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PhiN
87/2019: 125
Gerhard
Poppenberg (Heidelberg)
Benjamins
Trauerspielbuch und das spanische Barock
Überlegungen
ausgehend von zwei Neuerscheinungen zum Thema
Achim
Geisenhanslüke (2016): Trauer-Spiele.
Walter Benjamin und das europäische Barockdrama.
Paderborn: Fink.
Mariela
Vargas (2018): Baltasar
Graciáns Spuren in den Schriften Walter Benjamins.
Berlin: Kadmos.
Das Denken
Walter Benjamins ist seit
fünfzig Jahren ein
fester Posten in literaturtheoretischen Diskussionen. In den letzten
Jahren
sind allein mehrere Monographien zum Ursprung
des deutschen Trauerspiels (1928) erschienen. Das Buch hat
nach einer
ersten sporadischen Rezeption ab den Sechzigerjahren eine
weitläufige Wirkung
entfaltet. Die Einschätzung reicht von Hyperbolik –
das "bedeutendste Werk"
der internationalen Barockforschung (K. Garber) – bis zu
entschiedener
Ablehnung. Es ist nicht nur eine Studie über das barocke
Theater, sondern eine
geschichtsphilosophisch grundierte Erkundung des Zeitalters der
Prämoderne. In
einem Brief an
Scholem vom 22. Dezember 1924 nennt Benjamin als Absicht
des
Buchs, den "Urgrund des Barock lebendig erscheinen" zu lassen. Die
Zeit der Glaubensspaltung in Europa hat geographisch Gestalt gewonnen
als
Differenz des protestantischen Nordens und des katholischen
Südens, der in der
Perspektive Benjamins in Spanien seine literarisch und
geistesgeschichtlich
deutlichste Ausprägung gefunden hat. Deshalb handelt das Buch
gleichermaßen vom
deutschen wie vom spanischen barocken Drama; in dem
angeführten Brief nennt er
Calderón den "virtuellen Gegenstand der Abhandlung".
Achim
Geisenhanslüke hat in Trauer-Spiele.
Walter Benjamin und das
europäische Barockdrama eine
umsichtige Einführung in die philologischen und
philosophischen Fragen von
Benjamins Barockbuch gegeben und diese Spur aufgenommen. Er hat im
Horizont von
Benjamins Studie das deutsche barocke Drama im europäischen
Kontext des
französischen und spanischen Theaters untersucht. In einer
kenntnisreichen Rezension
hat Joachim Harst
die die gattungsgeschichtliche Frage der Differenz
von
Tragödie und Trauerspiel als ein leitendes Thema des ersten
Teils von Benjamins
Buch in diesem europäischen Kontext aufgerollt. Der zweite
Teil von Benjamins
Studie, die Allegorie als Denkform der barocken Diskursformation, ist
nicht
Gegenstand von Geisenhanslükes Ausführungen. Die
folgenden Überlegungen zielen
auf den von Benjamin angesprochenen "Urgrund des Barock".
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Das
diskursive Apriori der Epoche ist das Schisma des Christentums im
Gefolge der
protestantischen Reformation zunächst in Deutschland, dann in
den meisten
anderen europäischen Ländern. Ihm folgen die
zahllosen religiös motivierten
Kämpfe und Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts.
Überlegungen
zu
Calderóns Dramen und zum spanischen Barock
durchziehen
das Trauerspiel-Buch als ein roter Faden. Für das
Verständnis des deutschen –
und europäischen – Trauerspiels ist das
Verhältnis des protestantischen Nordens
zum katholischen Süden bedeutsam; das spanische Barockdrama
ist der
Probierstein für das deutsche. Es geht Benjamin um die
Unterschiede von "nationell
und theologisch bedingten Auffassungen der Wirklichkeit" (VI, S. 217).
Aufgabe einer theoretisch anspruchsvollen Literaturkritik ist es, die
den
Werken zu Grunde liegenden "historischen Sachgehalte" in
"philosophische
Wahrheitsgehalte" zu verwandeln. Das ist der Sinn von historischer
Erkenntnis. Die Werke der Kunst sind Figurationen historischer Wahrheit.
