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Agnieszka Hudzik (Berlin)



Unsäglichkeit und Ambivalenz: Anmerkungen zu Gertrud Kolmars Die jüdische Mutter



Inexpressibility and Ambivalence. Some Remarks on Gertrud Kolmar's Novel Die jüdische Mutter

In this paper I pose the question about a mother's identity after she has lost her child. This theme functions as a taboo. It is suppressed from common language and from public discourse, including literary debates. Therefore Gertrud Kolmar's novel Die jüdische Mutter seems to me exceptional in this respect (it was written in the 1930s), and it is this novel that is the main subject of my considerations. The paper consists of five parts. The first one considers the paradoxes in the reception of Kolmar's writings. Part two is a reconstruction of the most important plot elements in the book mentioned above. There is a complex of themes in this novel, associated with silencing the past, inexpressibility and exclusion status: the work of mourning, motherhood after the death of a child, Jewish and female identity problems. It is the title of the novel which signals the complexity of the identity of the main character in the story, who is a mother without a child, and a Jew of no faith and community. The third part of the paper deals with the multiple coding rules applied in the novel. The fourth one is about the categories of alterity and exclusion used to grasp the construction of the main character. The last, fifth part of this paper considers the intertextual references to mother-figures in ancient Greek mythology (Niobe, Demeter, Medea). The study of these intertextual references shows how our beliefs about mothers and motherhood are encoded in and shaped by cultural topoi. Finally I seek to answer the question whether Kolmar managed to overcome the taboo and go beyond the narrative frames that culture uses to hide the image of mother after she has lost her child.



1 Gertrud Kolmar: Kontexte und Paradoxe

Wenn man versucht, über das Werk von Gertrud Kolmar zu schreiben, steht man von Anfang an vor einer besonders schwierigen Aufgabe: Womit soll man beginnen? Wäre es angebracht oder überflüssig, sie einzuführen und vorzustellen?




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Diese scheinbar banale Überlegung ist vielleicht nicht nur ein Anzeichen der Unbeholfenheit der über sie Schreibenden, sondern vielmehr ein Ausdruck Kolmars paradoxer Rezeptionsgeschichte. Die in diesem Jahr ihr 120. Geburtstagsjubiläum feiernde Schriftstellerin ist nämlich ein rätselhaftes Phänomen in der deutschsprachigen Literatur: Einerseits wird sie in den Forschungsarbeiten hoch geschätzt und häufig als "Klassikerin der Moderne" bezeichnet. Andererseits bleibt sie weiterhin dem breiten Publikum größtenteils unbekannt. In den Pressenotizen über sie schreibt man ihr den Ruf einer noch "zu entdeckenden" Autorin zu und bezeichnet ihre Werke als "Geheimtipps".1 Für diesen Sachverhalt gibt es viele Gründe: Zu ihren Lebzeiten hat Kolmar nur wenig veröffentlicht. Einen Nachruhm konnte sie auch nicht genießen, weil das posthume Erscheinen ihres Oeuvres jahrelang dauerte. Die kommentierte Gesamtausgabe ihrer Gedichte wurde beispielsweise erst vor einiger Zeit vorgelegt.2

Obwohl Kolmars schriftstellerischer Status zwischen Anerkennung und gewisser Anonymität in der breiten Öffentlichkeit schwankt, kann man ihr eine besondere Nachwirkungskraft nicht absprechen. Das Echo ihres Schaffens kann man in verschiedenen künstlerischen Bereichen finden: Ihre Gedichte wurden vertont und als Kantaten aufgeführt.3 Ihr Leben und Werk waren auch eine Inspirationsquelle für das Theater und wurden zum Thema des Stücks Liebe Trude von Cornelia Naumann.4 Von ihrem nachwirkenden Potenzial zeugt aber vor allem das unvermindert starke Interesse der Forscherinnen und Forscher an ihren Werken. Die Geschichte ihrer wissenschaftlichen Rezeption war bereits Gegenstand einer anderen Studie.5 Pauschal lässt sich diesbezüglich festhalten, dass die Zahl der ihr gewidmeten Artikel, Monographien und Tagungen in letzten Jahren anstieg.6 In den meisten Arbeiten stolpert man häufig über eine paradoxe Haltung zu Kolmars Oeuvre: Auf der einen Seite werden ihr besonderer Schreibstil und die Einzigartigkeit ihrer Vorstellungskraft unterstrichen. Auf der anderen Seite scheint es aber, dass man ihr Werk von vornherein durch ein bestimmtes Prisma und in einschrumpfenden Kontexten betrachtet. Die 1943 in Auschwitz ermordete Schriftstellerin wird zum Beispiel häufig mit Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs verglichen und die "dritte große jüdische Lyrikerin" der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts genannt.7 Diese Zusammenstellung ist sicherlich aufgrund der Zeitgenossenschaft, jüdisch-bürgerlicher Herkunft, der bevorzugten poetischen Sujets und der Holocaust-Tragödie berechtigt.




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Man kann aber den Eindruck bekommen, dass die Verortung in der Reihe der Dichterinnen ihr prosaisches und dramatisches Werk in den Schatten stellt und marginalisiert. Ein anderer Vergleich, der eine Wertschätzung ausdrückt und zugleich jedoch eine Art von Einschränkung oder "Schublade" sein kann, die eine latente Einengung ihres facettenreichen, nicht nur aus Lyrik bestehenden Gesamtwerks zur Folge hat, ist jener mit Annette von Droste-Hülshoff. Kolmars Zuschreibung in diese dichterische Traditionslinie führte eigentlich Walter Benjamin – ihr Vetter – als erster ein. Im Jahre 1928 verfasste er in der Zeitschrift "Die literarische Welt" eine Einleitung zum Abdruck von zwei Gedichten seiner Cousine und schrieb über sie wie folgt: "Töne [...] wie sie sind in der deutschen Frauendichtung seit Annette von Droste nicht mehr vernommen worden". Dieses Zitat wird seitdem in vielen Bearbeitungen zu Kolmars Schaffen gern wiederholt (z.B.: Shafi 1995: 11, Woltmann 1995: 125).

In der Rezeption von ihrem Werk kann man demnach vereinfachend von einem Spannungsverhältnis zwischen den Bemerkungen über den Facettenreichtum, die Einmaligkeit und Vieldeutigkeit ihrer Werke und der Unentrinnbarkeit ihrer Zuordnung zu den bestimmten Traditionen und Kontexten sprechen. Darin alleine wäre im Grunde genommen nichts Außergewöhnliches – solch eine Tendenz könnte man in den Kommentaren zu vielen Autorinnen und Autoren beobachten. Ich glaube aber, dass sie im Falle von Kolmar etwas Wesentliches vergegenwärtigt: Sie ist nämlich eine Widerspiegelung des zentralen Themas in ihrem Schaffen. Auf der autoreflexiven Ebene ihrer Texte versucht Kolmar häufig, die Inkongruenz zwischen der Komplexität der Phänomene und den Möglichkeiten ihrer Verbalisierung zum Ausdruck zu bringen. Es geht nicht darum, dass sie explizit sprachkritische Überlegungen anstellt. Sie skizziert andeutungsweise die Gefahren der Verschlossenheit in Denkmustern, sprachlichen Klischees und Schemata und reflektiert zugleich ihre Unvermeidlichkeit. Durch ihre experimentelle dichterische Sprache scheint sie die Ausweglosigkeit und einschrumpfende Macht der sprachlichen Formulierungen zu ertasten, um die Mehrdeutigkeit zu retten und zu bewahren. Ein illustratives Beispiel dafür ist ihr Roman Die jüdische Mutter, von dem der vorliegende Beitrag handeln wird.





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2 Jüdin ohne Gemeinde und Mutter ohne Kind

Der Roman Die jüdische Mutter und die Erzählung "Susanna" sind die einzigen längeren Prosatexte, die von Gertrud Kolmar erhalten sind. Trotz des relativ geringen Umfangs spielen sie aber keine marginale Rolle in ihrem Gesamtwerk und wurden schon mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht – es gibt viele Forschungsarbeiten, die sich dezidiert auf ihre Prosa fokussieren.8

Der Roman gilt als Kolmars prosaisches Erstlingswerk, das sie im Zeitraum von 1930 bis 1931 niederschrieb. Auf die Publizierung musste er aber lange warten: Die Erstveröffentlichung erfolgte 1965 im Kösel Verlag unter dem verkürzten Titel Eine Mutter. In demselben Verlag wurde dann ein paar Jahre später 1978 die zweite Ausgabe vorbereitet, die dann als Eine jüdische Mutter erschien. Erst im Jahre 1999 gab Thedel von Wallmoden im Wallstein Verlag den Roman als Die jüdische Mutter vollständig heraus – die Edition folgt dem Text des Typoskripts von Gertrud Kolmar, der sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Kurz danach wurde diese Ausgabe in der Reihe "Bibliothek Suhrkamp" wieder aufgelegt. Im Folgenden wird aus diesem Band zitiert.

In diesem kurzen editorischen Kommentar deutet sich schon an, welchen Modifikationen – vor allem in der Betitelung – der Roman unterlag und wie das seine Interpretationen beeinflusst haben konnte. Das verspätete Veröffentlichungsjahr macht auch neugierig und bietet sich fast selbst als Projektionsfläche für Spekulationen an: Wurde der Text anfangs als geringwertig beurteilt oder galt er als zu kontrovers, zu innovativ oder zu unverständlich für den damaligen Geschmack? Warum hat es auch in der Nachkriegszeit so lange gebraucht, um das Werk der Vergessenheit zu entreißen? Man kann die Fragen auch anders formulieren: Warum hat man sich vor gar nicht allzu langer Zeit dazu entschlossen, den Roman herauszugeben? Welche gravierenden, neuen Aussagen macht das Werk im ästhetischen und poetologischen Sinn?

Die Geschichte, die in diesem Werk erzählt wird, bricht zwar viele gesellschaftliche Tabus und arbeitet mit provokativen Themen, aber sie ähnelt im Grunde genommen einem vorhersehbaren Kriminalroman: Die Handlung wird durch ein Verbrechen determiniert. Ein fünfjähriges Mädchen – die Tochter der Protagonistin – wird zum Opfer eines Kinderschänders. Die Sexualstraftat löst die aus der Kriminalliteratur bekannte Ereignisfolge: der Wille nach der Rache, eine Detektivfigur und das Fahnden nach dem perversen Täter.




