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Beatrice Nickel (Stuttgart)



Andrea Gremels (2014): Kubanische Gegenwartsliteratur in Paris zwischen Exil und Transkulturalität. Tübingen: Narr


Kaum ein Begriff benennt den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung treffender als der von Ottmar Ette geschaffene des "ZwischenWeltenSchreiben[s]" (Ette 2005). Ausgehend von den Beobachtungen, dass Kuba seit Beendigung der Revolution global eines der emigrationsstärksten Länder ist, vor allem auch hinsichtlich geistiger Eliten, und dass sich im 20. Jahrhundert weltweit Zentren kubanischer Intellektueller herausgebildet haben, untersucht Andrea Gremels die Dichtung verschiedener kubanischer Autoren, die sich in Paris niedergelassen haben. Damit kommt sie einem dringenden Forschungsdesiderat nach, denn bislang sind diese Dichter weitgehend unbeachtet geblieben, obgleich sich seit Ende des 20. Jahrhunderts geradezu ein eigener Forschungszweig zu lateinamerikanischen Schriftstellern in Paris herausgebildet hat.

Die Autorin lotet in ihrer Untersuchung die Möglichkeiten des poetischen Schreibens aus, die Kubanern in Frankreichs Hauptstadt und damit zugleich in einem der kulturellen Zentren Europas offenstehen. Schon der Titel ihrer Studie weist unmissverständlich darauf hin, dass die von ihr ausgewählten Gedichte und Gedichtsammlungen sich immer im Spannungsfeld zwischen Exillyrik und transkultureller Lyrik bewegen. Gremels gelingt es im Rahmen ihrer Analysen ausgesprochen gut, die von ihr besprochenen Autoren und deren frankophile Ausrichtung stark gegen jene postkoloniale Haltung des Writing Back abzugrenzen.

Der Auswahl der Autoren – es handelt sich im Einzelnen um Gina Pellón, Nivaria Tejera, Gilda Alfonso, Eyda Machín, William Navarrete, Lira Campoamors, Miguel Sales, José Trianas, Zoé Valdés und last but not least Eduardo Manet – liegt die einschlägige, im Jahre 2004 von William Navarrete herausgegebene Anthologie Ínsulas al pairo. Poesía cubana contemporánea en París zugrunde. Dies mag insofern Anlass zur Kritik geben, als zu fragen ist, ob man hier nicht ein wenig mehr Kreativität bzw. Eigenständigkeit hätte erwarten dürfen. Die für eine Dissertation außergewöhnlich hohe Qualität der Analysen und das sehr hohe Abstraktionsniveau der Studie, bei dem die Autorin jedoch niemals den konkreten Einzelfall aus dem Blick verliert, lässt diese Stimme der Kritik allerdings schnell verstummen.




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Zentral bei der Analyse in Paris entstandener Lyrik – wie bei der Analyse jedes (poetischen) Textes, dessen Autor aus seinem Heimatland emigriert ist, – ist die Frage nach dem kulturellen Selbstverständnis und der kulturellen Selbstinszenierung des jeweiligen Dichters. Gremels kristallisiert diese – in Einklang mit Paul Ricœur – methodologisch anhand dreier Ebenen heraus: der Produktions-, der Text- und der Rezeptionsebene, wobei sie letztere aus leicht ersichtlichen Gründen vornehmlich aus einer rezeptionssoziologischen statt einer rezeptionsästhetischen Perspektive in den Blick nimmt. Von nichts zeugen die ausgewählten Texte mehr als von dem jeweiligen schreibenden Ich. Folgerichtig beschäftigt sich Gremels zunächst mit der Konstruktion und Präsentation des (lyrischen) Ich und damit zugleich mit neuen Autobiographie-Konzepten, wie sie, wenn auch in anderer Form und unter gänzlich anderen Bedingungen, von französischen Schriftstellern in Frankreich, beispielsweise von Alain Robbe-Grillet, entwickelt werden. Die Ambivalenz, die die Autorin eindrucksvoll mit zahlreichen Beispielen belegt, benennt sie treffend mit den Begriffen 'Selbstverlust' und 'Selbstdopplung'. Zwei weitere Kapitel der Arbeit illustrieren die markante Dialektik von Aus- oder Abgrenzung einerseits und transkultureller Ein- oder Entgrenzung andererseits anhand der Themenbereiche Sprache und Heimat. Beiden muss selbstverständlich ein zentraler Stellenwert zugesprochen werden, und zwar im ersten Fall schon mit Blick auf die Sprachwahl des jeweiligen kubanischen Autors mit Wohnsitz in Paris. Auch in diesen beiden Kapiteln werden Text- und Kontextanalysen geschickt miteinander verwoben. In einem wissenschaftlich konzisen, jedoch keinesfalls trockenen Stil gelingt es Gremels nämlich durchgängig, sowohl literaturwissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln als auch die soziohistorischen Bedingungen einer Lyrik von Kubanern in Paris zu erläutern. Die vorliegende Untersuchung bietet jedoch nicht nur profunde und erhellende Analysen, sondern enthält auch einen umfangreichen Anhang mit mehreren Interviews mit aus Kuba stammenden Pariser Autoren aus den Jahren 2007 bis 2012, die Gremels zum großen Teil selbst geführt hat. Diese Interviews ergänzen ihre theoretischen Analysen als eine Art empirischer Beleg.

Ist die vorliegende Arbeit auch auf kubanische Dichtungen in Paris konzentriert, so hofft die Autorin dennoch, anhand dieses Bereichs einen exemplarischen Einblick in die kubanische Gegenwartsliteratur gegeben zu haben, was ihr ohne jeden Zweifel gelingt. Darüber hinaus situiert Gremels ihre Arbeit im Schlusswort in einem größeren Rahmen, indem sie dort die Frage nach der literaturwissenschaftlichen Klassifizierung ihres Untersuchungsgegenstands, also jener kubanischen Literatur in Frankreichs Hauptstadt, stellt und zu Recht darauf hinweist, dass jede simplifizierende Zuordnung zu kurz greift und der Sache nicht gerecht werden kann: "Die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris stellt den Begriff der Nation in Frage und hält gleichzeitig daran fest. Ist sie nun als diasporische Nationalliteratur, transkulturierte (Welt-)Literatur oder […] transkulturelle Exilliteratur zu klassifizieren? Die Antwort lautet: sowohl als auch." (285) Dass dieses Urteil tatsächlich zutrifft, dürfte dem Leser nach der Lektüre der vorliegenden Untersuchung klar und nachvollziehbar geworden sein.


Bibliographie

Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos.