wie aus
einem Märchen von einer besseren Welt. Für die Tauschklubs soll diese Utopie
Realität werden. Ihre „Créditos“ sind ein Zahlungsmittel geworden, in das die
Menschen vertrauen. Immerhin steht hinter den Créditos reale, nachvollziehbare
Arbeit. Was steht – so fragen viele - hinter einem Peso und hinter einem
Dollar?
Atmo:
Stimmendurcheinander
Erzählerin:
Sonntagmorgen, auf dem „Bernalesa-Markt“. Vor dem Eingangstor bieten
Kleinhändler Würstchen und Getränke an. Zum Unmut der Veranstalter nehmen auch
junge Frauen Tausch-Tickets für „horizontale Dienste“ entgegen. Die „schnelle
Nummer“ kostet zwanzig Créditos, Präservativ inbegriffen. Am schmiedeeisernen
Tor werden Mitgliedsausweise kontrolliert. Zutritt hatten früher nur
Mitglieder, inzwischen werden auch Nicht-Eingeschriebene zugelassen.
O-Ton: En realidad ...
Erzählerin:
Gäste müssen eine Eintrittsgebühr in Höhe von zwei Créditos und einem Peso
zahlen, erklärt der Mann am Tor. Dafür können sie auf dem Gelände anbieten, was
sie wollen, Obst und Fleisch und medizinische Behandlung. Die Behandlung finde
natürlich nicht hier, sondern in der Praxis des Arztes statt. Der einzige
Unterschied: Die Patienten zahlen, statt mit Pesos, mit Créditos.
Erzählerin:
Der Handel geht um die Mittagszeit los, doch schon ab neun Uhr bilden sich
lange Schlangen.
O-Ton: Nosostros somos de otro lugar, yo
soy ...
2.
Zitatorin:
Ich bin von einem anderen Knoten, aus dem Tigre, und tausche mit Kosmetik.
In Krisenzeiten sparen die Leute zuerst bei Kosmetika. Hier verlange ich für
ein Töpfchen Creme einen Crédito, mit dem ich Lebensmittel kaufe. Oder Strümpfe
und Unterwäsche. Ich stelle meine Ware nicht selbst her, sondern kaufe sie mit
Pesos beim Großhändler. Früher habe ich Hausbesuche gemacht, aber nur wenige
sind mir geblieben. Auf sie bin ich unbedingt angewiesen, denn von meinen
privaten Kunden kassiere ich Pesos, die ich für den Einkauf meiner Ware
brauche. Auch die Licht- und Telefonrechnung muss ich mit Pesos bezahlen. Mein
Mann hat gerade seine Arbeit verloren und bekommt 180 Pesos Stütze. Das reicht
vorne und hinten nicht. Meine Kinder sind zum Glück schon groß und helfen uns.
Sonst wüsste ich gar nicht, wovon wir leben sollten. Seit mein Mann arbeitslos
ist, sind wir nicht mehr krankenversichert. Da bleibt nur das öffentliche
Hospital. Ich war noch nie im Leben ohne Krankenversicherung. Und nächsten
Monat muss ich operiert werden. Ich bin 61, mein Mann 63. In dem Alter wird er
keine Anstellung mehr finden, und wir wissen nicht, ob er jemals Rente kriegen
wird. Wir sind aus dem Mittelstand in die Armut abgesackt, und was das
Schlimmste ist: Wir haben keine Hoffnung auf Besserung. Zum Glück kann ich im
Tauschmarkt das besorgen, was ich zum Überleben brauche.
Erzählerin:
Auf einem Tapeziertisch legt Eduardo López Orangen und Basilikum aus.
Anfangs wollte er von diesen „Hippie-Ideen“, wie er sie genannt hat, nichts
wissen. Aber seit einem Jahr kommt er jeden Sonntag und bietet an, was er
gerade vom Baum gepflückt oder gekocht hat.
O-Ton: Eduardo Lopez ...
1.
