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Daniel Kopp (Bonn/St Andrews)



Das Auge und die Täuschung. Der Blick als (Un-)Möglichkeit ontologischer und ästhetischer Demarkation in Der Sandmann und Blade Runner



The eye and the deception: The gaze as (im-)possibility of ontological and aesthetic demarcation in Der Sandmann and Blade Runner
This paper aims to contribute to tracing the development of the figure of the android in cultural history. Taking a comparative approach to E.T.A. Hoffmann's Der Sandmann and Ridley Scott's film Blade Runner, this paper aims to specifically focus on the motif of eyes, since the aesthetics of the eye seem to be the site where the binary ontology of humans and machines is marked or blurred. In order to give this approach a philosophical and theoretical foundation, the paper will draw on Jean-Paul Sartre's phenomenological ontology of the gaze, which in turn can be made productive for an understanding of Der Sandmann (1816) and Blade Runner (1982). In the former text, as will be argued, the ocular motif operates under the paradigm of deception. Through technical devices, the protagonist Nathanael is tricked into believing that the empty eyes of the puppet Olimpia are full of human life. The clear ontology of human and machine can only be blurred temporarily – by technical and psychological mechanisms. This paradigm of deception is suspended in Ridley Scott's Blade Runner; here humans and machines are virtually indistinguishable: the distinction as a whole is called into question.




1 Einleitung

In diesem Artikel soll die Entwicklung des Androidenmotivs in der Kunst, wie es von Rudolf Drux paradigmatisch für die deutsche Literatur analysiert wurde (Drux 1986), in einem Vergleich von E.T.A. Hoffmanns anonym erschienenem, erstem 'Nachtstück' Der Sandmann (1816) und Ridley Scotts Film Blade Runner (1982) (Scott 2007) nachgezeichnet werden. Die Produktivität dieses Vergleichs wurde




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in der Forschung schon von Steffen Greschonig bemerkt,1 allerdings will dieser Beitrag einen spezifischen, anders gelagerten Fokus legen: Das tertium comparationis der Erzählung und des Films bildet das Augen- bzw. Blickmotiv, da hier eine binäre Ontologie von Mensch und Maschine ästhetisch demarkiert wird. Um dieser Thematik einen Hintergrund zu geben, von dem aus die Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungsgegenständen verständlich gemacht werden können, wird auf Jean-Paul Sartres Analyse des Blicks zurückgegriffen, die er in L'être et le néant. Essai d'ontologie phénoménologique (1943) expliziert (dt. 1952: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie). In der Forschung hat Aikaterini Karakassi die Ähnlichkeiten zwischen Hoffmanns Der Sandmann und Sartres Analyse des Blicks aufgezeigt und das Erkenntnispotenzial des Vergleichs deutlich gemacht. Während einige meiner Erkenntnisse mit denen Karakassis übereinstimmen, setzt dieser Beitrag mit dem Fokus auf das Androidenmotiv und dessen Entwicklung einen anderen Schwerpunkt und will mit dem Vergleich zu Blade Runner darüber hinausgehen (Karakassi 2006).

Nicht nur ruft Sartre selbst den Androiden als Figur auf, um seine Theorie der Alterität zu explizieren, er schreibt eine fundamentale Analyse des Blicks, die es ermöglicht, den Vergleich zwischen dem Sandmann und Blade Runner begrifflich und konzeptionell zu schärfen. Für Sartre ist der Blick — oder genauer: das Erblickt-Werden — die fundamentale Struktur des Für-Andere-seins (l'être pour autrui), durch deren Explikation sich gleichzeitig das Problem des Solipsismus wie das der Fremdexistenz lösen lässt. Laut Sartre wird man erst durch die Vermittlung des Blicks (le regard) des Anderen, dessen Objekt man im Erblickt-Werden ist, selbst ein Subjekt, das sich reflexiv auf sich beziehen kann. Dadurch kann man sich der prinzipiellen Existenz anderer Menschen sicher sein. Der Beantwortung der Frage, ob man jedoch im konkreten Dasein eines Anderen getäuscht wird, enthält sich Sartre. In E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann wird nun eine Situation durchgespielt, in der sich der Protagonist Nathanael aufgrund mehrerer Mechanismen dahingehend täuscht, dass seine Angebetete Olimpia ein Mensch und kein Android ist. Dieser Täuschungsvorgang und seine Implikationen für das Subjekt Nathanael werden dabei über den Blick der Automate Olimpia vermittelt. In Ridley Scotts Blade Runner hingegen ist das Paradigma der Täuschung suspendiert. In der Welt des Films sind Androiden tatsächlich vom Menschen ununterscheidbar geworden, wodurch der Film das Paradigma der Täuschung und die binäre Ontologie von Mensch und Maschine vielmehr hinterfragt.2 An dieser Stelle werden dann auch die Grenzen der phänomenologischen Ontologie Sartres deutlich werden.




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2 Der Blick in Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts

In seinem philosophischen Opus magnum Das Sein und das Nichts treiben Jean-Paul Sartre unter anderem zwei untrennbare philosophische Probleme um: das des Solipsismus sowie das der Fremdexistenz. Wie kann ich mir sicher sein, dass andere Menschen existieren und nicht vielmehr eine Projektion meiner selbst sind? Laut Sartre konnten selbst die prominentesten Philosophen der Intersubjektivität wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Edmund Husserl und Martin Heidegger, denen er je ein eigenes Kapitel widmet, dieses Problem nicht gänzlich lösen. Die drei Philosophen versuchen sich der Fragestellung unter dem Paradigma der Erkenntnis des Anderen anzunähern, müssen dabei aber schon von einem reflexiven Bewusstsein ausgehen, das sich auf den Anderen beziehen kann. Dieses Bewusstsein kommt laut Sartre aber erst durch den Anderen zustande, setzt ihn also voraus. Gleichzeitig, so argumentiert er, reduzieren Hegel, Husserl und Heidegger den Anderen dadurch zu einem bloßen Objekt der Erkenntnis – der Objektstatus des Anderen kann aber nach Sartre niemals für dessen Existenz bürgen (Honneth 2003: 135–159). Sartre hingegen setzt auf der Ebene der Erfahrung des Anderen und des präreflexiven Bewusstseins an. Wichtiger noch: Er fragt, was es bedeutet, wenn wir sagen, dass wir einen Menschen gesehen haben. Was Sartres Theorie der Alterität für den Bezug zum Sandmann und zu Blade Runner interessant macht, ist die Tatsache, dass er wiederholt die Differenz von Mensch und Android aufruft, um das Spezifische der menschlichen Existenz offenzulegen. So hilfreich Aikaterini Karakassis grundlegender Vergleich von Sartres Philosophie des Blicks und Hoffmanns Sandmann auch ist, so übersieht sie doch die Tatsache, dass Sartre explizit den Vergleich von Mensch und Maschine zieht, um seine philosophische Position zu differenzieren (Karakassi 2006).

