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Dagmar Stöferle (München / Tübingen)



Michael Bernsen (2015): Geschichten und Geschichte. Alessandro Manzonis I promessi sposi. Berlin: LIT Verlag. 261 S.



Michael Bernsens Buch über den wohl wichtigsten italienischen Roman des 19. Jahrhunderts, Alessandro Manzonis I promessi sposi, füllt eine Lücke. Während zu den Werken von Autoren wie Leopardi, Verga, Svevo, Pirandello durchaus Monographien und Sammelbände vorliegen, fristen die Promessi sposi – abgesehen von Überblicksdarstellungen in Aufsatzform – in der deutschen Italianistik eher ein Schattendasein.1 Dies steht nicht nur im Kontrast zur italienischen Manzoni-Philologie, die einer (nationalen) Industrie gleicht. Sondern auch zu einem quasi weltliterarischen Bewusstsein, dem Manzonis Roman mit seinem Anhang, der Storia sulla Colonna Infame, fraglos angehört. So fanden etwa auch die Neuübersetzungen von Burkhart Kroeber 2000 (Die Brautleute) bzw. 2012 (Geschichte der Schandsäule) großen Anklang in der literarischen Öffentlichkeit.

Bernsens Monographie verfolgt nun ein doppeltes Ziel: Zum einen wird eine Einführung in den Roman geliefert, die sich an "Studenten sowie Lehrende in Hochschule und Schule nicht nur italianistischer Provenienz" (1) wendet. Zugleich ist eine "Neuinterpretation des Romans" (ebd.) intendiert, die sich grosso modo gegen die These eines italienischen Nationalromans richtet. In Anlehnung an Joachim Küppers Beobachtung einer "De-Auratisierung der Historie" und "Ironisierung der Fiktion" (Küpper 1994) liest auch Bernsen Manzonis Roman vor allem als eine geschichtskritische Fiktion, die sich nicht ohne weiteres in das geschichtsphilosophische Paradigma des 19. Jahrhunderts einfügen lässt. Während Küpper jedoch makrostrukturell den Bruch zwischen fiktionalen und historiographischen Passagen im Roman stark macht, argumentiert Bernsen gewissermaßen mikrostrukturell und zeigt, dass das Hauptnarrativ – die Eheschließung von Renzo und Lucia – nicht vornehmlich durch einen Wechsel im Darstellungsmodus problematisiert werde, sondern "sozusagen von innen her" (4) durch eine Fülle von Einzelgeschichten, die dem Roman eingewoben sind. Weit davon entfernt, die Erzählung von der Befreiung einer Nation erzählen zu wollen, illustriere Manzonis Roman vielmehr die Unmöglichkeit einer solch großen Erzählung, indem er darin nämlich alle möglichen 'kleinen Formen' parodiere. So verankert Bernsen ihn formgeschichtlich "in der Tradition der Novellistik" (9).




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Die gewählte Darstellungsform kommt dieser These entgegen: Am Anfang eines jeden Kapitels steht eine prominente Stelle des Romans – in der linken Textspalte auf Italienisch, in der rechten auf Deutsch –, die dann ausführlich kommentiert wird. Man weiß nicht zuletzt von Erich Auerbachs Mimesis-Buch, dass eine solche Mischung von close reading mit anschließender Öffnung der Perspektive höchst produktiv sein kann. Bernsen wendet das Kommentar- und Vergleichsverfahren nun auf einen einzigen Roman an, wobei keine positive Universalität von Literatur intendiert wird, sondern – im Gegenteil – die Bruchstückhaftigkeit einer universellen Darstellung.

Die Auswahl der Passagen erfolgt insgesamt chronologisch, und die (unter den insgesamt 38 Romankapiteln) ausgelassenen Kapitel werden unter den ausgewählten zwölf Textpassagen subsumiert. Dabei wird die jeweilige Textstelle immer einem bestimmten literarischen Erzählmodell zugeordnet. Anhand eines auf diese Weise rekonstruierten Gattungshorizontes zeigt Bernsen, wie Manzonis Erzähler diesen Horizont enttäusche, indem er entweder ironisch-reflexive Passagen zwischenschalte oder die aufgerufene Gattung mit einem anderen Gattungstypus kreuze. Als Leitthese ergibt sich dann, dass die dem Roman eingearbeiteten kleinen Formen allesamt auf eine Unerzählbarkeit der Geschichte und Geschichten hinauslaufen.