Zitator:
Ich bin seit fünf Monaten Mitglied im Tauschklub. Bei der Aufnahme habe ich
fünfzig Créditos erhalten, damit ich was zum Tauschen habe. Für mich ist dies
die einzige Möglichkeit zum Überleben. Nein, ich bin nicht arbeitslos. In der
Papierfabrik verdiene ich 1000 Pesos (umgerechnet 280 Euro). Ich habe fünf
Kinder, und meine Frau ist Hausfrau. Jeden Sonntag setze ich mit dem Verkauf
von Früchten, Nüssen und Eiern etwa 700 Créditos um, damit können wir uns
ernähren.
Erzählerin:
Nicht die Hippies der Anfangsjahre bestimmen das Bild der Tauschklubs,
zunehmend kommen Unternehmer im Firmenwagen. Zum Beispiel der 52-jährige Raúl
Biatra:
O-Ton: Yo tengo un reparto ...
1.
Zitator:
Ich hatte noch bis vor kurzem einen Vertrieb für chemische Produkte,
Säuren, Reinigungsmittel, Industriebedarf. Aber in der formalen Wirtschaft verdiene
ich nichts mehr. Ich habe fast alle Kunden verloren, denn niemand hat mehr
Geld, keiner zahlt seine Rechnung. Meine Kunden machten Bankrott und ich mit
ihnen. Gerettet hat mich der Tauschmarkt. Hier biete ich jetzt meine Waren an
und kann mit dem Erlös Lebensmittel, Kleider, Tapeten und Zement für den Ausbau
meines Hauses kaufen. Ich habe sechs Kinder und sechs Enkelkinder.
Erzählerin:
Von Silvio Gesell hat Biatra noch nie gehört, und gegen Geld und
Kapitalismus habe er eigentlich nichts, meint er. Ohne Zahlungsmittel gebe es
keinen Handel. Auch die Créditos seien Zahlungsmittel, die besser
funktionierten als die staatlichen. Allerdings könne mit ihnen nicht
akkumuliert werden, wer sparen will, muss doch wieder auf eine Währung
zurückgreifen, die von irgendeiner Zentralbank abgesichert ist. Am besten also
auf den Dollar. Der Tauschmarkt ist kein in sich abgeschottetes System, sondern
hat mehr mit Kapitalismus zu tun, als seine Gründer zugeben. Längst sind die
Grenzen durchlässig geworden. Die Waren der formalen Wirtschaft werden in
Tauschklubs umgesetzt, Güter der geldlosen Wirtschaft landen in normalen
Betrieben.
O-Ton: Lo que tiene que tener ...
1.
Zitator:
Die Regierung weiß sehr genau, dass wir unentgeltliche Sozialarbeit
leisten. Wenn sich die Menschen nicht mehr über die Tauschklubs ernähren
könnten, wären sie alle „piqueteros“.
Erzählerin:
„Piqueteros“ sind Straßenblockierer, Arbeitslose aus den Armenvierteln. Sie
blockieren Brücken oder Landstraßen, um Sozialprogramme und Hilfspakete zu
fordern. Doch in Zeiten von Wirtschaftskrise und Zahlungsunfähigkeit hat die
Regierung immer weniger Geld für Hilfsprogramme. Diese Leute können heute nur
überleben, weil sie – meist sind es ihre Frauen – in den Tauschklubs etwas
anbieten und mit dem Erlös Nahrungsmittel erwerben. In den Amtsstuben versucht
man, sich die neue soziale Struktur zunutze zu machen, sie in eine gewünschte
Richtung zu lenken. Anfangs fürchteten sich die Politiker vor der Organisierung
der Armen, die ohne Geld und staatliche Aufsicht neue produktive Wege gehen und
dabei recht erfolgreich sind. Stellen sie doch die herrschende Ideologie in
Frage, nach der es keine Alternativen zum kapitalistischen Modell gibt.