In seiner phänomenologischen Ontologie möchte Sartre die Strukturen offenlegen, die es uns ermöglichen, nicht nur die Fremdexistenz, sondern die Existenz anderer Menschen zu behaupten. Diesen Sachverhalten trägt Sartre folgendermaßen Rechnung:

Aber wir haben gesehen, daß die Existenz Anderer bloße Annahme bleibt, wenn diese Gegenstandsbeziehung die fundamentale Beziehung Anderer zu mir selbst ist. Es ist aber nicht nur eine Annahme, sondern wahrscheinlich, daß diese Stimme, die ich höre, die eines Menschen und nicht der Gesang aus einem Grammophon ist, es ist unendlich wahrscheinlich, daß der Vorübergehende, den ich wahrnehme, ein Mensch ist und nicht ein vollendeter Roboter. (Sartre 1993: 457)




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Sartre rekurriert hier auf den epistemischen Zweifel, den Descartes bezüglich der Fremdexistenz äußerte: Ich kann mir meiner selbst zwar im Vollzug des cogito ergo sum sicher sein, doch wie kann ich feststellen, dass andere Menschen tatsächlich existieren und nicht vollendete Maschinen ohne Bewusstsein sind? (Danto 1986: 113f.) Sartres Antwort darauf ist eine phänomenologische Untersuchung des Blicks. In ihm will er ein Moment erkennen, das zumindest der prinzipiellen Tatsache der Fremdexistenz und des wahrscheinlichen Mensch-Seins versichert.3 Sartre beginnt seine Analyse mit dem Beispiel einer leblosen, aber täuschend menschlichen Puppe, das seine Philosophie wiederum in einen Bezug zum Androidenmotiv bringen lässt:

Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und längs des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn gleichzeitig als einen Gegenstand und als einen Menschen. Was bedeutet das? Was will ich sagen, wenn ich von diesem Gegenstand behaupte, daß es ein Mensch ist? Wenn ich denken müßte, daß es weiter nichts als eine Puppe ist, würde ich ihm jene Kategorien beilegen, die mir gewöhnlich dazu dienen, die raum-zeitlichen 'Dinge' zu gruppieren. (Sartre 1993: 457)

Der Versuch reine Objektkategorien auf den Menschen anzuwenden, scheitert insofern, als dieser Mensch sich auf die Umwelt des Parks genauso sehend bezieht, wie das beobachtende Ich. Es kommt also anstatt eines reinen Gegenstandsbezugs die Tatsache ins Spiel, dass der Andere wie das Ich auch die Gegenstände seiner Umwelt gruppiert, um sich zu orientieren, doch diese Perspektive ist dem Ich selbst nicht gegeben. Darin liegt eine Dezentralisierung des eigenen Weltbezugs. Zum ersten Mal wird ein vermeintliches Objekt in den Mittelpunkt gerückt, das nicht vollständig in den eigenen Weltbezug zu integrieren ist. Wenn der Andere sich dadurch auszeichnet, dass er das sieht, was ich sehe, dann schließt Sartre daraus, dass die "fundamentale Verbindung mit dem Subjekt-Andern auf meine permanente Möglichkeit zurückgeführt werden [muss], durch Andere gesehen zu werden." (Sartre 1993: 463) Werde ich vom Anderen gesehen, so bin ich dessen Objekt und werde mir dadurch erst als solches Objekt für den Anderen gegeben. Zu diesem Objekt, das ich dann für den Anderen bin, kann ich ein reflexives Verhältnis entwickeln. Das bedeutet, dass ich nur aufgrund des Blicks des Anderen ein Selbstverhältnis entwickeln kann. Gleichzeitig heißt dies für Sartre, dass der Andere ein Subjekt sein muss, da nur Subjekte Objekte haben können. Somit ließe sich auch eine Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine anhand des Blicks treffen.




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Sartre geht in seiner Analyse jedoch einen Schritt weiter: Anhand der berühmten Schlüsselloch-Szene illustriert er die Möglichkeit, dass ein Voyeur, der durch ein Schlüsselloch schaut, sich durch Schritte im Gang erblickt fühlen kann. Es ist jedoch möglich, dass der Voyeur feststellt, einer Täuschung unterlegen zu sein und niemand Konkretes ihn tatsächlich anblickte. Für Sartre ist dieser Umstand der Beweis, dass der Blick nicht prinzipiell an eine sinnliche Gestalt gebunden ist: "Was am häufigsten einen Blick manifestiert, ist sicher das Sichrichten zweier Augäpfel auf mich. Aber er ist ebensogut anläßlich […] der leichten Bewegung eines Vorhangs gegeben." (Sartre 1993: 465) Die fundamentale Struktur des Erblickt-Werdens muss sich also nicht immer konkret-faktisch belegen lassen, doch gerade die faktische Täuschungsanfälligkeit des Menschen setzt laut Sartre voraus, dass es diese fundamentale Verbindung mit dem Anderen gibt. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass Sartre das Problem der Fremdexistenz nur auf prinzipieller Ebene gelöst hat. Es gibt eine fundamentale Struktur der Intersubjektivität, die sich im Blick manifestiert. Ob man nun aber von einem tatsächlichen Menschen oder doch einem Roboter angesehen wird, diese Frage vermag Sartre nur ins Reich der Wahrscheinlichkeit zu verbannen: "Was zweifelhaft ist, ist also nicht der Andere selbst, es ist das Da-sein des Andern; das heißt jenes historische und konkrete Ereignis, das wir mit den Worten ausdrücken können: 'Es ist jemand in diesem Zimmer.'" (Sartre 1993: 498) Die Möglichkeit der klaren Differenzierung von Mensch und Android, die zu Beginn der Sartreschen Analyse des Blicks so vielversprechend schien, bleibt zweifelhaft – es bleibt Raum für die Möglichkeit der Täuschung. Dieser Raum der Ungewissheit und Wahrscheinlichkeit bietet nun vielfältige Möglichkeiten, das Problem des konkreten Anderen auszugestalten.4 Damit kann diese Konzeption Sartres einen philosophischen Hintergrund bilden, vor dem eine neue Perspektive auf Ausgestaltungen des Blickmotivs in der Literatur, die sich mit der Ontologie von Menschen und Androiden beschäftigt, eingenommen wird. Dies soll in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und im Film Blade Runner von Ridley Scott untersucht werden. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, wie die binäre Ontologie von Mensch und Android anhand des Augen- und Blickmotivs ästhetisch demarkiert und problematisiert wird. Dabei spielt die ästhetisch-technische Perfektibilität der Augen und des Blicks eine entscheidende Rolle. Die beiden untersuchten Werke sollen zudem paradigmatisch auf die Entwicklung des Androidenmotivs hin analysiert werden.




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3 Der Blick als Mittel der Etablierung und Verschleierung einer binären Ontologie in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann

Unter anderem im Anschluss an Sigmund Freuds einflussreichen Aufsatz Das Unheimliche, in dem die Angst vor dem Raub der Augen Nathanaels als Ersatz für die Kastrationsangst gedeutet wird, kann Wolfgang Kayser 1961 das "Leitmotiv der Augen" als zentrales Motiv der Erzählung Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann postulieren (Kayser 1961: 77). Seitdem findet es in fast jede ausführlichere Beschäftigung mit der Erzählung Eingang (von Matt 1971). Dementsprechend scheint es schwierig, dem der nahezu überdeterminierten Analyse des Motivkomplexes noch etwas hinzuzufügen. Diese Arbeit versucht deshalb vor dem ungewöhnlichen Hintergrund von Sartres phänomenologischer Ontologie des Blicks und dem Ausblick auf den Vergleich mit Ridley Scotts Blade Runner eine neue Perspektive aufzuzeigen, die sich auf das Androidenmotiv und die Frage der ästhetischen Demarkation von Mensch und Maschine fokussiert.

Wie wird die binäre Ontologie von Mensch und Android in Hoffmanns Sandmann ästhetisch umgesetzt? Anhand der komplementären Figuren von Nathanaels Verlobter Clara und der Automate Olimpia wird dieser Frage nachzugehen sein. Die Blicke der beiden Figuren werden anhand des Paradigmas der Seh- oder Strahlkraft beschrieben, die Peter von Matt folgendermaßen paraphrasiert: "die Augen als Ausdruck der Seele, die Augen als Verbindung mit der Welt, die Augen als 'eigentliche Lebenskraft'." (von Matt 1971: 78) Die Augen beziehungsweise die Blicke sind also ein fundamentales Merkmal, anhand dessen man sich der Menschlichkeit, der Seele eines Gegenübers versichert.5 Ihrem Namen entsprechend spezifiziert sich Claras Blick, und ihre Menschlichkeit, über die helle Strahlkraft ihrer Augen, die zu Beginn der Erzählung im Brief Nathanaels an Lothar erwähnt wird.6 Im zweiten Brief an Lothar poetisiert Nathanael die Beschreibung von Claras Augen: "In der Tat, man sollte gar nicht glauben, daß der Geist, der aus solch hellen hold-lächelnden Kindesaugen, oft wie ein lieblicher süßer Traum, hervorleuchtet, so gar verständig, so magistermäßig distinguieren könne." (Hoffmann 1985: 24) Im Gegensatz zur ausnahmslos positiven Beschreibung im ersten Brief fließt hier Nathanaels Unzufriedenheit über Claras Belehrung im zuvor an ihn gerichteten Brief ein. Sie führte seine Angst vor dem Sandmann Coppelius nicht wie Nathanael auf eine dunkle, gleichsam metaphysische Macht zurück, sondern betont Nathanaels projektiven Anteil an dieser Angst.7 Nathanael hingegen setzt Claras engelsgleiches Äußeres,8 das sich in einem naiven, unkritischen Blick äußert, in einen scheinbar unauflösbaren Gegensatz zur vermeintlichen Tatsache, dass sie einen autonomen, denkenden Geist hätte. Hier wird also die Trennung von Blick und Intellekt beziehungsweise Bewusstsein, die sich später in Olimpia manifestiert, bereits präfiguriert. Die Ablösung von Blick und Mensch, die Sartre in der Schlüsselloch-Szene beschreibt, wird bei Hoffmann jedoch bis zum gewaltsamen Herausreißen der Augen Olimpias, dem Offenbarwerden der Differenz von Blickquelle und Blick, nicht als Täuschung entlarvt.




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Im Folgenden liest Nathanael Clara ein Gedicht vor, woraufhin sie wiederholt den projektiven Anteil seiner Ängste herausstellt. Nathanael aber sieht nur den "Tod, der mit Claras Augen ihn freundlich anschaut." (Hoffmann 1985: 31) Ihre Augen haben für ihn jede Strahlkraft verloren, weshalb das darauf Folgende nur konsequent erscheint. Er liest ihr ein weiteres, vermeintlich kathartisches Gedicht vor, das sie als unsinnig und wahnsinnig abtut. Anschließend bezeichnet er sie in Umkehrung der Tatsachen als "lebloses, verdammtes Automat" (Hoffmann 1985: 32). An diesem Punkt der Erzählung erreicht die vermeintliche Leblosigkeit Claras ihren Höhepunkt, während die kurz zuvor in die Erzählung eingeführte Olimpia immer lebhafter erscheint.

Nathanael sieht Olimpia zum ersten Mal durch ein Fenster im Haus seines Professors Spalanzanis, der Olimpia als seine Tochter ausgibt.9 Nathanael beschreibt diesen Moment folgendermaßen:

Ein hohes, sehr schlank im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer saß im Zimmer vor einem kleinen Tisch, auf den sie beide Ärme, die Hände zusammengefaltet, gelegt hatte. Sie saß der Türe gegenüber, so, daß ich ihr engelschönes Gesicht ganz erblickte. Sie schien mich nicht zu bemerken, und überhaupt hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möcht ich sagen, keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offenen Augen. (Hoffmann 1985: 25)

Olimpias engelsgleiches Ansehen erinnert an Clara und vermenschlicht die Automate — die ästhetische Täuschung durch das rein Visuell-Äußere ist also gelungen —, ihre Augen jedoch haben keine Sehkraft; sie hat keinen Blick. Damit wird hier eine klare binäre Ontologie von Mensch und Maschine durch die Ästhetik des Blicks aufgebaut, die durch die Ähnlichkeit von Clara und Olimpia allerdings hier schon zu verwischen droht.10

Während Clara im Verlauf der Erzählung für Nathanael scheinbar immer automatenhafter wird, gewinnt Olimpia an Menschlichkeit.11 In seiner Wohnung sitzend, fällt Nathanael auf, "daß sie offenbar unverwandten Blickes nach ihm herüberschaute" (Hoffmann 1985: 34). In dieser Szene erlaubt die räumliche Distanz Nathanael, Olimpia einen Blick zuzusprechen. Während Nathanael zuvor Olimpias vollständiges Gesicht aus der Nähe sah und somit feststellen konnte, dass ihre Augen starr und ihre Blicke leer sind, unterliegt er auf Distanz der Täuschung, dass sie ihn anblickt. Hier findet also die Ablösung von Blick und menschlichem Bewusstsein auf umgekehrte Art und Weise wie zuvor bei Clara statt: Der bewusstlosen Automate spricht Nathanael einen Blick zu, der sich freilich als sein eigener, seine eigene Projektion herausstellt.