Eine
Schwierigkeit
von Benjamins
Barock-Buch liegt in der intrikaten Verbindung von Philologie und
Philosophie.
Der Titel verweist auf eine literaturgeschichtliche Studie, die
Benjamin aber
im Geist von geschichtsphilosophischen Fragen durchführt. Die
dramatische
Gattung des Trauerspiels wird zum Ausgang der Frage nach dem
Trauerspiel der
deutschen Geistesgeschichte. Sein Ursprung liegt in der
Prämoderne von
Reformation und Gegenreformation. Er wird verstehbar erst, wenn er im
europäischen Kontext betrachtet wird. Für Benjamin
war das in erster Linie der
spanische Süden Europas, denn Spanien war nicht nur die
politische Großmacht
der frühen Neuzeit, sondern mehr noch die intellektuelle
Avantgarde der
europäischen Prämoderne. Das bezeugen neben anderem
die Debatten um den freien
Willen im Gefolge von Molinas Concordia
(1588), die Einsichten in die ontologische Verfassung von dichterischer
Fiktion, die Cervantes oder Góngora eröffnet haben,
der Konzeptismus, den
Gracián theoretisch erschlossen hat, und das barocke Drama,
das mit der Figur
des Welttheaters einen politisch-theologischen Entwurf des menschlichen
Lebens
entfaltet hat.
Achim
Geisenhanslüke hat diesen
europäischen Kontext im Spiegel der Theaterliteratur
Deutschlands, Frankreichs
und Spaniens – England bleibt ausgespart –
für eine neue Lektüre von Benjamins
Trauerspiel-Buch erschlossen. Allerdings verbleibt er bei der Deutung
der
Stücke weitgehend im Horizont der romanistischen Fachkritik
und bleibt deshalb
ratlos vor Benjamins Urteil, Calderóns La
vida es sueño sei die "vollendete Kunstform" des
barocken Dramas
(I, S. 260). Da Benjamin selbst es nicht für nötig
erachtet hat, die
behandelten Stücke einlässlich zu untersuchen, stehen
seine Urteile sehr
apodiktisch da. Dass sie ein Fundament in der Sache haben, ist einer
Deutung
erkennbar, die sich in die Texte, wie Benjamin es nannte, versenkt.
Für
Geisenhanslüke wird im Einklang mit der gängigen
Forschung die klassizistische
Tragödie schlechthin, Racines Phèdre,
zum Höhe- und Endpunkt seines Parcours durch das
europäische Drama.
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Obwohl er
bisweilen den elementaren theologischen Konflikt der Epoche anspricht,
berücksichtigt er ihn bei der Deutung der Stücke so
gut wie gar nicht. Im
historischen Sachgehalt der protestantischen Dramen von Gryphius, der
jansenistischen Stücke von Racine und des katholischen
Theaters der
Jesuitenschüler Corneille und Calderón
wäre der geschichtsphilosophische
Wahrheitsgehalt zu erschließen. Mit Calderóns
Stück ist er kurz anzudeuten.
Im Rahmen der
protestantischen
Rechtfertigungslehre wird das Irdische zu leerem Schein und
schattenhaftem
Nichtsein; allein der Glaube gibt Zugang zur wahrhaften Wirklichkeit.
Die im
Barock allgegenwärtige Metapher des Traums bedeutet dann: nur
Traum. Unser
Leben, so Gryphius in seinem Vanitas-Gedicht, ist ein "mit herber Angst
vermischter Traum". Im konzeptuellen Zentrum der Stücke
Calderóns steht
die katholische Rechtfertigung der Werke und alles Irdischen. Das Leben
mag
Traum sein, es ist aber nicht nur Traum, sondern als diese virtuelle
Schattenwirklichkeit selbst etwas, so die ursprüngliche
Einsicht Segismundos in La vida es sueño.