Ich greife zur Illustration einige Beispiele heraus: Dem berühmten Romananfang wird das Genre "Landschaftstableau" zugeordnet. Bernsen zeigt, dass die Landschaftsbeschreibung bei Manzoni in Abgrenzung zu Walter Scott gerade nicht der Orientierung des Betrachters, sondern vielmehr einer Desorientierung und Pluralisierung der Perspektiven dient. Das dritte Kapitel, in dem Renzo den sinistren Anwalt Azzecca-garbugli aufsucht, um sich gegen Don Rodrigo Recht zu verschaffen, ordnet Bernsen der literarischen Gattung des "Kasus" zu. Aber anders als die mittelalterlichen Kasus ziele der Fall der Verlobten nicht mehr auf die Beurteilbarkeit von Fällen ab, sondern erweise eine problematische Vielschichtigkeit, die eigentlich gar kein Urteil mehr erlaube. Anderen Schlüsselstellen des Romans werden zwei verschiedene Erzählmodelle zugeordnet, wobei das eine das andere subvertiere. So zum Beispiel im Fall der berühmten "notte degl'imbrogli e de' sotterfugi", in der die Verlobten eine Überraschungshochzeit vor Don Abbondio erwirken wollen und Don Rodrigo gleichzeitig Lucia entführen lassen will (Kap. 6–8). Bernsen führt aus, wie die geplante Überrumpelung des Pfarrers vor dem Hintergrund des Fabliau gelesen werden müsse, das sich eben durch solche Überlistungsstrategien der einfachen Leute auszeichne. Im besagten Kapitel scheitere aber nicht nur die Strategie, vielmehr werde der Fabliau im Modus der Schauergeschichte, vor deren Hintergrund Don Rodrigos gleichzeitiger Entführungsversuch erzählt werde, 'dekonstruiert'. Auch Renzos Abenteuer in Mailand und Gertrudes Geschichte liest Bernsen in einer solch gattungsdialektischen Perspektive: Renzos Pikaroroman dementiere die historiographischen Bemühungen des Erzählers zur Erklärung der Brotunruhen in Mailand ebenso, wie mit Gertrudes psychologisch plausibilisierter histoire tragique der aufklärerische Klosterroman dementiert werde. Und auch die Geschicke Lucias, des Innominato und des Kardinals Federigo werden gewissermaßen als Schein-Geschichten entlarvt, die auf Erzählmodelle verweisen, die vielleicht ursprünglich einmal funktioniert haben, aber in der Art und Weise, wie sie der Roman nun präsentiere, nur noch die Undurchschaubarkeit einer kontingenten Geschichte durchspielen könnten.




