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Tanja Angela Kunz (Berlin)



Agnes Bidmon (2016): Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur. Eine typologische Annäherung. Berlin: De Gruyter (Hermaea. Neue Folge 140)


"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr." (Offenbarung 21,1 [Nestle-Aland 2007: 675]). Das nacherzählende Präteritum, mit dem der biblische Johannes die Gegenwart seiner Vision beglaubigt, wird abgelöst vom Präsens einer stehenden Vergangenheit, aus der sich bereits eine dauerhafte Zukunft abgelöst und eine neue Gegenwart geschaffen haben wird. Die noch junge christliche Gemeinde, für die Johannes 60 nach Christus die Apokalypse niederschreibt, steht noch unter dem Trauma der Ermordung Christi. Sie bedarf der Hoffnung auf das Ende im Übergang zur Ewigkeit als Naherwartung. Jene ist Kennzeichen von Übergangsphänomenen, in welchen die ambivalent erfahrenen Unsicherheiten in gesteigertem Maße Hoffnung generieren. In Wirklichkeit jedoch wird das Erwartete auf sich warten lassen und dieser Zustand wird die Geschichte jenes letzten und schwierigsten der biblischen Bücher ebenso schreiben, wie es die kulturelle Entwicklung über Jahrtausende hinweg bestimmen wird.

Vom vorläufigen Ende her lässt sich also das Prinzip Hoffnung ebenso lesen wie vom Anfang. In ihrer nun vorgelegten Studie mit dem Titel Denkmodelle der Hoffnung in Philosophie und Literatur. Eine typologische Annäherung geht Agnes Bidmon zwar zeitlich chronologisch von der Antike über die Vormoderne bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert vor, legt jedoch den Fokus klar auf den dritten Teil ihrer Untersuchung, das 20. Jahrhundert, und der Leser geht nicht fehl, wenn er annimmt, dass letztlich von dort ihr Projekt der Vermessung eines historischen und systematischen Diskursfelds der Hoffnung im Überschneidungsfeld von Literatur und Philosophie seinen Ausgang nimmt. Öffnet sich doch hier unter veränderten Vorzeichen erneut, was einst im antiken Verständnis offen war und sich erst in der Messiaserwartung der jüdisch-christlichen Tradition auf eine gesicherte Zukunft, das Nahen des Erlösers, hin verschloss. Irreversibel verschlossen bleiben infolge der historischen Entwicklungen jedoch ungebrochene Hoffnungsmodelle. Und so werden in der Forschungsarbeit stets die Entwicklungen zum 20. Jahrhundert mitgedacht, indem die Verfasserin sich wiederholt, wie z.B. im Falle Gerhard Scholems oder Emmanuel Levinas', mit Denkern des 20. Jahrhunderts der Hermeneutik heiliger Hoffnungsschriften sowie den behandelten philosophischen und literarischen Produktionen nähert. Dadurch erzeugt die Untersuchung selbst eine Naherwartung, die auf den vorläufigen Endpunkt der Entwicklungen im ausgehenden letzten Jahrhundert drängt.




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Hoffnung definiert Bidmon als ein antizipatorisches Moment der Zukunftsorientierung, das in "Opposition zur gegenwärtigen Defizienzerfahrung" (2) steht und sich handlungsleitend für die Gegenwart sowie konstituierend für die Zukunft auswirken kann. Konzepte des Hoffens übernehmen jedoch auch häufig komplexitätsreduzierende Orientierungsfunktion, was in sich die Gefahr der Ideologie birgt. Der potentiell weltverändernde Gehalt des Hoffens steht im Unterschied zu utopischen Diskursen, wobei letztlich beiden Formen, dies zeigt sich beispielsweise eindrücklich in der Analyse der Lyrik Paul Celans, Sinnstiftungspotential zukommt. Den präsentierten Konzeptionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist dabei der "Einbezug der Geschichtserfahrung" und die "Diagnose der Gegenwart" (390) gemeinsam, so dass Erinnerung nicht nur als temporale Entgegensetzung zur Hoffnung verstanden, sondern auch zum konstitutiven Bestandteil des Hoffens wird. Dabei erweisen sich aus den behandelten philosophischen wie literarischen Perspektiven vor allem die Sprache und das Ästhetische als Medium einer möglichen, wenngleich ungewissen Überschreitung.