Der
Schein erhält
seine ontologische Dignität im Werk als gute oder
böse Tat. Die guten Taten,
das Werk als Tat neutralisiert die Opposition von Sein und Schein,
Traum und
Leben, Fiktion und Wirklichkeit; das gute Handeln bildet die Wahrheit
der
Wirklichkeit. Das Ethos des Guten erfüllt sich
gleichermaßen im Leben wie im
Traum. Die Unterscheidung von Gut und Böse und die
Entscheidung zwischen ihnen
transzendieren die Differenz von Sein und Schein. Die guten Werke sind
das
Bleibende. Calderón weitet das bis auf die Werke der Kunst
aus. Die Freiheit
als Freiheit des Willens zur moralisch anspruchsvollen Entscheidung ist
das
Wesen des Menschen. Das ist die ursprüngliche Einsicht
Segismundos und des
Stücks, dessen Held er ist: Das
Leben ist
Traum.
Das Handeln hat
im freien Willen das
Kriterium seiner
Wirklichkeit. Traumwelt und Lebenswelt werden im Geist der freien
Willenshandlung integriert. Weil eine freie Handlung als Beginn einer
neuen Kausalkette
einen neuen Wirklichkeitsraum eröffnet, wird das Urteil
über ihre Wahrheit erst
zukünftig möglich sein; es liegt außerhalb
der Verfügung des Handelnden. Der
Spielraum der Freiheit wird zum garantielosen Garanten der Wirklichkeit
und
Wahrheit des Lebens. So liest Benjamin dem historischen Sachgehalt
– der
Spannung des Zeitalters der Glaubenskriege, der Kirchenspaltung und des
europäischen Bürgerkriegs – einen
philosophisch-theologischen Wahrheitsgehalt
ab – die Artikulation von Reformation und Gegenreformation
als Ursprung der
europäischen Neuzeit.
In Spanien
wurden die Stücke
nicht Trauerspiel, sondern comedia
genannt. Damit ist nicht die
Gattungsbezeichnung Komödie gemeint; das spanische Theater der
Prämoderne
praktiziert eine elementare Gattungsmischung: "lo trágico y
lo cómico mezclado",
so Lope de Vega in seinem Verstraktat El
arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609).
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Die
Interferenz
verschiedener Bereiche wird in der spanischen Literatur des Zeitalters
auf
unterschiedliche Weise und in diversen Hinsichten vom Don
Quijote über die Dramen
Calderóns bis zu Graciáns Criticón
reflektiert: Tragik und Komik,
Theater und Leben, Fiktion und Wirklichkeit, Sein und Schein, Erde und
Himmel,
Sünde und Gnade, Gut und Böse, Gott und Teufel.
Baltasar
Gracián hat diese
Figurationen in Agudeza y arte de ingenio
– Scharfsinn und
Kunst des Ingeniums in der Denkfigur des concepto
als eine Korrelation von Gegensätzen formalisiert. Ein concepto
"besteht in einer
vorzüglichen Kongruenz, einer harmonischen Korrelation
zwischen zwei oder drei
erkennbaren Extremen, die durch einen Verstandesakt zum Ausdruck
gebracht wird."
Es geht dabei um eine Korrespondenz, die zwischen den Dingen zu finden
ist. "Diese
zum Ausdruck gebrachte künstliche Konsonanz oder Korrelation
ist die objektive
Subtilität." (Consiste, pues, este
artificio
conceptuoso en una primorosa concordancia, en una armónica
correlación entre
dos o tres cognoscibles extremos, expresada por un acto de
entendimiento. [...]
Es un acto del entendimiento que exprime la correspondencia que se
halla entre
los objetos. La misma consonancia o
correlación artificiosa exprimida es
la sutileza objetiva; II,27) Es geht um Verhältnisse, die in
den Dingen liegen
und zu finden sind, aber nicht um die natürlichen und
offensichtlichen, sondern
um solche, die durch die ingeniöse Einsicht den Dingen
hinzugefügt und so als
in der Sache liegend und ihr zukommend erkennbar werden. Wichtig ist
dabei der
artifizielle Charakter; er unterscheidet die ingeniöse
Einsicht von der einfachen
Beobachtung der Natur und der Erkenntnis ihrer Gesetze und
lässt sie um ein
Moment über die Wirklichkeit und Wahrheit der Sache
hinausgehen.