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Dennoch hat dieser vermeintliche Blick noch keine Wirkung auf ihn, Olimpia ist ihm noch aufgrund ihrer Starrheit gleichgültig. Das ändert sich jedoch mit der Ankunft Coppolas, der Nathanael ein Perspektiv verkauft.12 Nathanael gibt seiner voyeuristischen Neugier nach und schaut Olimpia an:

Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde, immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. (Hoffmann 1985: 36)

Durch das Perspektiv überbrückt Nathanael die räumliche Distanz zu Olimpia und sieht sie – wie zuvor hinter dem Vorhang – so nah, dass er ihr ganzes Gesicht sehen kann.13 Scheinen die Augen zuerst noch starr, so macht das Perspektiv die perfekte Täuschung möglich. Nathanael schreibt Olimpia die Sehkraft zu, die früher Clara auszeichnete: Die starren Augen werden zum lebendigen Blick. Ulrich Stadler weist darauf hin, dass die Täuschung durch die Technik des Perspektivs im 19. Jahrhundert historisch grundiert ist. So schlichen sich durch die geringe Qualität der Gläser die "gravierendsten Abbildungsfehler" ein (Stadler 1993: 95). Das Perspektiv konnte dadurch in dessen technischer Frühphase in betrügerischer Absicht verwendet werden. Während die technisch-optische Vorrichtung des Perspektivs also eigentlich etwas enthüllen soll, das mit bloßem menschlichen Auge nicht zu erkennen ist, fördert es bei Hoffmann die Selbsttäuschung und den Erkenntnisverlust Nathanaels.14 So sind Olimpias leblose Augen nun zu strahlenden Blicken fähig. Es geht sogar so weit, dass Nathanael Olimpias Blicke selbst in das voyeuristische Dispositiv der Erzählung eingliedert.15 Er vermeint schon fälschlicherweise, die ihn anblickende Olimpia aus dem Gebüsch heraustreten zu sehen. Hier findet also die doppelte Ablösung des Blicks vom menschlichen Bewusstsein statt: Nathanael spürt nicht nur die Blicke einer leblosen Automate, sondern, selbst wenn sich Olimpia nicht in seinem Umfeld befindet, fühlt er sich von ihr angeblickt. Das erinnert an Sartres Beispiel des Voyeurs, der sich im konkreten Dasein eines anderen Menschen täuscht und trotzdem den Blick eines Anderen spürt. Vor dem Hintergrund der Sartreschen Verortung der konkreten Existenz des Anderen im Bereich des Wahrscheinlichen kann Hoffmanns Erzählung als Durchspielen einer Täuschungssituation verstanden werden. Die fundamentale ontologische Struktur des Mitseins mit Anderen, die das Subjekt anblicken und so erst als Subjekt konstituieren – im Sandmann vor allem Coppelius und Clara –, ermöglicht gleichzeitig eine Täuschung in der konkreten Existenz bzw. Menschlichkeit eines Anderen: Olimpia.




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Die Animation Olimpias durch das Perspektiv wiederholt sich, wenn sie auf dem Fest Spalanzanis der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Wieder kann Nathanael aus der Entfernung "Olimpias Züge" (Hoffmann 1985: 38) nicht vollständig erkennen, sodass er Coppolas Perspektiv zu Hilfe nimmt, um ihrer Blicke gewahr zu werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia eine rein visuelle, eine der Blicke. Wenn er sie nun daraufhin zum Tanz auffordert, kollabiert die Täuschung beinahe, denn die rein äußerlich-visuelle Ästhetik der Puppe Olimpia ist bis auf die Augen und den Blick täuschend perfekt. Wird das Defizit der starren Augen beziehungsweise vielmehr des Blicks durch das Perspektiv behoben, so ließ sich die haptisch-stoffliche Komponente offensichtlich nicht täuschend echt gestalten, Nathanael spürt beim Berühren der Hand Olimpias die Kälte des Wachses, aus dem sie geformt ist. Doch wenn er ihr daraufhin in die Augen schaut und ihren Blick spürt, so täuscht das über ihre fehlende Lebenswärme hinweg. Nathanael vermenschlicht Olimpia durch den Blick aus der Nähe. Die Animation Olimpias und deren projektiver Anteil wird im Folgenden auch zum ersten Mal in der Erzählung angedeutet, wenn Nathanael zu ihr spricht: "Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt" (Hoffmann 1985: 40). Peter von Matt deutet diese Stelle wie folgt: "Gewiß 'spiegelt' sich hier etwas; aber wenn Nathanael das Verbum als Metapher für die personale Begegnung mit einem Tiefverwandten gebraucht, so weiß der Leser, daß es wörtlicher zu nehmen ist, daß hier wirklich nur von Wider-Schein die Rede sein kann, von geträumten Reflexen in polierten Gläsern." (von Matt 1971: 84) Wenn man nun — wie es zu Beginn dieses Beitrags unternommen wurde — das Motiv der Augen vor dem Hintergrund von Sartres Analyse des Blicks untersucht, so müsste man genauer sagen: Die gläsernen Augen, das Perspektiv Coppolas und die psychischen Projektionen Nathanaels operieren als Täuschungsinstrumente, um ihm die Illusion vorzugeben, dass ihn jemand Anderes als er selbst ansehen würde. Wenn laut Sartre ein Selbstverhältnis nur über den Blick des Anderen mediiert sein kann, dessen wir uns nur prinzipiell und nicht konkret immer sicher sein können, so wird in diesem Fall nicht über den Blick des Anderen, sondern über die Projektionen eines Blicks des Anderen mediiert. Damit gibt sich Nathanael sein eigenes Selbstverhältnis, anstatt es über einen konkret-wirklichen Anderen vermitteln zu lassen. Nathanael etabliert ein narzisstisches Selbstverhältnis. Insofern ist auch Eva Kormans Analyse zuzustimmen: "Destruiert wird in diesem Nachtstück aber auch das autonome Schöpfersubjekt überhaupt." (Kormann 2006: 85)16 Der Versuch, der intersubjektiven Medialität des eigenen Selbst zu entfliehen, resultiert für Nathanael im Versuch, sich durch die Transformation einer leblosen Automate als ein autonomes Subjekt zu konstitutieren. Insofern ist Rudolf Drux zuzustimmen, wenn




