Christiane Conrad von Heydendorff (Mainz) Intertextualität nach der Postmoderne: Zolas und Savianos literarische 'Stadtkörper'Intertextuality after Postmodernism: The city's 'body' in Zola and Saviano 1 Strategien und Funktionen von Intertextualität "By now, intertextuality has become the very trademark of postmodernism." (Pfister 1991: 209) Roberto Savianos Gomorra ist einem der Wahrheit und dem Realismus verpflichteten Schreiben verbunden.1 Trotzdem strotzt es vor intertextuellen und intermedialen Verweisen: beginnend beim Titel, der dem 1. Buch Mose, Kapitel 19, entnommen ist, über eine Vielzahl reportageartiger Einschübe, die italienischen Zeitungsartikeln ähneln, bis hin zu den unterschiedlichsten literarischen und filmischen Anleihen von Joseph Conrad über Pier Paolo Pasolini zu Cesare Pavese, von Quentin Tarantino über Brian De Palma bis Franklin J. Schaffner. Zudem begegnet man – so die hier verfolgte These – einer unterlegten Struktur und Metaphorik, die an Zolas Le Ventre de Paris erinnern. Intertextualität und Intermedialität sind Konzepte, die in ihrer Theoriebildung zur Zeit des Poststrukturalismus und der Postmoderne nicht nur einen Höhepunkt erfahren haben; sie scheinen nach und nach auch mit der postmodernistischen Literatur verschmolzen zu sein. So erkennt Manfred Pfister: "postmodernism and intertextuality are treated as synonymous these days" (Pfister 1991: 209). Gerhard Regn bezeichnet die postmoderne Literatur als ein Zitationsverfahren, in dem das Zitierte um seine "Tiefenorientierung des Denkens" gebracht wird und in einer Poetik der Oberfläche aufgeht (Regn 1992: 55). Es stellt sich daher die Frage, wie die zitationelle Unterfütterung im Roman Gomorra, der aus einer Epoche erwächst, die einer referenziellen, realitätsnahen Darstellung den Boden entzieht und sich über Intertextualität und Intermedialität, also metaisierende Verfahren der Selbstbezüglichkeit definiert, mit dem Anspruch auf realistisches Schreiben zu vereinbaren ist. PhiN 81/2017: 2 Zunächst muss man sich vor Augen halten, dass Intertextualität grundsätzlich kein dem Postmodernismus vorbehaltenes Phänomen ist: Ganz im Gegenteil,2 es ist weit älter als die Epoche, in der es zum literarischen Hauptverfahren erkoren wird (vgl. Broich 1997: 249). Konsequenterweise formuliert Pfister die Frage nach einem spezifisch postmodernen Typ der Intertextualität mit eigenen Strategien und Funktionen, die es möglich machen, eine Abgrenzung zu vorherigen Verfahren vorzunehmen.3 Zum einen verweist er dabei noch einmal auf den poststrukturalistischen Rahmen der Theoriebildung, der auf eine kategorische und nicht etwa quantitative Distinktion hindeutet.4 Zum anderen stellt er den Umstand vor, dass Intertextualität im Postmodernismus nicht ein Verfahren unter vielen, sondern das künstlerische Verfahren schlechthin sei, das in den Vordergrund und zur Schau gestellt als zentrales Konstruktionsprinzip thematisiert und theorisiert wird.5 Der idealtypische postmoderne Text sei somit der Metatext, das heißt:
Diese auf verschiedenen Ebenen vorgenommene Radikalisierung sieht Bernd Schulte-Middelich bereits in Julia Kristevas Ausweitung des Intertextualitätskonzepts angelegt. Ihr Vorgehen und das ihrer Nachfolger in der Postmoderne habe "den Zugang zu einem operationalisierenden Funktionsbegriff weitgehend verschüttet" (Schulte-Middelich 1985: 202). Peter Zima fasst zusammen: "Während in der modernen Literatur Intertextualität und Zitat die Funktion erfüllten, Subjektivität selbstkritisch zu konstituieren und zu stärken, tragen sie in postmodernen Texten zur Auflösung der Subjektivität bei." (Zima 2000: 302f., kursiv im Original) Im Zuge dessen wird auch der 'Tod' des Autors postuliert; Kristeva und Bachtin "bestimmen den Autor als Sprachrohr fremder Rede" (Martinez 1999: 465). In dem Maße, in dem Autor und Leser ihre klare Identität verlieren und "aufgeh[en] in der Pluralität eines universellen Intertextes", wird "die Frage nach der Funktion entgrenzt und zunehmend gegenstandslos" (Schulte-Middelich 1985: 202). Dieser Verfall der Funktion, den Schulte-Middelich für das Gesamtphänomen annimmt, gilt in seinen Augen auch für Einzeltextbezüge, da es im Rahmen postmoderner Prämissen nicht möglich sei, "Textsegmente funktional zu verorten" (ebd.: 204). Das ursprünglich Bedeutung (re)konstruierende Verfahren ändere somit radikal seine Richtung und führe zur Sinnentleerung. Schulte-Middelich stimmt hierin in Grundzügen mit Zima überein, der von einer Ambivalenz der Intertextualität spricht, die nicht im hegelianischen Sinne zur Synthese zu bringen sei. Er benennt die beiden gegenläufigen Ziele von Intertextualität als "Sinnkonstitution und Sinnzerfall, Subjektkonstitution und Subjektverfall" (Zima 2000: 302). Das Zitat – so Zima – komme demnach im Postmodernismus nicht mehr zum Einsatz, "um die erzählerische Kohärenz des Diskurses und der Subjektivität zu stärken, sondern um sie zu zersetzen und das Kohärenzpostulat infrage zu stellen" (ebd.: 303). Die Funktion postmodernistischer Intertextualität ist mithin immer eine dekonstruktive, die häufig zum Selbstzweck wird, zum Spiel.6 PhiN 81/2017: 3 Eine weitere Veränderung im Bereich der Intertextualität während des Postmodernismus geht mit der fallenden Grenze zwischen Höhenkammliteratur und Popkultur einher. In der Moderne – so Pfister – umfasse der intertextuelle Dialog wohl eine breite Spanne von Prätexten aus verschiedenen Epochen, aber auch innerhalb dieser Spanne haben immer kanonisierte, klassische Texte eine privilegierte Stellung.7 Dieses Privileg des Kanons geht in postmodernistischer Literatur zugunsten breit rezipierter Werke aus Literatur, Kunst und Musik jedes Genres und Niveaus verloren. Neben die Zufälligkeit und die willkürliche Auswahl des Materials stellt Pfister (1991: 219) den Verlust einer verbindlichen