Die
klügeren Leser Benjamins
haben bemerkt, dass sein Barockbuch
mit einem Kolumnentitel endet, der Graciáns Agudeza
entnommen ist. Sucht man allerdings in der abundanten
Benjamin-Philologie nach
Hinweisen auf diese Verbindung, stellt man fest, dass solche Klugen
selten
sind. Der Weg vom barocken concepto
zum dialektischen Bild Benjamins scheint noch ganz unbekannt
zu sein. Benjamin
hat die elementare Verfassung des prämodernen Denkens
ausgehend von der
barocken Allegorie aufgezeigt und diese Denkform über die
romantische Ironie –
die ihm die Einsicht ins Barocke vorgebildet hatte – bis zu
seinen eigenen
Konzeptionen des mimetischen Vermögens und des dialektischen
Bilds weiter
entfaltet.
Mariela Vargas
hat nun in einer in
Berlin an der Humboldt
Universität und am Zentrum für Literaturforschung
entstandenen Dissertation die
Spuren Graciáns in den Schriften Benjamins verfolgt. Sie
skizziert anfänglich
kurz die gängige Benjamin- und Barockphilologie, die jeweils
großenteils
ohneeinander auskommen; das gilt nicht weniger für die
Germanistik wie die
Hispanistik. Catharina von Georgien
und El príncipe constante
haben
erkennbar den gleichen Gegenstand, behandeln ihn aber auf ganz
unterschiedliche
Weise. Benjamin hatte diesen Unterschied genau im Blick und er hat sein
Besonderes in der Differenz des protestantischen und katholischen
Christentums
verortet. Das hat ihm einen Einblick in die Signatur der Epoche
ermöglicht, der
die erwähnten Forschergruppen nicht zu interessieren scheint.
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Die Benjaminiten,
so hat Uwe Steiner schon vor vielen Jahren moniert, verzichten
generös auf eine
ernsthafte Auseinandersetzung mit der Literatur, und die
Literaturwissenschaftler – Germanisten wie Hispanisten
– scheuen ängstlich vor
dem nicht gerade leicht zugänglichen Buch Benjamins.
Mariela
Vargas
zeigt akribisch, wie
sich Gracián-Lektüren in
Benjamins Schriften niedergeschlagen haben. Jede Erwähnung
wird angeführt. Das
schießt bisweilen etwas über das Ziel hinaus, wenn
auch Einbahnstraße, wo
Gracián nicht erwähnt wird, wegen der
aphoristischen
Form in diese Reihe aufgenommen wird. Der Aphorismus ist nicht gerade
ein
Alleinstellungsmerkmal der beiden Autoren. Bei dieser Spurensuche ist
zu
berücksichtigen, dass Benjamin kein Spanisch konnte. Vargas
zitiert einen Brief
vom 15. 4. 1933 aus Ibiza an Gretel Karplus, in dem Benjamin mitteilt,
er habe
angefangen Spanisch zu lernen, aber das scheint nicht sehr weit
gediehen zu
sein. Und von einer "altmodischen Grammatik, den Tausend Worten und
endlich einer neuen und ganz raffinierten Suggestivmethode" zur
Lektüre
von Gracián ist es doch sehr weit. Deshalb waren Benjamin
lediglich Handorakel
und Kunst der
Weltklugheit in
der Übersetzung Schopenhauers, in älteren
Übersetzungen auch die politischen
und hofmannstheoretischen Schriften zugänglich.
Außerdem gab es eine
Übersetzung des Criticón
vom Anfang
des 17. Jahrhunderts, die Benjamin aber nirgends erwähnt, also
wohl auch nicht
zur Kenntnis genommen hat. Der mehrfach in den
Dreißigerjahren brieflich
erwähnte Plan eines Aufsatzes über Gracián
bezog sich auf das Handorakel und
Fragen der Klugheitslehre
(S. 152). Dabei dürfte Benjamin auch den großen
geistesgeschichtlichen Horizont
der Klugheits-Traktate von der griechisch-römischen und
jüdischen Antike über
die frühmoderne Moralistik bis zu den
Verhaltenslehren seiner Gegenwart im
Blick gehabt haben. In diesem Feld war ihm Gracián offenbar
besonders wichtig.