Andererseits sehen sowohl die argentinische Regierung wie internationale
Finanzorganisationen eine Chance, sich das lästige und kostspielige Problem der
Armutsbekämpfung vom Hals zu schaffen. Sie loben die erfinderische Initiative
der Mittellosen, die sich selbst über die Runden bringen und nicht länger dem
Staatshaushalt zur Last fallen. Das erspart ihnen teure Sozialprogramme. Gerade
hat die Regierung vorgeschlagen, in Zukunft Arbeitslosen und den im
Beschäftigungsprogramm Tätigen „Créditos“ und nicht Pesos auszuzahlen. Dies
haben die Tauschklubs rundweg abgelehnt, nur Prämien und Einmalzahlungen
dürften notfalls mit ihren Tickets entrichtet werden. Die Behörden sehen es mit
Wohlwollen, dass zwei ökonomische Kreisläufe entstehen, der Kreislauf der
realen Wirtschaft, in dem die Zentralbank Geld ausgibt, in dem Steuern erhoben werden
und Sozialversicherungen existieren. Und der Kreislauf der informellen
Wirtschaft, mit privaten Tausch-Tickets, wo wenig oder gar nicht besteuert
wird, aber vom Staat auch nichts erwartet wird: keine Gesundheitsfürsorge,
keine Renten, keine Förderung von sozial Benachteiligten. So kann sich der
Staat aus der Sozialarbeit herausziehen, so können Finanzmittel und Beamte
eingespart werden.
Atmo:
Büro, Stimmen
Erzählerin:
Carlos Fazio ist im Arbeitsministerium für den informellen Sektor
zuständig. Für ihn sind die Tauschklubs „Hilfe zur Selbsthilfe“.
O-Ton: No está alcanzada ...
2.
Zitator:
Wir verzichten auf die Erhebung von Steuern, denn der Gesetzgeber geht
davon aus, dass es sich bei ihnen um ein alternatives System handelt. Sie
zahlen weder Mehrwertsteuer noch Einkommens- oder sonstige Steuern. Weder an
die Zentralregierung noch an die Provinzen. Sie benutzen ja auch kein normales
Geld.
Erzählerin:
Wäre es nicht möglich, den fliegenden Händlern wenigstens eine Kranken- und
Rentenversicherung zu verschaffen, indem der Staat den Arbeitgeberanteil
übernimmt?
O-Ton: Es dificil pensar ...
2.
Zitator:
Das wäre sinnvoll, aber wer soll das finanzieren? Die Regierung hat dafür
zur Zeit kein Geld.
Erzählerin:
Sie wird dafür auch später kein Geld haben. Die Armen haben keine Lobby,
allenfalls in Wahlkampfzeiten werden Almosen verteilt. Nun könnten Betriebe,
die mit informeller Arbeitskraft
produzieren und Löhne in Naturalien zahlen, zur Kasse gebeten werden. Aber
diese Abrechnungen sind kompliziert. Das Ministerium ist froh, dass jemand den
Arbeitslosen etwas zu essen gibt. Fazio holt aus seinem Schreibtisch ein Paket
Spaghetti:
O-Ton:
Estos fideos ...
2.
Zitator:
Diese Nudeln werden vom Knoten „West“ hergestellt. Die Stadtverwaltung gibt
an zwei Fabriken Mehl, die praktisch pleite waren und von ihren Beschäftigten
übernommen wurden. Ein Teil der Nudelpakete geht an das Rathaus, den Rest
erhalten die Arbeiter als Lohn. Sie bieten die Spaghetti auf dem Knoten-West
an, und mit dem Erlös erwerben sie andere Güter.
O-Ton: Estamos con la idea ...
2.
Zitator:
Wir wollen jetzt Kleinkredite an die Prosumidores vergeben, damit sie ihre
Aktivitäten ausbauen können und professioneller werden. Unser Ziel ist ihre
Wiedereingliederung in die formale Wirtschaft.
Erzählerin:
Doch geht es wirklich um die Wiedereingliederung der informellen
Arbeitskräfte in die reale Wirtschaft? Heute gilt fast die Hälfte aller
Argentinier als „arm“. Die Industrie ist nicht in der Lage, diesen Menschen
Arbeit anzubieten, denn ihre moderne Technologie vernichtet wie die europäische
Arbeitsplätze. Für Beschäftigungsprogramme und Sozialhilfe ist, sagen die
Politiker, kein Geld vorhanden, das Land ist hoch verschuldet, zahlungsunfähig.
Die Menschen werden ausgegrenzt bleiben, außerhalb der realen Wirtschaft mit
ihrem Sozialversicherungssystem. Sie sollen sich daran gewöhnen, sich selbst zu
versorgen, keine Forderungen zu stellen, Vater Staat nicht zur Last zu fallen.