Wahrheit, einen Umstand, den auch Zima im Fokus sieht: Es gehe nicht um die Wahrheit, sondern um das Spiel, die Wahrheit des Spiels. Diese aber sei nichts anderes als die Dekonstruktion von Sinn und Subjektivität.8 Nach Eco, so formuliert er, könne die Vergangenheit ohnehin nur mit Ironie, aber ohne Unschuld in den Blick genommen werden und so könne auch "das postmoderne Zitat nur eine ironisch-spielerische Funktion erfüllen" (Zima 2000: 303).9 Komplementär dazu büße es seine subjektkonstituierende Funktion ein. Es begleite das erzählende oder handelnde Subjekt nicht mehr auf dessen Suche nach der Wahrheit, sondern zeuge vom Zerfall, von der Abwesenheit der Subjektivität (ebd.: 313). Gomorra löst jedoch beides ein: Das Werk hat sich der Wahrheitssuche und -übermittlung mithilfe eines starken, den Leser leitenden Ich verschrieben. Der Autor kehrt willentlich und mit starker Aussage auf die Bühne zurück.10 Zugleich bedient sich Gomorra in seinem Anliegen der Wirklichkeitsvermittlung häufig in unterschiedlichster Form der Intertextualität und Intermedialität. Trotzdem oder gerade deshalb scheint der Text sich aus postmodernistischen Kontexten zu lösen. Dimitri Chimenti bemerkt: "Nel caso di Gomorra è evidente che non si tratta di quell'intertestualità ludica e gratuita che oggi i critici del postmodernismo (così come ieri i suoi cantori) vanno cercando ovunque" (Chimenti 2012). Als Hypothese der folgenden Analyse wird angenommen, dass die intertextuellen Verweise in Gomorra – abweichend vom postmodernistischen Verfahrensgebrauch – hier wieder sinnkonstituierend eingesetzt werden und eine Tiefenstruktur erzeugen. Der Begriff der Tiefenstruktur konturiert sich an dieser Stelle als Inversion des von Gerhard Regn erstellten Konzepts der Oberflächenstruktur in postmodernistischen Texten.11 Sie unterstellt ein Zurück zur Sinnhaftigkeit und Aussagekraft. Bestenfalls öffnet sich durch die intertextuellen Verweise trichterartig ein Zugang zu anderen Texten, die das im Mittelpunkt stehende Thema 'vertiefen' und akzentuieren. Zudem scheinen die intertextuellen Anleihen häufig als legitimierendes Instrument Verwendung zu finden. In der folgenden Untersuchung wird die Terminologie Gérard Genettes herangezogen, der unter Intertextualität die Kopräsenz von zwei oder auch mehreren Texten versteht (Genette 2003: 8). Diese kategorisiert er in seiner Schrift Palimpsestes je nach Markierung als Zitat (citation), das durch Anführungszeichen gekennzeichnet ist, als Plagiat (plagiat), das nicht gekennzeichnet wird, aber eine deutlich erkennbare (wörtliche) Übernahme von Textelementen enthält, und als weniger eindeutige Anspielung (allusion) (ebd.). Der vierte von den fünf Typen der Transtextualität, die Genette in dieser Studie erläutert, ist die Hypertextualität. Unter Hypertextualität versteht Genette jede Beziehung zwischen einem Text B, der als Hypertext zu bezeichnen ist, und einem früheren Text A, der als Hypotext benannt wird, bei der diese Überlagerung nicht in Form eines Kommentars auftritt. Der Hypertext ist als Text zweiten Grades von einem früheren Text abgeleitet. Eine solche Ableitung kann deskriptiver oder intellektueller Natur sein, etwa wenn ein Metatext (die eine oder andere Seite aus der Poetik des Aristoteles etwa) von einem anderen Text 'spricht'.12 Sie kann aber auch ganz anderer Art sein, dergestalt, dass Text B zwar nicht von Text A spricht, aber in seiner Form ohne Text A gar nicht existieren könnte. Denn Text B ist durch einen Vorgang entstanden, den Genette provisorisch als Transformation (transformation) bezeichnet, bei der Text B sich mehr oder weniger offensichtlich auf den früheren Text bezieht, ohne diesen jedoch explizit zu benennen (ebd.: 13). Mit der Genetteschen Terminologie soll Émile Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext von Savianos Gomorra gelesen werden. Durch diesen Brückenschlag ins 19. Jahrhundert bindet sich Saviano an einen Autor, der par excellence für die alten Realismen steht, und legitimiert somit sein Anliegen einer der Realität verbundenen Literatur. PhiN 81/2017: 4 2 Zolas Le Ventre de Paris als Hypotext von Savianos Gomorra Den französischen Naturalisten Émile Zola und den italienischen Gegenwartsautor Roberto Saviano in Relation zu sehen, drängt sich nahezu auf und geschieht an dieser Stelle nicht zum ersten Mal. Allerdings wird in der Regel versucht, eine Verbindung zwischen den beiden Schriftstellern herzustellen, indem auf Zolas J'accuse aus dem Jahr 1898 rekurriert wird. Saviano selbst nennt diesen Text ein noch heute gültiges Modell (Saviano 2011). Die Forschung äußert sich hinsichtlich dieser Verbindung gespalten. Während Casadei darauf hinweist, dass man die "propensione visionaria" und das "impegno politico-civile" bereits in Zola vereint finde und dessen J'accuse ein Archetyp und Vorläufer von Saviano sei (Casadei 2009: 246), stellt Pellini sich strikt gegen einen solchen Vergleich. Er nennt ihn gar eine "scelta largamente arbitraria" und bezeichnet das Ansinnen Casadeis, Gomorra als Beispiel eines neuen Naturalismus zu lesen, als in "larga misura errata" (Pellini 2011: 136). Allein der Umstand, dass der Roman zugunsten des starken Ich-Erzählers weitgehend auf prägnante Stilmittel realistischen Schreibens wie Dialoge und die erlebte Rede verzichtet, scheinen ihm als Ausschlusskriterium für einen solchen Vergleich zu genügen. Die Verbindung von Saviano zu Zola allein über die Dreyfus-Affäre herstellen zu wollen, rückt jedoch den Autor als politisches Ereignis und engagierten Intellektuellen in den Mittelpunkt, während der Literat in den Hintergrund gerät. In einer solchen Diskursverengung wird übersehen, dass Zolas Texte schon thematisch größere Verwandtschaft zu Savianos Schreiben aufweisen. Gomorra ist schwerpunktmäßig den sich immer mehr zuspitzenden Verhältnissen in einer dem