Seine Lektüre steht also vor allem im Horizont der
zeitgenössischen Suche nach
Verhaltensregeln in der orientierungslosen Nachkriegsepoche. Hier
hätte eine
stärkere Kontextualisierung von Benjamins Rückgriff
auf Gracián mit anderen,
ebenfalls auf ihn rekurrierenden Klugheitskonzepten der Zeit wohl
stärkeres
Licht auf diese aneignende Auseinandersetzung werfen können.
Insgesamt ist das
Kapitel zur Handorakel-Lektüre Benjamins aber sehr
aufschlussreich und eröffnet
einen Zugang zu Benjamin, der in dieser Perspektivierung bislang nicht
gegeben
war. Graciáns Büchlein war für Benjamin in
seinen letzten Jahren offenbar ein
unerschöpflicher geistiger Begleiter: ein Taschenorakel in
allen Lagen des
prekären Lebens im Exil. Gracián hätte das
sicherlich für eine angemessene
Lesart des Buchs gehalten und dem Bruder im Geiste mit leichter
Verbeugung die
Ehre gegeben.
Vargas
führt auch die Wahl
eines Pseudonyms für
Veröffentlichungen als ein Gemeinsames zwischen Benjamin und
Gracián an; die
Motivation ist aber in beiden Fällen sehr verschieden.
Benjamin hat nach 1933
das Pseudonym Detlef Holz entwickelt, weil er als Jude Probleme mit der
Publikation von Texten bekam. Die Briefsammlung Deutsche
Menschen ist 1936 – nicht schon 1932 (vgl. S. 61)
– unter
diesem Pseudonym erschienen.
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Er hat aber auch weiterhin unter seinem
eigenen
Namen publiziert. Das Pseudonym war bei ihm auch Teil seiner
etwas manieriert-vertändelten
Geheimniskrämerei, die Hannah Arendt, wie Vargas
anführt, als Symptom einer
persönlichen Unsicherheit gedeutet hat. Bei Gracián
hingegen ist das Pseudonym
schlicht pragmatisch begründet. Man muss nicht das "streng
katholische
Spanien" – mit seinen stets abrufbaren Klischeeassoziationen
von Zensur
und Inquisition – bemühen (S. 160), sondern einfach
berücksichtigen, dass
Gracián Mitglied des Jesuitenordens war und deshalb gewisse
Grenzen zu beachten
hatte. Seine Bücher verstießen nicht gegen
irdenwelche religiöse Dogmen – sonst
hätten sie auch unter Pseudonym nicht publiziert werden
können –, sondern sind
unschicklich für einen Ordensmann. Das Pseudonym, der Name
seines Bruders, war
die Form eines öffentlichen Geheimnisses: formal nicht sein
eigener Name, aber
doch für jedermann erkennbar, dass es seine Bücher
waren.
Vargas zeichnet
die historische
Rezeption Graciáns
kursorisch und gestützt auf ältere
Forschungsliteratur nach. Die Linie vom
barocken Scharfsinn zum romantischen Witz hat Mercedes Blanco in ihrer
bahnbrechenden Studie Les
Rhétoriques de
la Pointe (1992) nachgezeichnet und eine systematische
Nähe, nicht aber
eine genealogische Deszendenz nahegelegt. Deshalb haben die Romantiker
nicht
den barocken Konzeptismus "entfaltet und erweitert" (S. 106).
Umgekehrt wird es richtig. Gracián hat die bis heute am
weitesten entfaltete
Darstellung des Ingeniösen als Denkform entwickelt. Die
Tatsache, dass die
Romantiker, die Cervantes und Calderón zu ihren geistigen
Helden machten,
Gracián nicht entdeckt haben, ist ein Beleg für
sein Vergessen im Lauf des 18.
Jahrhunderts. Hätten sie ihn gekannt, hätten sie
daran anknüpfen können.