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Mit diesem Lektüreverfahren erhält der Leser zahlreiche intertextuelle Spuren an die Hand, die für den Roman der Promessi sposi wichtig sind: Der Landschaftsdiskurs etwa wird mit dem Begriff des Pittoresken kurzgeschlossen, der insbesondere die Landschaftsbeschreibungen in Scotts Romanen prägt. Die Figur Padre Cristoforos kontextualisiert der Verf. überzeugend im Rahmen der sentimentalen Renaissance eines franziskanischen Einfachheitsideals. Und schließlich ist auch der Einfluss der Gothic Novel auf Manzonis Roman insbesondere in den letzten Jahren verstärkt hervorgehoben worden (vgl. z.B. Acciaioli 2015). Insgesamt erhält die Monographie, indem sie beständig auf Gattungstraditionen verweist, tatsächlich die Züge einer Einführung, die einen Überblick über grundlegende Gattungen der Narrativik samt einschlägiger Forschungsliteratur liefert. Der Nachteil des Verfahrens liegt in der Tendenz zur Schematisierung. Nicht immer wirken die Querverbindungen zwingend; die Tatsache, dass tendenziell vormoderne Erzählmuster (wie Legende, Mirakel, Fabliau) mit modern(er)en (wie dem literarischen Portrait oder der Gothic Novel) kontrastiert werden, nährt den Verdacht einer durch die Leitthese bedingten Konstruiertheit. Dabei bleibt zu konzedieren, dass die Intertextualität der Sposi insgesamt eine komplexe Angelegenheit ist, weil Manzoni im Laufe der Romanbearbeitungen intertextuelle Reminiszenzen abgeschwächt und veruneindeutigt hat (vgl. hierzu v.a. Nigro 1996). Insgesamt erinnert die Behauptung, der Roman bestehe hauptsächlich aus 'einfachen' (und mehrheitlich mittelalterlichen) Formen, die dekonstruiert würden, auf eine kuriose Weise an das Renaissance-Epos, das in den Poetiken des 16. Jahrhunderts als 'Meer der Dichtung' und 'Summe aller Gattungen' beschrieben worden ist. Und tatsächlich vermisst man in der Darstellung dann auch vor allem diejenige gattungstypologische Referenz und Nachfolgeformation des Epos, nach der die Sposi heute doch klassifiziert und gelesen werden: den Roman. Zwar klingt sie – in Scott, dem sentimentalen Roman und in der Gothic Novel an –, aber es wird ihr kein systematischer Platz eingeräumt. Manzoni wird, was für die deutsche Sicht auf den Roman typisch scheint, einmal mehr als Historiograph bzw. als Historiographiekritiker profiliert, nicht aber als Autor eines modernen Romans. Bernsens abschließendes Fazit lautet: "Lange vor den im 20. Jahrhundert geführten Debatten um den Status der Historiographie erkennt der Autor, dass die Geschichtsschreibung wesentlich von ästhetischen und rhetorischen Kategorien abhängt." (238)

Die These einer Ironisierung auch des Hauptnarrativs – der Verhinderung und am Ende doch stattfindenden Hochzeit der Verlobten – impliziert indessen eine problematische Delegitimierung des Textes als Roman(-fiktion). Dabei hat Manzoni mit den Promessi sposi bewusst, wenn auch nicht eingestandenermaßen (wie sich an seiner Abhandlung Del romanzo storico zeigen lässt), mit dem Roman experimentiert. Manzoni kommt auch nicht über sog. kleine Gattungen zur großen des Romans. Er kommt, gewissermaßen klassisch, vom Epos und von der Tragödie her und wollte von Anfang an so etwas wie ein nationalliterarisches Werk, die literarische Begründung eines nachrevolutionär-modernen Gemeinwesens schaffen.




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Die beiden (Lese-)Tragödien Il conte di Carmagnola (1820) und Adelchi (1822), die beide vom tragisch-kriegerischen Neubeginn einer Gemeinschaft handeln, münden sozusagen in eine experimentelle Romanpoetik. Wirkungsästhetische Überlegungen zu einer rationalen Affizierung des Rezipienten, wie sie Manzoni in der Lettre à M. Chauvet (Manzoni 1991b) unternimmt, führen zu einem Romankonzept, das die Kategorie des Urteils mitnichten verabschiedet. Nicht nur wird in Del romanzo storico der Roman konsequent vom antiken Epos her, d.h. als Gründungsfiktion, konzipiert. Mit dem Plot 'Streit um eine Frau' wählt und reflektiert Manzoni auch genau jenes Strukturmerkmal, auf dem solche Epen typischerweise aufruhen (vgl. Manzoni 1991a: insb. 322). Dabei kann man nicht sagen, dass das Ergebnis am Ende lediglich in einem Scheitern solch großer Erzählungen liegt. Dafür hätte Manzoni den Roman tatsächlich nicht schreiben müssen. Das Entscheidende ist vielmehr, dass das epische Narrativ so umgestaltet wird, dass es am Ende weder als Eroberung noch als Scheitern aufzulösen ist. Mit der Romanfiktion, die nicht einen, sondern zwei Helden inszeniert, unterscheidet sich Manzoni in der Tat von anderen modernen Romantendenzen. Der Leser läuft nicht 'einfach' durch eine vermeintlich unentwirrbar gewordene Romanwelt, sondern 'doppelt': Er lernt sie durch Renzo und durch Lucia kennen. Es sind zwei unterschiedliche und doch sehr ähnliche Wege, die in ihrer Relationalität Konsistenz gewinnen. Renzos und Lucias Geschichten sind nicht einfach zwei unter vielen beliebigen Geschichten, sondern chiastisch verschränkte Versionen eines einzigen Romans: In ihrer exakt parallelen Bezüglichkeit stellen sie nicht nur eine fiktive Realität, sondern auch ein Recht der Romanfiktion dar. Renzos Weg über die Adda, Lucias Nacht auf der Burg des Innominato, sein Entkommen vor der Justiz und ihre Erlösung von einem Gelübde, sein Zorn und ihre Angst, seine profane und ihre heilige Natur: In ihrer Bezogenheit erzeugen sie jene fiktive Geschichte, die es eben nur im Roman – also weder in kontingenten Geschichten noch in der Geschichte – geben kann.