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Jedoch nicht die Suche nach dem Verbrecher, sondern die Darstellung und Persönlichkeitsentwicklung von Martha, der Mutter des Kindes, steht im Zentrum des Romans. Wie wird sie charakterisiert?

Sie stammt von einer assimilierten jüdischen Familie Jadassohn. Der Enträtselung der symbolischen Namengebung bei Kolmar wurden schon viele Versuche gewidmet: Manche sehen darin eine Variation des Namens "Juda" und interpretieren es vor allem als einen Verweis auf ihre jüdische Herkunft.9 Auf der lautlichen Ebene ähnelt der Name aber auch dem antiken Helden Jason, dem Mann von Medea – Kolmars Anspielungen auf mythologische Figuren werden hier noch später ausgelotet. An dieser Stelle scheint aber die Änderung des Nachnamens der Protagonistin wichtig zu sein. Nach dem Erhalten einer allgemeinen Ausbildung kehrt sie ins Elternhaus zurück und heiratet einen jüngeren Ingenieur – er macht ihr wider den Willen seiner Eltern einen Heiratsantrag und so geht sie in eine deutsche, gutbürgerliche Familie ein, deren Name Wolg an das mit stimmhaften Konsonanten ersetzte Substantiv das Volk erinnert.10 Die Heirat bedeutet aber für sie keine Integration, weder in die Familie noch in die Gesellschaft – sie fühlt sich fremd und wird als solche betrachtet und stigmatisiert. Die Beziehung zu ihrem Ehemann geht allmählich auseinander. Vor allem nach der Geburt der Tochter Ursa konzentriert sie sich ausschließlich auf die Erziehung und schenkt ihm kein Interesse mehr. Angesichts dessen fährt er nach Amerika, kehrt nach einiger Zeit krank zurück und stirbt. Nach seinem Tod muss Martha den Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie lebt als allein erziehende Mutter im Vorort von Berlin, erwirbt eine Lehre und arbeitet in einem Atelier als Tierfotografin. Eines Tages passiert besagtes Unglück und ihre Welt bricht zusammen: Ursa wird entführt und brutal vergewaltigt, sie überlebt aber die Tat und liegt bewusstlos im Krankenhaus. Der verzweifelten Mutter scheint der Gesundheitszustand des Kindes unheilbar zu sein, deshalb gibt sie ihm heimlich das Gift. Nach der Tragödie hat sie nur ein Ziel – sie möchte den Verbrecher finden und sich an ihm rächen. Dabei nimmt sie sich einen Liebhaber zur Hilfe, dessen Detektivarbeit sie mit einer erotischen Gegenleistung bezahlt. Bald wird er ihres Verhaltens überdrüssig und verlässt sie. Wegen der Gewissensbisse und des Gefühls von Ausweg- und Sinnlosigkeit ertränkt sie sich in der Spree. Der Roman schließt mit einer kurzen Zeitungsnotiz über einen tödlichen Autounfall – es bleibt aber unklar, ob das der gesuchte Verbrecher ums Leben gekommen ist.




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Was die Erzählweise im Roman anbetrifft, so arbeitet Kolmar mit der Technik der Collage und verbindet äußerst eklektisch den protokollarischen Ton der Berichtserstattung mit romantisch-lyrischen Naturbeschreibungen und emotionalen inneren Monologen der Protagonistin. Die gesamte Ausdrucksform des Erzählten wirkt dadurch besonders dynamisch und expressiv – einige sehen in der Erzählweise "spätexpressionistischen Stilwillen und Satzführung" (Kemp 1978: 247). Trotz der Expressivität des Textes wird in ihm ziemlich konventionell in der dritten Person erzählt. Wäre das Werk demzufolge nur eine einfache kriminelle Geschichte?

So könnte man vielleicht meinen, wenn im Roman Die jüdische Mutter nicht so viele tabuisierte Themen aufeinander stoßen würden. Die Aufklärung des Verbrechens determiniert die Handlung und veranlasst zugleich zur Auseinandersetzung mit den in der Öffentlichkeit verschwiegenen Problemen wie Sexualgewalt oder Euthanasie. Im Text wird immer wieder die Ambivalenz des Verhaltens der Protagonistin unterstrichen: Die ihrem Kind Sterbehilfe leistende Mutter begeht juristisch gesehen eine Straftat, während der Täter vermutlich zum Opfer eines Autounfalls wird. Im Roman werden demnach äußerst komplexe Situationen geschildert, in denen die Grenzen zwischen Opfer und Täter verschwimmen und sich somit eindeutiger Beurteilungen entziehen.

Der Tabubruch im Werk besteht aber nicht nur im Aufgreifen der kontroversen Sujets. Im Roman kommt eine ganze Kontamination von Themenkomplexen vor, die man mit dem Verstummen, der Unaussprechbarkeit und dem Zustand des Ausgeschlossenseins assoziiert: Trauerarbeit, Mutterschaft nach dem Verlust des Kindes, jüdische und weibliche Identitätsproblematik. Die Autorin scheint alldem eine Stimme zu verleihen oder, anders gesagt, sie versucht "das Wort den Stummen" zu geben, um den Titel von einem Gedichtband Kolmars zu paraphrasieren.11 Die aufgezählten Problematiken stoßen in der Konstruktion der Hauptprotagonistin zusammen und werden als ihre individuelle Erfahrung präsentiert. Im Zentrum steht das Singuläre – Martha und ihre Erlebnisse, was auch im endgültigen Titel des Romans signalisiert wird: Der unbestimmte Artikel wurde vom bestimmten ersetzt. Sie wird die jüdische Mutter genannt und nicht mehr "eine" von vielen, stellvertretend für eine Gruppe. Der Text konzentriert sich auf sie als Individuum, auf ihre Betrachtungsperspektive und Identitätsbildung. Wie der Titel ankündet prägen die Konstruktion von Martha das Muttersein und das Judentum – beide Aspekte scheinen in ihr "vollkommen verschmolzen" zu sein (Dischereit 2003: 200). In den Versuchen der eigenen Bestimmung konstatiert die Protagonistin Folgendes: "Ich bin Jüdin und eine Mutter" (Kolmar 2003: 115).




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Ihre Selbstwahrnehmung erweist sich aber im Laufe des Romans als paradox, denn sie beruht auf dem "Ungenügen" – auf doppelter Abwesenheit: Sie ist nämlich Jüdin ohne Glauben und Gemeinde und Mutter ohne Kind.


3 "Multiple coding" in Kolmars Roman

Die paradoxe Identität und das mehrdeutige Verhalten der Protagonistin situieren den Roman außerhalb der damaligen literarischen Tendenzen. Das Thema der Mutterschaft ist jedoch nicht neu, sondern war von jeher in der Literatur präsent. Die Entstehung von Kolmars Werk fällt auch auf die Zeit des ideologischen Missbrauchs der Mutterfigur in der öffentlichen Debatte. Der von nationalsozialistischer Propaganda kreierter Mutterkult findet auch sein Echo im Roman – darauf wird im letzten Teil des Artikels ausführlich eingegangen.12 Die Komplexität der Konstruktion der Protagonistin ist außergewöhnlich für die Werke aus den dreißiger Jahren. Auch im Vergleich mit den früheren Jahrzehnten zeichnet sich der Roman durch die Themenwahl aus, denn um die Jahrhundertwende spielte die Mutter unter den Frauengestalten keine wichtige Rolle. Sie rückte eher in den Hintergrund der Handlung, im Zentrum des Interesses standen dagegen die Femme fragile oder Femme fatale. Einerseits sind aus der Zeit kaum Texte zu finden, in denen die Figur der Mutter nicht vorkommt, andererseits scheint die vertiefte Darstellung dieses Themas und nicht nur seine Erwähnung fast unvorstellbar zu sein.13 Kolmar greift demnach ein bisher marginalisiertes Problem auf, schafft eine mehrdimensionale Figur der Mutter jenseits der von Ideologie geprägten Vorstellungen – oder, besser gesagt, in der Auseinandersetzung mit ihnen – und stellt somit die vereinfachende These infrage, die in manchen Forschungsarbeiten vertreten wird und besagt, dass erst dank der Frauenbewegung den Müttern in der Literatur die komplexe Sprache verliehen wurde.14

Es lässt sich bemerken, dass das Thema der Mutterschaft bei Kolmar auch in ihren früheren Gedichten auftaucht. Den Roman Die jüdische Mutter verfasste sie als eine schon erfahrene Lyrikerin. Sie scheint bestimmte, aus ihrer Dichtung bekannte Motive in den Prosatext zu übersetzen und sie weiter auszuarbeiten. Im Roman spricht sie aber ein neues Thema an, nämlich die Mutter-Tochter-Beziehung. Überraschenderweise hatten bisher in ihrer Lyrik nur die Söhne den poetischen Status des Kindes.




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Diesen Wandel und das Einbeziehen der Tochter in die künstlerische Reflexion kann man mit der Biografie der Autorin in Zusammenhang bringen: Der Text entstand ein paar Monate nach dem Tod ihrer eigenen Mutter. Ich möchte mich hier nicht auf die Überlegungen über die Überschneidungsmomente zwischen Kolmars Leben und Schaffen einlassen, obwohl in diesem Werk noch andere gemeinsame Elemente zu finden wären, wie das Motiv der unglücklichen Liebe oder des Kindesverlusts.15 Diese möglichen Affinitäten und das Einweben bestimmter Themen in den Text – unabhängig von ihrem biografischen Informationswert oder Übereinstimmungsgrad – veranlassen mich dazu, bei der Interpretation des Romans die Konzeption der Arachnologie zu erwähnen. Sie ist eine von Nancy K. Miller vorgeschlagene Methode, die zum Ziel hat, in den literarischen Texten nach der Präsenz des schreibenden weiblichen Subjekts zu suchen.16 Ihre Grundidee sollte einen Kontrapunkt zum Postulat der Hyphologie von Roland Barthes bilden, der in seiner Abhandlung Die Lust am Text für die Befreiung des Textes, des textuellen Gewebes (griech. hyphe), vom Autor plädiert, um für die Rezipienten den Platz als gleichberechtigte Texthersteller zu machen. In Bezug auf diese Vorstellung konstatierte Miller, dass man nicht das Verschwinden des Autors postulieren dürfe, wenn das weibliche Subjekt erst in den literaturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt werden solle. Daher versuchte sie mit ihrer Konzeption die Spuren der Autorinnen in den Texten zu exponieren und das Thema der weiblichen Identitätsbildung ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen.