Kapitalismus und seinen Folgen unterworfenen Gesellschaft gewidmet. Das Werk fokussiert unter der Führung eines starken Ich-Erzählers die einzelnen Tätigkeitsbereiche der Camorra, die verschiedenste Branchen von der Modeindustrie bis zur illegalen Abfallverwertung abdecken. Dieses System der Wirtschaftskriminalität unterwandert ganz Neapel und prägt den Alltag der Stadt. Der Umstand, dass die im Roman vorgestellten wirtschaftlichen Hauptunternehmer Mitglieder der camorristischen Mafia sind, mag den Roman für den Rezipienten zugänglicher machen, er ändert aber nichts daran, dass die Waren, das Geld und die daraus resultierenden Machtstrukturen im Mittelpunkt des Interesses stehen und zu Protagonisten werden, während der Mensch selbst häufig zur Ware reduziert scheint.13 Alessandro Dal Lago bemängelt in diesem Kontext, dass – wenn man, wie es der gängigen Meinung entspreche, annehme, Saviano habe Zusammenhänge zwischen dem organisierten Verbrechen und der globalisierten Ökonomie aufgedeckt – es zu einer Reduzierung wesentlicher Aspekte komme: Denn dass sich Camorra, Mafia und 'Ndrangheta globalisieren, könne nicht mit einer Kriminalisierung der globalen Wirtschaft gleichgesetzt werden (vgl. Dal Lago 2010: 16). Saviano selbst gibt an, er habe nie von der Camorra oder Mafia an und für sich erzählen wollen. Es sei vielmehr sein Anliegen, exemplarisch die dahinterstehenden wirtschaftlichen Machtstrukturen aufzuzeigen.14 Aus Gomorra ist die Annahme herauszulesen, dass in der gegenwärtigen, globalisierten Welt derartige Überlappungen und Grauzonen zwischen legaler und von Verbrechen unterlaufener Wirtschaft bestehen, dass beide Bereiche nur schwer auseinanderzudividieren sind. Saviano schreibt: "Tutte le merci hanno origine oscura. È la legge del capitalismo." (Saviano 2008: 39, im Folgenden GMR) Sein Ziel ist die Kritik an den Auswirkungen eines überbordenden Kapitalismus und dem dahinter stehenden ökonomisch-politisch-sozialen 'System'. PhiN 81/2017: 5 Auch in Zolas umfangreichem Rougon-Macquart-Zyklus nimmt die literarische Kapitalismuskritik immer wieder eine zentrale Rolle ein. So beschäftigen sich La Curée, Le Ventre de Paris, Au bonheur des dames, Germinal und L'Argent mit den Themen Ware, Kaufkraft, Habgier, Geld und Gewalt. Besonders Le Ventre de Paris steht Gomorra nicht nur im Diktum, sondern in einigen Punkten auch im Modus nahe, wodurch hypotextuelle Strukturen naheliegend erscheinen. Dietrich Scholler betont, dass es Zola bei der Darstellung der im Zentrum stehenden Markthallen "zunächst einmal um die möglichst präzise Veranschaulichung der kolossalen Stahl-Glas-Architektur" gegangen sei, die jedoch als neuer soziokultureller Ort mit den "ökonomischen Abläufen der Anlieferung, Verarbeitung, Lagerung und Veräußerung von Lebensmitteln in einer bislang nicht bekannten Dimension" in Verbindung stehen (Scholler 2013: 61). Chiara Lombardi liest Zolas Le Ventre de Paris als "una collezione di immagini, un reportage di scatti volti a cogliere questo mercato da tutte le angolature" (Lombardi 2014: 77 u. 79f.) und baut so nicht nur eine inhaltliche, sondern – über den Anklang an die Reportage – auch eine formale Brücke zu Savianos Gomorra. Vittoria Borsò-Borgarello bemerkt in Zolas Le Ventre de Paris den Übergang "zur Aufdeckung der ökonomischen Machtstrukturen als nackter Gewalt […]; eine alles zerstörende, auffressende Gewalt, in der sich nur die Aktanten des Bauches […] wohlfühlen" (Borsò-Borgarello 1985: 42). Auch wenn die Erzählform in den beiden Werken unterschiedlich ist, so finden wir doch in den beiden Protagonisten, Florent und dem Erzähler-Ich Saviano, je Kritiker und zum Teil Opfer des herrschenden Regimes, die dem Leser ihren Blickpunkt leihen und dabei Missstände aufdecken. In Zolas Ventre de Paris kehrt der Protagonist Florent, der irrtümlicherweise verhaftet und auf die Teufelsinsel deportiert worden war, in ein verändertes Paris zurück, das von den neu erbauten Markthallen dominiert wird. Er findet Unterkunft bei seinem Bruder Quenu und dessen Frau Lisa, die gemeinsam einen Fleischerladen führen. Auf Betreiben von Lisa nimmt Florent einen Posten als Inspektor in den Fischhallen an. Dort findet er Eingang in einen Kreis, der dilettantisch einen Aufstand zur Wiederherstellung der Republik plant. Nebenbei ist Florent als Hauslehrer des Sohns der schönen Fischhändlerin Normande tätig. Eine ursprünglich angestrebte Liaison mit dieser Frau kommt jedoch nicht zustande. Stattdessen entwickelt sich zwischen Normande und Lisa eine Feindschaft, bei der Florent zwischen die Fronten gerät. Schlussendlich werden er und seine Mitverschwörer verraten, verhaftet und erneut in die Strafkolonie ausgewiesen. Der Roman öffnet sich mit der Rückkehr Florents nach Paris in einem ausgiebigen Blick auf die Markthallen der Stadt. Das gesamte erste Kapitel widmet sich im Anschluss daran der Beschreibung der verschiedenen Waren. Ähnliches begegnet dem Leser in Gomorra: Nach dem fulminanten Incipit in medias res, bei dem ein Hafenarbeiter von Dutzenden toter Chinesen berichtet, die aus einem Container fallen, begleitet der Leser den Erzähler im Hafen von Neapel und trifft hier vor allem auf große Produktionsmengen. Es ist im Besonderen, aber nicht nur, die jeweilige Rahmung der Romane, die die beiden Texte als verwandt ausweist. Im Mittelpunkt steht sowohl in Savianos Gomorra als auch in Zolas Ventre de Paris die Stadt als metaphorisierter Körper und Schauplatz eines herrschenden Systems. PhiN 81/2017: 6 3 Körper (in) der Stadt – Stadtkörper Savianos Gomorra ist wie Zolas Ventre de Paris bereits im Titel als Stadttext festgelegt. Gomorra verweist ganz explizit auf eine Stadt, nämlich die biblische Stadt der Sünde, die von Gott zur Strafe zerstört wird. Auf einer zweiten Ebene gelesen steht Gomorra paronomastisch für die Camorra, die wiederum