Die Regierung stehle sich aus der Verantwortung und überlasse die Sozialpolitik
den Kirchen und Tauschklubs, beanstanden Kritiker und fordern engagierte Leute
auf, sich nicht für diesen zynischen Plan missbrauchen zu lassen. Besonders die
traditionelle Linke hält wenig von den Klubs. Sie seien „reformistisch“,
unübersichtlich und ohne straffe Parteiorganisation. Der Staat und nicht linke
Aktivisten seien für Sozialarbeit zuständig, die die Entrechteten davon
abhalte, auf die Barrikaden zu steigen. Graciela vom Sozialwerk Sentimiento
kontert:
O-Ton:
Al nivel mundial los programas ...
1.
Zitatorin:
Auf Druck der Rechten gehen weltweit die Armutsprogramme sowieso zurück.
Wir bekommen vielleicht noch ein paar Almosen in Katastrophenzeiten, aber nicht
umsonst, sondern gebunden an strenge Bedingungen und zu hohen Zinsen. Wir
kriegen nichts geschenkt, um uns weiter zu entwickeln. Und wir wollen uns auch
nichts schenken lassen. In den Tauschklubs haben sich die Armen zusammengetan.
Für uns ist dies eine wirkliche Gegenmacht, kein Heftpflaster auf die Armut.
Hier organisieren wir uns, und hier zeigen wir jeden Tag, dass man in
Argentinien überleben kann, ohne sich aus dem Ausland Vorschriften machen zu
lassen. Wir zeigen einen neuen Weg und hängen nicht von der Regierung und schon
gar nicht vom Internationalen Währungsfonds ab. Der IWF hat uns überhaupt
nichts zu sagen, wir sind ein Parallelmarkt und eigenständig.
Erzählerin:
Die 48-jährige hat, wie fast alle Gründungsmitglieder ihres Sozialwerkes,
in den siebziger Jahren, während der Militärdiktatur, im Gefängnis gesessen.
Sie hatte in den Reihen der Guerilla, bei der „Partei der Revolutionären
Arbeiter“, gekämpft.
O-Ton:
Nosotros eramos guerilleros ...
1.
Zitatorin:
Wir waren damals Guerilleros. Aber wir waren nicht nur im Untergrund,
sondern auch an der Basis. Und wie damals glauben wir nicht, dass der
Kapitalismus die Menschen glücklich macht. Immer mehr fallen aus dem Netz
heraus. Sie verlieren ihre Arbeit und haben nichts zu essen. Deshalb kämpfen
wir an zwei Fronten: für ein anderes Gesellschaftssystem und – zusammen mit den
Leuten - um das schiere Überleben.
Erzählerin:
Heute ist sie in keiner politischen Gruppe aktiv. Alle politischen Parteien
würden von der Bevölkerung abgelehnt, sie gelten als korrupt und unfähig, auch
die linken. Das sei zwar traurig, meint Graciela Draguicevic, aber in ihrem
Herzen gibt sie den Leuten recht. Haben nicht viele mit oppositionellen Parolen
Karriere gemacht und dann, als ihre individuellen Versorgungsansprüche
gesichert waren, sich auf die Politik des Machbaren zurückgezogen und
abgestimmt, was die Mächtigen von ihnen verlangten? Die Mächtigen in
Argentinien und die auf der nördlichen Halbkugel, die ihrem Land in Gestalt des
Internationalen Währungsfonds entgegen treten:
O-Ton: Tenemos el fondo internacional ...
1.
Zitatorin:
Der IWF und Europa erpressen uns. Sie verlangen für neue Kredite, dass die
Regierung 10.000 Angestellte entlässt. Das wären 10.000 Arbeitslose, die keine
Aussicht auf einen Job haben. Und sie fordern die Privatisierung der beiden
letzten öffentlichen Banken. Das wollen wir verhindern.
Absage:
Prosumieren statt konsumieren - Tauschhandel in Argentinien
Ein Feature von Gaby Weber.
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks.
Es sprachen: Ursula Illert, Susanne Flury, Jochen Kolenda, Andreas Ramstein und
Ruth Schiefenbusch.
Ton und Technik: Gabriele Albert und Susanne Friedrich
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Hermann Theißen