Die Metapher von Arachne scheint mir im Kontext von Kolmars Werk besonders inspirierend zu sein. Im Mythos hatte sie einen so schönen Stoff gewoben, dass ihn Athene voller Neid zerriss. Das Motiv des Nähens und Stopfens von einem zerrissenen Gewebe taucht auch häufig im Roman Die jüdische Mutter auf. Entweder nimmt Martha "Stopfgarn, Nadel, Fingerhut und Schere" (Kolmar 2003: 85), zieht sich den Nähkorb heran (Kolmar 2003: 164) und stopft ihre Wäsche, oder sie stickt die Handtücher, was folgendermaßen beschrieben wird: "Martha kehrte ans Fenster zurück, begann das vorgetuschte MW in den Handtuchzipfel zu sticken. Dies Nadelstechen und Fadenziehen, die gleichmäßige Gebärde der Hand beruhigte sie ein wenig". (Kolmar 2003: 158) Diese Tätigkeiten bringen sie also zur Ruhe und vor allem hat das Sticken der Handtücher, das Unterschreiben des Gewebes, das Hineinweben der für die Identität stehenden Initialen in den Stoff eine besonders besänftigende Auswirkung auf sie. Es besteht aber noch eine Analogie zwischen Arachne und Martha – beide begehen Selbstmord. Kolmars Protagonistin stürzt sich zum Schluss des Romans von der Brücke und ertrinkt im Fluss.




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Auch die Weberin im Mythos erhängt sich aus Kummer, wird aber von Athene in die Spinne verzaubert und die Fetzen ihres Stoffes in die Spinnwebe. Arachnes Metamorphose bedeutet zugleich ihre Verurteilung zur ewigen Stimmlosigkeit: Ihr einziges Ausdrucksmittel bleibt das Weben, das Spinnen der textuellen Gewebe, deshalb wurde sie von der feministischen Theorie zum Symbol der schreibenden Frauen ernannt. Die Nebeneinanderstellung von Arachne-Mythos und Kolmars Werk veranschaulicht, dass im Roman die weibliche Identitätsproblematik als ein sich im und durch das Schreiben konstruierendes Phänomen verstanden wird: Bei der Konstruktion der Protagonistin flechtet Kolmar verschiedene Motive und Anspielungen auf kulturell tradierte Frauenbilder zu einer Ganzheit und der Enträtselung von diesem Flechtwerk versucht sich der vorliegende Artikel zu widmen.

Der Verweis auf mögliche Ähnlichkeiten mit Arachne eröffnet zugleich eine interessante Interpretationsperspektive: Im ganzen Roman scheinen nämlich die Bezugnahmen auf die Mythologie eine große Rolle zu spielen. Dank diesen intertextuellen Bezügen gewinnt die Figur der trauernden und nach Rache suchenden Mutter eine symbolische Dimension. Ihr Schicksal wird nicht mehr nur an konkrete Begebenheiten gebunden, sondern verschiebt sich in die Sphäre des Universellen, Ahistorischen und Archetypischen. Einerseits ist der Roman stark in einer bestimmten Epoche verankert. Die Zeit und der Ort der Handlung lassen sich präzise bestimmen. Im Hintergrund der Ereignisse wird Berlin am Ende der Weimarer Republik dargestellt. Die Protagonistin bewegt sich in der modernen Großstadt: Sie benutzt beispielsweise öffentliche Verkehrsmittel oder geht in eine Tanzbar. Nebenbei werden im Text identifizierbare Objekte in der Stadt genannt wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder der Zoologische Garten. In den Beschreibungen lassen sich auch die zunehmenden antisemitischen Stimmungen und nationalsozialistischer Terror spüren – auf dem Umschlag einer Zeitschrift ist ein Hakenkreuzschild zu sehen. (Kolmar 2003: 182) Das Motiv der Stadt als Schauplatz der Romanhandlung kommt demnach stark zum Ausdruck, so dass es sogar im Titel der englischen Übersetzung des Werks A Jewish Mother from Berlin berücksichtigt wird.17 Andererseits wird aber diese konkrete Wirklichkeit mit mythisch-biblischen Elementen kontrastiert. Auf diese Weise entkommt der Roman der Beschränkung der konkreten zeitlichen und räumlichen Bestimmung. Die Trauerarbeit wird dadurch nicht nur als eine individuelle Erfahrung der Protagonistin dargestellt, sondern auch als eine allgemeingültige Grund- und zugleich Grenzsituation des Menschen, die weder an Zeit noch an Raum gebunden ist.




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Im Roman scheint sich die Verarbeitung der Trauer vor allem in der Sphäre des Symbolischen zu vollziehen: Dieser Prozess veranschaulicht sich in der Selbstwahrnehmung von Martha, die sich immer wieder mit den Figuren aus der Mythologie gleichsetzt bzw. so von der Erzählinstanz beschrieben wird. Daher wirkt die Handlung raumzeitlich festgelegt und gleichzeitig "archetypisch" – wie aus der Zeit gefallen, um den Titel des Romans von David Grossman zu paraphrasieren, der auch vom Leiden der Eltern nach dem Verlust ihrer Kinder handelt.18

Das Spannungsverhältnis zwischen der individuellen und universellen Dimension der Erfahrung der Trauer wird im Roman auf das Problem der Sprache zurückgeführt. Kolmar versucht eine Ausdrucksform zu finden, die imstande wäre, die Ohnmacht, den Abgrund und Sog der Trauer zu überwinden. Sie setzt sich also mit einem Thema auseinander, das mit der Unaussprechbarkeit verbunden ist. Die Verbalisierung des Schmerzes wird im Text explizit als Aporie problematisiert: Die Protagonistin nennt das Geschehene "das Unsägliche" (Kolmar 2003: 57). Es geht hier aber nicht nur um das Fehlen und Unangepasstheit der Worte angesichts des Unmaßes an Leid – um sprachkritische Überlegungen. Die Trauer wird als etwas jenseits der Sprache präsentiert, was unmittelbar den Körper betrifft. Sie löst starke Körperreaktionen bei Martha aus, der es auch an physischer Anwesenheit der verlorenen Tochter fehlt. Ihre Erlebnisse werden zum Beispiel folgendermaßen beschrieben:

Dies Knieen, Versinken vor totem Glück, dies Ansichpressen, Ergriffensein von einer brennenden Welle. Dies Überflutetwerden. Nein. Sie war nicht erschüttert. Sie weinte nicht, warf nicht stöhnend sich hin und küsste den fühllosen Mund. Sie... sie wusste nicht, was sie empfand. Sie war leicht bewegt: wie treibendes Holz von einem Binnengewässer. (Kolmar 2003: 162)

Sie kann ihre Empfindungen nicht benennen, aber für die Bezeichnung ihrer Trauer folgt eine Reihe von Verben, die intensive Tätigkeiten und Zustände beschreiben, wie versinken, pressen, ergriffen oder überflutet werden. Die Verarbeitung des Verlusts ihrer Tochter ist für sie mit Bewegung verbunden, was im letzten Vergleich besonders aussagekräftig zum Ausdruck kommt. Die Trauerarbeit wird demnach als ein monastischer Prozess dargestellt – die Protagonistin ist in sich geschlossen wie Binnengewässer – der aber nicht kontemplativ, sondern aktiv verläuft: Das Holz, dem sie ähnelt, wird mit dem ersten Partizip "treibend" versehen, das darauf verweist, dass sie die Quelle der Handlung ist — sie ist treibend und wird beispielsweise nicht von Außen getrieben.




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Die Trauerarbeit bedeutet auch eine Wende in ihrer Selbstwahrnehmung und geht mit der Wiederentdeckung der eigenen Sinnlichkeit einher: Sie bewundert beispielsweise nachts den eigenen nackten Körper und "schämt sich nicht mehr" vor sich selbst (Kolmar 2003: 87). Außer den autoerotischen Fantasien neigt sie nach dem Unglück überhaupt zum Nachdenken über sich selbst. Sie überlegt sich, ob sie eine gute Mutter war oder eher "eine zu schweigsame [...] viel-leicht, die ihr Geschöpf nicht mit Zärtlichkei-ten wie mit klingenden Glöckchen behängte" (Kolmar 2003: 80). Die Situation der Trauer fordert sie zur Selbstreflexion und löst die Frage und Suche nach der eigenen Identität aus. Deutlich kommt das in der schon hier zitierten Stelle beim Rechtsanwalt zum Ausdruck, in der sich die Protagonistin als Jüdin und Mutter selbst definiert (Kolmar 2003: 115).

In Kolmars Roman wird aber nicht nur das Problem der Unsäglichkeit der Trauer, sondern auch das tabuisierte Thema der trauernden Mutterschaft angesprochen. Die Autorin rührt an einem gesellschaftlichen Tabu, das schon in der Antike errichtet wurde. Im alten Griechenland wurde versucht, die Mütter in Trauer aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und unter Kontrolle zu bringen. Man entwickelte eine lange Reihe von Verboten, die gegen sie ausgerichtet waren, und verstand ihre Trauer als einen Verstoß gegen die politische Ordnung.19 Auf diese Weise wurden sie in ihrem Leid unterdrückt und zum passiven Schweigen gezwungen. Die Spur dieser Repressionen lässt sich vielleicht bis heute auf der Ebene der Sprache finden. Es fehlt nämlich – meines Wissens in allen indoeuropäischen Sprachfamilien – an einer Bezeichnung für die Frau, die ihr Kind nicht nur geboren, sondern auch schon verloren hat: Bleibt sie immer noch Mutter und muss die ganze Zeit mit dem Stigma des verlorenen Kindes leben? Diese sprachliche Lücke ist umso erstaunlicher, weil gleichzeitig das Wort die Waise existiert, das sich nach dem Abbruch der Mutter-Kind-Dyade auf die eltern- bzw. mutterlosen Kinder bezieht. Dieser Mangel kann als Beweis dafür gesehen werden, dass man durch die Nichtbenennung das Problem der Mütter in Trauer in der Kultur verdrängt und vermeidet, mit ihm konfrontiert zu werden.