metonymisch für Neapel steht. So überlagern sich bereits im Titel die reale und die allegorische Stadt mit Fokus auf Verbrechen und Zerstörung.15 Neapel steht hier sozusagen als Sündenpfuhl in einem totum pro parte für die camorristische Mafia. In Le Ventre de Paris hingegen wird Paris direkt genannt und damit eindeutig referenzialisiert. Zudem wird die Stadt im Kompositum Le Ventre de Paris in einem pars pro toto bereits im Titel metaphorisch zum Körper. Die hier fokussierte mittlere Partie, nämlich der Bauch und mithin das Zentrum der Verdauung, wird auch bei Saviano eine wichtige Rolle spielen. Ihren Weg nach Italien hat diese Körpermetapher bereits im 19. Jahrhundert gefunden. Matilde Serao verfasst 1884 im direkten Anschluss an Techniken Hugos und Zolas ihr Werk Il Ventre di Napoli (vgl. Montesano 2003: 13). Im Diktum und Modus jedoch scheinen sich Zola und Saviano näher zu stehen als Serao und Saviano, weswegen im Folgenden der Bezug direkt auf Le Ventre de Paris genommen wird. Dass die Stadt zum Körper oder auch der Körper als stadtähnliches Gebilde begriffen wird, ist nicht neu. Schon Platon definierte "Wohnbezirk[e] des Leibes" und malt diese Metapher im Timaios 70 bis 73 weiter aus (Platon 1992: 130ff.). Eine engere Verbindung zwischen Stadt und Körper erfolgt in Anlehnung an die Erkenntnisse William Harveys (1578–1657) zum Blutkreislauf (vgl. Sennett 2007: 326). Ernst Platner, ein Arzt aus dem 18. Jahrhundert, stellte "die erste klare Analogie zwischen dem Kreislauf im Körper und der Umwelterfahrung des Körpers" (ebd.) her, indem er Luft mit Blut verglich (vgl. ebd.). Ebenfalls im 18. Jahrhundert legten Stadtplaner in Anlehnung an Arterien und Venen Verkehrssysteme an (vgl. ebd.: 330). Im Zuge der Umgestaltung von Paris im 19. Jahrhundert ließ Georges-Eugène Haussmann die Stadt regelrecht ausweiden.16 Er schuf ein System aus drei 'Netzen', von denen das erste mit urbanen 'Arterien' den mittelalterlichen Teil der Stadt ordnete, das zweite als Venen der Stadt die Peripherie mit dem Zentrum verband und das dritte in einer Mischung aus 'Arterien' und 'Venen' die beiden ersten Netze zusammenschloss (vgl. Sennett 2007: 408f.). In dieser Tradition, die vor allem in der Medizin den Fortschritt suchte, bediente sich auch Zola dieses organischen Bildes. In Le Roman expérimental hebt Zola die Nähe seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu den Theorien Claude Bernards hervor. Wie der Arzt die Ursache organischer Fehlfunktionen suche, so detektiere der Romancier soziale und gesellschaftliche, denn: "Le circulus social est identique au circulus vital" (Zola 2004: 335f.). Dabei geht es Zola nicht nur um das Erkennen und Beschreiben bestimmter Mechanismen, sondern auch um eine mögliche Einflussnahme durch die Literatur.17 Auch in diesem Punkt sind Parallelen zwischen dem Naturalisten Zola und dem Gegenwartsautor Saviano festzustellen. Der Körper spielt für die Stadtdarstellung in Gomorra und in Le Ventre de Paris eine exponierte Rolle und verbindet die Romane über knapp eineinhalb Jahrhunderte in ihrer Kapitalismuskritik. Es kann hier vor allem von einer genetischen, in Maßen wohl auch von einer typologischen Verwandtschaft der beiden Romane ausgegangen werden.18 Bei der Betrachtung der Funktion des Körpers in den Stadttexten fällt auf, dass nicht nur die Stadt zum Körper wird, sondern vor allem auch, dass menschliche Körper zunächst der Ware angeglichen und zuletzt völlig zur Ware werden. Die in den Texten geschaffenen Analogien – Körper und Stadt und Körper und Ware – sollen im Folgenden näher beleuchtet und in ihrer Funktion innerhalb des Textganzen analysiert werden. PhiN 81/2017: 7 Gomorras Einstieg hebt bereits stark eine Analogie von Mensch und Ware heraus.19 Schon die Eingangsszene, in der Dutzende toter, eingefrorener Chinesen aus einem Container am Hafen fallen, arbeitet mit diesem Vergleich:
Es sind Dutzende Körper, Leichname, die den ersten Schauplatz – den Hafen von Neapel – dominieren. Sie fallen aus einem der Container, die im Regelfall zum Transport von Waren verwendet werden. Giglioli spricht in Bezug auf diese Darstellung vom Inbegriff des homo oeconomicus.20 Die erste Spezifizierung der Leichname erfolgt über einen Vergleich mit Schaufensterpupen ("manichini"), deren Köpfe wie echte Schädel am Boden zerschellen. Menschliches Dasein wird damit verdinglicht. Erst dann folgt das Korrektiv, dass es sich tatsächlich um Schädel und damit um menschliche Körper handelt. Die Gleichstellung zwischen Mensch und Produkt wird noch durch den Vergleich verschärft, dass die toten, tiefgefrorenen Männer, Frauen und Kinder wie Heringe in Dosen aufbewahrt worden waren ("In fila, stipati come aringhe in scatola"). Die Reduktion der Chinesen im Tod zur Sache bezeichnet Giglioli als die Wahrheit dessen, was ihr Leben gewesen ist: "il loro ruolo di quantité négligeable che secondo Marx è il destino implicito nella progressiva degradazione del lavoro vivo" (Giglioli 2013: 65).21 Das Warenexempel erhält seine Bestätigung dadurch, dass sofort im Anschluss eine bereits mit dem alles einschließenden tutto beginnende Beschreibung tatsächlicher Waren im Hafen von Neapel folgt. So scheint sich die Ware Mensch in die Aufzählung der dinglichen Waren einzureihen, es entsteht eine Art metonymische Beziehung. Syntaktisch unterstreichen die stakkatoartigen Sätze und Aufzählungen die Gleichstellung von Mensch und Sache:
Es ist das erste große Bild, das in Gomorra heraufbeschworen wird und die Waren wie den Menschen als Ware im Mittelpunkt als federführend inszeniert. In den einleitenden Szenen des Incipits von Zolas Ventre de Paris, der mit dem Warentransport in Richtung Markthallen beginnt, werden die Waren sogar zu den ersten Handlungsträgern, die den schlafenden Figuren als geradezu aktiv gegenüberstehen (vgl. dazu Lombardi 2014: 77).
PhiN 81/2017: 8 Die Wagen der Gemüseverkäufer kommen wie von selbst nach Paris. Ein Karren Kohl trifft auf einen Karren Erbsen und diese wiederum auf mehrere Wagen mit Steckrüben und Karotten. Das pronominale Verb se joindre à unterstreicht die Personifizierung der Marktkarren, die hier ohne menschliches Zutun auf ihr Ziel zuzusteuern scheinen. Die Reaktion der zuvor passiven Fahrer in der folgenden Szene, in der Florent im Halbschlaf vor die Karren gerät und fast überfahren wird, macht die Wertzuweisung zwischen Mensch und Ware deutlich:
Florent wird von den Fahrern nur als Ärgernis, das der pünktlichen Lieferung und damit dem Verkauf und Gewinn im Wege steht, wahrgenommen, nicht jedoch als menschliches Wesen. Schließlich landet er auf Mme François' Karren, auf dem er teilnahmslos inmitten der Waren nach Paris gefahren wird. Mme François' Aussagen, ihn mit ihrem Gemüse in Paris abladen zu wollen ("Je vais aux Halles, je vous déballerai avec mes légumes." VdP: 605), rundet das Bild des Transfers Ware – Mensch, Mensch – Ware ab. Scholler schreibt, der am Straßenrand aufgelesene Florent werde "vor dem dinglichen Hintergrund der Gemüseberge wie ein verlorenes Detail in Szene gesetzt".22 Dabei stellt sich hier die Frage, ob Florent, dessen Beine im Rübenhaufen verloren scheinen und der in einem Berg Karotten verschwindet (VdP: 605), sich so nicht vielmehr der Ware angleicht und in ihr unter- beziehungsweise aufzugehen scheint. Er sticht in der Szene weniger als Detail hervor, sondern geht in der Masse unter. Noch einmal wird das Bild anthropomorphisierter Waren in den Markthallen aufgerufen, wenn Zolas Erzähler Kälber vorführt, die wie Kinder in Tücher gewickelt sind: "Sur le trottoir opposé, d'autres camions déchargeaient des veaux entiers, emmaillotés d'une nappe, couchés tout du long, comme des enfants, dans des mannes qui ne laissaient passer que les quatre moignons, écartés et saignants." (VdP: 631) Der Vorzug der Waren und des Warentransports vor menschlichen Bedürfnissen begegnet uns gleichermaßen im Hafen von Neapel. In der Deskription wird die Ware in einem ersten Schritt über die Staatsangehörigkeit sowie den Geburtsstatus personifiziert und in einem zweiten durch ihre weitreichende Bewegungsfreiheit über den Menschen gestellt:
PhiN 81/2017: 9 Darüber hinaus haben die Waren nicht nur eine höhere Flexibilität, auch ihre 'Bedürfnisse' stehen über denen der 'mit ihnen' arbeitenden Menschen. Wichtig ist nicht, dass den Menschen die Arbeit nicht körperlich beschwerlich wird, sondern nur, dass die Qualität der Waren nicht unter der Hitze leidet. Das verwendete Verb soffrire vermittelt einmal mehr den Personenstatus der Produkte, die sich für den zu erwirtschaftenden Profit verbürgen:
So wie die Produkte unterschiedliche Nationalitäten aufweisen, kommen auch die Arbeiter am Hafen aus den verschiedensten Ländern der Erde, eine Analogie, die erneut Ware und Mensch hierarchisiert. Dies führt zu einer außergewöhnlichen Dynamik, in der die Figuren den Objekten untergeordnet werden und damit in ihrem Handeln durch diese determiniert sind, ein Vorgang, den Scholler auch in Le Ventre de Paris beobachtet. Hier wirkt es – so Scholler – "als treibe das Leben der Lebensmittel den Erzähler vor sich her" (Scholler 2013: 67). Er bezieht sich hier auf eine lange Beschreibung verschiedener Käsesorten (VdP: 826ff.), die jedoch in der Deskription nicht dazu dienen, "positivistische Episteme näher zu bestimmen", sondern durch ein "Netz aus brutalen bis unflätig assoziativen Metaphern […] Isotopien eines Schlachtfeldes, der Krankheit und Verwesung entstehen lassen" (Scholler 2013: 70). Durch diese "anthropomorphisierenden Bildsequenzen" entstehe ein ungezügeltes Leben, das sich zu einem gefährlichen Organismus zusammenschließe (ebd.: 70ff). Aber nicht nur die Produkte erhalten den Status eines menschlichen Körpers, auch die Stadt selbst wird anthropomorphisiert und im Vergleich zu einem übermächtigen Organismus, sowohl bei Saviano als auch bei Zola. Die eindrücklichste Szene, in der die Stadt Paris letztlich zum Körper und die Hallen zum Konsum- und Verdauungsorgan werden, ist sicher die folgende, in der der Kiefer und damit der Kauvorgang in einem kolossalen Zoom zur Ernährung der gesamten Stadt herangezogen wird:
PhiN 81/2017: 10 Borsò-Borgarello spricht in Bezug auf diese Metapher, die schon im Titel angelegt ist, davon, dass man einer fressenden, konsumierenden, zerstörenden und ausscheidenden Stadt gegenübersteht (Borsò-Borgarello 1985: 43). Das Bild des mahlenden Kiefers überlappt sich mit dem des Zentralorgans, dem Herzen, das Blut durch die Adern pumpt. Das Adverb "furieusement" unterstreicht bereits ein unterschwelliges Gewaltpotenzial. Der hier entstehende Chronotopos stellt eine dominante Bedeutungsebene dar, da eine bestimmte Zeit- und Ortsrelation und eine bestimmte Gesellschaft mit einer auf Aggression basierenden Konsumhaltung das Hauptthema stellten, so Borsò-Borgarello (1985: 43).23 Dass die Metapher des Kiefers und Kauens ("Paris mâchait") stärker als der Vergleich des Herzens ("grand organe central") wahrgenommen wird, mag an seiner Einpassbarkeit in den Kontext der Verdauungsorgane liegen, die das Gesamtwerk in den Vordergrund stellt. Die in Bezug auf Körpermetapher und Chronotopos gemachten Beobachtungen sind mit einigen Verschiebungen gut auf Gomorra übertragbar.24 In diesem Text allerdings verlagert sich der Hafen, seines Zeichens Stellvertreter von Handel und Warentreffpunkt und damit Pendant zu den Pariser Hallen, in der Körpermetaphorik weiter nach unten. Der Hafen wird zum Anus, der sich schmerzhaft weiten muss, um die ankommende Ware aufzunehmen:
Wie bereits bei Zola wird durch die Körpermetaphorik, die spezifisch auf den Verdauungstrakt verweist, ein zyklischer Vorgang aufgerufen. Allerdings funktioniert die jeweilige Metaphorik unterschiedlich. Während der Kiefer bei Zola auf das Verschlingen der Ware zugunsten einer – auf den ersten Blick – lebensspendenden Aktion hinweist, nämlich der Ernährung der Stadt, ist Savianos "ano" von Beginn an in zweierlei Hinsicht negativ konnotiert. Zum einen ruft das langsame Eindringen in die in der Metapher stilisierte Körperöffnung ("il piccolo foro") die Erinnerung an einen Befruchtungsvorgang hervor, der jedoch dadurch pervertiert wird, dass die aufgerufene Öffnung eben der Anus und damit unfruchtbar ist. Gleichzeitig wird dieses Bild dadurch komplettiert, dass der große Schmerz, mit dem sich der Schließmuskel weitet, an einen Akt sexueller Gewalt denken lässt. Ein ursprünglich positiv besetztes Bild, das der Befruchtung, die zur Geburt und damit Hervorbringung neuen Lebens führt, wird auf groteske Art ad absurdum geführt. Der Anus verweist per se auf Endprodukte und spielt somit bereits auf das letzte Romankapitel an, das sich mit dem Ende des Produktionszyklus, nämlich der Müllvernichtung, befasst. In der Überleitung vom vorletzten zum letzten Kapitel wird dieser im ersten Kapitel angerissene pervertierte Geburtsvorgang expliziert und in den ewigen Zyklus der unfruchtbaren Schwangerschaft und des Geld gebärenden Aborts überführt bis hin zum absoluten Verfall des Körpers, das heißt, der Stadt:
PhiN 81/2017: 11 Das Bild des perpetuierten Zyklus einer ständigen Transformation hat Saviano zu Ende des ersten Kapitels bereits vorweggenommen, indem er Antoine de Lavoisier zitiert und dessen chemisches Gesetz auf den kapitalistischen Warenzyklus überträgt: "niente si crea, niente si distrugge, tutto si trasforma. In natura, ma soprattutto nelle dinamiche del capitalismo" (GMR: 24). Das groteske Bild des degenerierten Körpers wird weitergesponnen, indem auch der Hafen zum entzündeten Blinddarm wird, der im Abdomen der Küste liegt: "Il porto è staccato dalla città. Un'appendice infetta mai degenerata in peritonite, sempre conservata nell'addome della costa." (GMR: 16) Metapher und reale Topographie scheinen hier nahe beieinander zu liegen, wenn man beachtet, dass man im Hafen Neapels tatsächlich die Form des Wurmfortsatzes sehen kann. Die bildliche Übertragung findet somit zudem eine referenzielle Legitimation. Der Bildbereich spitzt sich mit der Beschreibung des Leerens der Schiffslatrinen im Hafen weiter zu, die so durch ihre Ausscheidungen den Golf von Neapel zum Abfallcontainer werden lassen. Die neu angekommene Ware, die eigentlich auf Produktion verweisen sollte, wird bereits hier durch ausgeschiedene Exkremente überlagert:
Die Schmutz- und Abfallmetapher ist auch in Zolas Ventre de Paris zu finden.25 Zu Ende des fünften Kapitels lässt ein Platzregen gelbe, ekelerregende Brühe durch die Straßen Montmartres fließen (VdP: 865) und die zu Beginn des Romans frische Ware zeigt sich im Zustand der Fäulnis:
In dieser Passage taucht nun ebenfalls ein erkrankter Körper auf (die Hallen sind von infizierter Feuchtigkeit erfüllt), der sich durch schalen Blutdunst und Gestank auszeichnet. Auch hier stehen eher Produkte in ihrem Endstadium und der Fäulnis im Mittelpunkt. Éléonore Reverzy bemerkt: "Cette histoire de faim et de dévoration, au milieu d'une grande mise en scène excrémentielle – aux Halles on ne produit rien, on excrète –, rappelle aux repus les vrais appétits et la sauvagerie d'une nature où l'homme vaut peu." (Reverzy 2007: 119) Borsò-Borgarello weist daraufhin, dass die Schmutzmetaphorik sich aus der Perspektive Florents entwickelt, der nach und nach die verschiedenen Aspekte des Schmutzes aufdeckt: "Die Zuspitzung der Fabel korreliert mit der Zuspitzung des Aufklärungsprozesses des latenten inneren Verderbens" (1985: 68). Neben ähnlichen Herangehensweisen in Deskription und Bildwahl verbindet die Autoren die zugrundeliegende Intention, Verbrechen, Korruption und Machtspiele aufzudecken. PhiN 81/2017: 12 In Gomorra ist im Vergleich zu Le Ventre de Paris das Verderben nicht latent und versteckt angelegt, sondern wird durch das gesamte Werk offen zur Schau gestellt. Gelenkt wird die Darstellung durch den nach Wissen und Aufklärung suchenden Blick des Ich-Erzählers. Ein ähnlicher Kulminationspunkt der Degeneration wie in Le Ventre de Paris am Ende des fünften Kapitels beschrieben, findet sich auch im letzten Kapitel von Gomorra. Hier entscheidet sich der erzählende Protagonist Saviano, die terra dei fuochi zu Fuß zu besuchen. Die beschriebenen illegalen Mülldeponien in der nördlichen Peripherie Neapels sind jedoch zunächst nicht allzu stark metaphorisch konnotiert, sondern vor allem referenziell. Nichtsdestotrotz wird die Metapher des degenerierten Körpers, wie im Eingangskapitel angelegt, auch hier mitverarbeitet. So etwa ist der besprochene Landstrich vom Krebs ("cancro", GMR: 311) befallen. Der Krebs symbolisiert die örtliche Vormachtstellung der Camorra, eine Analogie, die bereits im Kapitel "Cemento armato" zu finden ist, wo von der "terra malata di Camorra" gesprochen wird (GMR: 239). In seiner vollen Kraft kommt das Metaphorische jedoch erst auf der letzten Seite wieder zum Tragen. Der Erzähler expliziert, dass die Mülldeponien am besten geeignet sind, um den Wirtschaftskreislauf zu veranschaulichen, da sich auf ihnen sammelt, was der Konsum hinterlassen hat (vgl. GMR: 310). Während sich das erlebende und berichtende Ich am Hafen am Ursprung der Welt ("origine del mondo", GMR: 14) wähnt, so meint es nun, sich zwischen Zivilisationsresten ("residui di civiltà", GMR: 313) zu bewegen. Der Zyklus schließt sich, nicht nur jener der Ware, sondern auch der der menschlichen Entwicklung, die hier an einem Endpunkt der Zivilisation angekommen zu sein scheint. Wie in Zolas Text bildet auch in Gomorra eine verregnete Landschaft mit Rauchschwaden den Hintergrund, in der der Protagonist uns seinen Blickpunkt leiht:
In einer wüstenähnlichen Landschaft, die von klebrigem Qualm dominiert wird, ist einmal mehr ein Verdauungsvorgang erkennbar. Diesmal ist es das Land, das vom toxischen Giftmüll zerfressen wird ("terre divorate"), nur um wieder mit neuen 'Produkten' gefüllt werden zu können. Es wird das Bild einer andauernden, rotierenden Apokalypse erschaffen ("un'apocalisse continua e ripetuta", GMR: 328), der nichts mehr entgegenzusetzen ist. Diese wird in der Beschreibung von einer quasi-bukolischen, pervertierten Idylle unterbrochen, in der Hirten zu Hütern der Camorra umfunktioniert werden: "Usavano i pastori come pali […]. I migliori pastori in circolazione venivano assunti per badare agli intrusi, piuttosto che a montoni e agnelli. […] Li vedevo spesso gironzolare con i loro greggi rinsecchiti e obbedienti al seguito." (GMR: 328) In dieser Szenerie, im Dauerregen, verschmelzen Apokalypse, pervertierte Bukolik und das wahrnehmende Ich: PhiN 81/2017: 13
So wie die Stadt bisher zum Körper geworden ist, bildet sich im Verfahren der literarischen Darstellung nun eine Landschaft aus Müll ("collina di spazzatura") heraus. So wie der Boden nicht mehr in der Lage ist, das Regenwasser zu absorbieren, ist auch der Protagonist völlig durchnässt – es kommen in einer figura etymologica sogar verwandte Begriffe zum Einsatz: Das Verb inzuppare und das Adjektiv zuppo haben die gleiche Herkunft. So wie all das Wasser die in der terra dei fuochi brennenden Feuer nie endgültig zu löschen vermag, kann auch der Regen das Brennen, das das erzählende und erlebende Ich physisch verspürt, nicht lindern ("tutta l'acqua […] non riusciva a spegnere una sorta di bruciore"). Die verseuchte Erde weist also die gleichen Reaktionen auf wie der Körper des erzählenden Ich, das aus eben dieser Erde hervorgegangen ist: "Sono nato in terra di camorra, nel luogo con più morti ammazzati d'Europa, nel territorio dove la ferocia è annodata agli affari, dove niente ha valore se non genera potere." (GMR: 330) Hier wird noch einmal auf den Punkt gebracht, warum der menschliche Körper im Chronotopos des an Gewalt gekoppelten Konsumdenkens nichts weiter als Ware ist. Die Ware, die Profit bringt, generiert Macht und ist so dem schlichten menschlichen Dasein überlegen. Hier schließt sich noch einmal der Kreis zur im Incipit im Gespräch mit dem Chinesen Xian beschworenen Ideologie des Geldes und Profits:
In der Szenerie der aufgeweichten, schmutzigen Landschaft scheint der Ich-Erzähler zu versinken, in ihr unter- oder aufzugehen, ähnlich wie Florent bereits zu Beginn von Le Ventre de Paris im Gemüsekarren. Eine Rettung gelingt nur, indem der Protagonist Saviano sich auf einen dort entsorgten, vorbeischwimmenden Kühlschrank wirft und sich so in seinem Status noch einmal dem der Ware angleicht. Im Text heißt es:
PhiN 81/2017: 14 Das Verb galleggiare, das ausdrückt, dass jemand oder etwas auf einer Wasseroberfläche schwimmt, führt in ein ähnliches Bild zurück, das den Leser zu Beginn des Textes am Hafen in Empfang genommen hat: zu einem Meer voller Waren, die absolut dominant sind. Hier treten sie dem Rezipienten nun in ihrem Endzustand vor Augen. Der Verbalkomplex "lasciandomi trasportare" verweist auf den – zumindest in diesem Moment – zur Passivität verdammten Menschen, der der Ware gleich durch den Sumpf schwimmt, auf sie angewiesen ist und keinesfalls einen höheren Wert besitzt. Ein Aufbegehren seitens der Figur Saviano, die mit der absorbierten Choralität repräsentativ für die neapolitanische Bevölkerung steht,26 findet jedoch durch die Hinzunahme eines Filmzitats statt. An den Kühlschrank gekrallt erinnert sich der Ich-Erzähler an Franklin J. Schaffners Film Papillon, nach dem gleichnamigen Roman von Henri Charrière, in dem es dem Protagonisten zuletzt gelingt, aus der Strafkolonie auf den Teufelsinseln zu fliehen. Gomorra endet mit den Worten:
Dieses Ende ist zwiespältig. Zum einen wird ein Wechsel vom zuvor passiven hin zu einem aktiven Vorgehen aufgerufen, zu einem vitalen Schrei, der den ganzen Körper in Anspruch nimmt. Aufgeführt werden in sezierender Genauigkeit alle Körperpartien, die vom Schrei in Mitleidenschaft gezogen würden: Lunge, Magen, Luftröhre, Stimme, Hals. Zum anderen bleibt es eben bei einem Vorsatz ("Avevo voglia"). Der Schrei wird nicht ausgeführt, zumindest wird dies dem Rezipienten nicht mehr zuteil. Nichtsdestotrotz endet der Text, der in allen möglichen Formen das gewaltsame Sterben von Menschen in einer der Sünde verfallenen Stadt zur Darstellung gebracht hat, mit dem Wort "vivo", Leben, und nimmt so eine positivere Grundhaltung ein. Außerdem grenzt sich der an den Kühlschrank geklammerte Ich-Erzähler so in seinem Status von der Ware ab, der er zuvor assimiliert worden war. Zugleich wird durch das Filmzitat eine letzte Modellierung der Stadt vorgenommen. Durch das implizite Aufrufen des Übersee-Départements Französisch-Guayana wird die "terra di camorra" (GMR: 330) zur île du diable, zur Teufelsinsel, der es zu entfliehen gilt. Zudem festigt