Da die
unmittelbaren Bezüge
Benjamins zu Gracián doch eher
spärlich sind, verfällt Vargas bisweilen darauf, die
Barockdiskussion der
Zwanzigerjahre mit Gracián kurzzuschließen
– als wäre, wo Barock gesagt wurde,
Gracián gemeint gewesen. Und die Fragen einer deutschen
Moderne sowie eines
spezifisch Deutschen im Barock werden dann auch gleich mit auf das
Konto von
Gracián geschlagen. Insgesamt handelt es sich bei der Studie
doch eher um eine
über Benjamin als über Gracián, der immer
wieder lediglich als Stichwortgeber
fungiert und bisweilen ganz in der Chiffre Barock zu verschwimmen
droht. Der
Grund ist einfach. Benjamins Gracián-Lektüren
beschränken sich auf das Handorakel
und die Übersetzung des Político
von Lohenstein sowie die damals
einschlägige Forschungsliteratur. Es geht ja um "Spuren
Gracáns in den
Schriften Benjamins". Eine systematische Parallelaktion mit den beiden
scharfsinnigen Köpfen steht noch aus. Aber die Arbeit von
Vargas bietet eine
sehr gute Grundlage dafür. Parallel dazu hat Francisco Javier
Fernández Orrico
in Epistemología poética
(2017)
ebenfalls eine Parallelaktion der beiden Autoren durchgeführt.
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Benjamin hat
Gracián
zunächst in einem
geistesgeschichtlichen Umfeld kennengelernt, das Helmuth Lethen unter
dem
Rubrum der "Verhaltenslehren der Kälte" sichtbar gemacht hat.
Das ist
der Gracián der Klugheitslehre, die im Handorakel,
im Klugen Hofmann und im Criticón
entwickelt wird. Der
andere
Gracián, der neben dem arte de
prudencia
einen arte de ingenio entworfen
hat,
war im 17. Jahrhundert nicht minder bedeutend, aber das
ingeniöse Denken ist
mit der Aufklärung und der Idolatrie des Rationalen in
Vergessenheit geraten. Alle
Schriften Graciáns waren um 1700 in vor allem
französischen Übersetzungen
greifbar; nur die Agudeza-Abhandlung
ist außerhalb des spanischsprachigen Raums nicht rezipiert
worden, und auf
Deutsch liegt sie bis heute nicht vor.
Das Ingenium
ist für
Gracián nicht so sehr ein "sprachliches
Werkzeug für die Selbstbehauptung in einer feindlichen
Umwelt", also für
die Klugheitslehre, wie Vargas schreibt (S. 13), sondern ein mentales
Organon,
das eine eigene Form des Denkens ermöglicht. In der Vorrede an
den Leser zur Agudeza unterscheidet
er zwischen zwei
mentalen Vermögen, dem juicio
und
dem ingenio, die zwei verschiedene artes
bilden: den arte
de prudencia und die agudeza
en arte. Die Klugheitslehre hat er in anderen Texten
entwickelt. Die Kunst
des Scharfsinns wird in der Agudeza
entworfen. Vargas nennt das Buch einen Rhetorik-Traktat und
übersetzt ingenio mit
"Einbildungskraft"
oder "poetische Kreativität". Sie steht damit in einer Linie
der
Forschung (S. 104, Fn.8), die seit etwa hundert Jahren versucht, das
Buch zu
lesen. Gracián selbst sagt aber in der Vorrede
ausdrücklich, das Buch füge sich
nicht in die traditionellen Gattungen des geistigen Lebens. Die Alten
haben
Rhetorik und Dialektik als Kunstlehren methodisch entwickelt; sie haben
das
Schöne und das Wahre als Gestalten des Geistes und des Denkens
in Form der
tropischen Rede und des Syllogismus verstehbar gemacht. Das Ingenium
und der
Scharfsinn hingegen wurden immer nur erwähnungsweise
behandelt. Zwar hat es
Anteil an den beiden anderen Feldern, es ist aber doch ein Organon
eigener Art
mit einer eigenen Denkform. Der Anspruch Graciáns ist, einen
solchen arte de ingenio als
Kunstlehre des
ingeniösen Scharfsinns zu entwickeln. Die Verhaltenslehre der
Klugheit ist
davon ein Ableger. Der Aphorismus 13 des Handorakels
zeigt die Abgründe, die sich öffnen, wenn die
Klugheitslehre ingeniös
orchestriert wird.
