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Chantal Marquardt (Mannheim)



Jutta Weiser / Christine Ott (Hg.) (2013): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.



Der vorliegende Sammelband reflektiert die aktuelle Autofiktionsforschung und erweitert den Untersuchungsgegenstand um die frankophone Literatur und grundlegende mediale Fragestellungen des Selbstbezugs. So werden die mediengestützte Vermarktung der Autoren wie auch multimedial operierende Werke oder bildgebende Verfahren in die verschiedenen Untersuchungen miteinbezogen und in ihrer Wirkungsweise analysiert. Im Mittelpunkt steht hierbei vor allem die Konstitution der Subjektivität unter Einfluss der Intermedialität und die Frage nach der Bedeutung der Korrelation verschiedener medialer Strategien für die Darstellung des Subjekts. Daran anschließend wird die grundsätzliche Frage nach der möglichen Authentizität der Autordarstellung, beispielsweise in Bezug auf Bildmedien, anhand einer gänzlich erweiterten Dimension reflektiert. Ein zusätzlicher Aspekt der Untersuchungen bezieht sich auf die Frage, wie sich medienwirksame Begebenheiten, die bis heute großen gesellschaftlichen Einfluss haben, auf die Formung der Identität und die literarische Selbstdarstellung auswirken können.

Der Band entstand aus der Sektion "Innenräume des Subjekts: Autobiografie und Autofiktion in der frankophonen Literatur" auf dem 7. Kongress des Frankoromanistenverbands in Essen 2010, die von den Herausgeberinnen Christine Ott und Jutta Weiser organisiert wurde. Insgesamt sind, neben der Einleitung, zehn Artikel in drei thematischen Sektionen zu finden. Gemein ist den Beiträgen, dass sich die Autorinnen vorrangig französischer Theorien zur Autobiografie, Autofiktion und Subjektkonstitution bedienen. Sowohl Lacans Spiegelmetapher, Doubrovskys Autofiktions-Theorie und die Debatte um die Vagheit des Terminus autofiction werden dabei als gedankliche Basis genutzt und jeweils in Auseinandersetzung mit den für die französische Diskussion prägenden Autobiografiekonzepten (z.B. Lejeunes "autobiografischer Pakt", Lejeune 1996: 14) und Medientheorien (z.B. Seel) diskutiert und für die Analysen herangezogen.




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In der von den Herausgeberinnen verfassten Einleitung werden zwei Arbeitshypothesen aufgestellt, die aus den im Band versammelten Analysen entwickelt wurden. Zum einen wird die These der medialen Entgrenzung der Autofiktion als Diskursmodell vertreten, der zufolge sich Doubrovskys Definition auch auf andere Formen des Selbstentwurfs, wie etwa Bildmedien, anwenden lässt. Daraus folgt, dass die Literatur intermedial geöffnet wird und Autofiktion nicht als Gattung oder Genrezuschreibung, sondern als "ein Konzept der Selbstinszenierung aufgefasst" (15) werden kann. Daran schließt die zweite These an, nach der dem Subjekt neue Spielräume und Möglichkeiten zur Selbstkonstitution geschaffen werden. Dies geschieht durch die "Weiterentwicklung der Autofiktion durch Strategien der Medialisierung und Intermedialisierung" (ebd.), also, ausgehend von Doubrovskys Konzept, durch die intermediale Ausweitung des Autofiktionsbegriffs.

Der erste Teil des Sammelbands mit dem Titel "Ästhetik der (inter-)medialen Selbstdarstellung: Visuelle Autofiktionen" enthält drei Beiträge, die sich der Autofiktion im Zusammenhang bildlicher Darstellungs- und Schreibweisen widmen. Über die textinhärente Verwendung bildgebender Verfahren wird der Zusammenhang zwischen den einzelnen Beiträgen des ersten Teils hergestellt, wobei der Bezug zum Thema des Sammelbands in allen Artikeln klar ersichtlich wurde.

Der Beitrag von Astrid Lohöffer hat die Trilogie Monsieur Melville (1978) des frankokanadischen Autors Victor-Lévy Beaulieu und die Beziehung zwischen autofiktionalem Schreiben und medialen Reflexionen zum Gegenstand. Im Werk dienen die vorhandenen bildlichen Darstellungen nicht nur der Illustration des Geschriebenen, sondern entwickeln eine eigene Dynamik: Durch die im autofiktionalen Text illustrativ eingesetzten Bildtypen wie Skizzen oder Gemälde wird die Beziehung realer Autor – Erzähler – Protagonist verdeutlicht und die Identitätssuche des Protagonisten charakterisiert. Die Autorin argumentiert, auch hinsichtlich des postkolonialen Forschungsgegenstands, für eine intermediale Betrachtung und zeigt am Beispiel des "autofiktionale[n] Ikonotext[s]" (39), wie die Konzepte Autofiktion, Selbstreflexion und Medienrealität vereint werden.