sich hier erneut die Bindung an Zolas Ventre de Paris, kommt doch Florent von den Teufelsinseln und wird zu Ende des Romans wieder dorthin deportiert. Die semantische Richtung der sich bewegenden Protagonisten Florent und Saviano ist mithin eine zumindest angedeutet gegensätzliche: Während Florents revolutionäres Unterfangen definitiv scheitert, bleibt in Gomorra zumindest ein Funken Hoffnung bestehen. Wie bereits im Titel überlagern sich in der Gleichsetzung von "terra di camorra" und Teufelsinsel Referenz und Allegorie. PhiN 81/2017: 15 4 Schlussbemerkung zum Funktionswandel intertextuellen Schreibens Die während der Postmoderne zum literarischen Hauptverfahren erhobene Intertextualität schwebt in ihrer Anwendung zwischen Strategien der Konstitution und der Auflösung von Sinn, Wahrheit und Subjekt. Der idealtypische postmodernistische Metatext bringt die spielerisch-destruierende Funktion von intertextuellen Anleihen in Anschlag. Die Signifikatenebene wird flach und aussagearm, die Welt wird zum 'Text', der Autor zum Sprachrohr fremder Rede. Mit dem Wiederaufkommen realistischer Tendenzen, wie etwa im Fall von Savianos Gomorra, ändert sich auch die Funktion der weiterhin breit vorhandenen intertextuellen Anleihen in der Literatur. Diese werden erneut sinnkonstituierend eingesetzt, stützen das zur Anschauung gebrachte Thema und schlagen legitimierende Brücken zu wichtigen Vorläufermodellen. So bietet Zolas in dieser Untersuchung als Hypotext gelesener Roman Le Ventre de Paris Savianos Gomorra Strukturen und Metaphern an, die in leichter Verschiebung und Anpassung an den italienischen Kontext eine aktuelle Kapitalismuskritik illustrieren. Zolas Text wird nicht nur zum Bildspender des Verdauungsvorgangs riesiger Warenmassen in einer anthropomorphisierten Stadt, sondern – durch die Überkreuzung des final eingesetzten Papillon-Zitats mit dem an den naturalistischen Text angelehnten Gesamtgeschehen – auch zur Basis eines tieferführenden Blickes. Der literarische Stadtkörper Neapels, das von vornherein durch den Titel als biblische Stadt der Sünde gezeichnet ist und seine Bewohner zugunsten von Kapital zu verschlingen droht, wird in der Überlagerung intertextueller Anleihen, die die terra di camorra und die île du diable kurzschließen, noch einmal zum verdammten Land beziehungsweise zum Land der Verdammten, zur Teufelsinsel. Mit dem Verweis auf berühmte französische Realismen aus dem 19. Jahrhundert konstituiert und legitimiert Saviano zudem sein Projekt eines neuen realistischen Schreibens nach der Postmoderne. Bibliographie Borsò-Borgarello, Vittoria (1985): Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstitution im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts. Tübingen: Narr. Broich, Ulrich (1997): "Intertextuality", in: Bertens, Johannes Willem (Hg.): International postmodernism. Theory and literary practice. Amsterdam [u.a.]: Benjamins, 249–255. Casadei, Alberto (2009): "Gomorra e il naturalismo 2.0", in: Nuovi Argomenti 45, 230–249. Chimenti, Dimitri (2012): "Innesti, inserti e prelievi in 'Gomorra' di Roberto Saviano", in: Bollettino '900 1–2 [http://www.boll900.it/2012-i/Chimenti.html, 02.02.2017]. Conrad von Heydendorff, Christiane (im Druck): Zurück zum Realen. Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur. Göttingen: V&R unipress / Mainz University Press. PhiN 81/2017: 16 Dal Lago, Alessandro (2010): Eroi di carta. Il caso Gomorra e altre epopee con una postilla sul declino dello spirito critico in Italia; non si scherza con i santi! Nuova ed. agg. Roma: Manifestolibri. Eco, Umberto (2000): "Postille a 'Il nome della rosa'", in ders.: Il nome della rosa. Milano: Bompiano, 505–533. Genette, Gérard (2003): Palimpsestes. La littérature au second degré. [Paris]: Édition du Seuil. Giglioli, Daniele (22013): Senza trauma. Scrittura dell'estremo e narrativa del nuovo millennio. Macerata: Quodlibet. Lombardi, Chiara (2014): "Il sublime e l'idillio in Le Ventre de Paris", in: Status Quaestionis 7, 74–100. Martinez, Matias (1999): "Autorschaft und Intertextualität", in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard (u. a.) (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Konzepts. Tübingen: Niemeyer, 465–479. Montesano, Giuseppe (22003): "Il sipario lacerato. Viaggio al termine del Ventre di Napoli", in: Serao, Matilde: Il Ventre di Napoli. 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Der folgende Artikel ist eine verkürzte und leicht modifizierte Auskoppelung aus dieser Dissertationsschrift. 2 Pfister formuliert: "Intertextuality is a phenomenon that is not restricted to postmodernist writing at all." (1991: 209f.) 3 "The question to be asked, therefore, is whether there is a specifically postmodernist type of intertextuality, with specific strategies and functions that would allow us to distinguish postmodernist intertextuality from previous forms of intertextuality, […]." (Pfister 1991: 210) 4 "Postmodernist intertextuality is the intertextuality conceived and realized within the framework of a poststructuralist theory of intertextuality- With this definition the historical specificity of postmodernist intertextuality becomes a matter of categorical, rather than quantitative distinction." (Pfister 1991: 214) 5 "Postmodernist intertextuality within a framework of poststructuralist theory means that here intertextuality is not just used as one device amongst others, but is foregrounded, displayed, thematised and theorized as a central constructional principle." (Pfister 1991: 214)PhiN 81/2017: 18 PhiN 81/2017: 19 |