Vargas
führt die mit
"Kaiserpanorama"
überschriebenen Seiten der Einbahnstraße
als Beleg für die Präsenz Graciáns in den
"scharfen kulturkritischen
Reflexionen" Benjamins an (S. 59). Sie zitiert sogar die grandiose
Stelle
über die Ironie als "das europäischste aller
Güter", schlägt dann
aber nicht den Bogen zur Denkform des Konzeptismus. "Das
europäischste
aller Güter, jene mehr oder minder deutliche Ironie, mit der
das Leben des
einzelnen disparat dem Dasein der Gemeinschaft zu verlaufen
beansprucht, in die
er verschlagen ist, ist den Deutschen – in einer anderen
Version: den 'Mitteleuropäern'
– gänzlich abhanden gekommen" (IV, S. 98; 919). Hier
wäre ein Einsatzpunkt
für die systematischen Beziehungen zwischen Benjamins und
Graciáns Denken im
Spannungsfeld von Mitteleuropa und Südeuropa. Einbahnstraße
ist nicht wegen der aphoristischen Form, sondern in
der Denkform ein Text im Geiste Graciáns.
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Der
Kolumnentitel ponderación
misteriosa am Ende des Barockbuchs, der im Text noch zwei Mal
zitiert wird,
entstammt dem sechsten Kapitel der Agudeza,
das selbst diese Überschrift trägt. Vargas stellt
zwar zunächst die Passage bei
Gracián dar, korreliert das aber durchweg mit Stellen aus
Benjamins
Reflexionen, so dass die mögliche Bedeutung
Graciáns für ein erweitertes
Verständnis Benjamins durch diese Deutung Graciáns
im Spiegel Benjamins kaum
erkennbar wird. Benjamin hatte die Formel auch nicht aus
Gracián selbst
gezogen, sondern aus Karl
Borinskis Die
Antike in Poetik und Kunsttheorie (S. 193), das er selbst als
eine "Fundgrube"
und als "wissenschaftlichen Schmöker" bezeichnet hat, wo man
in der "Fülle
des Materials" auch in Hinsicht auf das "Entlegene und Unbekannte"
fündig werde (III, S. 213). Borinski führt die Formel
nur nebenher an, um das "Eingreifen
Gottes ins Kunstwerk" zu benennen; und in diesem Sinn hat Benjamin sie
aufgenommen. Vargas betont entsprechend die "ganz andere Bedeutung"
bei Gracián (S. 111). Benjamins eigener Zusatz nach dem
langen Zitat aus
Borinskis Buch zeigt, dass die ponderación
misteriosa bei ihm nichts mehr mit Gracián zu tun
hat, vielmehr seine
eigene Konzeption des Allegorischen mit einer Aura des
Mysteriösen umgibt –
also die Art von "Tiefsinn" erzeugen soll, wie er im erwähnten
Brief
an Scholem schrieb, die "exakteste Quellenkenntnis erübrigt
hätte".
Das
ingeniöse Denken zielt
gerade nicht auf eine irgendwie
mysteriöse Aura des Weltlichen, und es geht dabei noch viel
weniger um die "theologische
Essenz des Subjektiven", wie Vargas mit einem Zitat aus der
Schlusspassage
des Barock-Buchs insinuiert (I, S. 407), um die Differenz
zwischen Gracián und
Benjamin/Borinski zu minimieren. Es geht Gracián nicht um
Fragen der
Subjektkonstitution oder um "Intensivierung des Selbstbewusstseins und
des
Selbstgefühls" (S. 115), sondern um eine Denkform, die den
Dingen der Welt
eine ihnen angemessene Gestalt gibt, indem sie sie in einem concepto
darstellt. Deshalb ist auch das sujeto in der
Bestimmung des concepto,
die Vargas aus dem sechsten
Kapitel der Agudeza
anführt (S. 105;
114), gerade nicht das erkennende Subjekt, sondern das subiectum
als hypokeimenon,
die Substanz eines Dinges, der die Akzidenzien und Kategorien
zugeordnet sind.