Susanne Goumegou analysiert in ihrem Beitrag Marguerite Duras' L'amant (1984) in Hinblick auf drei verschiedene Formen des Schreibens (écriture photobiographique, autospéculaire, cinéromanesque, 41). Diese rekurrieren auf jeweils unterschiedliche bildgebende Verfahren und deren Umsetzungen, woraus neue Konzepte des 'autobiografischen' Schreibens resultieren. Durch die im Text inhärente Reflexion über Bildmedien werden jene nicht nur zum Bestandteil der Textproduktion, sondern auch der Subjektkonstitution, allen voran der brüchigen weiblichen Subjektkonstitution in einer männlich dominierten Gesellschaft. Abschließend schlägt Goumegou andere Betrachtungsweisen des Duras'schen Werks jenseits von Autofiktion oder literarisierter Psychoanalyse vor, ohne diese jedoch zu nennen (67). Obwohl die die Autorin selbst den Bezug des Beitrags zum Diskursmodell der Autofiktion relativiert, gelingt ihr insbesondere die Darstellung der medialen Schreibstrategien.




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Jutta Weiser erweitert mit der Analyse von Hervé Guiberts fotografischen Selbstporträts (1979–87) den Untersuchungsgegenstand, indem sie in ihrem Beitrag die Anwendung der Autofiktionstheorie auf Bildmedien exemplifiziert und so die Vereinbarkeit von Autofiktion und Medienrealität darstellt. Durch die konzeptuelle Gleichstellung von Text und Fotografie gelingt es ihr, Doubrovskys Autofiktion auf Fotografien zu applizieren: Zwar referiert das Foto stark auf die Realität, trotzdem findet dort eine Inszenierung und eine Dokumentation des Ichs statt, die manipuliert werden kann und somit fiktiv wird (76). Analog dazu entwickelt Weiser in Anlehnung an Lejeunes "pacte autobiographique" einen "autoporträtistischen Pakt" (77). Dieser wird allerdings erst durch sprachliche Ergänzungen zu den Bildern geschlossen, um so die Identifikation des Dargestellten durch den Betrachter zu gewährleisten (79). Weiser erweitert somit erfolgreich Doubrovskys Autofiktionsbegriff und lotet dabei die Spielräume der Konstitution des Subjekts aus.

Der zweite Teil des Bandes, "Textuelle und mediale Entgrenzungen", enthält vier Beiträge, wobei der Fokus auf die Möglichkeiten und Grenzüberschreitungen des Mediums Text durch Inszenierungsstrategien der Autoren gelegt wurde. Die meisten Beiträge dieser Sektion beziehen die mediale Inszenierung der Autoren, sei es durch Zeitschriften- oder Fernsehinterviews und die intertextuelle bzw. -mediale Selbstdarstellung mit ein, wodurch diese Sektion eine inhaltlich kohärente Struktur erhält.

Claudia Gronemann analysiert in ihrem Beitrag das Werk Une mélancholie arabe (2008) des marokkanischen Autors Abdellah Taïa. Hierbei wird Autofiktion im Diskurszusammenhang und nicht als Genre begriffen und es wird aufgezeigt, wie Taïa mithilfe der Literatur eine legitime Form des Ausdrucks seiner Homosexualität zu finden versucht, für sich somit Subjektivität beansprucht und eben diese in seinem Text konstituiert. Es werden vor allem die filmischen Strategien offen gelegt, was zeigt, wie Taïas Autofiktion eine spezifische Medienperspektive beinhaltet. Die Autorin deutet diese als sprachliche Modellierung eines männlichen, melancholischen Subjekts (im Sinne Judith Butlers, vgl. 96), das sich nicht als Einheit wahrnimmt, sondern im Diskurs des Anderen immer wieder verschiebt (105), weil es nicht auf 'eigene' kulturelle Konzepte einer homosexuellen Identität zurückgreifen kann. Gronemann gelingt so eine Analyse des Diskursmodells der Autofiktion in Hinblick auf die frankophone Literatur, verschiedene Medien und ihren möglichen Einfluss auf die Subjektkonstitution.

Agnieszka Komorowska zeigt in ihrem Beitrag die Komplexität des Zusammenspiels verschiedener Untergattungen autobiografischen Schreibens in Verbindung mit der Literatur der Zeugenschaft des Holocaust.1 Unter Rekurs auf Marguerite Duras' eigene Einordnung des Werks La douleur (1985) zwischen Autofiktion und Zeugenschaft untersucht Komorowska den Text in Hinblick auf die Inszenierung der gescheiterten Kommunikation von Körper und Sprache. Sie legt so die verschiedenen Ebenen der Subjektkonstitution ebenso wie die unterschiedliche Leseerwartung an die Autofiktion, respektive Shoah-Literatur, dar. La douleur kann an der Schnittstelle zwischen Autofiktion und Zeugnisliteratur gelesen werden, da der Text zwischen diesen beiden Polen oszilliert (128). Wegen dieser Oszillation muss die Kommunikation scheitern, was letztlich eine empathische Lektüre verhindert. Dieser Beitrag zeigt eindrucksvoll, wie Duras das Konzept der Autofiktion für ihr Schreiben beansprucht, wobei der Parameter der Medienrealität durch den kommunikativen Untersuchungsaspekt abgedeckt wurde.




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Christine Angots Romane L'inceste (1999) und Quitter la ville (2000) sind Gegenstand von Annika Nickenigs Beitrag, in dem sie auf die Inter- und Metatextualität, die Auswirkungen der medialen Präsenz der Autorin und das Verhältnis von Dokumentation und Fiktion eingeht (132). Die offene Darstellung des Eigenen und des Tabubruchs sind, bei gleichzeitiger "Bedeckung" (orig. "occultation" 139) des Selbst, symptomatisch für Angots Schreiben und zeigen die Oszillation der Werke zwischen Autobiografie und Roman. Allerdings lehnt Angot bewusst jede Gattungszuschreibung ab, womit sie die Verbindung von literarischer und außersprachlicher Wirklichkeit infrage stellt, was den konstruierten Charakter ihrer Texte aufdeckt (130). Durch die Auseinandersetzung mit und der Kritik an unterschiedlichsten Medien erscheint das Subjekt medial geformt und schwankt so zwischen Effekt und Affekt (150). Nickenig legt gelungen dar, wie sich der Einfluss der Medien, sowohl fremd- als auch eigenbestimmt, auf die Subjektkonstitution auswirken kann.

Im letzten Beitrag dieser Sektion untersucht Dagmar Schmelzer mögliche Parallelen zwischen den narrativen Strategien Beigbeders und der Autofiktion Doubrovskys. Obgleich sich Beigbeder mehrfach gegen das Autofiktionskonzept positionierte, lässt sich Un roman français (2009), aufgrund der Inszenierung des Subjekts und der Namensidentität von Erzählerfigur, Protagonist und Autor, als Autofiktion lesen (151). Die Autorin reflektiert den Diskurswechsel, den Beigbeder mit Un roman français anstrebte (153): Ausgelöst durch das kollektive post-9/11-Trauma ist die einstige Zurschaustellung der eigenen Person einer bescheideneren Selbstinszenierung gewichen (167f.). Abschließend finden sich viele Anschlüsse an Doubrovskys Autofiktion, wobei die Authentizität des Subjekts offen gelassen wird. Schmelzer gelingt es, die Diskursveränderung klar darzustellen, allerdings wurde der Aspekt der Medienrealität nur marginal (z.B. der Einfluss der postmodernen Medientheorie auf Beigbeders Schreiben, 154) miteinbezogen.

Der Sammelband schließt mit dem Teil "Autofiktion als Medienparasit?", der die Auseinandersetzung von medialen Strategien zur Selbstinszenierung thematisiert. Allerdings wird der Zusammenhang der drei Beiträge, außer über die Parameter Autofiktion und Medienrealität, nicht ersichtlich.

Im einzigen französischsprachigen Beitrag des Bandes beschäftigt sich Aurélie Barjonet anhand zweier Romane (Humbert 2009: L'origine de la violence; Binet 2010: HHhH) mit den autofiktionalen Strategien der sogenannten "Autoren der dritten Generation".2 Barjonet verweist auf deren gesonderte Stellung, wobei deutlich wird, dass es sich bei keinem Werk um eine Autofiktion handelt (173). Die ethische Dimension beider Romane, die zwischen persönlicher (écriture de soi, 171) und historischer Schreibstrategie (écriture de l'Histoire, ebd.) oszillieren, wird durch die Erzählhaltung verdeutlicht (185). Durch die Text-Analyse wird das ethische Anliegen beider Autoren sichtbar und eine Verbindung zwischen den verschiedenen Strategien des Schreibens glaubwürdig (187). Der Autorin gelingt es zwar, einen Eindruck der "Autoren der dritten Generation" zu geben, allerdings wird der Zusammenhang zum Aspekt Medienrealität nicht ersichtlich und der Bezug zum Diskursmodell Autofiktion zugunsten einer detaillierten Textanalyse vernachlässigt.




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In ihrem zweiten Beitrag untersucht Jutta Weiser, wie Beigbeder sich in Windows on the world (2003) intermedialer und -textueller Strategien bedient, um sowohl die mediale Repräsentation der Attentate auf das World Trade Center als auch die öffentlichkeitswirksame Vermarkung autofiktionaler Literatur in den französischen Medien ironisierend darzustellen. Dieser Text kann sowohl als Autofiktion als auch als Roman gelesen werden, was die Austauschbarkeit von Fiktion und Realität zeigt (203). Die These liegt nahe, dass Beigbeder die Katastrophe prothetisch nutzt, um demgegenüber die Trivialität seines eigenen Lebens durch den Gebrauch intermedialer Schreibstrategien (z.B. Verweise auf populäre Kinofilme, 197) zu betonen. Somit werden die Sensationsgier und Kommerzialisierung der Massenmedien bezüglich kollektiver Traumata und die medial wirksamen Strategien der französischen Autofiktion ridikülisiert. Weiser gelingt es, den Einfluss von medienwirksamen Ereignissen auf die Subjektkonstitution, unter den Prämissen Medienrealität und Autofiktionsdiskurs, darzulegen.

Im letzten Beitrag des Bandes vergleicht Christine Ott drei Romane (Siti 2006: Troppi paradisi, Minghini 2009: Fake, Houellebecq 2010: La carte et le territoire). Dieser Beitrag ist der einzige, der neben frankophonen auch einen italienischen Roman zum Gegenstand hat. Die Autorin zeigt, wie sich in der Gegenwartsliteratur autofiktionale Strategien mit Reflexionen über Mediengebrauch und die bildenden Künste im 20. / 21. Jahrhundert verbinden lassen und so bekannte Mechanismen der Autofiktion strategisch genutzt werden, um auf im weitesten Sinne gesellschaftlich relevante Problematiken aufmerksam zu machen. Somit zeigt Ott, wie sich autofiktionale Elemente mit Strategien der Medienreflexionen verbinden können und expliziert über alle drei Romane hinweg die Vereinbarkeit beider Konzepte und deren Bedeutung für die Subjektkonstitution.

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um einen gelungenen Beitrag zur aktuellen, französischen Autofiktionsforschung. Obwohl bei manchen Artikeln der Bezug zu den zu Beginn gestellten Thesen nicht eindeutig ist und sie inhaltlich nicht direkt aufeinander Bezug nehmen, ist doch bei allen klar die Verbindung zum französischen 'Ursprungsland' der Autofiktion zu erkennen. Die Auswahl der Beiträge ist zu loben, da alle spezifische Aspekte der Autofiktion und Medienrealität, ganz wie es der Titel verspricht, thematisieren und in diesem Kontext gängige Theorien zur postmodernen und poststrukturalen Subjektkonstitution bearbeiten. Eindrucksvoll wird der Autofiktionsbegriff reflektiert, um den intermedialen Gegenstand erweitert und so als Diskursmodell zugänglich gemacht. Dies geschieht jedoch nicht – wie häufig in aktuellen Versuchen der Erweiterung und Anwendung des Begriffs der Autofiktion – losgelöst von Doubrovskys originärem Konzept, sondern wird unter Rekurs auf die französische Debatte unternommen und dabei konsequent ausgeweitet.




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Bibliographie

Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lejeune, Philippe (1996): Le pacte autobiographique. Nouv. éd. augm. Paris: Éd. du Seuil.

Seel, Martin (1998): "Medien der Realität und Realität der Medien", in: Krämer, Sybille (Hg.): Medien, Computer, Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Anmerkungen

1 Der Bezug zur Shoah-Literatur wird über die Rückkehr von Duras' Ehemann, dem Autor Robert Antelme, hergestellt. Antelme schildert in seinem autobiografischen Werk L'espèce humaine (1947) das erlittene Trauma des überlebten Konzentrationslagers (121). Die lang ersehnte Heimkehr wird von Duras allerdings über detaillierte Beschreibungen und Wahrnehmungen von Antelmes Körpers und die entstandene Entfremdung dargestellt, was letztlich zeigt, wie Duras ihr Selbst über ihn konstituiert (122).

2 Diese sind häufig in den 1970er Jahren geboren, nicht mehr persönlich von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs betroffen, legitimieren jedoch ihr Schreiben durch die jüdische Herkunft (172).