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Peter Brandes (Bochum)



Christa Bürger (2016): Exzeß und Entsagung. Lebensgebärden von Caroline Schlegel-Schelling bis Simone de Beauvoir. Göttingen: Wallstein Verlag; Peter Bürger (2016): "Nach vorwärts erinnern". Relektüren zwischen Hegel und Nietzsche. Göttingen: Wallstein Verlag.


Wer sich in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit ideologiekritischer Literaturwissenschaft auseinandersetzen wollte, kam an den Schriften von Christa Bürger und Peter Bürger nicht vorbei. Seien es Peter Bürgers Schriften zur Avantgarde oder Christa Bürgers Arbeiten zur Unterhaltungsliteratur, beide Literaturwissenschaftler prägten die Debatte um eine kritische Literaturwissenschaft, die sich von der Tradition werkimmanenter Deutungsverfahren zu verabschieden suchte, in erheblichem Maß. Bei dem kritischen, von Adorno und Marcuse geprägten Umgang mit der Literatur blieb jedoch die Schreibweise der philologischen Ideologiekritik meist unreflektiert.

In den hier zu besprechenden Bänden gehen Christa Bürger und Peter Bürger bewusst einen anderen Weg: Sie bedienen sich beide der Form des Essays. Das ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass einige der Texte bereits im Radio oder in der Zeitung veröffentlicht wurden. Die Essayistik der Texte der beiden Bände ist jedoch Bestandteil eines Schreibverfahrens, das die Geschichte des eigenen literaturwissenschaftlichen Arbeitens mitreflektiert. Bereits in den 90er Jahren ließ sich bei Christa Bürger eine Wende zum essayistischen Schreiben feststellen. Dies gilt insbesondere für ihr autobiographisches Buch Mein Weg durch die Literaturwissenschaft (2003), das in eindrücklicher Weise Einblicke in die allmähliche Verfertigung der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis beim Schreiben gewährt.




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Der Band Exzeß und Entsagung ist wie viele ihrer späteren Forschungsarbeiten ausschließlich Texten von Frauen gewidmet – viele davon in der Literaturwissenschaft nur marginal behandelt. Dabei finden sich die Lebensläufe und Werke von so verschiedenen und z.T. weniger bekannten Autorinnen wie u.a. Adele Schopenhauer, Annette Kolb, Emmy Hennings, Claire Goll, Regine Ullmann und Marieluise Fleißer zu einem Lektüre-Ensemble verknüpft, als dessen roter Faden die Suche nach einer anderen Ästhetik fungiert – jenseits der Wegmarken einer durch Lukács geprägten marxistischen Ästhetik. Es ist eine Ästhetik der weiblichen Schreibweisen, die, wie Christa Bürger im Vorwort ausführt, ihren Fixpunkt in der literarischen Figuration von Lebensgebärden findet, die eine "Identität von LebenSchreibenLieben" (8) zum Ausdruck bringt. Christa Bürgers Zugriff auf die unterschiedlichen Texte ist daher immer biographisch motiviert. Der Fokus liegt dabei auf Frauen, deren Texte bei all ihrer Unterschiedlichkeit die gelebte Liebe und das geschriebene Leben in einer Dialektik von Exzess und Entsagung zum Ausdruck bringen. Diese Form der Darstellung von Lebenswirklichkeit im literarischen Text bezeichnet Christa Bürger mit der Metapher der Lebensgebärde. In der ersten – und vielleicht stärksten – Lektüre ihres Bandes setzt sie sich mit Texten von Caroline Schlegel-Schelling auseinander. Bereits die bekannten biographischen Daten – die ungewollte Schwangerschaft und die Suizidpläne während ihrer Gefängnishaft – könnten als Indizien für ein durch Exzess und Entsagung geprägtes Leben gelten. Doch Christa Bürger geht es mehr um Schlegel-Schellings Schreibweisen und Texte, die sich im Spannungsverhältnis zu den Werken der sie umgebenden Männer entwickeln. Schlegel-Schelling schreibt an den Shakespeare-Übersetzungen ihres zweiten Mannes, August Wilhelm Schlegel, mit und ist an dem Entstehungsprozess von Friedrich Schlegels Athenäums-Fragmenten beteiligt. Die in ihren Briefen und anderen kleinen Textformen zum Ausdruck kommende Schreibweise beschreibt Christa Bürger als zugleich rhapsodisch und ironisch. Ein eigentliches Werk von Schlegel-Schelling liegt allerdings nicht vor. Doch die Ästhetik des LebenSchreibenLieben kommt Christa Bürger zufolge gerade durch die Abwesenheit eines Werkes zum Ausdruck. Sie artikuliere sich nämlich in Schlegel-Schellings unvollendetem Romanprojekt, das nicht über das Stadium der Handlungsskizze hinausgekommen ist. In einem Satz aus diesem Text meint Christa Bürger eine Lebensgebärde zu erkennen, die der anderen Ästhetik Schlegel-Schellings Ausdruck verleiht: "Gabrielens Schönheit brachte sie an den Mann." (Schlegel-Schelling 1913: 664) Für Christa Bürger markiert dieser Satz "präzise die Bruchlinie zwischen dem Bildungsroman des 18. Jahrhunderts und dem modernen." (25) Der Entschluss, den Roman nicht zu vollenden, impliziere mithin nicht nur die Figur weiblicher Entsagung, sondern auch die eines poetologischen Exzesses:




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"Auf ihren eigenen Roman hat sie verzichtet; aber gerade in diesem Verzicht können wir die Gestalt eines neuen ahnen, eine rebellische Energie, sich andres zu erfinden, als die äußere Sitte es vorschreibt." (25) Bei vielen der von ihr behandelten Autorinnen macht Christa Bürger eine ähnliche Geste aus: eine aus einem exzessiven Begehren heraus entwickelte Geste der Entsagung, die das Lieben sowie das Schreiben selbst betrifft. Diese Geste artikuliere sich in so verschiedenen Texten wie Adele Schopenhauers Tagebuch einer Einsamen, in Annette Kolbs Das Exemplar und in Emmy Hennings' Das Brandmal. Der Umgang der Autorinnen mit dem Motiv der Entsagung ist jedoch sehr unterschiedlich. Die von Christa Bürger aufgezeigten Schreibstrategien reichen von der kritischen Mythenrezeption (Günderode, Kolb), der Sakralisierung des Eros (Hennings), der Rhetorisierung des Erzählens (Claire Goll) bis zur sprachlichen Mimikry (Fleißer). Was die andere Ästhetik der weiblichen Schreibverfahren eint, ist nicht so sehr das Werkhafte der literarischen Texte, sondern jenes von Christa Bürger als Lebensgebärde beschriebene Motiv, das eigentlich auf eine Versöhnung von Kunst und Leben abzielt. Christa Bürgers Lektüren machen diese Texte von Autorinnen somit – unausgesprochen – als Schreibweisen der Avantgarde lesbar.

Eine Schwierigkeit von Christa Bürgers Essays könnte man in ihren methodischen Voraussetzungen ausmachen. Es ließe sich fragen, ob nicht die Lektüre zu sehr von einem positivistischen Begriff des Lebens und der Biographie der jeweiligen Autorin geleitet werde. So kommt kaum eine Lektüre ohne Rekurs auf biographische Narrative aus, die von Lebenskrisen und Liebeswirren berichten. Müssten die (auto-)biographischen Erzählungen als narrative Inszenierungen bzw. Selbst-Inszenierungen nicht selbst Gegenstand der kritischen Lektüre werden? Ganz lässt sich der Einwand aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht entkräften, doch fraglich ist, ob das Schreibverfahren, das Christa Bürger hier wählt (das essayistische Schreiben), von diesem Einwand überhaupt tangiert wird. Denn die vorgelegten Lektüren gehen, wie sie im Vorwort ausführt, auf eine eigene Leseerfahrung zurück, die nicht nur einen veränderten Blick auf Texte, sondern auch ein verändertes Selbstverständnis von der Institution Literaturwissenschaftlerin nötig machte: "Die Texte, die ich damals las, schienen mir in einer anderen Ordnung ihren für mich noch sehr unbestimmten Ort zu haben. Und sie verlangten auch einen anderen Zugang als den mir selbstverständlichen der Literaturwissenschaftlerin, die ich war. Ich durfte selbst keinen sicheren Ort einnehmen, sondern eine mimetische Haltung, um von innen, durch die Texte hindurch, die Gebärde aufzuspüren, die dem Leben seine Form und dem Schreiben sein Leben gibt." (8) Es ist die Mimesis an den Gegenstand, die Christa Bürgers Lektüren angreifbar, aber auch in hohem Maße wertvoll machen, da sie Einblicke in Schreibweisen und -strategien gewähren, die sonst womöglich unsichtbar blieben.




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Während Christa Bürger sich in ihrem Buch zumeist selten rezipierten Texten von Frauen widmet, beschäftigt sich Peter Bürger in seinem Band "Nach vorwärts erinnern" ausschließlich mit kanonischen Werken 'großer Männer': Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, Satre. Ihm geht es freilich nicht darum den philosophischen Kanon zu bestätigen, sondern kanonische Texte einer kritischen Lektüre zu unterziehen. Kritisch meint hierbei nicht ideologiekritisch, sondern durchaus auch selbstkritisch. Peter Bürger geht es nämlich en passant um eine Überprüfung der eigenen durch die 70er Jahre geprägte Sichtweise auf bestimmte Autoren und Texte. Dazu gehören Säulenheilige der kritischen Literaturwissenschaft wie Hegel, Benjamin und Satre, aber auch Autoren wie Jacob Burckhardt, Oswald Spengler und Ludwig Klages, die bei dem Leser Peter Bürger jahrzehntelang unter Ideologieverdacht standen und daher wenig beachtet wurden. Es geht Peter Bürger also um solche Relektüren, die nicht nur alte Texte neu erschließen, sondern die auch eigenen Lesegewohnheiten kritisch in den Blick nehmen und korrigieren. Diese für Peter Bürgers Schreiben eher ungewöhnliche Zugriffsweise bringt auch hier immer wieder ein biographisches Moment ins Spiel, wenn etwa Topographien das Lektüreerlebnis prägen. So ist die individuelle Lektüre-Erfahrung und ihre Nacherzählung für Peter Bürgers Begriff der Relektüre insofern von Bedeutung, als sich dieser Begriff dadurch als historisch kodifiziert zu erkennen gibt. So schreibt er in dem ersten Essay des Bandes über seine ersten Nietzsche-Lektüren: "Die Umstände, unter denen uns ein Text zuerst begegnet, geben ihm eine Färbung, die so stark sein kann, daß sie ein für allemal unsere Wahrnehmung prägt. Immer wird Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben sich für mich mit dem Bootshaus an der Hamburger Außenalster verbinden, in dem die von unserem Deutschlehrer Georg Siebers ins Leben gerufene philosophische Arbeitsgemeinschaft zusammenkam, um Nietzsches Schrift zu lesen." (13) Peter Bürger setzt die Erinnerung an diese Erstlektüre zu seinen späteren Lektürehaltungen – als Ideologiekritiker in den 70er Jahren und als heutiger Leser – in Beziehung und leitet daraus eine die Wiederlektüre bestimmende Form von Erfahrung ab, die er als "schwebende Aufmerksamkeit" (18) bezeichnet und die zugleich als leitendes Prinzip der Lektüren des Bandes gelten kann. Wie sehr dabei die Historisierung der eigenen Lektürepraxis die vorgelegten Textanalysen prägt, zeigt sich insbesondere an Peter Bürgers Auseinandersetzung mit Autoren wie Jacob Burckhardt und Oswald Spengler. Beim Vergleich von Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen und Benjamins Über den Begriff der Geschichte verweist Peter Bürger auf die in den 70er Jahren kanonische Position der ideologiekritischen Literaturwissenschaft, die dem "Idealisten" Burckhardt den "Materialisten" Benjamin gegenüberstellte. Solche apodiktischen Schematisierungen haben für Peter Bürger nunmehr ihre Geltung verloren, da eine genauere Lektüre der Texte zeige, dass Burckhardts Ansatz durchaus auch materialistische Züge zeige.