Das erkennende Subjekt ist dabei nur das Medium für diese
konzeptuelle
Korrelation. "Das Subjekt, das sujet
oder Thema, das im Gedankengang erwogen wird […] ist eine
Art Zentrum, von dem
der Gedankengang Linien subtiler Erwägung zu den
Entitäten ausgehen lässt, die
es umgeben; das sind die Beifügungen, die es als seine Krone
umgeben: seine
Ursachen, seine Wirkungen, Attribute, Qualitäten, seine
kontingente
Eventualität, seine zeitlichen, örtlichen, modalen
Umstände etc. (Es
el sujeto sobre quien se
discurre y pondera […] uno como centro, de quien reparte el
discurso líneas de
ponderación y sutileza a las entidades que lo rodean; esto
es, a los adjuntos
que lo coronan, como sus causas, sus efectos, atributos,
calidades,
contingencias, circunstancias de tiempo, lugar, modo etc., Kap. VI,
40).
PhiN 87/2019: 133
Es geht also
nicht um
Subjektivität, sondern um etwas, das
objektiv in den Dingen enthalten und durch die ingeniöse
Einsicht freigelegt
wird. Dieses Objektive ist das, was dem Erkennenden und Schaffenden in
der Welt
entgegenkommt, das objectum im
wörtlichen Sinn. Die "theologische Essenz des Subjektiven"
dürfte
eher eine Projektion Kierkegaards in die barocke Prämoderne
sein. Wenn Benjamin
dann die Allegorie als Denkform entfaltet und die Extreme des
Allegorischen in
dem Sturz ins Böse und der Auferstehung in Glorie sieht, ist
er den
Grundgedanken Graciáns wiederum sehr nahe – nicht
aber aus "exaktester
Quellenkenntnis", sondern in systematischer Übereinstimmung in
der Sache
des barocken Denkens, das Benjamin im Begriff der Allegorie durch
eigene
Analyse der barocken Literatur freilegt.
Bibliographie
Benjamin,
Walter: Gesammelte Schriften, 8
Bände, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann
Schweppenhäuser, Frankfurt
a.M., Suhrkamp, 1972-1989.
Benjamin,
Walter: Gesammelte Briefe, Band II:
1919-1924, herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz,
Frankfurt a.M.,
Suhrkamp, 1996.
Blanco,
Mercedes: Les
Rhétoriques de la pointe. Baltasar Gracián et le
conceptisme en
Europe, Paris, Champion, 1992.
Borinski,
Karl: Die Antike in Poetik und
Kunsttheorie. Von Ausgang des klassischen Altertums bis auf Goethe und
Wilhelm
von Humboldt, 2 Bände, Band 1: Mittelalter,
Renaissance, Barock, Leipzig, Dietrichsche
Verlagsbuchhandlung, 1914.
Fernández
Orrico, Francisco Javier: Epistemología
poética. Estudios sobre la
alegoría en Baltasar Gracián y en Walter Benjamin,
Frankfurt a.M., Lang, 2017.
Geisenhanslüke,
Achim: Trauer-Spiele. Walter Benjamin und
das europäische Barockdrama, Paderborn, Fink, 2016.
Gracian y
Morales S.J., Baltasar: Agudeza y arte de ingenio,
2 Bände.,
hrsg.
von Ceferino
Peralta, Jorge M. Ayala y
José M.a Andreu (Zaragoza: Prensas
universitarias de Zaragoza, 2004.
Gracian y
Morales S.J., Baltasar: Handorakel
und Kunst
der Weltklugheit, in der Übersetzung von Arthur
Schopenhauer, bearbeitet von Sebastian Neumeister, Stuttgart,
Kröner, 2013.
Harst,
Joachim:
Rezension zu Geisenhanslüke, Achim: Trauer-Spiele.
Walter Benjamin und das europäische Barockdrama,
Paderborn, Fink, 2016, in:
PhiN 82 (2017), S. 65–71.
Lethen,
Helmut: Verhaltenslehren der Kälte,
Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1994.
Vargas,
Mariela: Baltasar Graciáns Spuren in den
Schriften
Walter Benjamins, Berlin, Kadmos, 2018.
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