Der Roman Die jüdische Mutter ist mehrschichtig und hat viele Ebenen: Zum einen präsentiert er eine Kriminalgeschichte, die in einer konventionellen Form erzählt wird. Zum anderen spricht er aber zugleich komplizierte Themenkomplexe an: Es handelt sich um die Sprachspekulation angesichts der unsäglichen Trauer, um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Tabus wie Mutterschaft nach dem Verlust des Kindes, Euthanasie, Abtreibung, Perversion, Homosexualität, Transvestismus oder Todesstrafe.




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Das Werk nimmt also keine eindeutige Position an, ist vieldeutig und oszilliert zwischen trivial und bahnbrechend. Deshalb lässt es sich in seinem Fall von der mehrfachen Kodierung (multiple coding) sprechen: Diesen Begriff verbindet man vor allem mit postmodernen Theorien. Nach Umberto Eco potenziert solche Kodierungsweise die Interpretationsmöglichkeiten des Werks, das man gleichzeitig auf mehreren Ebenen lesen kann.20 Diese Beschreibung trifft auf Kolmars Text zu und gibt die Verschachtelung der Bedeutungen im Roman wieder. Bei der Einführung dieser Bezeichnung geht es mir nicht darum, in ihrem Werk nach den Zügen der Postmoderne zu suchen. Das ließe sich allerdings vielleicht auch durchführen, wenn man in der Argumentationsweise die Vieldeutigkeit, so wie Zygmunt Bauman, als Merkmal der postmodernen Haltung betrachten würde.21 Vielmehr möchte ich mich hier darauf konzentrieren, dass die mehrdeutige Struktur des Romans aus der komplexen Konstruktion der Protagonistin resultiert. Dadurch, dass in ihr verschiedene heterogene Elemente und Anspielungen zusammenstoßen, lassen sich ihre Motivation und ihr Verhalten nicht eindeutig beurteilen. Somit zeichnet sich auch die im Roman verfasste Konzeption der Mutterschaft als ein mehrschichtiges, kulturell geprägtes Konstrukt ab, das alles andere als eine selbstverständliche oder eindeutige Rolle ist. Durch die Komplexität und Mannigfaltigkeit ihrer Protagonistin versucht Kolmar – um eine Formulierung von Judith Butler zu gebrauchen – die "Pose der scheinbarer Eindeutigkeit" der Mutterschaftsvorstellungen zu brechen (Butler 1991: 59).22

Da Kolmars Roman so viele Lesarten zulässt, wurde er schon auch in der Forschungsliteratur unter verschiedenen Aspekten analysiert, hier nur einige Beispiele: Man beschäftigte sich mit der Verbindung von Mutterschaft und Judentum in ihrem Werk.23 Oder man wies auf die die Verschränkung von Mütterlichkeit und Künstlertum hin und interpretierte den Kindesmord als einen Ausdruck "des künstlerischen Autismus" (Balzer 1981: 178). Dieser Interpretationsstrang ist eine Weiterführung der Thesen von Julia Kristeva, die auch Gemeinsamkeiten zwischen der poetischen Sprache und dem mütterlichen Körper erforschte und betonte, dass beide an der Vermittlung des symbolischen Gesetzes beteiligt sind.24 Kolmars Die jüdische Mutter wurde auch im Kontext der populären Literatur und Kunst der Weimarer Republik betrachtet und in Bezug auf das Motiv des Lustmords untersucht.25 Worauf ich mich im Weiteren fokussieren möchte, ist die schon angesprochene Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit in der Konstruktion der Protagonistin.




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Die Analyse ihrer Ambiguität kann nämlich verhelfen, Kolmars literarische Strategien schärfer zu konturieren, mithilfe derer sie versucht, für das Unsägliche, Tabuisierte und Verdrängte einen Ausdruck zu finden.


4 Die Andere

Kolmars Romanfigur Martha ist eine Kombination verschiedener Elemente. In ihr schichten sich viele Anspielungen auf bestimmte in der Kultur zirkulierende Frauenbilder und -motive auf. Dabei werden sie von der Autorin nie ganz übernommen, sondern jeweils immer etwas modifiziert, so dass sie inhärente Widersprüche aufweisen und ihre eigene Klischeehaftigkeit enthüllen.

So ist die Hauptprotagonistin zum Beispiel als Heilige und Femme fatal zugleich dargestellt. Es geht nicht nur darum, dass sich diese Motive durch ihre Verbindung gegenseitig aufheben. Sie werden vielmehr in ihrem "Inneren" infrage gestellt, indem sie im Text in einer verstellten Form identifizierbar sind. Aus Marthas Beschreibungen kristallisiert sich einerseits das Bild einer heldenhaften Märtyrerin heraus, die sich der Tochter völlig aufopfert und ihr das ganze Leben unterordnet. Andererseits wird ihre an Heiligkeit grenzende Hingabe um die sinnliche Komponente ergänzt.26 In der Trauer entdeckt sie ihre erotischen Sehnsüchte, die sie bisher verdrängte, weil für sie die Rolle der Mutter mit der Sexualität nicht zu verbinden war. Erst nach dem Verlust des Kindes wird sie zu einer Femme fatal: Sie sucht sich einen Liebhaber, der ihr bei der Suche nach dem Kinderschänder und der Rache an ihm helfen soll. Sie verführt einen jüngeren Mann mit dem Vorhaben, ihn ausnutzen. Das Verhältnis zu ihm nennt sie "eine glatte Rechnung" (Kolmar 2003: 159) und stellt mit Kalkül fest: "Er soll meinen Willen tun, und ich muss dafür zahlen" (Kolmar 2003: 129). In dieser Beziehung nimmt sie zunächst die überlegene Position an. Es wird mehrfach betont, dass ihre besondere Anziehungskraft nicht in ihrem Äußeren besteht, sie sei "weder zärtlich noch reizend, noch wollüstig und erregend" (Kolmar 2003: 128), sondern in ihrem dominanten, unverschämten Verhalten (Kolmar 2003: 142). Bei den Beschreibungen wird vor allem ihr Körper unterstrichen – "der machtvolle, feste Leib einer alten Göttin" (Kolmar 2003: 128), der beim Liebhaber das Gefühl der Unterlegenheit hervorruft und von ihr selbst immer wieder bewundert wird, so dass in manchen Interpretationen der homoerotischer Charakter ihrer libidinösen Empfindungen hervorgehoben wird.27




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In Bezug auf Marthas Verhalten kann man aber nicht ganz vom selbstbewussten Auftreten des weiblichen Subjekts, einer Femme fatale sprechen, denn der Verführung liegt wieder die Vorstellung von ihrer absoluten Hingabe an das Kind zugrunde. Sie spricht mit dem Liebhaber ausschließlich über die verstorbene Ursa und ist davon überzeugt, dass diese Bekanntschaft eine weitere Etappe ihrer Aufopferung für die Tochter ist – "Ich tu’ es für dich... für dich...!", wiederholt sie beinahe obsessiv vor sich hin (Kolmar 2003: 136). Sie möchte den Mann in skrupelloser Weise für ihre Zwecke in Anspruch nehmen, macht das aber wieder um des Kindes willen. Der Liebhaber wirft ihr auch das vor, sie sei "das schamloseste Weib" und zugleich "das anständigste" (Kolmar 2003: 142).

Jeder Frauentypus, der im Text implizit suggeriert wird, ist demnach in sich widersprüchlich. Die Protagonistin schwankt zwischen den Extremen, zwischen dem Bild der Heiligen und dem der verhängnisvollen Frau. Sie hat manche Züge von jeder dieser Figuren und entspricht gleichzeitig keiner von denen ganz – sie ist sozusagen "weder noch" und "sowohl als auch" in einem. Ihre Verfasstheit konstituiert sich in dieser Spannung, die man versuchen kann, in Oxymora wiederzugeben: verführerische Märtyrerin und ehrenhafte Femme fatal.

Darüber hinaus wird in Marthas Konstruktion noch ein anderes Motiv angedeutet. In ihrer Wahrnehmung als Frau spielt die jüdische Abstammung eine große Rolle – der Liebhaber führt beispielsweise ihr verführerisches Verhalten darauf zurück. Daher lassen sich im Text Spuren vom Motiv "der schönen Jüdin" finden, das aber wieder in einer modifizierten Form vorkommt. Ihre Anziehungskraft und erotische Ausstrahlung, die als "vom Blut bedingt" erklärt werden (Kolmar 2003: 144), stehen im Gegensatz zu ihrem Aussehen. Es wird mehrfach im Roman betont, dass sie weder jung noch schön ist. Schon in den ersten Szenen beschwert sich Marthas Tochter über andere Kinder, die sich über ihre Mutter lustig machen, dass sie hässlich sei, was sie nicht nachvollziehen kann (Kolmar 2003: 14). Darauf, was ihre Hässlichkeit genau ausmacht, wird nicht ausführlich eingegangen: Hervorgehoben wird nur häufig ihre besondere Größe, man bezeichnet sie sogar als "eine Riesin" (Kolmar 2003: 144), und ihr unfeines Erscheinungsbild, das in Ausdrücken "derbes Weibsbild", "mächtig knallrote Arme", "grobschlächtige, harte Züge" charakterisiert wird (Kolmar 2003: 125). Sie wirkt im Allgemeinen männlich und wird im Tanzlokal als Transsexuelle wahrgenommen. Sie wird auch mit Adjektiven "herb" und "schweigsam" beschrieben. (Kolmar 2003: 16)




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Ihr Schwiegervater, das Oberhaupt einer bürgerlichen deutschen Familie, sagt über sie Folgendes: "Alttestamentarisch sieht sie schon aus; sie müsste Lea, nicht Martha heißen" (Kolmar 2003: 17). Im Vergleich mit Lea, die in der biblischen Geschichte der Gegensatz zu ihrer schönen Schwester Rahel war, lassen sich antisemitische Stereotype hören. Das Hässliche an Martha wird im Roman aber immer wieder mit den Verweisen auf ihre "innere Schönheit" kompensiert – auf ihre Aufopferungsbereitschaft für das Kind.