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Beide Denker gingen zudem von einer ähnlichen Geschichtskonzeption aus: "Beide haben nämlich einen emphatischen Begriff von Vergangenheit gemein, dessen lebensweltliche Voraussetzung vom Verschwinden bedroht sind." (23) Ob sich Peter Bürgers pauschale Kritik an Spielarten der Popkultur und einseitigen Formen der Erinnerungskultur, auf die hier angespielt wird, mit Burckhardt und Benjamin absichern lässt, muss fraglich bleiben. Die Engführung der beiden Geschichtskonzeptionen öffnet aber in jedem Fall die literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektive auf historische Prozesse. Ähnlich erhellend für die Rezeptions- und Lektüregeschichte der kritischen Literaturwissenschaft ist Peter Bürgers Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Für die linke Ideologiekritik stand das Urteil über Spengler fest: "Hatten wir nicht in den 70er Jahren zu Recht Spenglers Vorstellung kritisiert, jede Kultur sei ein lebendiger beseelter Organismus, der notwendig die Stadien 'Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall' durchlaufen müsse?" (27) Peter Bürger thematisiert diese den eigenen Blick prägenden Voraussetzungen und bemerkt dazu: "Es gibt keine unvoreingenommene Lektüre. Jede bewegt sich in einem Horizont von Erwartungen und Voreinstellungen. Daß mich Spenglers herrischer Gestus unbezweifelbaren Wissens, sein von Nietzsche erborgtes Pathos und die Berufung auf irrationale Weisen des Erkennens [...] irritieren würden, war vorauszusehen – früher hätten sie mich abgestoßen und mir den Zugang zu dem Autor versperrt." (29) Peter Bürger entdeckt aber nun Parallelen zwischen Spenglers Geschichtskonzeption und Foucaults Begriff der episteme und streicht außerdem die Bedeutung von Spenglers Werk für Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung heraus. In all seinen Lektüren hält Peter Bürger an dieser subjektiven, an der eigenen Leseerfahrung sich orientierenden Vorgehensweise fest und historisiert damit die eigene Lektürepraxis. Dies führt oftmals zu überraschenden Einsichten in alte Texte. So werden gegen Ende des Bandes Satres Kriegstagebücher in der Philosophie Nietzsches und Nietzsches Kulturkritik in der Figur des Reformators gespiegelt.

Nun ließe sich einwenden, dass die in diesem Band vorgeführten Lektüren und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse weniger dem spezifischen Verfahren der Relektüre abgewonnen, sondern lediglich der Tatsache geschuldet seien, dass der Autor seine Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Autoren abgelegt habe: Ohne ideologiekritische Scheuklappen hätte demnach der Autor so manche dieser Einsichten schon in den 70er Jahren formulieren können. Doch ein solcher Einwand greift zu kurz, geht es Peter Bürger doch nicht um einen Widerruf der damaligen Literaturanalyse, sondern um eine Historisierung, die die eigene Lektürepraxis zur Geschichte ihres Gewordenseins in Bezug setzt und damit die vergangene Lektüre mit der gegenwärtigen in einen Dialog bringt. Das von Kierkegaard geborgte Zitat, das dem Band seinen Titel gibt – "Nach vorwärts erinnern" – ist in diesem Sinne durchaus programmatisch für das methodologische Vorgehen Peter Bürgers, das keineswegs der kritischen Literaturwissenschaft abgeschworen hat.




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Die kritische Literaturwissenschaft von Christa und Peter Bürger ist aber nunmehr nicht allein auf die Analyse des literarischen Werkes beschränkt, sondern umfasst auch die literaturwissenschaftliche Praxis: das Lesen, das Schreiben, das Biographische. In dieser Hinsicht lässt sich auch im 21. Jahrhundert von Christa Bürgers und Peter Bürgers Forschungsarbeiten noch manches lernen.


Bibliographie

Schlegel-Schelling, Caroline (2013): "Entwurf eines Romans [1798/99]." In: Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt hg. von Erich Schmidt. Bd. 1. Leipzig: Insel, 662–664.