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er schreibt: "Indem Siegmund mit beinahe denselben Worten wie der Freund zuvor in seinem Brief Olimpias Leblosigkeit beschreibt, wird dessen Erkenntnisverlust als allmählicher Prozeß deutlich faßbar." (Drux 1986: 93) Die Feststellung Siegmunds nimmt Nathanael entsprechend gereizt auf, da sie Zweifel an ebenjenem Versuch sät, sich selbst Autonomie zu verschaffen und von den Blicken Anderer unabhängig zu machen. Die philosophische Komponente der Erzählung besteht im Rahmen der Sartreschen Philosophie in der Erkenntnis, dass Menschen immer schon in Strukturen der Intersubjektivität begriffen sind, dass nur durch den Anderen ein Selbstverhältnis etabliert werden kann. Gleichzeitig zeigt Der Sandmann, dass dies auch die Möglichkeit bedingt, diese Tatsache im Versuch der Herstellung von Autonomie vor sich zu verbergen. Dieser Versuch resultiert in einem narzisstischen Selbstverhältnis.17

Die Täuschung fliegt schlussendlich in dem Moment auf, als Nathanael Olimpia heiraten, der Beziehung ein legales Ansehen geben will. Die Ent-Täuschung operiert durch ein Zergliedern der Puppe: "Erstarrt stand Nathanael — nur zu deutlich hatte er gesehen, Olimpias todbleiches Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze Höhlen; sie war eine leblose Puppe." (Hoffmann 1985: 45) Durch die Zerstörung der Puppe im Kampf zwischen Coppola und Spalanzani, in der beide Ansprüche auf die Automate anmelden, wird ihre annähernd perfekte Künstlichkeit offenbar — anhand der Augen. Sie werden aus dem ebenmäßigen Gesicht Olimpias herausgelöst und damit die täuschende Ablösung des Blicks von einem Menschen, einem menschlichen Bewusstsein dekonstruiert. Die physische Zergliederung der Puppe scheint also den Vorgang der Ablösung des Blicks vorerst rückgängig zu machen.

Befindet sich Nathanael anschließend auf dem Wege der Besserung, so holt ihn die Vergangenheit doch wieder ein: Als Nathanael mit Clara auf einen Turm steigt und sie durch das Perspektiv hindurch ansieht, versucht er Clara umzubringen. Lothar rettet sie, doch Nathanael stürzt sich selbst vom Turm. Von Matt schreibt dazu: "Die Problematik von Terror und Bluttat enthüllt sich als eine Problematik von Täuschung und Ent-Täuschung, also von Erkenntnis." (von Matt 1971: 81) Die Täuschung wurde einerseits durch eine fast perfekte Ästhetik der Puppe möglich, deren Augen zu Beginn der Erzählung als Möglichkeit der Differenzierung von Mensch und Automate fungieren, später durch das verzerrende Perspektiv aber gerade der Täuschung in die Hände spielen. In E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann ist also ein komplexes Wechselspiel von menschlicher Wahrnehmung, täuschender Ästhetik und einer binären Ontologie von Mensch und Maschine am Werk.




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4 Der Blick als Aufhebung einer binären Ontologie in Ridley Scotts Blade Runner

Ridley Scotts Blade Runner — und das verbindet ihn mit Hoffmanns Sandmann — spielt das Augen- und Blickmotiv auf vielfältige Art und Weise durch. Bernd Stiegler gibt einen ersten Hinweis auf den eminenten Unterschied zu Hoffmanns Bearbeitung des Motivs:

In diesem extrem okularzentrischen Film, der von Anfang bis zum Ende eine Vielzahl von Augenmetaphern durchdekliniert und damit zugleich eine der Zentralmetaphern der Fotografie aufnimmt, ist, so will es zumindest das Script, das Flackern in der Tiefe des Auges 'the difference that makes a difference' (Gregory Bateson). Cyborgs haben, so lautet die Botschaft, keine Emotionen, sie simulieren diese nur. Einzig in der Tiefe des Auges blitzt die Identität oder auch die Differenz auf. (Stiegler 2010: 16)18

Während im Sandmann die Augen zur Herstellung von Differenz und anschließend durch das Perspektiv zur Vortäuschung von Identität dienen – der Differenz Mensch und Maschine sowie der Identität Mensch und Mensch – und dabei sogar über etwaige "Fehler" wie die Kälte des Stoffes oder die eingeschränkte Sprach- und Bewegungsfähigkeit hinwegtäuschen, sind die Replikanten in Blade Runner "virtually indistinguishable from actual humans." (Knight/McKnight 2008: 27)19 Das wird in einer der ersten Sequenzen deutlich, wenn der Blade Runner Holden feststellen soll, ob Leon Kowalski ein Replikant oder ein Mensch ist (Scott 2007: 00:04:21—00:07:06) .20 Die Tyrell Corporation, die Replikanten herstellt, hat ihr Verfahren soweit zur technischen und ästhetischen Perfektion getrieben, dass das menschliche Auge ohne technische Hilfe keinen Unterschied zwischen Android und Mensch feststellen kann.21 Die Blade Runner müssen vielmehr eine technische Apparatur, die Voight-Kampff-Maschine, zu Hilfe nehmen, um diese Unterscheidung treffen zu können. Die Maschine betrachtet das Auge des vermeintlichen Replikanten in vielfacher Vergrößerung und untersucht die Reaktionen der Augen auf emotional stimulierende Fragen. Während das Perspektiv im Sandmann also die Distanz auf verzerrende Weise überbrückt — auf die Nähe konnte Nathanael mit seinem menschlichen Auge die Blicklosigkeit Olimpias zu Beginn feststellen —, kann in der Welt von Blade Runner das menschliche Auge selbst auf die Nähe hin keinen Unterschied feststellen. Die technische Apparatur im Sandmann täuscht also die klare Wahrnehmung des menschlichen Auges, anstatt für das menschliche Auge Unerkennbares erkennbar zu machen.22 In Blade Runner ist es folglich genau umgekehrt: Die Apparatur macht für das menschliche Auge Unerkennbares tatsächlich erkennbar. Die ontologische Spannung in Blade Runner




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kommt dadurch zustande, dass der vermeintliche Mensch Deckard23 (sowie der Zuschauer) die Replikanten als Menschen wahrnehmen, während narrativ immer wieder deutlich gemacht wird, dass sie künstliche Androiden sind. Diese Spannung wird durch zwei Plot-Twists weitergedreht: Gilt Deckard zu Beginn als das ontologische Gegenstück zu den Replikanten — schließlich ist er der Protagonist des Films, dem der Zuschauer permanent folgt —, so häufen sich im Laufe des Films die Anzeichen, dass er selbst Replikant ist. Diese Hinweise kulminieren im "Final Cut" schließlich in der Schlussszene, wenn Gaff Deckard ein Einhorn-Origami überlässt (Scott 2007: 01:51:42). Das Einhorn tauchte zuerst in einem Traum Deckards auf, was darauf schließen lässt, dass seine Träume und Erinnerungen implantiert wurden und Gaff darum weiß. Somit würde der Zuschauer den gesamten Film über in seiner Wahrnehmung getäuscht werden. Hier wird der Blick als ein Phänomen der Versicherung der Menschlichkeit eines Anderen bzw. die Bedeutung von Menschlichkeit in Frage gestellt. Die Schwachstelle der Sartreschen Ontologie, in der die Möglichkeit, anhand des Blicks zwischen Mensch und Android zu differenzieren, gegeben war, kommt hier zum Vorschein. Die große Wahrscheinlichkeit, dass man den Blick von einem Menschen und nicht von einem Androiden erfährt, ist im Universum von Blade Runner nicht mehr gegeben.

Mensch und Maschine sind, anders als im Sandmann, in dem die binäre Ontologie bloß zeitweise verwischt wird, anhand des Blicks ununterscheidbar geworden. Doch nicht nur das: In Blade Runner verliebt sich Deckard in die Replikantin Rachael. Hier tritt also die Disparität von menschlicher Wahrnehmung — der Andere blickt mich an und ich erkenne ihn als einen Menschen — und rationalem Wissen — Deckard weiß durch den Voight-Kampff-Test, dass Rachael Replikantin ist24 — deutlich innerhalb des Films zutage. Deckard ist sich absolut bewusst, eine Replikantin zu lieben, im Sandmann kann die Liebe Nathanaels für Olimpia hingegen nur durch eine Selbsttäuschung zustande kommen. Der andere Plot-Twist ist vielmehr moralischer Art: Denn der mordende Replikant Roy Batty rettet Deckard am Ende des Films nach einer langen Verfolgungsjagd in einem Akt von Gnade und Nächstenliebe vor dem sicheren Tod. Damit verkörpert der Replikant an dieser Stelle die menschlichen Werte, die der Film an den Menschen vermissen lässt. Die binäre Ontologie von Mensch und Maschine kollabiert in Blade Runner also schließlich vollends. Deborah Knight und George McKnight fassen das so zusammen:




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Where Blade Runner initially positions viewers in relation to Deckard with the implicit understanding that he is human and the replicants are fabricated, nonhuman beings, the film eventually reverses this understanding so that we come to recognize the replicants as those who embody the values we believe define what it is to be human: empathy, trust, loyalty and love. (Knight/McKnight 2008: 35)

Somit hinterfragt der Film das im Sandmann für das Androidenmotiv und Blickmotiv vorherrschende Paradigma der Täuschung. Im Sandmann kann die Ununterscheidbarkeit von Mensch und Android nur durch die psychologische Täuschung Nathanaels vollends funktionieren. Blade Runner fragt nicht die Sartresche Frage, wie man sich sicher sein kann, dass der Andere nicht bloß ein vollendeter Roboter sei — die Sartre auch nicht wirklich beantworten kann —, sondern er stellt vielmehr in Frage, ob sich diese Kategorien von Täuschung und Simulation überhaupt noch anwenden lassen, wenn sich Androiden weder äußerlich noch emotional von Menschen unterscheiden; wenn es sogar möglich ist, sich in sie zu verlieben, obwohl man weiß, dass sie künstlich sind.

5 Schluss

Anhand von Jean-Paul Sartres Analyse des Blicks konnte in diesem Artikel ausgewiesen werden, dass der Blick nicht nur ein zentrales Moment von Intersubjektivität, sondern auch ein zentrales Merkmal für die Differenz Mensch und Maschine ist. Sartre überlässt die Beantwortung der Frage nach der Menschlichkeit des konkreten Anderen dem Reich der Wahrscheinlichkeit. An dieser Stelle haken nun die beiden hier untersuchten Werke ein: Sie spielen auf verschiedene Arten und Weisen durch, wie und ob der Blick tatsächlich als Mittel ontologischer Demarkation von Mensch und Android dienen kann. E.T.A. Hoffmann nutzt in seiner Erzählung Der Sandmann gerade das Täuschungspotenzial des Blicks, in dem er seinen Protagonisten Nathanael die leblosen Automate Olimpia animieren lässt. Bei Hoffmann wird jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass die künstliche Ästhetik von Olimpias Augen allein nicht ausreichen würde, um ihn auf die Nähe hin zu täuschen. Doch durch die verzerrende optische Apparatur des Perspektivs auf eine Entfernung hin wird das narzisstische Selbstverhältnis Nathanaels in der Animation der Puppe Olimpia möglich. Blade Runner nun suspendiert das Hoffmannsche Paradigma der Täuschung und entwickelt damit das Androidenmotiv in einer Zeit von künstlicher Intelligenz konsequent weiter. Die hier anzutreffenden Androiden sind nur durch optische Apparaturen,aber nicht mehr durch die




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menschliche Wahrnehmung von Menschen zu unterscheiden. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Andere, den ich sehe, ein Mensch und kein vollendeter Roboter ist, die Sartre noch postulieren konnte, wird in Blade Runner aufgehoben. Hier kann ein Roboter genauso gut wie ein Mensch den vermeintlich "menschlichen" Blick werfen. Bloß eine optische Apparatur, die Voight-Kampff-Maschine, kann in der Isolation der Augenbewegungen noch zeitweise die binäre Ontologie von Mensch und Android zumindest theoretisch garantieren. Im Umgang von Androiden mit Menschen ist sie schon längst durch Akte der Liebe, der Freundschaft und der Gnade aufgehoben.



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Anmerkungen

1 Steffen Greschonigs Vergleich zwischen Hoffmanns Sandmann und Scotts Blade Runner stellt heraus, "inwiefern Maschine und Mensch in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu denken sind." (Greschonig 2005: 351) Auch er sieht das Blickmotiv als zentrales Moment der Demarkation von Mensch und Maschine an, geht in seinem Beitrag allerdings nicht detaillierter darauf ein und bietet keine theoretische Fundierung der Analyse des Blicks. – Ian F. Roberts hat die Affinität zwischen Hoffmanns Sandmann und Philip K. Dicks Roman Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), der die Grundlage für Ridley Scotts Blade Runner bildet, bemerkt. In seinem kurzen Artikel geht Roberts allerdings nur oberflächlich auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Texten ein, blendet die eminenten Unterschiede und die Entwicklung des Androidenmotivs aber aus (Roberts 2010).

2 Dass der Blick und die Täuschung auch in neuerer Science Fiction wiederkehrende Motive sind, beweist der Independent-Film Ex Machina (2015) von Alex Garland. Hier wird nicht nur durch den Namen des Androiden-Schöpfers, Nathan, auf den Sandmann angespielt, vielmehr wird der Blick wiederholt in Szene gesetzt, um die vermeintliche erotische Beziehung zwischen dem weiblichen Androiden Ava und Nathans Angestelltem Caleb zu visualisieren. Während Nathan Caleb angeblich aufträgt, herauszufinden, ob Ava den Turing-Test besteht und somit Menschlichkeit simulieren kann, möchte Nathan in einer Meta-Versuchsanordnung sehen, ob Caleb den Blicken und der Erotik Avas verfällt. Rebelliert Ava schließlich mit Hilfe des ihr zugeneigten Calebs gegen ihren Schöpfer Nathan und tötet ihn, so lässt sie in einer der letzten Szenen des Films selbst Caleb zurück. So wird suggeriert, dass sie Gefühle in Caleb evozieren wollte, um ihn zu benutzen, ihrem Schöpfer zu entfliehen. Die Frage, ob sie Gefühle simulierte oder sich schlussendlich bloß von allen männlichen Blicken unabhängig machen wollte, bleibt unbeantwortet. Es bleibt also offen, ob sie menschliche Gefühle vortäuscht oder ob sie sich trotz der Gefühle für ein autonomes Leben entscheidet. In Blade Runner hingegen werden die Gefühle der Androiden niemals in Zweifel gezogen. Ex Machina spielt den gesamten Film über mit der binären Ontologie von Mensch und Maschine, ohne klar Stellung zu beziehen.




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3 Vgl. Andreas Ziemanns Untersuchung zur Kritik an Sartres phänomenologischer Ontologie (Ziemann 1996).

4 So könnte man zum Beispiel auch argumentieren, dass die Katze, deren Blick unter denen der Tiere heraussticht, auch in der Lage ist, durch ihren Blick ein Selbstverhältnis zu etablieren. Diese Frage kann man mit einer phänomenologischen Ontologie wie der Sartres nicht erörtern, diesen Freiraum lässt aber die Literatur. So könnte man beispielsweise den Gestiefelten Kater als eine Figur fassen, die viele menschliche Züge trägt; da ihr Äußeres und ihre Verhaltensweise aber die einer Katze sind, stellt sie ein komplexes hybrides Wesen dar.

5 Dieser Umstand wird schon in der Antike in Platons Alkibiades-Dialog ausführlich thematisiert. Zu einer umfangreichen Deutung des Augenmotivs und der damit verbundenen rhetorischen Strategien in diesem Dialog siehe Moser 2006: 110ff.

6 Diese Beschreibung bestätigen laut dem Erzähler auch andere: Claras Blick hat eine solch durchdringende Kraft, dass sie die "verfließende[n] Schattengebilde", also die psychischen Projektionen der "Nebler und Schwebler" damit als solche zu erkennen vermag. Mit Sartre gesprochen, hat ihr Blick genau die Funktion, die psychischen Projektionen den Menschen als Objekte einer Reflexion zugänglich zu machen, die Nathanael sowie die besagten "Nebler und Schwebler" aber vermeiden wollen. (Hoffmann 1985: 28) Klaus Deterding hat diesen Typus, die "Nebler und Schwebler" im Gesamtwerk Hoffmanns untersucht und sie als "Schwärmer" typologisiert. Diese zeichnen sich durch eine unzureichende Distanz zum eigenen Selbst und somit durch Selbsttäuschung aus. (Deterding 1999: 311).

7 Hier zeigt sich bereits der Unwille Nathanaels, seinem weiblichen Gegenüber eine noch so geringe Autonomie zuzubilligen. Seiner Meinung nach reproduziert Clara nur die Meinungen Lothars, in ihrem Brief hingegen differenziert Clara eindeutig zwischen ihrer und Lothars Meinung, welche sich dennoch komplementieren. Hoffmann parodiert mit dieser Erzählung nicht einfach die einfältige Bürgerstochter, sondern kritisiert auch die sie hervorbringenden Normen (Drux 2006, 27ff.). Wenn Claudia Liebrand postuliert, "wie seelenleer, wie mechanizistisch, abgemessen und steif die bürgerliche Gesellschaft und die jungen Mädchen sind", so scheint sie doch auszublenden, welchen Anteil Schwärmer wie Nathanael an diesem Umstand haben; sie wollen keine autonome Frau. Nur deshalb kann folgendes überhaupt zustande kommen: "Die Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschinen, die Hoffmanns Erzählung in Szene setzt, macht nicht zuletzt Nathanaels an seine Verlobte Clara gerichtete Invektive deutlich, die sie als 'lebloses, verdammtes Automat' rubriziert." (Liebrand 2008: 172) So will dieser Artikel danach fragen, wie diese Ununterscheidbarkeit anhand einer Ästhetik der Augen- und des Blicks konstruiert wird.

8 Die Tatsache, dass diese Beschreibung Clara Olimpia ähnlich macht, hat Rudolf Drux herausgestellt. (Drux 2006: 29)




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9 Diese Szene doppelt somit diejenige, in der sich der junge Nathanael hinter einem Vorhang im Zimmer seines Vaters versteckte, um dessen und Coppelius' alchemistische Tätigkeiten zu beobachten. Coppelius benötigt nur die Augen zur perfekten Nachahmung des Menschen, weshalb suggeriert wird, dass er sie Nathanael rauben möchte. Das trifft insofern sogar zu, als dass Nathanael Olimpias Augen tatsächlich durch seinen Blick belebt. Nur so kann die Täuschung funktionieren (vgl. Kormann 2006: 83). In beiden Vorhang-Szenen ist Nathanael eine Art Voyeur, doch während er in der ersten entdeckt wird, das heißt sein Blick entlarvt wird, schreckt ihn hier noch das Unheimliche von Olimpias Gestalt ab.

10 Die Automate Olimpia im Sandmann soll als ein früher Prototyp des Androidenmotivs in der Kulturgeschichte verstanden werden (Wittig 1997).

11 Karakassi zieht den Prozess der Animation Olimpias in ähnlicher Art und Weise nach (Karakassi 2006: 165).

12 Das Erblickt-Werden, das Sartre in seiner weiteren Untersuchung unter verschiedenen Erfahrungen, insbesondere unter der des Schams analysiert, scheint auch im Sandmann eine Rolle zu spielen: Wenn der junge Nathanael hinter dem Vorhang als Voyeur entlarvt wird, so würde diese Tatsache laut Sartre eine positiv konnotierte Scham hervorrufen, da sie ein reflexives Selbstverhältnis ermöglicht. Für Nathanael ist diese Erfahrung allerdings durch die Gestalt des Sandmanns Coppelius so traumatisch, dass er im Laufe der weiteren Erzählung seinen Blicken geradezu zu entfliehen sucht und sich mit Olimpia einer psychologischen Projektion hingibt, in der er sich gewissermaßen nur selbst ansieht. Deshalb reagiert er so entsetzt auf das hyperbolische Bild der "[t]ausend Augen", die ihn durch Coppolas Brillen ansehen (Hoffmann 1985: 35). Das sind Blicke, die er nicht kontrollieren kann, ganz im Gegensatz zu denen Olimpias.

13 Peter Gendolla formuliert das wie folgt: "Das Fernglas potenziert noch das Glas der Tür und des Fensters, eine mehrfache Trennschicht macht die Distanz unüberwindbar. Gleichzeitig verschwindet die Distanz, da die Trennschichten durchsichtig sind und das angeschaute Objekt vergrößern, stellen sie eine enge Verbindung her, eine rein visuelle." (Gendolla 1980: 167)

14 Peter von Matt nennt diese optischen Instrumente aufgrund dieser Tatsache "Imaginationswerfer", da sie nicht der Erkenntnis dienen, sondern nur die Imagination des Benutzers steigern beziehungsweise vielmehr in Gang bringen. (von Matt 1971: 35)

15 Hier sind drei Phasen zu erkennen: Der junge Nathanael hinter dem Vorhang wird als Voyeur entlarvt; bei der ersten Ansicht Olimpias kann er unbehelligt Voyeur sein und schlussendlich wird er sein eigener Voyeur durch die Projektion eines Blicks in Olimpias Augen.

16 Kormann deutet die Erzählung aus dem Kontext der romantischen Philosophie, jedoch lässt sich Sartres Philosophie als ein Angriff auf ebenjene lesen und scheint auf diesem Umweg wieder mit Hoffmanns Erzählung in einen hier angedeuteten fruchtbaren Diskurs zu treten.




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17 Als mögliche, aber unverwirklichte Therapie von Nathanaels Trauma wird übrigens in der Erzählung immer wieder das Lachen beziehungsweise Auslachen angedeutet. So heißt es schon ganz zu Beginn: "Lacht, ich bitte Euch, lacht mich recht herzlich aus! — ich bitt' Euch sehr! — Aber Gott im Himmel! die Haare sträuben sich mir und es ist, als flehe ich Euch an, mich auszulachen" (Hoffmann 1985: 12). Clara entgegnet in ihrem Brief darauf: "Spräche nicht aus jeder Zeile Deines Briefes die tiefste Aufregung Deines Gemüts, schmerzte mich nicht Dein Zustand recht in innerster Seele, wahrhaftig, ich könnte über den Advokaten Sandmann und den Wetterglashändler Coppelius scherzen. […] Ich habe mir vorgenommen, bei Dir zu erscheinen, wie Dein Schutzgeist, und den häßlichen Coppola, sollte er es sich etwa beikommen lassen, Dir im Traum beschwerlich zu fallen, mit lautem Lachen fortzubannen." (Hoffmann 1985: 23)

18 Stiegler benutzt den Begriff "Cyborg" falsch, die Replikanten in Blade Runner sind Androiden, da sie vollständig künstlich und keine verbesserten Menschen sind. Seine Untersuchung bezüglich der Rolle der Fotografie als identitätsstiftendes Erinnerungsmedium ist allerdings interessant: Er situiert Blade Runner an der Schwelle zwischen analoger und digitaler Fotografie. Während der Film anfangs noch nach dem Paradigma von Original und Abbild, also dem der analogen Fotografie funktioniert, tritt im Laufe des Films die Konstruiertheit von Identität und damit die Ununterscheidbarkeit von Original und Abbild zutage.

19 Raimar Zons sieht den Film Blade Runner sogar als eine Zäsur bezüglich der Darstellung des Androidenmotivs in Literatur und Film und der bis dato aufrechterhaltenen binären Ontologie von Mensch und Maschine: "[S]eit Blade Runner von 1982 vermehrt scheinen diese Unterscheidungen nicht mehr zu ziehen. 'Menschliche' Replikantenstars bevölkern die Leinwand, haben menschliche Gefühle, Gedanken und Einsichten, fordern Menschenrechte und geben den menschlichen und allzu menschlichen 'Menschen' zu denken." (Zons 2001: 221) Dieser Artiel versteht sich als Beitrag zu einer Differenzierung dieser Feststellung. Denn während auch in Hoffmanns Der Sandmann die Ununterscheidbarkeit eine Rolle als Möglichkeit der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft spielt, so wird sie nur unter dem Paradigma der psychologischen Täuschung Nathanaels plausibel. In Blade Runner nun wird das Paradigma der Täuschung selbst in Frage gestellt.

20 Diese Sequenz ist eine paradigmatische Erklärung des Universums von Blade Runner. Hier wird innerhalb weniger Minuten — ohne, dass es verbalisiert werden muss — vorgeführt, wie die Ontologie von Blade Runner funktioniert.

21 So kann auch der Zuschauer rein visuell keinen Unterschied zwischen Replikanten und Menschen feststellen.

22 Dass die "Differenz von (wahrer und falscher) Wahrnehmung" im Sandmann, anders als in Blade Runner, noch intakt ist, merkt auch Greschonig an (Greschonig 2005: 352).

23 Während in Internetforen immer noch heftig über Deckards ontologischen Status spekuliert wird, ist sich die Forschungsliteratur größtenteils einig, dass Deckard zumindest in der "Final Cut"-Variante des Films ein Replikant ist. Scott selbst bestätigte das mit seiner Deutung der Schlussszene.

24 In Blade Runner ist also von Anfang an klar, dass Rachael Replikantin ist, der Film spielt dahingehend also mit offenen Karten, während Hoffmann den ontologischen Status von Olimpia bis zum Ende der Erzählung zu verschleiern sucht. Das reflektiert wiederum, was in diesem Beitrag gezeigt wird: Der Sandmann funktioniert über die Täuschung über Olimpias ontologischen Status; Blade Runner fragt, inwiefern überhaupt noch getäuscht wird.