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Martina Stemberger (Wien)



"'Halb-Asien' und Frankreich". Anmerkungen zu einem Sammelband über "Erlebtes und erinnertes Osteuropa in Literatur und Geschichte", herausgegeben von Charlotte Krauss und Ariane Lüthi (2012)


"Halb-Asien" und Frankreich. Erlebtes und erinnertes Osteuropa in Literatur und Geschichte. / La "Semi-Asie" et la France. L'Est européen vécu et imaginé dans la littérature et l'histoire (2012, ed. Charlotte Krauss/Ariane Lüthi): This interdisciplinary volume, with reference to Karl Emil Franzos' highly ambivalent concept of 'Semi-Asia' and the author's no less ambivalent discourse about 'semi-French' Alsace, explores a complex network of intercultural relations between France and Eastern Europe as a space of lived experience, memory and literary imagination, from the 19th century up to the present. The following review essay takes this thematically and theoretically inspiring collective work also as a starting point for sketching some additional reflections and research perspectives, concerning notably the relevance of postcolonial theory in an inner-European context.


Il y a encore la Ruthénie, la Podolie, la Bucovine: essayez un peu de prononcer ces noms dans une agence de voyages. On vous prendra pour un fou. Mais vous, insistez, montrez la carte, dites que ce sont des lieux réels […] (Rumiz 2011: 14)

Was hat es mit jener Weltgegend auf sich, die, zu Zeiten des Eisernen Vorhangs im "blinden Winkel" des westlichen Bewusstseins gelegen (vgl. Ransmayr 1985), aus okzidentaler Sicht offenbar nach wie vor – davon zeugt obiges Zitat eines zeitgenössischen Reisenden – eine recht 'exotische' Peripherie Europas darstellt?

In Dzieditz fängt "Halb-Asien" an. Nur zögernd habe ich mich zur Schaffung dieses eigenthümlichen geographischen Terminus entschlossen. Er ist aber nothwendig. Manches erinnert in Galizien allerdings an Europa […]. Aber ein Land, in welchem man auf so schmutzigen Tischtüchern ißt, von anderen Dingen ganz abgesehen, kann man unmöglich zu unserem Welttheile rechnen. (Franzos 1876: 104)

So erläutert Karl Emil Franzos seine längst geflügelte Wortkreation 'Halb-Asien', schillernde Formel für jene Grenz- und Zwischenzone, die, wie er hinzufügt, "natürlich auch […] 'Halb-Europa'" ist (ibid.: VII) – ein "halbes Europa", das "zu einem ganzen zu machen" er angetreten war (Gauss 2004). 1876 erscheint unter dem Titel Aus Halb-Asien der erste Band seiner zuvor in der Neuen Freien Presse publizierten Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien; es folgen die Textsammlungen Vom Don zur Donau und Aus der großen Ebene (1877 bzw. 1888); zur "Charakterisierung seiner höchst ungewöhnlichen Literatur" (Gauss 2004) greift Franzos auch hier auf den Untertitel Culturbilder zurück.1



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Die "schmutzigen Tischtücher" jedenfalls sind es, die kulturelle Differenz dokumentieren; dieses textile Leitmotiv zieht sich weiter durch den Text. Von der Kunst der literarischen Kartographie und ihren politischen Implikationen wird in diesem Band noch ausführlich die Rede sein (vgl. den Beitrag von Urs Urban); schon der Erfinder 'Halb-Asiens'2 entwirft sein Schema von 'Zivilisation' und 'Barbarei' auf von ihm so genannten "Landkartentüchern" (Franzos 1876: 109). Unermüdlich zeichnet nicht nur der "Blick aus dem Coupéfenster" (ibid.: 96), sondern auch jener auf die Tischtücher diverser mehr oder minder dubioser Restaurationen die Grenzen zwischen 'Europa' und 'Asien' nach, die Franzos' Eingeständnis nach "sehr verwickelt ineinander" (ibid.: 95) verlaufen: "Für reisende Geographen werden die Tischtücher von Interesse sein; sie finden darauf alle erdenklichen Grenzen in verschiedenen Saucen ausgeführt" (ibid.: 106). Aber auch andere Alltags-Textilien werden mit derartiger Symbolfunktion ausgestattet, so das Taschentuch: Während der Reisende sich des 'halb-asiatischen' Gestankes in "'Cracovia la stincatoria'" (ibid.: 105) durch einen hochwillkommenen Schnupfen – und das gelehrt-italianisierende Epitheton – zu erwehren versucht, ist bei der Ankunft in der "Cultur-Oase" (ibid.: 159) Czernowitz3 die Zivilisation unüberseh- bzw. unüberriechbar: "[…] wieder einmal kann man in den Straßen wandeln, ohne sich das Sacktuch vor die Nase halten zu müssen" (ibid.); der Blick auf das "weiße[] Tischzeug" bestätigt die olfaktorische Erkenntnis (ibid.: 112). Eine ganze Kulturphilosophie des Tisch- und Taschentuchs zeugt hier gegen jenes "tiefe[] Halb-Asien, wo Alles Morast ist […]. In diesem Morast gedeiht keine Kunst mehr und keine Wissenschaft, vor Allem aber kein weißes Tischtuch mehr und kein gewaschenes Gesicht" (ibid.: 95f.).

Doch genug der – raffiniert 'textualisierten' – Textilien und zurück zu dem hier vorliegenden Band, der in kritischer Auseinandersetzung mit Franzos "ein komplexes Geflecht" interkultureller Beziehungen erschließt, eine literarisch-historische Kartographie des Spannungsfeldes 'Halb-Asien'-Frankreich vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart entwirft. Der interdisziplinär konzipierte Band versammelt Beiträge von Historikern, Literatur- und Kulturwissenschaftlern aus unterschiedlichen europäischen Ländern; wird in einem Teil der Studien die Thematik ausgehend von "exemplarischen Figuren" – Schriftstellern, Wissenschaftlern, Reisenden – erschlossen, so unternimmt eine zweite Gruppe eine Vertiefung allgemeiner historischer, sozialer und literarischer Aspekte (14).

Den Band eröffnet eine kurze Reflexion Pierre Pachets, der den Begriff "Halb-Asien" (5–6), mit einiger Skepsis betrachtet: "Cette 'Asie' de pacotille […] est forcément péjorative, rétrograde, inefficace et un peu corrompue" (5). 'Halb-Asien' stellt nicht etwa einen Konnex mit dem "continent asiatique" samt seiner reichen Geschichte und Kultur her, sondern evoziert vielmehr "un ferment de dissolution et de dégradation" – man erinnert sich an den Franzos'schen 'Morast' –, ein vages (und vage bedrohliches) 'Anderswo' (5). Nach zwei Weltkriegen ist Franzos' – schon zu Lebzeiten des Autors anachronistischer (vgl. Gauss 2004) – Optimismus hinsichtlich der 'zivilisatorischen Mission' des "esprit germanique" längst unhaltbar geworden (6); doch auch wenn Pachet sein aus heutiger Perspektive unvermeidliches Unbehagen gegenüber dem Konzept 'Halb-Asien' zum Ausdruck bringt, gesteht er Franzos zu, dem "monde multiple où il était né et qu'il a célébré avec affection et délicatesse" (6) auf seine Weise gerecht geworden zu sein.



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Unter dem Titel "Semi-asiatische Ansichten" skizzieren darauf die Hg. Ariane Lüthi und Charlotte Krauss in ihrer Einleitung (7–20) den historischen Kontext der Franzos'schen Begriffsprägung. Kann Franzos' "pangermanische[r] Traum"4 heute nur mehr "als tragischer Irrtum" erscheinen, so spiegelt er doch "die politische Haltung vieler seiner Zeitgenossen" wider (8).5 Krauss/Lüthi werfen im Anschluss an Pachet die Frage auf, ob dieser Begriff nun kategorisch "als abschätzig zurückzuweisen" sei oder sich auch "suggestiv verstehen" lasse (14). Sie arbeiten die "politische Dimension" der Franzos'schen Culturbilder (10) ebenso heraus wie die Funktion der "Reise als Medium der Kritik" (8) und die Identitätsproblematik des Autors: Der "Zweigeist" Franzos (zit. Oskar Ansull, unter Rekurs auf eine Formulierung Walter Benjamins, 11) ist auch "ein fruchtbarer 'Doppelgeist', der das Jüdische und Deutsche für sich auszubalancieren versuchte" (11). Die Einleitung fokussiert vor allem jene Schlüssel-Kapitel, "twin sketches" (Sommer 1984: 45) aus Halb-Asien, die die im Herbst 1875 unternommene Reise des Autors von "Von Wien nach Czernowitz" und das dortige "Culturfest" (d. h. die Feierlichkeiten zur 100-jährigen Vereinigung der Bukowina mit der k.u.k. Monarchie und zur Eröffnung der Franz-Josephs-Universität, "friedliche Schutzwehr für das bedrohte deutsche Volksthum im Osten", Franzos 1876: 156) beschreiben. Die plastische Schilderung des Czernowitzer "Culturfestes" (ebendieser Text enthält "some of Franzos' most colorful and sensual writing", Sommer 1984: 50) klingt mit einem "sudden flashback" (ibid.: 51) nach Westen aus: Drei Jahre zuvor, im April 1872, hatte Franzos der "unvergeßlichen Feier" (Franzos 1905: 21) zur (Neu-)Eröffnung der Universität Straßburg, "der deutschen Hochschule in der Westmark" (Franzos 1876: 190), beigewohnt; explizit stellt er den Konnex zwischen diesen beiden "Grenzwarten" her, zwischen denen er den "deutsche[n] Geist" in poetischem Nationalismus "mächtig fluthe[n]" sieht (ibid.: 192). 1903, ein Jahr vor seinem Tod, reist er ein weiteres Mal ins Elsass: Aus den Vogesen berichtet der posthum 1905 erschienene zweite Band der ihrerseits als "Reise- und Kulturbilder" bezeichneten Deutschen Fahrten (vgl. Franzos 1905). Mit der Parallel-Lektüre der 'halb-asiatischen' und der elsässischen Texte des Autors entfaltet sich jenes geopoetische Spannungsfeld, das dieser Band insgesamt erkundet, bereits im Werk des 'Diskursbegründers' Franzos selbst; der Ansatz, Franzos' Diskurs über 'Halb-Asien' nicht als kulturelle 'Einbahnstraße' zu verfolgen, sondern – nach dem vom Autor quasi vorgegebenen Motto "Zwischen Straßburg und Czernowitz" (ibid.: 192) – zu seinen Schriften über das Elsass in Beziehung zu setzen, erweist sich als überaus erhellend. Franzos betreibt seine oft genug in explizite Kriegs-Rhetorik gefasste deutsche 'Kulturmission' gleich an zwei 'Fronten': "Dem verbalen Kampf gegen Halb-Asien an der östlichen Grenze des deutschsprachigen Reichs folgt gewissermaßen, wenn auch in deutlich moderaterem Ton, das Ringen gegen 'Halb-Frankreich' im Westen" (11). Ausgerechnet der Träger des Namens 'Franzos' (die Hg. rekapitulieren kurz die Familien(namens)geschichte des Autors, selbst Verfasser einer Abhandlung zum Thema Namensstudien, 13) legt eine "mehr als distanzierte Einstellung gegenüber Frankreich" an den Tag (12).



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Sein kritischer Blick auf das Elsass zeugt von seinem "verletzte[n] deutsche[n] Nationalgefühl" – und von der fundamentalen Ambivalenz eines Autors, der einerseits von der "Mehrsprachigkeit und Vielschichtigkeit" auch dieser Grenzgegend fasziniert scheint (11; die Devise "quot linguae, tot animae" [Franzos 1905: 44] lässt er auch hier gelten), sich andererseits aber zum Propagandisten der Re-Germanisierung des Elsass macht und sich über die tragikomische Germanophobie einer in seinen Augen doch "urdeutschen" Bevölkerung mokiert (ibid.: 16). Kurz: Schon Franzos' Werk lädt im Sinne der "Leitidee" des vorliegenden Bandes dazu ein, jenen zahlreichen, bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigten "sichtbare[n] und unsichtbare[n] Verbindungen" nachzuspüren, die 'Halb-Asien' seit langem auch mit Frankreich unterhält (13).

Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Reflexionen untersucht Boris Previšić ("Koloniale Erbschaft im Vergleich", 21–32) die kulturelle Dynamik des osteuropäischen "postimperialen" Raums (14): 'Halb-Asien' – "für die Selbstdefinition und Selbstlegitimation des supranationalen Gebildes konstitutiv[es]" (22) Grenzgebiet – erweist sich als besonders produktiv hinsichtlich der "Pluralisierung und Dezentrierung hegemonialer Diskursmuster" (26). Mit seinem Versuch der theoretischen Vermessung der imperialen Peripherie durch eine dieser gemäße "Methodik des Randständigen" (21)6 knüpft Previšić – unter Rekurs u. a. auf Wolffs Erfindung Osteuropas (vgl. Wolff 1994) und Todorovas Erfindung des Balkans (vgl. Todorova 1997) – an jüngere kulturwissenschaftliche Studien an, die auch das westliche Verhältnis zum "'wilden Osten'" (neben dem "'zurückgebliebenen Süden'" die andere der "beiden innereuropäischen Figurationen des Anderen", Müller-Funk/Wagner 2005: 24) in Kategorien eines spezifischen "Euro-Orientalismus" (Adamovsky 2006) beschreiben, "die Binnenkolonisation des Kontinents, die Beherrschung kleinerer und peripherer Kulturen durch größere" (Müller-Funk/Wagner 2005: 14) in Begriffe postkolonialer Theoriebildung fassen, so auch den Status der "halb- und quasikoloniale[n] Gebiete" der k.u.k. Monarchie (ibid.: 22). Auch wenn es sich hier nicht "um kolonisierte Staaten im engeren Sinne" handelt und etwa die Bukowina von Seiten der historisch wechselnden Machthaber nie explizit als "Kolonie" bezeichnet wurde (Hryaban Widholm 2005: 118), so sind doch "diskursive wie ökonomisch-politische Muster des Kolonialismus in aller Deutlichkeit nachweisbar" (Patrut 2005: 105).

Zur Analyse der komplexen "Raum-Zeit-Überlagerungen" (21) in ausgewählten Texten, die die "Ähnlichkeiten zwischen dem Umgang mit dem imperialen Erbe des Habsburger-Reiches und dem kolonialen Erbe Frankreichs" (14) illustrieren, rekurriert Previšić auf Bachtins Konzept des Chronotopos (im Anschluss an Genette spricht er von "chronotopischen Palimpsesten", 21). Ausgehend von seinem Corpus zeigt er, wie durch das Prisma späterer (post)kolonialer Konstellationen frühere koloniale Erfahrungen "artikulierbar und narrativierbar" werden (22). Gut nachzuvollziehen ist diese nachträgliche "Sensibilisierung für die imperialen Verhältnisse" (22) der k.u.k. Monarchie in der Genealogie von Elias Canettis späterem Werk.



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Im Rahmen der Reise, die Canetti 1954 nach Marrakesch führt, vollzieht sich der erhellende 'Kurzschluss' zwischen der maghrebinischen Kolonialsituation und der eigenen "(post)imperialen Erfahrung" (23); Marrakesch und Rustschuk (heute Ruse), zwar außerhalb der Doppelmonarchie, aber in deren Einflusszone gelegener Ort von Canettis Kindheit, werden in ihrer "Farbigkeit und Multikulturalität" überblendet (24f.). Auch in Gregor von Rezzoris "Maghrebinien" (Maghrebinische Geschichten, 1953), literarische Vision eines imaginären "Südosten[s]", führt nur ein kurzer Weg "vom fiktiven Tschernopol […] zum real existierenden Tschernowitz" (25); mit Hilde Zaloscers Eine Heimkehr gibt es nicht (1988) erweitert sich dieser Imaginationsraum auch auf Banja Luka (27). Das topographische 'Palimpsest' besitzt auch eine historische Dimension; den hier analysierten multipel-kolonialen Imaginarien ist auch die "Verlustgeschichte" der beiden Weltkriege eingeschrieben. Canettis Stimmen von Marrakesch (1968) sind "nicht nur die Stimmen der Unterdrückten, […] sondern auch die in der Shoah verstummten Stimmen" (27). Die Ambivalenzen einer "doppelten Verdrängungsgeschichte", aus der "ein ungeheures Nostalgisierungspotential resultiert", reflektiert Previšić an Ingeborg Bachmanns Malina (1971) mit seiner "Mehrfachcodierung 'Galiciens'" (28) sowie an ihrer Erzählung "Drei Wege zum See" (aus Simultan, 1972).

Christian Jacques ("Penser la Galicie en France (1870–1918). L'approche ethnogéographique de Bertrand Auerbach", 33–50) untersucht – unter Rekurs auf Foucault – "le discours ethnographique français au tournant du XXe siècle" (34) bzw. den 'ethnogeographischen' Diskurs, der sich in Frankreich zwischen den historischen Schlüsseldaten 1870 und 1918 rund um Galizien entfaltet (33). Nach den "Zäsuren" von 1866 und vor allem 1871 ist ein gesteigertes Interesse an der Habsburgermonarchie (und auch ihren östlichen Provinzen) zu beobachten, wovon eine wachsende Zahl themenspezifischer Publikationen zeugt (35). Wissenschaftshistorisch ist die hier analysierte Periode insofern besonders aufschlussreich, als sich zu dieser Zeit in den noch relativ jungen Disziplinen Geographie, Ethnographie und Anthropologie neue Paradigmen herauskristallisieren (33). In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Jacques das Werk des an der Universität Nancy tätigen Bertrand Auerbach, Autor einer in kritischer Auseinandersetzung auch mit deutschsprachigen Quellen (darunter das enzyklopädische 'Kronprinzenwerk',7 dem Auerbach seinen "caractère irénique et volontairement partial" vorwirft, 39) verfassten Studie über Les races et les nationalités en Autriche-Hongrie (1898). Als einer der "fondateurs de l'école française de géographie", einer der bedeutenden französischen Deutschland- und Österreich-Ungarn-Spezialisten seiner Zeit (36f.; nicht ohne Stolz merkt Auerbach an, dass ein österreichisch-ungarischer Autor ihn ob seiner Expertise als "Oesterreicher" zitiere, zit. 48), erscheint der Forscher – "durchaus progressiver Denker", der seine eigenen Ansätze kritisch hinterfragt und vor der Gefahr eines "politischen Missbrauch[s] der Rassenkunde" warnt (15) – dennoch im wissenschaftlichen Milieu relativ marginalisiert, was mit seiner "attitude anticonformiste" zusammenhängt (zit. Marie-Claire Robic, 37); freilich gelingt es auch Auerbach letztlich nicht, jenen "contradictions et […] apories des logiques qu'il dénonçait par ailleurs" (43) ganz zu entkommen, ebenso wenig wie einem normativen Diskurs, der zwischen 'zivilisierten' und 'primitiven' Völkern unterscheidet (45).



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In seinem Detailreichtum und seiner deskriptiven Exaktheit zeigt Auerbachs Werk, das den heterogenen Charakter des ethnokulturell vielfältigen Galizien herausarbeitet (zit. 42), jedenfalls zur Genüge, dass "les connaissances sur les différentes provinces de la Monarchie" zu jener Zeit in Frankreich bereits umfassend und differenziert waren (48).

Jean Daltroff ("L'accueil contrasté de Juifs de l'Europe orientale en Alsace (1870–1930)", 51–67) zeichnet ein symptomatisches Stück elsässisch-'halbasiatischer' Kulturgeschichte nach: Ausgehend von zahlreichen Archivdokumenten untersucht er "la spécificité de la venue des Ostjuden en Alsace" (52), d. h. den "accueil contrasté", der den ostjüdischen Neuankömmlingen im Elsass im besagten Zeitraum bereitet wurde (er vergleicht die Situation der 'Ostjuden' im Elsass auch mit jener in anderen west- und mitteleuropäischen Städten wie Paris, Metz, Berlin und Wien). Die Begegnung zwischen den elsässischen Juden und den Immigranten gestaltet sich alles andere als akonfliktuell; aus der Perspektive der assimilierten "Français israélites" (54) steht der zum Klischee gewordene, durch seine "marques de misère et de l'errance" stigmatisierte "polak" (56) auch für eine überwunden geglaubte Vergangenheit (58). Diese komplexe Identitätsproblematik illustriert Daltroff am Beispiel einiger ostjüdisch-elsässischer Lebensgeschichten (59ff.); aufschlussreich auch seine Auseinandersetzung mit dem "genre littéraire du folklore juif" (57), das nach 1871 mit Autoren wie Armand Lunel oder Gustave Kahn einen Aufschwung erlebt – und wiederum von der oft problematischen Konfrontation mit dem Ostjudentum, "fascinant, répulsif et étranger" (56), zeugt. So parodiert Léon Cahun, Autor populärer Abenteuerromane, unter dem Titel La vie juive (1886) ein allzu pittoreskes, aus der Sicht des kultivierten französischen Israeliten befremdliches Ostjudentum; aber auch der geborene Elsässer Honel Meiss, Rabbiner von Nantes und Nizza, Oberrabbiner von Marseille, erzählt mit Vorliebe "des petites histoires sur les Polaks et les Russes qui témoignent de l'importance du stéréotype" (57). Jacob Lévys zwischen 1925 und 1927 publizierte Romantrilogie Les Juifs d'aujourd'hui legt beredtes Zeugnis davon ab, wie virulent der Konflikt "entre les Juifs autochtones et les immigrés" (58) zu dieser Zeit nach wie vor ist.8 Erst 1962, mit dem Eintreffen zahlreicher maghrebinischer Juden in Frankreich, gestaltet sich das Verhältnis zwischen einheimischen und neuangekommenen jüdischen Bürgern entspannter: "l'accueil des Juifs venus d'ailleurs fut chaleureux" (65).

Mit Jadwiga Wala-Menous Beitrag ("Les confins orientaux de la Pologne dans la correspondance ministérielle française au début du XXe siècle", 69–90) folgt eine weitere historische Untersuchung auf Basis unveröffentlichten Archivmaterials; die Autorin rekonstruiert anhand von ministeriellen und diplomatischen Korrespondenzen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts die "vision française des populations de la Galicie orientale" (70). Besonderes Augenmerk wird auf die Geschichte der Wahrnehmung der (heute einheitlich so genannten) ukrainischen Bevölkerung gelegt, da diese in der westlichen Forschung traditionell "au profit des Polonais et des Juifs" (70) vernachlässigt worden sei. Noch 1919 erklärt der Diplomat Jules Cambon:



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"Nous ne savons pas ce qu'est l'Ukraine" (zit. 76); aus okzidentaler Sicht besitzt die Ukraine, historisch wie etymologisch Grenz- und Übergangszone, "une zone indéfinie" (76), einen ungewissen Status,9 auch die Existenz einer ukrainischen Sprache wird nicht ohne Weiteres akzeptiert (77); im Sinne einer quasi-kolonialen "vision évolutionniste" werden die Ukrainer gelegentlich explizit als "peuple enfant" bezeichnet (78).10 Das hier analysierte Corpus illustriert ein weiteres Mal die Konstruktion mehr oder minder subtiler kultureller Hierarchien: Konstatiert Franzos in seinem paradigmenstiftenden Text, 'Halb-Asien' sei "weder so gesittet, wie Deutschland, noch so barbarisch, wie Turan" (Franzos 1876: V), so wird hier etwa die polnische Kultur zwar als der ukrainischen überlegen betrachtet; der deutschen gegenüber findet sie sich freilich ihrerseits in der Position des 'orientalischen' Anderen wieder (82). Differenziert wird – im Rahmen einer kultur-kolonialistischen Logik, der zufolge der Grad der 'Zivilisation' nach Osten hin unweigerlich abnimmt – auch zwischen russischen und österreichischen Ukrainern: Erscheint das Bild ersterer von literarischen Darstellungen eines wild-anarchischen Kosakentums "à la Tarass Boulba" beeinflusst, werden die österreichischen Ruthenen als "plus modérés et organisés" wahrgenommen (80). Dergleichen "clichés civilisationnels" – nicht zuletzt pragmatisch instrumentalisierte Imagines des 'Anderen' – entfalten eine konkrete politische Wirkung; sie diktieren etwa "certaines prises de position défavorables aux Ruthènes" (81). Ins diplomatische Spiel kommen hier auch im politischen Kontext reaktualisierte antisemitische Stereotype (85f.). Insgesamt erscheint Ostgalizien in den ausgewerteten Dokumenten als in mehrfacher Hinsicht problematische Region, nicht hinreichend 'wild', um mit dem exotischen "charme d'une véritable altérité" zu faszinieren, aber eben doch unzulänglich zivilisiert und politisch höchst 'unbequem' (88). Ähnlich wie die in Daltroffs Beitrag analysierte Abwehrreaktion des elsässischen Judentums gegenüber den Neuankömmlingen aus dem Osten scheint sich auch die französische Aversion gegen das 'rückständige' Galizien (wie in anderen Beiträgen dieses Bandes wird hier die auch zeitliche Dimension der Marginalisierung jener 'halb-asiatischen' Peripherie deutlich) zumindest teilweise aus den "souvenirs ambivalents de leurs propres antécédents sociaux" zu speisen, die jene ferne Welt bei den Franzosen weckt (88).

Xavier Galmiche ("William Ritter et les 'façons boyaresques' de la 'vieille Roumanie', 1890 – Syndrome empathique, fascination pour les confins et identification au semi-barbare", 91–104) setzt sich mit einem Reisenden, Schriftsteller, Kritiker und (Gelegenheits-)Zeichner auseinander, der als "le premier francophone à se montrer systématiquement curieux de la vie culturelle d'Europe centrale" (94) eine Pionierrolle spielt, freilich – selbst für seine literarischen Landsleute eine vage 'verdächtige' Figur (so bekundet Ramuz seine Abneigung gegenüber diesem "Neuchâtelois slave, mieux slavisé", zit. 95) – allenfalls als Wegbegleiter einiger sehr viel bekannterer Zeitgenossen (Gustav Mahler, Le Corbusier) in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Als Reisender unermüdlich in der "autre Europe" unterwegs (95), hinterlässt Ritter ein vielfältiges, zu großen Teilen noch unveröffentlichtes Werk. Galmiche untersucht einige Texte aus der Zeit der ersten Rumänien-Aufenthalte des Autors, der sich nicht (nur) als reisender 'Dandy' (97) in Bukarest aufhält, sondern sich daselbst eine Zeitlang auch als Hauslehrer verdingt (Galmiche [96f.] verweist dazu auf Franzos' Ausführungen über den "Gouvernantenhandel"11).



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Die Reise in den 'Osten' – multiple Projektionsfläche, für den "outsider" Metapher der eigenen Marginalität (96) – wird für Ritter auch zur Entdeckungsreise auf den 'dunklen Kontinent' der eigenen Homosexualität: Sein Tagebuch, seine erotischen Schriften ("Pages secrètes"), Briefe und Fotos bieten "l'image d'une homosexualité vécue sans tabou" (97). Allgemein scheinen etliche der hier behandelten Autoren und Texte zu einer kombinierten Analyse aus der Perspektive der Postcolonial wie der Gender Studies herauszufordern; bei Ritter ist der 'exotische' Raum offenkundig auch eine Sphäre der Gender-Konfusion (zit. 101), die (euro-)orientalische Landschaft wird metaphorisch sexualisiert (zit. 99). Galmiche stellt auch die naheliegende Verbindung zum "orientalisme sensuel" Lotis her (97) und analysiert den signifikanten "décalage" zwischen 'offiziellem' und erotisch-intimem Reisediskurs (98).

Galmiche insistiert auf dem Kontrast zwischen der Haltung eines Franzos (der sich, selbst galizischer Herkunft, als Repräsentant des k.u.k.-kulturellen Establishments den Diskurs des quasi-kolonialen Zentrums zu eigen macht) und jener Ritters, der, "individualiste exogène" (94), eine Generation später "un rapport diamétralement opposé" zu den Ländern und Kulturen Mittel-/Osteuropas aufgebaut habe (92). Bei der Lektüre der – dankenswerterweise sehr ausführlichen – Zitate aus Ritters unveröffentlichten Texten drängt sich allerdings die Frage auf, ob dieser 'diametrale Gegensatz' nicht als Kehrseite ein und derselben (kolonialen) Medaille treffender beschrieben wäre. Gebärdet Franzos sich als Kultur-Kolonisator, der der 'halb-asiatischen' Welt immerhin auch die (ambivalenten) Segnungen westlicher (d. h. für ihn v. a. deutscher)12 Bildung bzw. 'Aufklärung' zukommen lassen möchte,13 so ergötzt sich Ritter, der "banalité occidentale" (zit. 92) überdrüssig, an einer hyper-exotisierten und -erotisierten 'anderen' Welt, die er in ihrer der Seele des okzidentalen Zivilisationsflüchtlings wohltuenden '(Halb-)Barbarei' und 'Archaik', in ihrem "pittoresque local" (99) konserviert sehen möchte: "pour Franzos, ce monde attend les lumières […]; Ritter considère cette différence civilisationnelle dans l'autre sens, en jouissant de la 'semi-barbarie' des régions préservées, en mêlant l'exotisme et la familiarité, et en s'en forgeant une vision empathique qui est l'envers du regard colonial" (92). Es darf bezweifelt werden, dass diese "quête du barbare" (96) – weniger "envers du regard colonial" denn colonialisme à l'envers? – sich durch sehr viel größere 'Empathie' gegenüber der "sainte racaille exotique" (zit. 92) auszeichnet als die 'Kulturmission' eines Franzos, "emancipator and assimilationist" (Steiner 1990). Im Übrigen zelebriert auch dieser, in nur scheinbarem Widerspruch zu seinem "Bildungstraum deutscher Kultur" (Gauss 2004), die 'Authentizität' Galiziens, jene "unverfälschteste Natur", mit der sich die "höchste Cultur" des Westens verbinden soll (Franzos 1876: 158); tatsächlich fügt sich diese Sichtweise exzellent in eine koloniale Logik, in der "der Nachweis kultureller Defizite stets durch den romantischen Blick auf Ursprünglichkeit und Natürlichkeit von Körper und Gemüt begleitet [wurde]" (Hryaban Widholm 2005: 121).14 Galmiche weist zwar selbst auf den 'paternalistischen' Aspekt von Ritters Haltung hin ("une empathie sincère quoique paternaliste", 103), tendiert aber dazu, sich paraphrasierend mit dessen Perspektive zu identifizieren;



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nicht mehr im Diskurs Ritters, sondern schon in jenem des Interpreten ist etwa die Rede von "le plaisir du pays sauvage" (99), "le spectacle non frelaté de paysages naturels", "l'authenticité rugueuse" oder auch "la saine robustesse de pays intacts" (93): Hier wird eben jenes stereotype Imaginarium einer 'intakten', 'gesunden', 'wilden' Welt abseits der Zivilisation übernommen, das es eigentlich kritisch zu analysieren gälte.

Das heterogene 'reisetextuelle' Corpus Ritters ist jedenfalls auch in poetologischer Hinsicht von Interesse: Galmiche konstatiert eine bemerkenswerte "perméabilité des genres littéraires" im Rahmen eines "diarisme universel associant écriture factuelle et égo-histoire" (100); kulturelle Grenzüberschreitung, Genre- und Gender-Transgression gehen auch hier eine komplexe Allianz ein. Gleichfalls von Interesse scheint die intermediale Dimension von Ritters literarischem und zeichnerischem Werk (102f.) sowie die sprachliche Spezifik dieser Texte mit ihrem "style hyper-expressif", die "une rhétorique à la mesure du mythe des confins" entfalten (103).

Betreibt schon Franzos enthusiastisch das Projekt der "literarische[n] Kartografie" (Lach/Markwart 2011) einer zu 'zivilisierenden' Welt, so reflektiert Urs Urban ("'Une brève incursion en territoire fasciste'. Die literarische Vermessung Osteuropas in den Bienveillantes von Jonathan Littell", 105–126) anhand verschiedener literarischer Landkarten eines imaginären Osteuropa die Konsequenzen jenes "kulturpolitische[n] Programm[s]", das Franzos mit seiner "literarischen Landeserkundung" verbindet (106). Kartographie im Modus des Als-Ob: Eine fiktive Europa-Karte in Robert Harris' Roman Vaterland (1992) illustriert, "was gewesen wäre, wenn Hitler sein […] außenpolitisches Programm hätte umsetzen können" (108f.). In Roberto Bolaños Das Dritte Reich (verf. 1989, publ. 2010) wird die Karte zum historischen "Spielfeld" (110); William T. Vollmanns Europe Central (2005) konfrontiert die Lesenden mit einer Karte, in der geographischer Raum und "geopoetische Umschrift" ineinander gleiten (111). Alle drei Texte machen damit den "Zusammenhang von Raum und Geschichte" (111) zum Thema (im Sinne von Schlögels Devise Im Raume lesen wir die Zeit [Schlögel 2003]); "die Möglichkeit kontrafaktischer Kartographie" (111) – ein im Prinzip nicht neues Verfahren (Urban verweist u. a. auf die Surrealistische Weltkarte von 1929) – wird hier ideologisch aktualisiert. Von diesen – in einem gewaltgeschichtlichen Kontext besonders irritierenden – "geopoetische[n] Intervention[en] in die Kartographie" (111), die auch an den "konstruktiven Charakter" aller anderen Karten (109), deren (beträchtliches) Manipulationspotential erinnern (vgl. Monmonier 1992), führt Urbans Reflexion weiter zu Littells kontrovers diskutiertem Roman Les Bienveillantes (2006), der zwar keine kartographische Illustration, wohl aber die detaillierte Beschreibung des Wegs des Protagonisten von Lemberg bis Stalingrad enthält – ein mörderischer "Bildungsweg", auf dem Max Aue "das Handwerk des Tötens" (zit. Norbert Gstrein, 112) erlernt. Urban zeigt, wie die chronotopische Konstruktion von Aues Weg 'nach Osten' – eine "mehrfach transgressive[] Bewegung", als deren 'Matrix' die "Übertretung des Inzestverbots", "la grande transgression", fungiert (zit. 113) – aus dem anfänglich dominanten "realistischen" in einen "surrealistischen Repräsentationsmodus" hinübergleitet; mit der politischen und mentalen Grenzüberschreitung korrespondiert eine "ästhetische Verschiebung" (121).



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Die "fantastische Utopie" aus der Sicht Aues entspricht wiederum der "geopolitischen Vision" der NS-Strategen, die hier mit sprachlichen Mitteln 'abgebildet' wird (116). Aufschlussreich auch Urbans rezeptionsästhetische Überlegungen über die heikle Rolle des Lesers der Bienveillantes: Der Roman inszeniert eine "ontologische Verunreinigung der Wahrnehmungsordnung", die "den Leser an den Gedanken und vor allem an den Taten eines Subjekts des Völkermords […] teilhaben lässt" (122); kultiviert wird hier – über einen "usage 'illicite' fracassant de la première personne" (Darrieussecq 2011: 356) – eine Ästhetik der Kompromittierung, "die es dem Leser verunmöglicht, sich aus dem Text herauszuhalten, die ihn dazu zwingt, sich die Hände schmutzig zu machen – oder das Buch aus der Hand zu legen" (123).

Jacqueline Bel und Régine Battiston untersuchen die Rolle Frankreichs im Werk von "Joseph Roth, 'Français né à l'Est'…" (127–148), das seinerseits eine komplexe interkulturelle Topographie und – wie schon Franzos in seiner Reflexion über die bunten 'halb-asiatischen' Manifestationen "verschiedener nationaler Cultur und Uncultur" – auch "ein eigen Farbenspiel" (Franzos 1876: 178) evoziert: Die "grisaille" (133) und der symbolisch stark aufgeladene allgegenwärtige 'Schlamm' Galiziens – der an Franzos' 'Morast' gemahnt und sich auch in Rezzoris "Maghrebinien" wiederfindet (vgl. Lach/Markwart 2011) – stehen in plastischem Gegensatz zu jenen "weißen Städten" Südfrankreichs, die Roth in seiner gleichnamigen Textsammlung (von der Frankfurter Zeitung für "trop profrançaises" befunden und erst posthum publiziert, vgl. 130) beschreibt. Auch hier entfaltet sich jene – für die Lebensgeschichten etlicher in diesem Band behandelter Autoren charakteristische – biographische Dynamik zwischen der provinziellen Enge einer galizischen Kindheit (irgendwo "in jenem äußersten, fernsten Winkel der Monarchie", wie Manès Sperber [1993: 121] schreibt) und der späteren (teils unfreiwillig) kosmopolitischen Existenz, strukturiert von zahlreichen Reisen, die für Roth auch als Medium der Selbst-Erfahrung (zit. 131) bzw. der Selbst-Konstruktion fungieren: Über seine Auseinandersetzung mit einer aus seiner Sicht bereits 'fremden', verfremdeten osteuropäischen Welt definiert Roth sich kontrastiv – so in jenem berühmten Brief an Benno Reifenberg – in seiner Identität als "ein Franzose aus dem Osten" (zit. frz. 131). Bei aller Distanz sind Landschaften und Gesellschaft des alten Galizien doch bei Roth präsent, freilich im Rahmen einer weniger realistischen denn der historisch dekontextualisierten 'Impression' verpflichteten Ästhetik (134). Neben den Weißen Städten – "ein Reisebuch durch die Seele des Schreibers, wie durch das Land, das er durchfährt" (zit. Roth 134) – fokussieren Bel/Battiston nach einem Überblick über andere themenrelevante Texte vor allem seine Legende vom heiligen Trinker, Roths "Testament" (135), "[s]orte de biographie esthétisée en format de poche" (147) – und nicht zuletzt "émanation par excellence de sa vie parisienne" (141). Wiederholt setzt sich Roth in publizistischen Texten mit französischen Kulturlandschaften auseinander (134); nach dem historischen Sujet seines Napoleon-Romans Die Hundert Tage hält auch das zeitgenössische Frankreich als "arrière-plan littéraire" (135) Einzug in sein fiktionales Schaffen. Höhe- und Endpunkt dieser Entwicklung markiert eben die Legende als jener Text, der gleichsam als 'Synthese' von Leben und Werk Roths "son passage de l'Europe orientale à l'Europe occidentale, son évolution du judaïsme au catholicisme, du journalisme à la fiction, du roman à la nouvelle" (146f.) reflektiert.



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Unter dem intertextuell inspirierten Titel Joseph Roths Flucht und Ende setzt Soma Morgenstern, dem Geneviève Humbert-Knitel ihren Beitrag ("De la Galicie au bord de la Méditerranée. L''expérience' française de Soma Morgenstern (1938–1941)", 149–166) widmet, seiner (zeitweise durch eine Plagiatsaffäre überschatteten) Freundschaft mit Roth ein literarisches Denkmal (der Titel des Beitrags spielt auf ein 1999 erschienenes Werk Xavier Shapiras an, in dem der – weitgehend unbekannte – Autor den Lebensweg seines Vaters De la Galicie aux rivages de la Méditerranée schildert, 151). Soma (eigentlich Salomo) Morgenstern, als Sohn einer chassidischen Familie in Galizien mehrsprachig aufgewachsen, promovierter Jurist, doch als Schriftsteller und Journalist in Wien tätig, mit Alban Berg, Ernst Krenek, Robert Musil, Stefan Zweig und Alma Mahler bekannt (152ff.), flieht 1938 nach Paris; es folgt eine abenteuerlich anmutende Odyssee durch mehrere französische Gefangenenlager. Offiziell als "centres de rassemblement pour étrangers" oder "centres de séjour surveillé" etabliert, werden diese Lager informell, aber auch in der Presse unverblümt als "camps de concentration" bezeichnet (149f.); auch Morgenstern bedient sich in seinem Roman Errance en France (ebendieser Text steht im Zentrum von Humbert-Knitels Analyse) dieser Terminologie, wenn er von den "cinq camps de concentration que j'ai endurés en France" (zit. 150) berichtet. Dank einer Intervention des PEN-Clubs wird er aus dem französischen Internierungslager befreit (158); 1941 gelingt ihm die Flucht nach New York. Kurz: Morgenstern erlebt Frankreich von einer sehr spezifischen – und ziemlich dunklen – Seite; seine 'Irrfahrt' durch die "France des camps" (zit. Denis Peschanski, 149) eröffnet über das Einzelschicksal hinaus einen erhellenden Blick auf einen bis heute nicht erschöpfend 'verarbeiteten' Aspekt der französischen Geschichte, nämlich die Situation der 'étrangers indésirables' zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (17). Morgenstern rekonstruiert einige Jahre später seine Erlebnisse aus jener Zeit "à partir de ses souvenirs, entremêlant fragments autobiographiques, fiction et faits historiques" (150); es ist kaum ein Zufall, dass hier ein weiteres Mal ein – teilweise unfreiwilliger – Grenzgänger seine Vergangenheit in einem auch (Genre-)Grenzen überschreitenden Werk auf- und verarbeitet, das in seiner Vielfalt literarischer und philosophischer Bezüge (von Balzac und Baudelaire [152f.] bis zum talmudischen Pilpul, 160) die bewegte Biographie des Autors widerspiegelt, geographische und kulturelle Räume überblendet (so schimmert durch Morgensterns Schilderungen französischer Landschaften die Vision seiner "Galicie natale" durch, 159). Erst mit beträchtlicher Verspätung werden Schaffen und Schicksal des Autors einer breiteren Öffentlichkeit bekannt; mit der in den 1990er Jahren – im Kontext eines stark auflebenden Interesses an den östlichen Grenzgebieten der Monarchie und einer zerstörten ostjüdischen Welt (154) – unternommenen Edition des Lüneburger Zu Klampen-Verlags erleben die meisten Werke Morgensterns ihre posthume Erstpublikation (mit Ausnahme seines bereits 1935 erschienenen Romans Der Sohn des verlorenen Sohnes). Kritik am Herausgeber (Ingolf Schulte), der sich beträchtliche Freiheiten gegenüber Morgensterns Texten 'herausgenommen', ein fragmentarisches Werk künstlich zu einem harmonischen Ganzen gefügt, historisch 'falsche' Daten eigenmächtig korrigiert hatte (154), ließ freilich nicht auf sich warten; auch in dieser Hinsicht lädt der 'Fall' Morgenstern zur kritischen Reflexion über den adäquaten Umgang mit (literarisch verarbeiteter) Historie ein.



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Auch Natalia Shchyhlevska zeichnet in ihrem Beitrag ("H. W. Katz: galizischer Jude und deutscher Schriftsteller in Frankreich", 167–184) die "Stationen eines langen Weges ins Exil" nach (17). Zu Beginn des Ersten Weltkriegs flieht H. W. Katz – 'Herz Wolff', 'Heinrich Wilhelm', 'Henry William': allein schon dieses Namens-Palimpsest lässt die Peripetien einer turbulenten Lebensgeschichte erahnen – mit seinen Eltern aus seinem galizischen Geburtsort Rudky nach Gera in Thüringen; im Mai 1933 sieht er sich als sozialdemokratischer und jüdischer Journalist (aktiv auch unter dem Pseudonym 'Willibald Kater', 175) erneut zur Flucht gezwungen, emigriert nach Lyon, lebt später in Paris, meldet sich bei Kriegsausbruch trotz seiner pazifistischen Überzeugung zur Fremdenlegion (182), bevor er 1941 in die USA gelangt. Hier liegt der Fokus auf Katz' acht 'französischen' Jahren: In sein zweites Exil kommt der "Sprachwechsler" Katz – für den Deutsch zur "neuen Muttersprache" geworden war (176), die er sich auch vom NS-Terror nicht nehmen lässt15 – zwar mit passablem "Schulfranzösisch"; dennoch erlebt er Frankreich als "fremdes Land" (zit. 178), wozu sein prekärer sozialer und bürokratischer Status das Seine beiträgt. In Lyon verfasst Katz unter ärmlichsten materiellen Bedingungen (179) – und entgegen allen publikations-pragmatischen Überlegungen auf Deutsch (177) – seinen autobiographisch inspirierten Familienroman Die Fischmanns, dies nach eigenem Bekunden "wie in Trance" (zit. 180). In seiner Lyonnaiser Dachstube ohne Gas- oder elektrisches Licht (der Topos des 'armen Poeten' wird in politischer Krisenzeit traurige Realität) erschafft Katz "einen üppigen Bilderbogen ostjüdischen Lebens" (180); er schreibt sich damit wie Franzos, Morgenstern, Roth, Leo Katz, Efraim Frisch oder Manès Sperber ein in die Reihe jener Autoren, die in ihren Werken "die längst zerstörte und vernichtete Welt des osteuropäischen Judentums" (171f.) bewahren. Katz' Text, bei aller Eigendynamik des Schreibens auch bewusste 'Erinnerungsarbeit' (zit. 177), steuert "dem verklärenden Hang des Lesepublikums entgegen" und lässt "keinen Raum für Sentimentalität" übrig (180). Sein Geburtsort Rudky wird unter dem Namen 'Strody' transparent fiktionalisiert (auch hier entfalten sich galizische 'Farbenspiele', die an Roth und Franzos erinnern, zit. 168). 'Strody' ist alles andere als eine galizische Märchenwelt; wenn Mutter und Großmutter bei ihrer Handarbeit auch allerlei Geschichten 'ausspinnen', so ist die Rede von Pogromen, in Kišinëv 1903 (dieses Ereignis wird quasi "dokumentarisch wiedergegeben", 169) und in Žitomir 1905. Diskussionen über Emigrationsprojekte sind an der Tagesordnung; während die junge Generation von den USA träumt, plädieren die Großeltern, ganz im Sinne Franzos' einem bereits anachronistischen deutschen Bildungsideal verhaftet, für Deutschland: "ein gebildetes Land! Da gibt es einen Herrn von Lessing, der hat ein großes jüdisches Drama geschrieben!" (zit. 170).

Die Fischmanns – 1936 zum Wettbewerb des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil eingereicht, 1938 auf Deutsch in Amsterdam und in der Tschechoslowakei, im gleichen Jahr in englischer, dann in polnischer Übersetzung veröffentlicht – bringen dem debütierenden Autor den Heinrich-Heine-Preis ein (181).



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Katz macht sich an die Arbeit an einem "Folgeroman", dem seine Zeit in Deutschland zugrunde liegt: Schlossgasse 21 erscheint 1940 in englischer Übersetzung (No. 21 Castle Street; die deutsche Originalfassung erblickt erst 1986 mit Hilfe des Fischer-Verlags das Licht der editorialen Welt, 181). Damit bricht Katz' literarische Karriere freilich auch schon wieder ab (bereits verlags-vertraglich gesicherte Pläne für einen dritten Roman werden nicht mehr realisiert); sein neues US-amerikanisches Leben verläuft abseits der Literatur (182f.). Warum verstummt der noch junge, sogleich preisgekrönte und in mehrere Sprachen übersetzte Romancier nach nur zwei Werken? Das Schreiben, so Shchyhlevskas Interpretation, fungiert für Katz als "therapeutischer Vorgang" in der Krisensituation des Exils (181). Eben der Erfolg dieses 'existenziellen' literarischen Projekts markiert auch dessen (psycho-)logisches Ende: "Die heilende Wirkung des Schreibens auf den Menschen H. W. Katz bedeutete demnach die Auflösung des Autors H. W. Katz" (181f.).

Petro Rychlo ("'Hier rollt die Seine träg und starr'. Alfred Margul-Sperbers Gedichte aus seiner Pariser Zeit", 185–195) untersucht die 'Pariser Periode' Margul-Sperbers, der sich als junger deutschsprachiger Dichter aus der rumänisch gewordenen Bukowina "die Welt zur Heimat" nimmt (Gauß 2010: 152), längere Zeit in Paris, New York und Wien lebt, aus der "Steinwüste" New York (zit. Kittner 1990) schließlich krank und enttäuscht – ein Leben lang unentschieden "zwischen der Metropole, der großen Welt und der Provinz, der kleinen Welt am Rande" (Gauß 2010: 153) – in seinen Geburtsort Storožinec zurückkehrt. In Paris, wo er etwa ein Jahr verbringt, schließt Margul-Sperber Freundschaft mit Yvan Goll, macht die Bekanntschaft der literarischen Avantgarde, die neben der Tradition der "poètes maudits" (188) auch seine eigene Lyrik stark beeinflusst. Später agiert er bereitwillig als 'Kulturvermittler'; ihm verdankt der junge Paul Celan nicht nur sein anagrammatisches Pseudonym (vgl. Gauß 2010: 155), sondern auch den Kontakt zu Margul-Sperbers Pariser Bekannten (darunter die Freundschaft mit Goll, die nach dessen Tod auf Betreiben der Witwe Claire das bekannte fatale Nachspiel haben sollte).

Ist das teilweise etwas holprige Deutsch dieses Beitrags verzeihlich, so drängen sich gewichtigere Einwände auf: Dies gilt für die explizit deklarierte Interpretationsstrategie, literarische Texte in Ermangelung anderer Zeugnisse als biographisches Material auszuwerten ("[…] angesichts des Mangels dokumentarischer Angaben müssen wir ausschließlich auf seine poetischen Zeugnisse angewiesen sein, um seine Pariser Zeit zu rekonstruieren", 186), vor allem aber für die ausgeprägte Tendenz, den Diskurs des behandelten Autors weniger zu analysieren denn – oft recht unkritisch – zu paraphrasieren. Besonders augenfällig wird dieses Problem im Zusammenhang mit der Margul-Sperber'schen 'Prostitutionslyrik', die Rychlo in eben jenen sentimental-patriarchalisch-moralisierenden Kategorien kommentiert, die es zu hinterfragen bzw. zu kontextualisieren gälte; wenn er etwa feststellt, Margul-Sperber behandle bevorzugt "[d]as Thema der menschlichen Verworfenheit, insbesondere das Schicksal der gefallenen Frauen" (189), kann die Leserin nicht widerstehen, auf Karl Kraus' pointierte Reflexionen über Sittlichkeit und Kriminalität und insbesondere seine Dekonstruktion (avant la lettre) der hypokritischen Klischeeformel der 'gefallenen Frau'16 zu verweisen.



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In Bezug auf das Gedicht "Episode" (das lyrische Ich sinniert hier in der Rolle des 'Freiers' einer Prostituierten über das traurige Schicksal jener "Letzte[n] Verworfene[n]" nach, zit. 190) erläutert Rychlo, dass Margul-Sperber "die seelische Keuschheit des armen Dirnenmädchens [zeigt], dessen Gefühle und Lebenshoffnungen grob und rücksichtslos zertreten wurden und welches das Opfer seiner eigenen Armut und naiver Vertraulichkeit in der heuchlerischen Gesellschaft geworden ist" (190). Hier wäre aus der Perspektive des zeitgenössischen Interpreten etwas mehr Distanz am Platze gewesen, scheint Margul-Sperbers Pariser "Dirnen- und Kaschemmenpoesie" (zit. Peter Motzan, 194) doch eine zumindest auch gender-kritisch orientierte Lesart herauszufordern. Aber auch abseits von 'gefallenen Frauen', ermordeten Bürgersgattinnen ("Aus Eifersucht") und dekorativen Wasserleichen (nicht fehlen darf auch der Topos der Inconnue de la Seine, 192) fällt die problematische Übernahme anachronistisch moralisierender Urteile auf, so etwa, wenn Rychlo – ohne eine Spur von Anführungszeichen oder sonstiger Distanznahme – vom "sittenlosen Leben[] des französischen Dichters Paul Verlaine" schreibt, das Margul-Sperber in "Der unselige Schwärmer" verarbeite (193).

Rychlos Studie endet mit dem Abschluss der Pariser Phase Margul-Sperbers (als Ausklang des "recht losen Pariser Zyklus" darf das Gedicht "Souvenir de Paris", 1928 bereits in der Bukowina entstanden, gelten, 194) bzw. mit einem knappen Vorausverweis auf seine New Yorker Zeit; auch wenn die Ausblendung des weiteren Werdeganges des Dichters im Rahmen dieser historischen Einschränkung nachvollziehbar ist, wäre – gerade angesichts der hier sonst kultivierten biographischen Ausführlichkeit und der Tatsache, dass "Margul-Sperbers Biographie […] der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt [ist]" (zit. Michael Markel, 184) – eventuell ein Hinweis auf die kontroverse weitere Laufbahn des Pariser 'Dirnen- und Kaschemmendichters' am Platze gewesen, der "[z]um Befremden vieler […] in den Nachkriegsjahren, ohne der kommunistischen Partei beizutreten, seine Dichtung in den Dienst der Propaganda der Staatsmacht gestellt" hat (Kittner 1990) und sich auch "zu staatsfrommen Elogen bereitfand" (Gauß 2010: 155); ein empathisches, zugleich aber auch kritisches Porträt Margul-Sperbers entwirft etwa der hier zitierte Karl-Markus Gauß.

Ein "gutmütiger Riese" (zit. ibid.) war Margul-Sperber, dieser "gebildetste und leidenschaftlichste Fürsprecher, den die deutsche Literatur in Rumänien jemals hatte" (ibid.: 154), in den Augen des deutsch-bukowinischen Dichters Moses Rosenkranz, dem Judith Schifferle ihren Beitrag ("'Leben wie Gott in Frankreich. Das war die Idee!' Moses Rosenkranz' geopoetische Spurensuche im Elsass der 1920er Jahre", 197–214) widmet. Schifferle, deren Dissertation Überleben im Dazwischen. Zu den poetischen Selbstbildern im Werk von Moses Rosenkranz (1904–2003) im Herbst 2013 bei Böhlau erscheint, analysiert insbesondere den Text Jugend. Versuch über mich. Ein Mensch dieser Zeit aus den Jahren 1982/83, den bislang unveröffentlichten zweiten Teil von Rosenkranz' als Trilogie konzipierter Autobiographie (18; der erste Teil, Kindheit. Fragment einer Autobiographie, wurde 2003 vom Aachener Rimbaud-Verlag publiziert).



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Jugend schildert u. a. den Weg des Autors von Czernowitz nach Straßburg in den 1920er Jahren: Anders als die professionell-publizistischen Reisenden Franzos oder Joseph Roth erlebt Rosenkranz, "verarmter Bauernsohn ohne bürgerlichen Bildungshintergrund", beide Welten aus einer ganz anderen sozioökonomischen Perspektive, nämlich "als Gepäcksträger, Taglöhner, Fabrikarbeiter und Gelegenheitsdichter" (197). Seine 'französische Reise' ist geprägt von einem gleich mehrfachen Marginalitätserleben; sein "Aufenthalt als Gast und Randständiger führt […] an die Grenzen des sozialen und menschlichen Daseins" überhaupt (208). Wenn auch kein genuin 'bildungsbürgerliches' Reiseprojekt, so erscheint die Fahrt ins Elsass – der erste und bedeutendste von drei Frankreich-Aufenthalten – nachträglich doch als "eine der wichtigsten 'Bildungsreisen', die Rosenkranz als Jugendlicher unternahm" (198), als "umfassende Ich-Prüfung", die "das Selbstverständnis […] neu zur Disposition" stellt (199). Die "Suche nach einer offiziellen Identität" – zwischen bürokratischer Schikane und existenzieller Fremdheit – gerät zum "erschöpfenden Kraftakt" (210); als "einziges Identitätspapier" kann Rosenkranz sein literarisches Schaffen anbieten (211), wie Schifferle in einer an Derridas Reflexionen über die Existenz "sans-papier" (Derrida 2006: 239), über das Papier als "Ort der Selbstaneignung des Selbst, und sodann eines Rechtssubjekt-Werdens" (ibid.: 238) erinnernden Passage bemerkt. Kurz: Die "Fremde" bleibt für Rosenkranz "Ausgangspunkt, Katalysator und Prüfstein" des Schreibens (212); eben seine elsässische Reise, die zwischen 'Halb-Asien' und Frankreich einen "geopoetischen Bogen" (197) aufspannt, erscheint retrospektiv als "für das poetische Schreiben und letztlich für das (poetische) Überleben des Ichs" (212) konstitutives literarisch-biographisches Schlüsselerlebnis.

Anna Maja Misiaks Beitrag ("'Die Stadt des blauen Graus und der fünf Millionen Füße'. Paris in Gedichten und Montagen von Debora Vogel", 215–226) ist insofern besonders erfreulich, als er die hochinteressante Figur Vogel – Schriftstellerin, promovierte Philosophin (ihre Dissertation aus dem Jahr 1926 beschäftigt sich mit Hegels Ästhetik), Dozentin, Kunstkritikerin und -theoretikerin, 1942 im Lemberger Ghetto erschossene "'Botschafterin' des jiddischen Modernismus in Galizien" (Misiak 2008) – in ihrer literarischen und theoretischen Originalität würdigt, sie damit aus dem "Schatten von Bruno Schulz"17 holt und nicht – wie nur allzu oft in der literaturwissenschaftlichen Forschung geschehen – auf ihre Rolle als 'Muse' (und/oder minder talentierte 'Imitatorin') Schulz' reduziert.18 Vogel – wiederum aus durchaus 'bildungsbürgerlicher' Perspektive mit den kulturellen Zentren der Moderne vertraut – verlebt die Zeit des Ersten Weltkriegs in Wien; nach Studienabschluss begibt sie sich allein auf eine mehrmonatige Bildungsreise nach Berlin, Stockholm und Paris (215). Die französische Metropole, in die sie auch später mehrere kürzere Reisen führen ("Dosia macht eine originelle Hochzeitsreise – ohne den Mann – nach Paris", heißt es in der Korrespondenz ihrer Verwandten aus Anlass eines dieser Paris-Trips, zit. 215), spielt für Vogels Schaffen "als Hauptstadt der Avantgarde-Kunst, als realer Raum und vor allem als Metapher für die menschliche Existenz" (215) eine zentrale Rolle.



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Im Zentrum von Misiaks Analyse steht Vogels zwölfteiliger Schundballaden-Zyklus (1930 entstanden, 1934 in ihrem zweiten Gedichtband manekinen19 veröffentlicht), in dem Pariser Stadtlandschaften lyrisch verarbeitet werden (216); in der "Schundballade Paris" richtet sich der Blick eines in seine provinzielle Heimat zurückgekehrten lyrischen Ich voll ambivalenter Sehnsucht auf die französische Hauptstadt – ein charakteristischer Gestus, der sich in den um die Zentrum/Peripherie-, Metropole/Provinz-Dialektik kreisenden Texten der in diesem Band versammelten 'halbasiatisch'-französischen Grenzgänger immer wieder findet. In ihren lyrischen Stadträumen konfrontiert Vogel Technik und Natur (217), sie dechiffriert Paris aber auch als "espace publicitaire" (19); im Rahmen ihrer Poetik der Montage werden konkrete Stadt-Inschriften, Zeitungsberichte und -annoncen (222), Reklamebilder und -texte verarbeitet. Misiak geht auch auf die Gender-Dimension der urbanen Montagen Vogels ein (vgl. etwa den Text "Militärparade", 222). Die lyrische Stadt-Beschreibung fungiert zugleich als "Lebensinterpretation" (217); Misiak betont Vogels Vorliebe für das Marginale, das Verfallene (217f.), ihr Interesse für den 'Gemeinplatz',20 den in seiner Alltäglichkeit abgründigen 'Schund' – Schlüsselbegriff ihrer Poetik: "Schund überschwemmt die Welt", heißt es in Akazien Blühen (zit. Ficowski 2008: 54). Sie etabliert eine aufschlussreiche intermediale Parallele zwischen den Montage-Texten Vogels und der Malerei Utrillos (den Vogel in ihren Kunstkritiken mehrmals erwähnt und dem sie das Gedicht "Vorstadthäuser" in ihrem ersten Lyrikband tog-figurn [1930] widmet, 218); auch über diese Konstellation hinaus arbeitet sie intermediale/intertextuelle Querverbindungen zwischen dem Werk Vogels und ihrer literarisch-künstlerischen Zeitgenossen heraus (darunter wiederum Yvan Goll, 219, aber etwa auch Georges [Jurij] Annenkov, 217). In ihren theoretischen Schriften (vgl. v. a. literarisher montazsh) interpretiert Vogel, die sich "frei und kritisch […] im polnischen, russischen, deutschen, französischen und englischen Literaturraum bewegte" (Misiak 2008) und vor allem der französischen Literatur wichtige Anregungen verdankt, die Montage als "eine Art Weltanschauung" (221); der Bezug zu Walter Benjamin drängt sich auf und wird von Misiak auch hergestellt (223). Neben den Schundballaden geht Misiak auch auf Vogels Montage-Prosa ein (v. a. Akazien Blühen, 1935 auf Jiddisch, 1936 auf Polnisch erschienen; zwischen 1936 und 1938 in der New Yorker jiddischen Kulturzeitschrift in zikh publizierte Fragmente eines geplanten zweiten Montage-Romans), in der "Paris als poetischer Raum und als Schlüsselformel" (221) ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Kurz: eine überaus gelungene Studie, die der Künstlerin und Theoretikerin Vogel in ihren unterschiedlichen Facetten gerecht wird und zur Entdeckung einer nach wie vor einem breiteren Publikum kaum bekannten und von der literaturwissenschaftlichen Forschung erst in Ansätzen (vgl. Szymaniak 2007) erschlossenen Autorin einlädt.

Charlotte Krauss untersucht "Die Literatur als Ort der Erinnerung und der Begegnung. Die Faszination für den europäischen Osten bei Pierre Pachet und Martin Pollack" (227–247), zwei zeitgenössischen Autoren, die 'Halb-Asien' aus – reflexiv gebrochener – westlicher Perspektive darstellen (19).



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Pachet wie Pollack (die beide bei der Straßburger Tagung präsent waren und mit Textauszügen in diesem Band vertreten sind) räumen dem Osten Europas "auf jeweils sehr eigenwillige Art und Weise in ihren eigenen Werken einen wichtigen Platz ein" (229); beider Texte stehen für eine literarische "Erinnerungsarbeit, die nicht den Sirenen der schlichten Nostalgisierung erliegt" (19), und laden insofern besonders dazu ein, den vergangenheits-fokussierten "Mythos des literarischen Halb-Asiens" (228) kritisch zu hinterfragen, den "süßlich-kakanische[n] Zuckerguss" (zit. Pollack 242) von einer im Nachhinein idyllisierten Welt abzukratzen. Für Pachet wie für Pollack führt der Weg zur ausführlichen Beschäftigung mit Osteuropa über die jeweilige Familiengeschichte: Pachet wurde mit seiner Autobiographie de mon père (1987) bekannt, in der er die Lebensgeschichte seines Vaters in der ersten Person erzählt (19f.).21 Während Pachets Text auf einer Poetik der Empathie, der "altruisation" (zit. Florence Dumora, 233) beruht, auf dem Versuch, einem zu Lebzeiten allzu schweigsamen Vater – Exilant auch seiner Muttersprache – nachträglich eine 'Stimme' zu verleihen ("La parole de mon père mort demandait à parler par moi […]", zit. 20), rekonstruiert Pollack die Biographie seines (ihm de facto unbekannten) Vaters mit sehr viel größerer journalistischer Distanz (233). Davon zeugt bereits der Untertitel, mit dem er seinen Text Der Tote im Bunker (2004) versieht; dieser Bericht über meinen Vater verfolgt die Spur eines Mannes, der die Shoah von der 'anderen' Seite her als aktiver Täter erlebte, der – schon vor dem 'Anschluss' Mitglied der NSDAP, später Gestapo-Chef in Linz – als SS-Sturmbannerführer und Einsatzleiter des 'Sonderkommandos' 7a an Erschießungen in Polen und in der Slowakei beteiligt war und dessen Leiche 1947 in einem Bunker am Brenner gefunden wurde. Die eigene Familiengeschichte konfrontiert den Autor hier mit der unbehaglichen Frage, wie "ein Mensch zu einem Kriegsverbrecher [wird]" (233); Pollack – und dies ist eine der Stärken dieses mutigen Textes – verzichtet darauf, seinen Recherchen eine allzu kohärente Geschichte abzugewinnen ("ich versuchte etwas zu entziffern, was immer bruchstückhaft bleiben würde", zit. 235); "die Arbeit mit dem Fragment und die Akzeptanz der Grauzonen" (235) erscheinen als zentrales ethisches und narratives Prinzip dieses Berichts.

Freilich fungiert der jeweilige familiäre Bezug für beide Autoren nur als "Ausgangspunkt" (236) für ihre intensive Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart Osteuropas. Das Unterfangen der 'Reise' wird auf metadiskursiver Ebene problematisiert (237); bemüht, Entfremdung und Unbehagen als erkenntnistheoretisch fruchtbares Moment zuzulassen, ja zu kultivieren (zit. Pachet 239), machen sie es auch ihren Lesern nicht leicht. Krauss beschreibt diese Texte voller "Leerstellen" (236ff., 245), die sich "der absoluten Eindeutigkeit" (244) verweigern, metaphorisch als literarische 'Museen' (243ff.), als "Schauräume" (zit. Horst Wenzel, 243), im Anschluss an (A. und J.) Assmann auch als "Erinnerungsräume", die eine "Archiv-Funktion" übernehmen (245). Beide Autoren greifen, ihre Werke bewusst 'intertextualisierend', auf literarische Vorgänger zurück. So stellt Pollacks "imaginärer Reisebericht" Galizien (1984) ganz im Sinne Kristevas ein regelrechtes "Mosaik" (241) dar:



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Die Komplexität des Mikrokosmos Galizien – damals wie heute eine "ferne, fremde Welt" (zit. 241) – wird über einen Polylog unterschiedlicher Schriftsteller illustriert, darunter neben Franzos auch Bruno Schulz, Iwan Franko, Joseph Roth, Józef Wittlin (242f.), sämtlich Ko-Autoren jener "galizischen Fortsetzungsgeschichte, die bestimmte Motive und Ideen wiederholt und variiert" (Lach/Markwart 2011); die vielstrapazierte Palimpsest-Metapher drängt sich in diesem Kontext in der Tat geradezu auf (244).22

Krauss' Beitrag – in mancher Hinsicht Synthese der in den vorangegangenen wissenschaftlichen Studien aufgeworfenen Fragen und theoretisch wohlfundierte, sensible Überleitung zu den beiden literarischen Textausschnitten, die den Band beschließen – verdeutlicht ein weiteres Mal, wie sehr 'Halb-Asien' heute "primär ein Ort der literarischen Rekonstruktion" ist; einer Rekonstruktion, "die dort ansetzt, wo die historische Spurensuche zu Ende ist: die Welt des alten Galizien ersteht nicht aus nüchternen historischen Fakten wieder, sondern in der erzählten Erinnerung ebenso wie in der kreativen Aneignung durch die Nachgeborenen" (Woldan 1998: 206).

In diesem Sinne ist am Ende noch einmal die Literatur selbst am Wort: zunächst Pierre Pachet (249–257; der hier in deutscher Erst-Übersetzung von Ariane Lüthi präsentierte Textausschnitt aus Pachets "Autobiographie meines Vaters" erzählt aus dem Leben des jungen Simkha Apatchevsky bis zu seiner Abreise nach Frankreich), daran anschließend ein von Charlotte Krauss erstmals ins Französische übersetzter Auszug aus Martin Pollacks "Le Mort du bunker. Récit sur mon père" (259–270), der die "Spurensuche des Autors in der Slowakei" schildert und die strukturelle Komplexität dieses Textes mit seiner "Verflechtung zeitlicher Ebenen" (20) illustriert.

Fazit: Dem 'Mosaik' Halb-Asiens – von Theodor Fontane als "Karl-Emil-Franzos-Gegend" bezeichnet (zit. Ernst 2007: 8) – wird dieser interdisziplinäre Sammelband in seiner eigenen theoretischen und thematischen Vielfalt gerecht; hier wurde ein beträchtliches Maß an Heterogenität nicht nur in Kauf genommen, sondern gezielt kultiviert. Der 'Fluch' so manchen Tagungsbandes gerät zur Bereicherung: Immer wieder ergeben sich interessante Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen, die auch aufschlussreiche Perspektiven aus unterschiedlichen ost- und westeuropäischen Wissenschaftskulturen einbringen. Überaus ansprechend – und der Thematik adäquat – ist auch der den gesamten Band prägende Gestus, das literarische 'Objekt' der Analyse eben nicht auf ein solches zu reduzieren, sondern vielmehr selbst ausführlich zu Wort kommen zu lassen – in umfassenden Zitaten in den einzelnen Studien, vor allem aber in den Texten Pachets und Pollacks, die quasi eine kreative 'Klammer' um die wissenschaftlichen Beiträge des Bandes bilden.

Die Auswahl der analysierten Autoren fügt sich ihrerseits in die hier kultivierte Poetik der Peripherie: Es ist überaus positiv zu vermerken, dass nicht nur die 'Klassiker' des galizischen Mythos, sondern auch etliche weniger bekannte Autoren, teilweise bis heute unveröffentlichte Texte präsentiert werden; damit leistet dieser Band auch einen Beitrag zur kultur- und gender-kritischen Infragestellung und Erweiterung des Kanons der 'Weltliteratur'. Im Anschluss an die vorgelegten Studien bieten sich Analysen zu weiteren Autoren an, die sich in dem von den Polen 'Halb-Asien' und Frankreich markierten Spannungsfeld beweg(t)en.



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Ist der 'Fall' des hier mehrfach erwähnten Paul Celan bereits sehr ausführlich 'beforscht' (nicht zu vergessen die gleichfalls von Margul-Sperber geförderte Rose Ausländer, in deren künstlerischer Biographie die Begegnung mit Celan im Paris des Jahres 1957 einen Wendepunkt darstellt), so gilt das nicht unbedingt für Leopold von Sacher-Masoch (auf dessen in Paris auf Französisch verfasste Contes juifs die Hg. in ihrer Einleitung hinweisen, 13). Angesichts seines durch Krafft-Ebings Psychopathia sexualis auf literaturfremdem Gebiet begründeten Ruhms wird Sacher-Masoch als Schriftsteller, als "der vielleicht bedeutendste Schilderer der galizischen Landschaft im 19. Jahrhundert" (Lach/Markwart 2011) nur allzu oft vernachlässigt; die 'galizischen' Texte dieses "Antipoden Karl Emil Franzos'" wären mit dessen Culturbildern in aufschlussreiche Beziehung zu setzen (ibid.), aus komparatistischer Perspektive hinsichtlich ihres teilweise französischen Entstehungskontextes und ihrer französischen Rezeption zu untersuchen. Zu verweisen wäre aber auch auf den (berühmteren, doch alles andere als restlos erforschten) Bruno Schulz, Korrespondent, Künstlerfreund, Fast-Verlobter Debora Vogels, literarischer Repräsentant einer Provinz, die "paradoxerweise […] im Zentrum der Welt" liegt (Jarzębski 2005: 6), der im Sommer 1938 ebenfalls eine Reise nach Paris unternimmt, aus der Sicht des eingeschüchterten Besuchers "die exklusivste, autarkste und geschlossenste Stadt auf der Welt" (zit. Ficowski 2008: 106f.).

Angesichts der relativen "obscurité" (Galmiche über Ritter, 95) etlicher der hier analysierten Autoren (und des themenspezifisch sinnvollen Fokus auf die Verstrickungen zwischen Leben und Literatur, die sich in oft auch genre-hybriden Texten widerspiegeln) ist die in den meisten Beiträgen sehr ausführliche biographische Kontextualisierung ebenso aufschlussreich wie legitim (wohingegen sie bei Joseph Roth etwas knapper hätte ausfallen können). In einigen Beiträgen hätte die Leserin sich ergänzend zu den biographischen Ausführungen etwas mehr an konkreter Textanalyse gewünscht; wenn etwa Shchyhlevska zu H. W. Katz bemerkt, man habe es hier mit einem Deutsch zu tun, "in dem man bei genauer Lektüre eine andere, gut versteckte Sprache, Jiddisch, ausmachen kann. Oft sind es einzelne Wörter, die das frühere kulturelle Gedächtnis tragen" (176), so wäre es von Interesse gewesen, diese These an einigen Textbeispielen illustriert zu sehen (ebendieser Aspekt des 'Schreibens zwischen den Sprachen' wäre allgemein am Werk dieser sämtlich mehr oder minder perfekt mehrsprachigen Autoren – Repräsentanten einer kulturellen Sphäre, die sich durch ihre 'selbstverständliche' Plurilingualität auszeichnete – weiter zu verfolgen). Die Problematik stark biographie-fokussierter Lesarten – nämlich dass gerade im Fall von (hier zahlreich vertretenen) Autoren mit im tragischen Sinne allzu 'spannender' Lebensgeschichte das biographische Interesse gegenüber der Auseinandersetzung mit dem Werk überhandzunehmen droht – wird auch im Band selbst reflektiert: So merkt Schifferle am Beispiel Rosenkranz kritisch an, dass nach der "Wiederentdeckung" des Autors dessen "schicksalhafter Vita […] fast mehr Beachtung" zugekommen sei als seinem Œuvre (198).



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Doch nicht nur in themen-/autorenspezifischer, sondern auch in allgemein theoretischer Hinsicht regt dieser Band zu weiteren Forschungen an, vor allem, was die Relevanz postkolonialer Theoriebildung auch für die Problematik "einer innereuropäischen condition postcoloniale" (Müller-Funk/Wagner 2005: 18) betrifft – die ihrerseits erhellende Einblicke in die Psycho- und Kulturo-Logik des Kolonialismus auch außerhalb Europas ermöglicht; Kulturkontakt und -austausch zwischen der (Ex-)Kolonialmacht Frankreich und der 'k.u.k.-(post)kolonialen' Sphäre (vgl. Ruthner 2002) erweisen sich hier als besonders aufschlussreich (wie etwa Previšićs Beitrag illustriert).