Im Kolmars Text sind demnach Anspielungen auf das Motiv "der schönen Jüdin" zu finden, die aber nicht ganz schön und nicht ganz Jüdin ist. Die Autorin skizziert nämlich ein eher zwiespältiges Verhältnis ihrer Protagonistin zum Judentum. Einerseits ist Martha eine assimilierte Jüdin, die an der jüdischen Tradition nicht festhält. Sie feiert keine Sitten und Bräuche, geht nicht in die Synagoge, der Glaube scheint ihr im Allgemeinen gleichgültig zu sein. Ihr starker Assimilationswille drückt sich auch in ihrem Namenwechsel aus: Sie lässt sich von Mirjam auf Martha eindeutschen. Andererseits ist sie tief in der jüdischen Kultur verankert. Trotz ihrer Anpassungsbemühungen nimmt sie sich selbst ständig als Jüdin wahr und wird auch von den anderen vor allem durch dieses Prisma betrachtet. Obwohl sie sich vom Judentum abtrennen möchte, kann sie es nicht tun:

Sie ließ ihren Glauben doch nicht. Denn er war ihr nicht angezogen so wie ein Kleid, das man auswachsen oder verschleißen und leichthin abwerfen kann, sondern war mit ihr geworden wie eine Haut, verwundbar, doch unverlierbar, unlöslich. (Kolmar 2003: 19)

Sie ist mit ihrem Glauben eins geworden: Er ist die Konstante, der unzertrennbare Teil ihrer Identität, der – um die Metapher der Haut weiterzuführen – ihr ganzes Handeln umhüllt und den Rahmen bildet. Über ihre starke Verwurzelung in der jüdischen Tradition ist sie sich selbst häufig nicht im Klaren: "Sie wusste doch kaum, dass der Väterglaube mit ihr, ein Teil ihrer selbst geworden ist, dass bloßes Verlierenmögen nichts nützte" (Kolmar 2003: 84f). Sie wird unbewusst von der Kultur gesteuert, in der sie aufgewachsen ist. Ihre Gebundenheit an Tradition äußert sich vor allem auf der Ebene der Mutterschaft: Auch wenn ohne feste innere Überzeugung verhält sie sich "traditionsgemäß" und besteht zum Beispiel darauf, dass Ursa nicht getauft wird. (Kolmar 2003: 20)




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Direkt nach Judaismus gefragt, weiß sie nicht viel und assoziiert ihn nur mit Legenden von Schriftkundigen und Wunderrabbis (Kolmar 2003: 178), aber sie versucht, die Tochter in diesem Glauben zu erziehen, weil sie meint, dass "ihr Kind den Glauben daheim, nicht in der Schule empfangen sollte" (Kolmar 2003: 84). Deshalb liest sie ihr abends das Alte Testament, und zwar die Geschichte über König Salomon und sein Urteil über zwei Frauen, die sich Mütter eines Kindes nannten (Kolmar 2003: 84). Der Auswahl dieser Stelle in der Bibel ist im Kontext des Romans symbolisch: Es geht zum einen um die analoge Hingabe der Mutter für das Kind, die das eigene Leben seinetwegen riskiert. Zum anderen wird dadurch aber auch auf die besondere Rolle der Mütter im Judaismus verwiesen – die jüdische Abstammung wird matrilinear fortgesetzt. Auch nach dem Verlust des Kindes hält Martha an ihrem Glauben fest: Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit und Rache sind von alttestamentarischer Strenge geprägt.

Das Jüdischsein determiniert nicht nur ihre Selbstwahrnehmung. Ihre Herkunft ist auch entscheidend für das Umfeld: Sie wird in der Gesellschaft als Jüdin stigmatisiert und daher als Außenseiterin positioniert. Den Zustand ihres Ausgeschlossenseins versinnbildlicht ihr Wohnort am Rande von Berlin. Am öffentlichen Leben nimmt sie kaum teil: Es wird ausdrücklich betont, dass sie kein Radio hört, nicht ins Kino, ins Kaffeehaus oder zu Bekannten geht (Kolmar 2003: 19). Sie ist auch nicht gesellig: Zum einen bevorzugt sie in ihrer, vom Elternhaus ihres Mannes nicht akzeptierten, Ehe einsam daheim zu bleiben. Zum anderen kümmert sie sich, als das Kind geboren wird, ausschließlich um dieses. Sie pflegt ihre Unzugänglichkeit – es ist die Rede von ihrer "Versperrtheit" und "Abseitigkeit" (Kolmar 2003: 146). Von Umgebung wird sie als die Andere wahrgenommen – ihr Ehemann spricht über sie Folgendes: "Es war ein Seltsames da, ein Fremdes, etwas... er suchte den Namen dafür. Dies vielleicht, dass sie aus anderem Blut, dass sie Jüdin war" (Kolmar 2003: 19). Ihre Fremdartigkeit wird auf den Glauben zurückgewiesen und so entsteht ein geschlossener Kreis: Sie wird vom Gesellschaftsleben ausgeschlossen, weil sie Jüdin ist, und da sie aber als jüdisch – gleichgesetzt mit fremd – gebrandmarkt ist, radikalisieren sich ihre Vorstellungen vom Glauben. Martha ist sich ihrer Position als die Andere und Abseitsstehende bewusst und nimmt sie an: Sie bekennt sich zum Judentum, sieht es als Teil ihrer Identität an und, trotz der anfangs angedeuteten religiösen Gleichgültigkeit und dem Wunsch nach Assimilation, versucht sie ihre Tochter in der jüdischen Tradition zu erziehen. Man kann meinen, mit der sich anpassenden Überlebensstrategie möchte sie gänzlich die potenziellen Konflikte vermeiden.




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Sie stört aber gleichzeitig das Anderssein der anderen gesellschaftlich Ausgeschlossenen, wie der Transsexuellen, Geisteskranken und Homosexuellen, sodass sie darauf gewalttätig reagiert. Aussagekräftig ist zum Beispiel die Szene in einem Tanzlokal, in der sie einen Transvestiten, der sie zum Tanz aufgefordert hatte, blutig schlägt (Kolmar 2003: 126). Oder die Beschreibung ihrer verständnisvollen und gutheißenden Reaktion auf die Pressenotiz, in der der Fall einer älteren Mutter beschrieben wurde, die ihren homosexuellen Sohn umgebracht hatte (Kolmar 2003: 67). Diese starken, auf den ersten Blick paradoxen Vorurteilsreaktionen seitens der Protagonistin versucht Monika Shafi in ihrer Studie mit dem Begriff "des jüdischen Selbsthasses" zu erklären: Die Leidensgeschichte des auserwählten Volkes verursache, dass die Juden mangelnde Toleranz für das Anderssein von sich selbst und der anderen aufweisen würden. Deshalb müssten sie sich in die Bastion der Andersartigkeit zurückzuziehen und seien darauf anfällig, der schon im Voraus als feindlich eingestuften Umgebung mit Rückzug und Resignation zu begegnen.28 Mit anderen Worten: Mit klischeehaftem Verhalten den "Andersartigen" gegenüber tröstet Kolmars Protagonistin ihren eigenen Zustand des Ausgeschlossenseins.

Diese einleuchtende Interpretation möchte ich weiterführen und bemerken, dass sie darin nicht nur ihren Trost, sondern auch die einzige Chance ihrer Identitätsbildung sieht: Das Anderssein ist ein Bestandteil ihres Selbst – dieser Weg ist einerseits ein Zwang der Umgebung, andererseits auch ihre Wahl. Deshalb ist sie bereit darum zu kämpfen, dass das Ausgeschlossensein und die Entfremdung ihre unteilbare Domäne bleiben. Sie definiert sich nämlich durch das Fremd- und Anderssein. Mann kann ergänzen, dass – aus feministischer Perspektive betrachtet – dieser Status immer mit Weiblichkeit verbunden war, um nur den Titel des Werks von Simone de Beauvoir Der andere Geschlecht in Erinnerung zu rufen.

Das Anderssein von Kolmars Protagonistin resultiert aus ihren krampfhaften Versuchen der Selbstbestimmung. Sie bezeichnet sich zwar ständig als die jüdische Mutter, beharrt jedoch konsequent auf ihrer eigenen Meinung und wiederholt sie wie ein Mantra. Sie ist sich zugleich dessen bewusst, dass diese Bezeichnung nicht gerade selbstverständlich zu ihr passt. Sie ist zu assimiliert, zu ungläubig, hat kein Kind mehr – sie ist demzufolge eine Abweichung, eine Ausnahme, "die andere" eben. Ihr besonderer Status entkommt den klassisch verstandenen Schemata, die auf diese Weise hinterfragt werden, weil sie auf einmal die individuelle Erfahrung nicht mehr beinhalten können.




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Ihre Unangepasstheit an vorgegebene Rollen kulminiert in der letzten Szene. Kurz bevor sie sich in die Spree stürzt, wird über sie gesagt: "Sie war doch nicht Arbeiterin, Photographin, war keine Welkende, keine Witwe und nicht eines Mannes Geliebte mehr und keine Verzweifelnde, Arme" (Kolmar 2003: 192). Die Reihe von Negationen hebt hervor, dass sie sich mit keiner Zuordnung identifizieren kann und will. Auch mit anderen Bildern von Weiblichkeit kann man sie nicht fassen – sie hat nur manche Züge von denen, entspricht ihnen aber doch nie ganz und ist anders: Für die Femme fatale ist sie zu anständig, für die Heilige zu sinnlich, für den Typus einer großstädtischen emanzipierten Angestellten zu konservativ, für das traditionelle Mutterbild als Alleinerziehende wiederum zu modern, für "die schöne Jüdin" zu alt, zu unattraktiv, zu unfein – oder, wie es formuliert wird, zu mächtig "wie ein antikes Bild" (Kolmar 2003: 88). Die Vergleiche der Protagonistin mit den antiken, mythologischen Frauenfiguren haben auch einen Einfluss auf ihre Konstitution als die Andersartige und Abweichende und werden nun im letzten Teil analysiert.


5 Der Einfluss der Mythologie

Auf die Rolle der mythologischen Elemente in Kolmars Werk wurde hier bereits hingewiesen, dass dank ihnen die unveränderbare Dimension der Trauerarbeit unterstrichen wird – die Handlung ist wie aus der Zeit gefallen und gewinnt eine universelle Aussagekraft. Ihre Anspielungen auf die Mythologie haben noch eine Funktion: Sie beeinflussen die Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung der Protagonistin, die beinahe eine Kombination von mythologischen Figuren zu sein scheint. Ich möchte mich hier auf drei Figuren konzentrieren, die als mögliches Bezugsfeld im Roman dienen und zum Teil auch explizit im Text genannt werden: Niobe, Demeter und Medea. Kolmars Protagonistin ähnelt stark den antiken Vorlagen, übernimmt von ihnen bestimmte Merkmale, wiederholt sie aber nicht ganz. Durch die Modifikation der mythologischen Vorbilder wird die Mehrdeutigkeit von Martha hervorgehoben.