Die Untersuchung ist auf das Nachzeichnen von Grundstrukturen angelegt. So kann der Leser die Wege ausgehend von den mythischen sowie jüdisch-christlichen Supertexten des Abendlands in ihren zahlreichen Facetten, über die Säkularisierungs- und Rationalisierungsbestrebungen der Hoffnungsbewertung und die Gegenbewegungen zum Idealismus im 19. Jahrhundert bis zu den von der Verfasserin als "reflektierte[] Hoffnungskonzept[e]" (170) bezeichneten Denkbewegungen des 20. Jahrhunderts nachverfolgen. Wenn also bisweilen von Brüchen die Rede ist, sind damit stets Übergangsphänomene gemeint, wie sie sich beispielsweise in der Philosophie Kants im Schnittfeld zwischen Aufklärung und Moderne, in der "Sattelzeit" (Reinhard Koselleck), in Marx' auf "radikale[] Säkularisierung" hinstrebendem Konzept "atheistisch-eschatologische[n] Heilsdenken[s]" (168) oder in Nietzsches zirkulär organisierter "paradoxe[r] nihilistische[r] Eschatologie" (190) finden.

Die sich hierin zeigende grundlegende Entwicklungslinie zeugt vom sukzessiven Abbau religiöser Denktraditionen. In ihr lagern spezifischere Verläufe, die aus der Arbeit wie folgt destilliert werden können: Eine Linie beginnt bei den jüdischen Glaubensschriften und folgt den verschiedenen Strömungen des Messianismus über das Mittelalter bis in die Philosophien Walter Benjamins oder Ernst Blochs und literarisch über Franz Kafka bis in die Lyrik der Verzweiflung und des Verhoffens Paul Celans, die im Angesicht der Shoa dem Noch-Nicht Ernst Blochs ein suchendes "Nicht-Mehr" gegenüberstellt (371). Ein anderer Weg zeigt die Wirkungen des christlichen Denkens auf den Existenzialismus Kierkegaards bis zu den palimpsestartigen Überschreibungsverfahren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Und eine weitere Argumentationslinie geht vom marxistischen Denken aus und folgt dessen Einfluss auf die dialektischen Konzepte des 20. Jahrhunderts bis hin zu Ernst Bloch und dem regen Wirken seiner Philosophie auf literarische Vorstellungen eines Sozialismus in der DDR, der auf einem utopischen Denken und auf antizipierender Phantasie basiert. Am Beispiel des Werks von Christa Wolf legt die Verfasserin auch den Spiegel der Staatshistorie und seiner Intellektuellen an, indem sie darin den Wechsel von einem auf eine real existierende Utopie gerichteten zu einem nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns ins Privat-Alltägliche verlagerten Hoffnungskonzept zeigt.




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In ihrer Studie konzentriert sich die Verfasserin dabei zudem auf die "epistemologischen und ethischen Implikationen des Hoffens als einer Bewältigungsstrategie der Zukunft" (10). Auf der Basis des antiken Mythos sowie der jüdisch-christlichen Eschatologie erarbeitet sie bis ins 19. Jahrhundert zwei konträre Lesarten der Hoffnung, orientiert an der Einschreibung in eine der beiden Traditionslinien. Herausgelöst aus der Vorstellung des Einheitsursprungs wird anhand des Pandora-Mythos bei Hesiod die grundlegend paradoxale Anlage der Hoffnung gezeigt, die sich einer moralischen Gut-Schlecht-Dichotomie widersetzt. Die antiken Mythen begegnen der kontingenten Welt mit einem Zukunftsentzug, in dem die Hoffnung als Übel verstanden wird. Im jüdisch-christlichen Kontext hingegen wird die Hoffnung als Gottesgabe auf ein letztes sicheres Ziel hin ausgerichtet mit – zumindest für den Gläubigen – positivem Ausgang. Mit der Ankunft Jesu tritt ein "Schon" an die Stelle des jüdischen "Noch-Nicht", das sich für die sichere Wiederkunft verbürgt. Durch die "Installierung einer konkreten Jenseits-Perspektive" sowie durch die moralische Tugendkomponente, die der Hoffnung in der Trias mit Glaube und Liebe bei Paulus zugeordnet wird, entsteht in der Definition der christlichen Hoffnung ein "grundlegende[r] Paradigmenwechsel" (81). Und auch wenn die Hoffnungskonzepte im 20. Jahrhundert dynamisiert und prozesshaft werden, führt die daraus entstehende Kritik an der Hoffnung nicht zur Absage weder an Hoffnungsfragmente noch an eine ethische Relevanz derselben. So identifiziert Bidmon z.B. bei Kafka, mit Claudia Öhlschläger, eine "Poetik und Ethik der kleinen Form" (219), in der "irreduzible[] Hoffnungsrest[e]" (2018) reproduziert werden, oder bei Albert Camus ein "étrange espoir" als handlungsleitendes widerständiges Potential gegen den Nihilismus im Angesicht des Absurden. Literatur wird in all diesen Analysen als gegendiskursives Medium zur Subversion herrschender Diskurse und Wissensbestände auf der Basis des Paradoxons verstanden (199).

Auf diese Weise generiert die Verfasserin aus der ethischen Ausrichtung den zweiten Schwerpunkt der Untersuchung, der in einer Ideengeschichte der Hoffnung und in der Frage nach dem ideengeschichtlichen Stellenwert von Emotionen und Affekten liegt. Die Konzepte schwanken dabei beständig zwischen dichotomen Ausrichtungen: Sie schweifen zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigem, zwischen Unsicherheit und Gewissheit, zwischen Affekt und Ratio, zwischen Erreichbarkeit und Utopie, zwischen spes qua und spes quae, zwischen vita activa und vita contemplativa, zwischen Existenz und Prozess. Und je nach Einschreibung in eine der sich aus diesen dialektischen Wandlungen herausbildenden Traditionslinien führt dies zu einer Bedeutungsunterscheidung hinsichtlich des optimistischen Zukunftsgehalts der Hoffnung. Ein Konzept, das im 20. Jahrhundert verschiedene dieser historischen Dichotomien zu vereinen sucht und das in einer Untersuchung zur Hoffnung nicht fehlen darf, ist jenes Ernst Blochs. Sein Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung durfte um die Mitte des 20. Jahrhunderts im Gepäck der Studentenbewegung nicht fehlen und kann als ein jähes Aufbäumen der Utopie im 20. Jahrhundert bezeichnet werden. Bidmon arbeitet die Verbindung zwischen triebhaft-affektiven und kognitiv-rationalen Elementen bei Bloch heraus, die zu einer Reontologisierung der Zukunft, des Unfertigen und des Noch-Nicht und damit zu einer unteleologischen Dynamisierung der Hoffnungs- wie auch des Daseinskonzepts führen (297f.). Die Hoffnung wird damit zwar erneut entfinalisiert wie im antiken Diskurs, zugleich aber als im Jetzt erlernbares Prinzip auf ein dezidiert Gutes hin ausgerichtet, das auf Erfüllung strebt.




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Mit der sorgfältig durchgeführten Forschungsarbeit hat sich die Verfasserin einer schwierigen Typologie gewidmet und angesichts dieser Herausforderungen eine konsistente Studie hervorgebracht, die historisch und ideengeschichtlich interessierten Lesern zu empfehlen ist. Aus der Ausgewogenheit von Überblicksdarstellungen und konkreten Textanalysen sowie aus der Entscheidung, die wissenschaftlichen Debatten und einen Großteil der Forschung in den Fußnoten zu verhandeln, ergibt sich eine leichte Lesbarkeit der Untersuchung, die wissenschaftsvermittelnd wirkt, wenn auch die fachwissenschaftliche Lektüre dadurch stellenweise erschwert wird. Durch die stete Präsenz jüngster Denk- und Interpretationsweisen hält die Untersuchung bis zuletzt den Spannungsbogen. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass der jeweilige historische Kontext durch die Betrachtung und Bewertung aus der Sicht späterer Denker bedingt verfälscht wird.

Aufgrund der Fülle der versammelten Theorien und Konzepte, kann im Folgenden nur schlaglichtartig auf einige Besonderheiten und Kritikpunkte in Bezug auf die Forschungsarbeit hingewiesen werden.

Eine entschiedene Stärke der Untersuchung liegt im Einbezug der jüdischen Schriften und Theorien. Die Studie verfolgt dabei die restaurativen und aktiven Tendenzen des jüdischen Messianismus über die mittelalterlichen Säkularisierungstendenzen des rabbinischen Denkens bei Maimonides und das tätig-aktive Eingreifen zur Beförderung der Ankunft der messianischen Zeit durch Gebet (= Wort, Sprache) und Buße bei Lemlein bis hin zu Kafkas gegenmessianischer Verarbeitung in funktionslos gewordenen Bildern von "unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns", mit Kafka gesprochen (Benjamin 1981: 14), oder in den auf Veränderung der konkreten Realität zielenden dialektischen Denkkonzepten von Benjamin, Adorno und Fried, in denen die Tradition um Gnosis, Kabbala und Messianismus, einem Echoraum gleichend, als Einflussspuren neben anderen wiederhallen.

Feinsinnig arbeitet die Verfasserin die Übergänge der mythologischen Schriften zu den jüdischen und anhand des paulinischen Hoffnungskonzepts zu den christlichen Zeugnissen des Neuen Testaments als Einfluss- und Abgrenzungsgeschichte heraus, ohne dass der Eigenwert dieser besonderen Texte an Relevanz verlöre. So zeigt Bidmon beispielsweise wie sich jüdisch-eschatologische Traditionen allmählich verschieben und sich im Verbund mit Ideen der hellenistischen Philosophie zum "Ernstfall des Messianismus" (Jacob Taubes) verdichten (83f.). Jüdische und christliche Diskurse werden ebenso in ihrer gegenseitigen Demarkation und Beeinflussung gezeigt. Der Jahrtausende währende Kampf wird aus den Wechselwirkungen in Bezug auf die Hoffnungskonzepte einerseits verständlich, andererseits aber auch relativiert, was die fatalen Entwicklungen im 20. Jahrhundert in Geschichtlichkeit auflöst und damit umso absurder erscheinen lässt. Die Untersuchung fasst und interpretiert die heiligen Schriften dabei in ihrer Funktion als kulturelle Zeugnisse und literarische Texte. Bisweilen ist dann allerdings der Sprung in die literarische Produktion des 20. Jahrhunderts abrupt, beispielsweise vom Korintherbrief zu Ödön van Horváths Drama "Glaube Liebe Hoffnung" oder Günter Grass' Nachkriegsverarbeitung in Die Blechtrommel.




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Wiederholt zeigt die Verfasserin eine Vorliebe für kurze Kapitel, die an einigen Stellen jedoch den Eindruck von Zerfaserung vermitteln. So hätte beispielweise der kurze Exkurs zum Facettenreichtum der Hoffnungskonzepte bei Goethe (113f.) in das vorangegangene Kapitel und die zugehörigen Fußnoten integriert werden können (106–112), da die Analyse im Exkurs, so wichtig auch die Erwähnung inhaltlich ist, an der Oberfläche verbleibt. Der Exkurs steht daher unverbunden, wohingegen er den vorangegangenen Ausführungen an Tiefe verliehen hätte.

Bemerkenswert ist der sensible Umgang der Verfasserin mit den Verarbeitungsstrategien der Tradition in Literatur und Philosophie. Herausgearbeitet wird beispielsweise der geistesgeschichtlich sich wiederholende Versuch, produktiv mit Relikten religiöser oder mythischer Elemente umzugehen und sie einzudenken in neue Konzepte eines anders vorgestellten Zusammenhangs (vgl. hierzu z.B. die Überlegungen zu Ernst Bloch, 300f.). Gezielt wirkt die Verfasserin durch dieses Verfahren Begriffsverschleifungen bis hin zu Missverständnissen der Forschung vor, die in der Verwechslung von Hoffnung und Utopie liegen können, wie am Beispiel der Lyrik Ingeborg Bachmanns gezeigt.

Konzeptionell operiert die Verfasserin in ihrer Studie mit dem von Peter V. Zima entlehnten Begriff der Spätmoderne und bezeichnet damit die Entwicklungen zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Abgrenzung hat zum Zweck begrifflich die einschneidenden Veränderungen im Denken zu betonen, die beispielsweise im Auseinandertreten von Subjekt und Objekt, im linguistic turn oder der Absage an kulturell tradierte Sinnstiftungssysteme liegen. Dadurch entstehen jedoch auch Irritationen: Erstens werden Autoren, die klassischerweise als modern gelten, wie beispielsweise Franz Kafka, hier nun zu spätmodernen Autoren. Es kommt hinzu, dass das Präfix "spät" stets das Ende eines Denkens ankündigt und es scheint fraglich, ob eine solche These für den Zeitraum bis Mitte des 20. Jahrhunderts veranschlagt werden kann, um hernach eine Postmoderne sich anschließen zu lassen. Und drittens wird der Begriff der Spätmoderne auch häufig als Abgrenzungsbegriff zur Postmoderne verwendet und meint in diesem Fall eine radikalisierte Moderne, in der das Gegenwartsdenken aus den Konsequenzen der Aufklärung gedacht wird. Die sich an diese Überlegungen anknüpfende Frage, welchen Mehrwert das genannte Begriffsmanual generell bietet, wäre jedoch an anderer Stelle zu diskutieren. Mit Bezug auf die Einteilung der vorgelegten Studie ist davon ausgehend weiter zu fragen, weshalb nach dieser epochalen Vorentscheidung hernach in den Kapiteln eine Abtrennung erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Prädikat eines "irreversible[n] Bruch[s]" (195) vorgenommen wird, der sich dann, der Verfasserin zufolge, "bis weit ins 20. Jahrhundert noch potenzieren" (197) wird. Die Einteilungen scheinen folglich der praktischen Analyse schwerlich Stand zu halten.