Michael Bernsens Verankerung von Manzonis Roman in der Tradition der Novellistik trifft damit eher in einer historiographischen als poetologischen Perspektive zu. Die Novelle verweist im übrigen schon auf den Diskurs des Rechts, der für Manzonis Schreiben ebenso zentral ist wie Historiographie und Dichtung. (Man denke nur an die 'Fälle' der Nonne Gertrude und der Salbenschmierer, aus denen Manzoni seinen Roman im Prinzip baut). 'Novellistisch' werden die Promessi sposi erst in einem übertragen-allegorischen Sinne: als ein 'Fall der Moderne' nämlich, den einer allein nicht mehr zu lösen vermag. Insofern bleibt aber auch der im Buch konsequent unterstrichenen Modernität des Romans zuzustimmen. Und mit seinen close readings bietet Bernsens Geschichten und Geschichte einen gelungenen Einstieg in die Lektüre dieses modernen Romans.




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Bibliographie

Acciaioli, Stefania (2015): "Die 'Schattenseite' der Promessi sposi. Manzonis Rezeption der Gothic Novel am Beispiel von Fermo e Lucia", in: Moser, Christian / Simonis, Linda (Hg.): Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2014/2015. Bielefeld: Aisthesis, 227–246.

Broggi, Francesca / Oster, Angela / Vinken, Barbara (Hg.) (2017): Europa di Manzoni – Il Manzoni dell'Europa. München: Utz.

Hösle, Vittorio (1975): Alessandro Manzoni: Die Verlobten. München: Fink.

Küpper, Joachim (1994): "Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)", in: Poetica 26, 121–152.

Lizium, Karin (1993): Die Darstellung der historischen Wirklichkeit in Alessandro Manzonis "I Promessi Sposi". Tübingen: Niemeyer.

Manzoni, Alessandro (1991a): Del romanzo storico e, in genere, de' componimenti misti di storia e d'invenzione. in: ders.: Tutte le opere. Bd. V/III: Scritti letterari, hg. v. Carla Riccardi u. Biancamaria Travi. Mailand: Mondadori, 287–366.

Manzoni, Alessandro (1991b): Lettre à M.r Chauvet, in: ders.: Tutte le opere. Bd. V/III: Scritti letterari, hg. v. Carla Riccardi u. Biancamaria Travi. Mailand: Mondadori, 73–166.

Nigro, Salvatore S. (1996): La tabacchiera di Don Lisander. Saggio sui Promessi sposi. Turin: Einaudi.


Anmerkung

1 So weit ich sehe, stammt die letzte monographische Darstellung aus dem Jahr 1975 (Hösle 1975). Vgl. ferner Lizium 1993 sowie den in Kürze erscheinenden Band L'Europa di Manzoni – Il Manzoni dell'Europa (Broggi / Oster / Vinken 2017).