Kolmars Roman wurde schon in der Forschungsliteratur in Bezug auf andere Figuren aus der Mythologie wie Isis oder Athene untersucht.29 Die von mir gewählten drei Frauengestalten scheinen mir aber im Kontext des Werks umso wichtiger zu sein, weil sie alle Mütter sind, die mit dem Verlust ihrer Kinder konfrontiert werden.




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Sie repräsentieren sozusagen verschiedene Reaktionstypen auf die Nicht-Präsenz ihrer Nachkommen: Niobe verliert in der Verehrung ihrer Kinder die eigene Identität, ist nicht mehr fähig, ohne sie weiter zu leben. Sie hat kein eigenes Ich, ihre Kinder behandelt sie mit besonderer Ehre wie "Über-Subjekte". Nach ihrem Verlust fügt sie sich passiv dem Schicksal und versteinert in Trauer. Demeter beteiligt sich dagegen aktiv an der Suche nach ihrer verlorenen Tochter, sie nimmt nicht die passive Position der Leidenden an. Als sich herausstellt, dass Persephone von ihr getrennt wird und ein neues Leben anfängt – was die Herausbildung der eigenen, von der Mutter unabhängigen Identität bedeutet – akzeptiert sie diesen Zustand. Sie nimmt ihr Kind als Subjekt wahr. Im Gegensatz zu Demeter macht Medea aus ihren Kindern Objekte, die sie töten kann. In ihrem Verhalten ist sie "hyperaktiv", indem sie das Schicksal ihrer Nachkommen selbst verrichtet und zur Mörderin wird. Auf diese simplifizierende Weise kann man die Verhaltensmuster der mythologischen Mütter mit verlorenen Kindern wiedergeben, auf die Kolmar gezielt Bezüge nimmt und zwischen denen sich ihre Protagonistin bewegt. Wie geht sie mit diesem Bezugsfeld um?

Der Verweis auf die erste mythologische Frauenfigur wird im Roman explizit erwähnt: Wenn Martha ihren nackten Körper im Spiegel betrachtet, wird sie als "jene in Rom gefundene steinerne Niobe" bezeichnet (Kolmar 2003: 88). Dadurch, dass sie nicht beispielsweise mit Aphrodite verglichen wird, wird wieder das Thema der Unvereinbarkeit von Mutterschaft und Sinnlichkeit angesprochen. Aber nicht nur deshalb wird gerade diese Figur aus der Mythologie genannt – zwischen ihr und Kolmars Protagonistin bestehen nämlich viele Gemeinsamkeiten. Martha fokussiert sich ähnlich wie Niobe – die sich ihrer Nachkommenschaft so rühmte, dass sie von Göttern aus Eifersucht mit Tod ihrer Kinder bestraft wurde – ausschließlich auf ihre Tochter. Diese beinahe obsessive Fixierung wird durch die Verortung der Handlung unterstrichen: Sie leben zusammen am Rande der Stadt in einer idyllischen vaterlosen Einheit, entfernt von Zivilisation und Hektik. Ihre Wohnung ist asketisch, kleine Stube ohne Elektrizität, umgeben von malerischen Landschaften. Martha wird als Repräsentantin der Natur gezeigt: Sie stellt der Tochter die Welt vor und erklärt die Naturrechte, zum Beispiel in der ersten Szene unterhält sie sich mit ihr über eine tote Katze, was man als Verkündung des Unglücks interpretieren kann. (Kolmar 2003: 12)




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Ohne hier genau auf die Tiersymbolik einzugehen, die im Kolmars Schaffen genauso komplex ist wie im Fall von Kafka, lässt es sich bemerken, dass die tierischen Motive im Roman die besondere Beziehung von Martha als Mutter zur Natur signalisieren: Sie arbeitet als Tierfotografin, liebt aber nur Wildtiere und ängstigt sich vor ihnen nicht, Haustiere dagegen verachtet sie nur und bezeichnet sie als "zerbrechliche Spielsachen" (Kolmar 2003: 120). Ihr Mutterinstinkt wird oftmals als "tierisch" beschrieben.30 Sie sieht zum Beispiel wie eine Tiermutter aus, die um ihr Junges zittert (Kolmar 2003: 21). Oder sie wird häufig mit bestimmten Tierarten verglichen: mit dem märchenhaften, dunklen, wilden und fremden Elch (Kolmar 2003: 148) und mit der über ihren Welpen wachenden Wölfin (Kolmar 2003: 20). Der Vergleich mit dem Wölfischen muss jedoch nicht nur mütterliche Fürsorge bedeuten. Ähnlich wie in Kindermärchen, wie z.B. in "Rotkäppchen", die sich häufig des Gegensatzes Mutter/Wolf bedienen, kann die Erwähnung der Wölfin auch für die andere, dämonische Seite der Mutterschaft stehen – für die verdrängten Gewaltfantasien, Machtansprüche oder Gefühle der Hassliebe.

An dieser Stelle kristallisiert sich der erste Unterschied zwischen Kolmars Protagonistin und Niobe heraus: Marthas Liebe zur Tochter wird nämlich als zwiespältig dargestellt. Sie glorifiziert das Kind, opfert sich für es auf, schenkt ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, treibt um es einen "Götzendienst". In ihrer Verhaltensweise schwingen aber neben altruistischer Hingabe auch egoistische Motive mit, wie der Wunsch nach der totalen Kontrolle über den anderen Menschen. Sie möchte die einzige Bezugsperson ihrer Tochter sein, deshalb schließt sie sie beinahe ein und verhindert den Kontakt zur Außenwelt – Ursa fährt beispielsweise kaum in die Stadt. In manchen Romanbearbeitungen spricht man sogar in Bezug auf Martha von der "absoluten Macht der Mutter, welche das Kind an sich bindet und ihm nur wenig Spielraum lässt" (Shafi 1995: 197). Kolmar scheint noch an einem anderen Punkt den Niobe-Mythos zu verändern: Ihre Protagonistin und die mythologische Figur verbinden die Tragik der Ereignisse und die Intensität der Trauer. Im Gegensatz zur antiken Mutter "versteinert" Martha nicht nach dem Verlust des Kindes, das heißt, sie wird nicht passiv. Im Gegenteil, die Trauer löst ihre Aktivität aus: Früher ergriff sie in ihrem Leben nur selten Initiative. Man kann den Eindruck bekommen, dass manche Lösungen auf der Ebene der Handlung aus ihrer Lethargie resultieren. Ihr Ehemann "muss" zum Beispiel sterben, denn die Scheidung kommt für sie – trotz so vieler die gesellschaftlichen Tabus brechenden Themen im Roman – gar nicht infrage. Außerdem ist sie zwar berufstätig, aber die Arbeit ist für sie als Witwe nur eine ökonomische Notwendigkeit und keine Selbstverwirklichung oder Entfaltungsmöglichkeit.




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Ihren Beruf übt sie nur deshalb aus, weil er sie finanziell unabhängig macht. Die Verhältnisse, in denen sie sich bewegt, sind äußerst "modern" – sie arbeitet in einem Fotoatelier und hat eine verständnisvolle Chefin (!). Sie selbst ist jedoch weder progressiv, noch emanzipiert, noch ambitioniert. Erst der Verlust der Tochter bringt eine Wende in ihrem Leben: Sie definiert sich immer noch durch die Vorstellung von ihrer Mutterrolle, aber sie wird deutlich aktiver. Sie sucht den Täter, die Kontakte zur Außenwelt und vor allem die eigene Identität, indem sie sich selbst zu reflektieren beginnt.

Die nächste mythologische Mutterfigur, mit der Martha Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede aufweist, ist Demeter. Genauso wie die Göttin der Fruchtbarkeit und des Ackerbaus sucht sie nach ihrer von männlicher Macht mit Gewalt entführten Tochter. Im Mythos gewinnt die Mutter teilweise die Rückgabe von Persephone, die dann die Hälfte des Jahres bei ihr und die zweite in der Unterwelt verbringt. Auch Ursa kehrt zum Teil aus dem Totenreich zurück, und zwar dank der Fotografie, die Martha immer dabei hat. Das Medium der Fotografie verbirgt in sich nämlich eine Art von Ewigkeit oder eher Zeitlosigkeit, denn sie verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft.31 Auf dem Foto sieht Martha ihre Tochter noch lebend und fürchtet sich vor ihrem Tod, der schon passiert ist. Mit der Aufnahme geht sie wie mit einer Reliquie um – von der Fotografie strahlt eine besondere Aura von Leben, die folgendermaßen beschrieben wird:

Die Photographie war gut. Und ihr bangte davor. Sie fürchtete, dass dieser glatte Abdruck sich einschleichen wurde, tückisch, voll List, unmerklich in ihr Gedächtnis, vertreiben das arme Kind, das immer doch in ihr war und lebte, an seine Stelle sich drängen. (Kolmar 2003: 161)32

Die Protagonistin hat beinahe Angst vor der Ausdruckstärke der Fotografie, die das Bild der Tochter in ihrer Erinnerung ausblenden und verdrängen kann. Trotzdem wird die Fotografie als gut bezeichnet und das kann man nicht nur in Bezug auf ihre Qualität interpretieren. Das Gute an ihr kann auch die Tatsache sein, dass die Tochter sozusagen nur auf diesem Foto und dank ihm weiterlebt. Die Fotografie verleiht nämlich dem sterblichen Körper eine Art von Materialität und ewiger Existenz – einen zeitunabhängigen, immer fortdauernden Zustand zwischen Leben und Tod.33 Daher vermittelt sie den Eindruck, die fotografierte Person würde auferstehen.




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Dieses Oszillieren zwischen der Vergänglichkeit und Präsenz, zwischen der Lebendigkeit und Leblosigkeit im Motiv der Fotografie kann man als eine bildhafte Umsetzung oder Widerspiegelung des wiederkehrenden Wechsels zwischen dem irdischen und unterirdischen Reich in der Demeter-Geschichte betrachten.

Was aber den Unterschied zwischen Martha und der antiken Figur bildet, ist der Aspekt der Identitätsbildung: Der Mythos über Demeter diente in der Antike zur Veranschaulichung des Prozesses der Loslösung von der Mutter-Tochter-Dyade: Die Tochter wird von der Mutter getrennt, um die eigene, von der Mutter unabhängige Identität zu finden. Im Roman kann davon nicht die Rede sein: Marthas Tochter wird nämlich nicht als Individuum dargestellt, sie ist erst fünf Jahre alt und in "der Phase ausschließlichen Mutterbindung" (Lackner 2003: 56–58 ). Es lässt sich aber vermuten, dass Martha in Zukunft die Herausbildung ihrer Identität nicht ohne Probleme zulassen würde. Darauf weist zum Beispiel die Szene hin, in der Martha eine Dame auf der Straße erblickt und glaubt, Ursa als junge Frau zu beobachten. Sie folgt ihr heimlich nach und ist entsetzt, als sie merkt, dass sie sich mit einem Liebhaber trifft. Ganz in Gedanken über das potenzielle Erwachsenwerden der Tochter versunken geht sie dem Paar noch weiter nach, "eifersüchtig, vernunftlos wie eben ein heißer Jäger dem Wild, ein Krieger dem glühend gehassten Feinde, wie die kranke Betrogene dem untreuen Freund und seiner frischen Geliebten" (Kolmar 2003: 105/106). Die Wortwahl verdeutlicht die Zwiespalt ihrer Gefühle: Sie sehnt sich nach ihrer Tochter, aber sie kann sich ihre Adoleszenz, Sexualität, überhaupt ihre von ihr unabhängige Existenz nicht vorstellen – sie würde das als Verrat ihrer mütterlichen Liebe empfinden. Außerdem ist es im Text auffällig, dass über Ursa stets im Neutrum gesprochen wird: In Marthas Äußerungen taucht statt des Wortes die Tochter vor allem die Bezeichnung das Kind auf (z. B.: Kolmar 2003: 66, 75, 85), als ob sie Ursa jede Bestimmung als Person verweigern würde.

Die letzte hier zu erwähnende Frauenfigur aus der Mythologie, auf die Kolmar explizit Bezüge nimmt, ist Medea. Dieser Vergleich wird direkt zu Beginn des Romans gestellt. Nachdem Martha gegen die Taufe der Tochter opponiert, stellt ihr Ehemann fest: "Sie ist imstande und tötet das Kind; das ist eine Medea!"(Kolmar 2003: 20). Diese Bemerkung bezieht sich auf ihre besitzergreifende Mutterliebe: Sie behandelt die gemeinsame Tochter wie ihr Eigentum – das war "ihr Kind, nur das ihre" (Kolmar 2003: 20).




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Mehr noch, ihrer Ansicht nach rechtfertigt die Mutterschaft alle Taten: Im Hintergrund der Handlung wird eine kurze Geschichte einer Mörderin erwähnt, die ihren Sohn wegen seiner homosexuellen Neigungen tötet. Martha zeigt tiefes Verständnis für solche Motivation und ist davon überzeugt, dass: "wenn man sein Kind sehr lieb hat, dann kann man alles. Man kann sich von ihm ermorden lassen. Man kann es auch töten" (Kolmar 2003: 68). Diese Einstellung findet den Höhepunkt in der Szene, in der sie der traumatisierten Ursa heimlich das Gift gibt. Im Nachhinein kann sie damit nicht fertig werden, ob sie einen Gnaden- oder Mordakt begangen hat. Die Rekonstruktion ihrer Moralvorstellungen wäre ein Thema für sich, im Kontext meiner Überlegungen ist aber nur Marthas zwiespältiger Umgang mit der Tochter hervorzuheben, die sie zum einen bedingungslos glorifiziert und über die sie zum anderen wie über ein Objekt disponiert.

Der aus dieser Haltung resultierende Kindesmord ist eine gemeinsame Erfahrung, die sie mit Medea teilt. Das ist aber eine Ähnlichkeit, die nur die Oberfläche der Handlung anbetrifft. Kolmar scheint nicht ausführlicher in die mythologische Geschichte eingreifen zu wollen und auf ihr subversives Potenzial zu verzichten. Im Mythos kann man nämlich Medea als Symbol der "widerständigen Frau" deuten, die sich durch ihre Tat an der patriarchalen Ordnung rächt.34 Das passt nicht zur Konstruktion der Protagonistin. Marthas Verhalten kann sich daran nicht orientieren, denn ein Element ihrer Tragik ist die Wehrlosigkeit, die Unmöglichkeit des Widerstands gegen die Frauenrollen und -muster, in die sie immer wieder eingefangen wird. Ihre Ausweglosigkeit verdeutlicht zum Beispiel der Schluss des Romans: Nachdem Ursa gestorben ist, bekennt sie, von Gewissensbissen gequält, ihrem Liebhaber die Schuld und sagt: "Ich habe mein Kind ermordet, Albert. Das bekenne ich dir. Nun bin ich in deinen Händen" (Kolmar 2003: 187). Durch das Geständnis will sie sich vom Stigma der Mutterschaft befreien und die Tochter schließlich mental begraben. Sie zerreißt sogar das Foto von Ursa, um sich symbolisch von der Mutterrolle loszulösen. Zugleich beweist sie aber ihre Verfügbarkeit und Hingabe an den Mann, der ihre Erklärungen ablehnt. Ihre Geste – die Erwartung des Urteils von Außen – kann man daher nicht als widerständig oder emanzipatorisch bezeichnen, denn sie versinkt wieder in das nächste Schema der zurückgewiesenen Geliebten.

Kolmars Anspielungen auf die mythologischen Mutterfiguren kann man im historischen Kontext betrachten. Zur Entstehungszeit des Romans wurde nämlich der Diskurs über die Weiblichkeit und Mutterschaft in der öffentlichen Debatte häufig im Zusammenhang mit Mythologie gebracht.




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Einen wichtigen Einfluss in dieser Hinsicht hatten die Wiederentdeckung und intensive Rezeption der Schrift von Johann Jakob Bachofen Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, die 1861 erstveröffentlicht und in den zwanziger und dreißiger Jahren mehrfach neu aufgelegt wurde. In diesem Werk untersucht der Rechtshistoriker und Altertumswissenschaftler aus Basel die Periode des Matriarchats im Mittelmeerraum, die seiner Meinung nach den patriarchalen Formen vorausging und die er in drei Stufen unterteilt: die Phase der Aphrodite, Amazonas und Demeter.35 Seine Mythendeutungen wurden später von der NS-Propaganda aufgegriffen, ins Deutsch-Nationale übersetzt und fanden dann ihr Echo auch im fatalen Mutterschaftskult. Im Roman Die jüdische Mutter übernimmt Kolmar sozusagen diese Denkweise, in der man über die Mutteridentität durch Vergleiche mit Mythen spricht – aber nicht weil sie der damaligen Rhetorik unkritisch gegenüberstand, sondern weil sie gerade diese Vorstellungen zu hinterfragen versuchte.

Ihre Protagonistin ist ein Mosaik aus verschiedenen Bruchstücken: In ihr mischen sich Elemente aus vielen Frauenfiguren, nicht nur aus der Mythologie. Sie ist demnach "ein Produkt der Kultur", die seit je her in die Sphäre der Mutterschaft eingriff und die Vorstellungen von Muttersein beeinflusste. Die Anhäufung von Anspielungen bei Kolmar verdeutlicht, dass es kein festes Bild von der Mutter-Kind-Beziehung gibt. Im Gegenteil, diese Relation wird als kulturell bedingt dargestellt: Sie ist von einer ganzen Reihe der tradierten Verhaltensmuster und Identitätsschablonen geprägt, die mit der Erfahrung des Individuums nicht immer übereinstimmen. Die Summe von Marthas Erfahrungen machen Aspekte aus, die mit der Unaussprechbarkeit und Verdrängung verbunden sind, wie die Trauer nach dem Verlust des Kindes oder das Jüdischsein. Auf der Suche nach den Ausdrucksformen für das Unsägliche drängen sich sofort die in der Kultur fest verankerten Schemata auf, die das Unvorstellbare einordnen, es mitteilbar machen, das Singuläre der Erfahrung aber gleichzeitig verfallen lassen. Deshalb bewegt sich Kolmars Protagonistin zwischen den "alten Lösungen": Sie ist wie in bestimmten Rollen und Bildern verschlossen. Es gibt für sie keinen Ausweg daraus, kein Entrinnen von diesen Strukturen. Sie wiederholt daher die bekannten Szenarien und ähnelt beispielsweise den mythologischen Figuren. Doch wird im Roman diese Unausweichlichkeit von den kulturellen Vorlagen, mit deren Hilfe die Trauer oder Mutterschaft beschrieben werden, durch kleine Abweichungen unterbrochen: Martha hat viele Gemeinsamkeiten mit den antiken Mutterfiguren, wiederholt jedoch ihre Verhaltensweisen nicht ganz.




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In den Anspielungen auf jede dieser Figuren werden die mythischen Geschichten etwas verändert, andere Aspekte werden stärker akzentuiert oder durch die Aufschichtung der intertextuellen Bezüge entstehen neue Spannungen, Dynamiken und Widersprüche, die eine andere Mythendeutung vorschlagen. In dieser Hinsicht kann man demnach in Kolmars Roman die Versuche der Umschreibung der Mythen und der daraus resultierenden Entmythisierung der Mutterbilder und der Mutterschaft finden. Diese Themen, am Rande markiert, werden in vielen Forschungsarbeiten vor allem der Gegenwartsliteratur zugeschrieben.36 Obwohl die Protagonistin letztendlich scheitert und Selbstmord begeht, kann man in ihrem Verhalten doch das subversive, fast utopische Potenzial sehen: Durch ihre Unangepasstheit und ihr Abweichen von den vorgegebenen Schablonen und Formaten – sie ist nicht ganz eine Mutter, Jüdin, Femme fatale, Märtyrerin, Niobe, Demeter, Medea, usw. – wird die Begrenztheit solcher Zuordnungen verdeutlicht und die Komplexität und Mehrdeutlichkeit der individuellen Erfahrung hervorgehoben.


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Müller, Heidy Margrit (1991): Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München: Iudicium Verlag.