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Abschließend bleibt eine Leerstelle der Untersuchung zu erwähnen, deren Füllung im selbstgesetzten Analysefeld der Arbeit für wichtig gehalten worden wäre und die zurückverweist auf die einleitenden Ausführungen zur Apokalypse. Angesichts der erwähnten Fokussierung der Studie auf das 20. Jahrhundert mit seinen Gottes- und Jenseitssuspendierungen, aufgrund der starken Betonung des Paradigmenwechsels durch das Neue Testament und durch den Einbezug apokalyptischer Denkweisen insgesamt, verwundert es, dass das biblische Offenbarungsbuch keiner Analyse unterzogen wurde. Schreibt seine Rezeptionsgeschichte doch, wie eingangs erwähnt, jene Entwicklung zu den einschlägigen Zweifeln des 19. und 20. Jahrhunderts mit und bedingt wesentlich die zeitgenössischen Streitfragen um den Status und das Verhältnis jener Schrift zum übrigen Teil des christlichen Glaubensbuchs. Und wie Agnes Bidmon am Scheitern der jüdischen Messias-Erwartung im sogenannten "Jahr der Buße" um den Propheten Lemlein Anfang des 16. Jahrhunderts vom Verfall der Hoffnungen nach dessen Nicht-Eintreffen berichtet, so ist auch die Geschichte der apokalyptischen Naherwartung des Johannes auf ihre Weise eine von enttäuschten und daher transformierungsbedürftigen Hoffnungen. Als Naherwartung des kommenden Weltendes geschrieben, wird sie angesichts der unbeirrten Fortdauer des römischen Reichs zunehmend in die Weite verlagert: Erst mit dem Ende jener Herrschaft, die Jesu Tod befohlen hatte, könne Christus wiederkehren. So wurde die Apokalypse erst ca. 380 nach Christus in die Bibel aufgenommen, als nämlich in Anbetracht des absehbaren Endes des Römischen Reichs erneut eine Naherwartung der apokalyptischen Erfüllung eintrat: "Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu geben, wie seine Werke sind." (Offenbarung 22,12 [Nestle-Aland 2007: 679]) Und doch lebt schließlich noch Martin Luther – was sich anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 zu erwähnen ziemt – in der Naherwartung jener apokalyptischen Wiederkehr des Erlösers. Erst in einer sukzessiven, sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Demontage von Ursprungs- und Zielinhalten in Verbindung mit einer Häufung glaubensrelevanter Enttäuschungen werden auch die Denkmodelle des Göttlichen in den Abgrund gerissen und die apokalyptischen Szenarien säkularisiert und virtualisiert oder, mit Paul Virilio gesprochen, zur Apokalypse des rasenden Stillstands kinematisiert (Virilio 2000). Und jene erfordere, gemäß dem praktizierenden Katholiken Virilio, nun erneut einen Rückgriff auf Glauben, Religion und Metaphysik in ihrer Funktion als Hoffnungsspender, ganz gemäß jener "Hoffnung gegen die Hoffnung" des Apostels Paulus.




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Wie diese kurzen Ausführungen zeigen, bietet die Untersuchung von Agnes Bidmon – ihrem erklärten Ziel entsprechend – in der Tat "Anschlussmöglichkeiten zum Weiterdenken" (9). Und bei aller Kritik kann Vollständigkeit bei einem solchen Vorhaben nicht eingefordert werden. Sehen wir also, was die Untersuchung leistet: Sie entwirft Diskursfelder und -linien, welche den kulturellen status quo auf eine historische Basis stellen und lädt aus dem motivisch-konzeptionellen Blick der Hoffnung dazu ein, additionale Perspektiven auf bekannte historische Entwicklungen einzunehmen und sie in den mannigfaltigen Transformationen der Hoffnungskonzepte wiederzuerkennen. Die Hoffnung selbst wird dabei in ihrer Anpassungsfähigkeit als eines der biegsamsten und daher beständigsten Elemente der conditio humana gezeigt, welches auch die gegenwärtige, bisweilen als post-postmodern bezeichnete Phase überdauern wird. Ob am Ende oder am Anfang: Mit ihr war noch immer Ausweg.


Bibliographie

Benjamin, Walter (1981): "Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages", in: Schweppenhäser, Hermann (Hg.): Benjamin über Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 9–38.

Nestle, Eberhard und Erwin, Aland, Barbara und Kurt (2007): Das Neue Testament. Griechisch und Deutsch. 5. Aufl. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft.

Virilio, Paul (2000): Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung. München: Hanser.