Nowak, Silke (2007): Sprechende Bilder: zur Lyrik und Poetik Gertrud Kolmars, Göttingen: Wallstein Verlag.

O'Connor, Suzanne (2010): Silence, Self and Sacrifice in Gertrud Kolmar’s Prose and Dramatic Works. PhD: The National University of Ireland Maynooth. Zugänglich unter: http://eprints.nuim.ie/2272/1/SuzanneOConnorPDF.pdf [3.03.2014]

Schmidt, Ricarda (1996): "Die böse Mutter. Zur Ästhetik sadomasochistischer Mutter-Tocher-Beziehung in literarischen Texten aus dem Kontext der Frauenbewegung". In: Roebling, Irmgard (Hg.): Mutter und Mütterlichkeit: Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Festschrift für Verena Ehrich-Haefeli, Würzburg: Königshausen & Neumann, 347–358.




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Shafi, Monika (1995): Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk. München: Iudicium Verlag.

Sideri, Ourania (2012): "Allegorie und Wahrheit in Die jüdische Mutter". In: Kambas, Chryssoula, Brandt, Marion (Hg.): Sand in den Schuhen Kommender: Gertrud Kolmars Werk im Dialog, Göttingen: Wallstein Verlag, 143–160.

Steinkämper, Claudia (2012): "Die jüdische Mutter im Kontext der Lustmord-Literatur". In: Kambas, Chryssoula, Brandt, Marion (Hg.): Sand in den Schuhen Kommender: Gertrud Kolmars Werk im Dialog, Göttingen: Wallstein Verlag, 121–142.

Stephan, Inge (1997): Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln u. a.: Böhlau Verlag.

Szewczyk, Grażyna B. (2000): "Der Mythos der Mutterschaft zwischen Heiligkeit und Profanität". In: Czarnecka, Mirosława (Hg.): Mutterbilder und Mütterlichkeitskonzepte im ästhetischen Diskurs. Wrocław: ATUT, 9–18.

Toth, Johannes (1986): Gestalt und Rolle der Mutter im Roman des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Lang.

Wagner, Jan (2003): "Du blätterst einen Menschen um" in Frankfurter Rundschau: 26.11.2003. Zugänglich unter: http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/daslyrischewerk-r.htm [3.03.2014]

Woltmann, Johanna (1995): Gertrud Kolmar – Leben und Werk. München: Wallstein Verlag.


Anmerkungen

1 Die Ausdrücke "die zu entdeckende" oder "der Geheimtipp" in Bezug auf Kolmars Roman benutzt beispielsweise Jan Wagner in seiner Rezension (Wagner 2003).

2 Das gesamte lyrische Werk wurde 2003 in einer dreibändigen Ausgabe von Regina Nörtemann in Wallstein Verlag herausgegeben.




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3 Zwei Beispiele für Vertonungen von Kolmars Gedichten: Wolfgang Steffen "Gertrud-Kolmar-Kantate op. 65" für Sopran, gemischten Chor, Orchester und Orgel (Erstaufführung: 27.09.1987, Berlin). Julian Marshall "Out of the darkness" – Kantate für acht Stimmen und zwei Celli (Prämiere: März 2009, Kathedrale von Winchester).

4 Das Stück von Cornelia Naumann "Liebe Trude" wurde 2003 im Teamtheater Tankstelle in München uraufgeführt.

5 Mehr zur Rezeptionsgeschichte von Kolmars Oeuvre siehe Jäger 1998.

6 Zum Beispiel 2010 fand die Tagung "Fremd unter den Menschen: Die Dichterin Gertrud Kolmar" in Weimar statt. In letzter Zeit sind auch viele Veröffentlichungen über Kolmars Werk erschienen wie Daffner 2012 oder der von Chryssoula Kambas und Marion Brandt herausgegebene Sammelband Sand in den Schuhen Kommender: Gertrud Kolmars Werk im Dialog (Göttingen: Wallstein Verlag 2012).

7 Diese Bezeichnung taucht beispielsweise in der Rezension von Manfred Koch auf. Er schreibt ironisch, dass die Literaturgeschichte die Einteilungen liebe, vorzüglich in Dreiergruppen, und daher auch Gertrud Kolmar ihr Trio finden müsste (Koch 2003).

8 Vgl. Frantz 1997 oder O'Connor 2010.

9 Vgl. Dischereit 2003: 207. Außerdem wird es noch häufig auf den Namen von Marthas Tochter hingewiesen, der auch eine symbolische Bedeutung beinhalten kann. Ursa bedeutet Bärin, also das Wappentier Berlins – ein mütterliches Wesen, das ihr Junges, die Stadt beschützt. Über Ursas Namenbedeutung und Berlinmotivik im Kolmars Roman siehe Breysach 2012: 169.

10 Der Name "Wolg" erinnert auch an das Wort "Wolf" – auf die Verbindung der Mutterschaft und des Wölfischen im Roman wird noch später eingegangen. Auch die Autorin selbst hat ihren Nachnamen gewechselt: Früher hieß sie Gertrud Chodziesner, von der polnischen Ortschaft Chodzież, aus der die Vorfahren ihres Vaters stammten. Kolmar ist die deutsche Entsprechung des Ortsnamens. Der Namenwechsel markiert ihre Assimilationsversuche und den Übergang vom polnisch-jüdischen zum deutsch-preußischen Kulturkreis.

11 Es handelt sich um den spät entdeckten Gedichtzyklus "Das Wort der Stummen", der sich im Nachlass von Hilde Benjamin handschriftlich erhalten hatte und erstmals 1970 im Verlag Der Morgen herausgegeben wurde. Zur Besprechung dieses Zyklus Fiala-Fürst 1996.

12 Zu diesem Thema vgl. auch das Kapitel "Das entwertete Bild. Zur poetologischen Implikationen des national-antisemitischen Mutterbildes" in Silke Nowaks Abhandlung über Kolmars Werk (Nowak 2007, 201–232).




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13 Vgl. die Analyse des Motivs der Mutter in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende (Catani 2005: 119–124). Die Mutterfigur spielte damals zwar in den literarischen Texten keine zentrale Rolle, es lassen sich aber schwer Beispiele finden, in denen sie nicht präsent wäre (Toth 1986: 14). Und wenn manche Werke die Mutterschaft schon thematisierten, wurden sie marginal rezipiert und gehören nicht zum literarischen Kanon (Müller 1991: 12–13).

14 Beispielsweise stellt Ricarda Schmidt in ihrem Artikel etwas pauschalisierend fest, dass "erst die Frauenbewegung den Blick für die Relevanz des Themas [der Mutter-Tocher-Beziehung] sowie für den Wert literarischer Arbeiten [schärfte]" (Schmidt 1996: 348).

15 Nach einer Affäre mit dem Offizier Karl Jodel nahm Kolmar auf Wunsch ihrer Eltern eine Abtreibung vor. Das ungeborene, verhinderte, verlorene Kind ist ein häufiges Thema in Kolmars Werken.

16 Siehe Miller 1986.

17 Der Roman wurde ins Englische von Brigitte Goldstein übersetzt und 1997 veröffentlicht (New York u. London: Holmes & Meier).

18 Siehe Grossman 2013.

19 Vgl. Loraux 1992: 27–45.

20 Mehr dazu siehe Eco 2007: 63–84.

21 Vgl. Bauman 1996.

22 Diese Formulierung wird von Butler in Bezug auf die Konstruktion der Geschlechtsidentitäten benutzt und kommt im folgenden Satz vor: "Wenn also die regulierenden Fiktionen von Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) selbst vielfältig angefochtene Schauplätze der Bedeutung sind, bietet gerade die Mannigfaltigkeit ihrer Konstruktion die Möglichkeit, mit ihrer Pose scheinbarer Eindeutigkeit zu brechen" (Butler 1991: 59). Butlers Bemerkung lässt sich auf die Konstruktion der Mutterschaft übertragen und auf die literarische Strategie von Kolmar, die im Roman durch die mehrdeutige Konstruktion ihrer Protagonistin gegen die eindeutige Betrachtung der Mutterschaft stößt.

23 Vgl. Hoffmann 1996.

24 Siehe Kristeva 1978: 38–39.

25 Vgl. Steinkämper 2012.




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26 Die sakralen und profanen Elemente scheinen immer gleichermaßen die in der Kultur wandelnden Mutterbilder beeinflusst zu haben. Kurzer Überblick über Geschichte und Wandel des Mutterbildes im Kontext der Heiligkeit und Profanität vgl. (Szewczyk 2000: 9–13).

27 Johanna Woltmann sieht in Marthas Verhalten verdrängte homoerotische Wünsche und interpretiert die Vergewaltigung ihrer Tochter als "eine Projektion verdrängter, abgespaltener und abgewehrter inzestuöser Wünsche" (Woltmann 1995: 160).

28 Siehe Shafi 1995: 202. Bei der Argumentation beruft sich Shafi auf Hannah Arendts Bezeichnung "consolations of closure", mit der die Philosophin Rahel Varnhagens resignative und zurückgezogene Haltung der gesellschaftlichen Stigmatisierung als Jüdin gegenüber kritisierte.

29 Vgl. Martha und Isis: Sideri 2012: 154-159. Martha im Vergleich mit Athene als Symbol des humanistischen Bildungsstrebens und des Wunsches nach Assimilierung siehe Daffner 2012: 73-74.

30 Das Motiv des Tierischen und der Mutterschaft kommt auch häufig in Kolmars Dichtung vor, z. B. im Gedicht "Die Gesegnete" kann man folgende Zeilen finden: "O, ich will dich werfen/ So wie ein Tier und glücklich sein!".

31 Mehr zum Thema Zeit und Fotografie siehe Barthes 2009: 105 und das Kapitel 39 "Zeit als punctum".

32 Interessanterweise ist hier der Ausdruck "in ihr" doppeldeutig. Mit diesem Pronomen kann sowohl "die Photographie" als auch "Martha" gemeint werden.

33 Mehr über Fotografie zwischen Leben und Tod siehe Belting 2011: 143–188.

34 Dazu vgl. Gascard 1993: 13.

35 Mehr über den Einfluss von Bachofens Werk auf den nicht homogenen Muttermythos im Dritten Reich siehe: Galvan 1994: 3–27.

36 Zum Thema der feministischen Umschreibung der Mythen in der neueren Literatur siehe z. B. Stephan 1997.