In diesem Sinne soll diese kleine kritische Rundreise dort enden, wo sie begonnen hat – in Franzos' Halb-Asien, einem Culturbild-Panorama, an dem sich eine Reihe postkolonialer Fragestellungen paradigmatisch reflektieren lässt. Weist Patrut (2005: 108) darauf hin, dass "die Arbeiten von Karl Emil Franzos unter postkolonialen Gesichtspunkten zu evaluieren" wären, so werden in diesem Band einige interessante Spuren einer 'postkolonialen' Franzos-Forschung gelegt, wobei auch die Ambivalenzen seines Projekts deutlich werden. Wenn Urban bemerkt, dass Franzos' "wenig originell[e]" Position sich "nahtlos in den Diskurs deutschnationaler Kulturpolitik" (107) fügt, so arbeitet er doch auch die Brüche und Widersprüche des Franzos'schen Diskurses – bzw. auch dessen 'Eigendynamik' – heraus.23 Krauss wiederum ist zweifellos zuzustimmen, wenn sie bemerkt, wie sehr Franzos' "deutschnationales, kolonialistisches Gedankengut heute verstört" (227).24 In der Tat rekurriert Franzos auf das etablierte rhetorische und ideologische Repertoire des Kolonialismus,25 die problematische Gleichung 'Kolonisation = Zivilisation' wird durch sein gesamtes 'halb-asiatisches' Werk fortgeschrieben; doch auch dieses Projekt trägt den Ansatz zu seiner Dekonstruktion bereits in sich. Eine auch bei Krauss (227) zitierte Schlüssel-Passage illustriert die inhärente Widersprüchlichkeit dieses Programms, dem "ein unlösliches Paradox" (Lach/Markwart 2011) eingeschrieben ist: "Ich wünsche den Osten weder germanisirt noch gallisirt – beileibe nicht! Ich wünsche ihn blos cultivirter, als er derzeit ist […]. Und da der Einfluß französischen Wesens im Osten bisher wenig segensreiche Früchte getragen, so meine ich hier allerdings vornehmlich die Pflege deutscher Bildung", erklärt Franzos (1876: VIIIf.), der einerseits "die Cultur, oder was dasselbe sagen will, das Deutschthum" (ibid.: 186) kurzerhand kontextuell synonym setzt und vor deren kosmopolitischer Verwässerung im Osten warnt (ibid.: 182f.), andererseits jedoch "das kulturelle und nationale Selbstbewusstsein der galizischen Völker zu erwecken" versucht (Lach/Markwart 2011; zu den Ambivalenzen von Franzos' "Erweckungsnationalismus" vgl. auch Essen 2002: 226ff.).

Bei aller Herablassung gegenüber dem 'semi-barbarischen' Halb-Asien artikuliert sich doch auch schon in dieser Textsammlung die Skepsis zunächst gegenüber der französisch dominierten "traurigen 'Zivilisation', die sich über dieses Land [hier Rumänien, m. A.] ergossen" (ibid.: 196), einer – hier ebenso wie die importierte 'Kultur' (ibid.: 197) mit kritischen Anführungszeichen versehenen – 'Zivilisation', der Franzos vorwirft, "in den höheren Kreisen der Gesellschaft jede bisher bestandene Besonderheit verwischt" zu haben, während die "niederen Schichten" nach wie vor "in althergebrachter Lebensanschauung und Barbarei verharren" (ibid.: 198).



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In späteren Schriften erscheint diese Zivilisationsskepsis noch stärker akzentuiert bzw. erweitert; in der letzten "Erzählung"26 Franzos', Leib Weihnachtskuchen und sein Kind (1896), "Franzos' most pessimistic, his saddest work" (Sommer 1984: 153),27 verkehrt sich der "kultur-hegemoniale Optimismus", der sein früheres Werk prägt, geradezu in sein Gegenteil (Lach/Markwart 2011). Schließlich gilt es Franzos' Kulturprogrammatik – worauf die Hg. in ihrer Einleitung hinweisen (10) – auch im Kontext der Identitätsproblematik des Autors zu lesen. All diese konfliktuellen Momente fließen in die Franzos'sche 'Erfindung Halb-Asiens' ein, deren fundamentale Ambivalenz das kolonialistische Oberflächen-Programm nicht restlos zu verbergen vermag:

Vehement, wie niemand vor ihm, rückte Karl Emil Franzos Galizien in die literarische Auf­merksamkeit Europas, entdeckt dem europäischen Zentrum eine ferne, einzuholende Peri­pherie; doch er evoziert kein eindeutiges Bild, kein simples kolonialistisches oder touristi­sches Schema. Ambivalent, zwiegespalten […] erscheint das literarische Abbild Galiziens in Franzos' Erzählungen und Romanen. […] Zuletzt verblasst gleichsam der koloniale Impetus hinter dem literarischen Entwurf Galiziens. (Lach/Markwart 2011)

Auch in diesem Sinne ist wohl Franzos' nach wie vor suggestive Metapher von jenem "seltsame[n] Zwielicht", das "im Osten oder doch mindestens in jenem Theil des Ostens, von dem diese Blätter Kunde geben" (Franzos 1876: IV), herrsche, zu lesen.


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Anmerkungen

1 In seinem Vorwort zu den Juden von Barnow – fiktionalisierte Version von bzw. "symbolisches Substitut" (Strohmaier 2007: 20) für Franzos' Geburtsort Czortkow – reflektiert der Autor selbst die Spezifik dieses reise-poetologisch interessanten 'hybriden' Genres, in dem sich (in Bezug auf Halb-Asien) "der Kulturschilderer auf den Novellisten gestützt" habe (während nun umgekehrt der "Novellist" sich der "Hülfe des Kulturschilderers" bediene, Franzos 1899: IX). Zur Genre-Problematik der Franzos'schen "Kulturskizze" vgl. auch Sommer 1984: 35.



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2 Zur Geschichte des Begriffs 'Halb-Asien', in Georg Büchmanns Geflügelten Worten explizit Franzos als Urheber zugeschrieben, der – auch wenn das Adjektiv 'halb-asiatisch' sich bereits früher findet – durch die Nominalisierung "nicht nur ein spezifisches Toponym", sondern auch ein "Paradigma imaginärer Topographie" konstituiert, vgl. Strohmaier 2007: 12f. sowie 30.

3 Die Metapher der 'Oase' zieht sich durch Franzos' Evokationen von Czernowitz, 'Musterstadt' seines zivilisatorischen Projekts, bzw. der Bukowina, dieser "geognostisch[en] […] Musterkarte" (Franzos 1876: 136). "Wie eine Oase liegt dies Ländchen mitten in der Wüste östlicher Uncultur" (ibid.: 120), stellt der literarische Landvermesser fest: "Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, […] hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Culturwüste!" (ibid.: 113).

4 Gauß betitelt seine kritische Hommage zum 100. Todestag Franzos' treffend "Halb-Asien, ein deutscher Traum" (Gauss 2004). "Schwarz-gelb / Die Kinder der Monarchie / träumten deutsche Kultur", schreibt Rose Ausländer (1998: 30) in ihrem Gedicht "Czernowitz. 'Geschichte in der Nußschale'".

5 Wie Steven Aschheim in Brothers and Strangers (1982) betont: Franzos' Schriften "found an echo because he gave concrete form to inchoate popular notions and sentiments" (zit. nach Sommer 1984: 44).

6 Auch Lotmans (hier nicht explizit berücksichtigte) Kultursemiotik, seine Theorie der Semiosphäre mit ihrer komplexen Dynamik von 'Zentrum' und 'Peripherie' schiene in diesem Kontext aufschlussreich (vgl. etwa Lotman 2000, dt. Lotman 2010a und 2010b).

7 Auf die spezifische "interdiskursive Beziehung" zwischen Franzos' Literatur und diesem "ethnographischen opus magnum Österreich-Ungarns" weist Strohmaier (2007: 11, vgl. auch 28ff.) hin.

8 Auch Poliakov (1981: 443f.) betont, dass "la classique distinction entre Juifs 'indigènes' et Juifs étrangers" in Frankreich traditionell besonders ausgeprägt gewesen sei.

9 Hier ergibt sich wiederum ein Anknüpfungspunkt zu Franzos, bei dem "[i]m Spannungsfeld von nationaler Emanzipation und imperialer Integration […] in besonderem Maße die Ukraine [steht]" (Essen 2002: 229).

10 Dies gilt nicht nur für die Ukrainer mit ihrem unsicheren politischen und kulturellen Status; noch lange nach dem Ersten Weltkrieg wird auch die Bevölkerung Sowjetrusslands aus französischer Sicht in quasi-kolonialistischen Begriffen als 'Kindervolk' geschildert; so etwa in aller Ausführlichkeit bei Vildrac, der das sowjetische "peuple-enfant" (1937: 243, vgl. auch 238f.) mit der französischen Bevölkerung, "socialement adulte" (ibid.: 239), kontrastiert und die stalinistische Polit-'Pädagogik' verteidigt.

11 Vgl. den Abschnitt "Gouvernanten und Gespielen" (Franzos 1876: 239ff.; der Text wurde in den Folge-Editionen mehrfach erweitert und aktualisiert).

12 "Franzos is less a westernizer than a Germanizer", betont Sommer (1984: 159).

13 Auch Sommer, der das idealisierte Bild Franzos' als "a late-born 18th century Enlightener" zu Recht in Frage stellt und seinen Deutschnationalismus betont, erkennt trotz allem eine gewisse "18th century component" in Franzos' Schriften über Halb-Asien an (ibid.: 160).



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14 Davon zeugen auch – bereits vor Franzos – von Seiten österreichischer 'Kulturträger' auf die Bukowina projizierte Phantasmen der kulturellen Regeneration durch ein exotisches 'Anderes' in seiner jugendlich-barbarischen Authentizität; bereits 1865 erhofft sich Ferdinand Kürnberger höchstpersönlich "von dieser abgelegenen und unberührten östlichen Provinz des Habsburgerreiches die Entstehung einer neuen, unverbrauchten Literatur deutscher Sprache […]. Die jungfräulichen Reben des Pruth sollten in den Wiener Adern den langweiligen Rheinwein ersetzen" (Magris 2000: 377). Zu Kürnberger als "Vorgänger" Franzos' in Sachen 'Halb-Asien' vgl. auch Sommer 1984: 44.

15 Es ist bezeichnend, wie der Autor – seine Literatursprache Deutsch für sich reklamierend – auch das antisemitische Klischee von der 'verdorbenen' verborgenen Sprache der Juden (vgl. Gilman 1993) wendet und seinerseits vom "Gemauschel der Nazis" schreibt (zit. 176).

16 Vgl. etwa Kraus 1923: 276, 281f. (Der Fall Riehl, aus: Die Fackel, 1906), ibid.: 297 (Aus dem dunkelsten Österreich, 1906), ibid.: 319f. (Der Meldzettel, 1907).

17 "Im Schatten von Bruno Schulz: Debora Vogel (1900–1942), eine vergessene Exponentin der jiddischen literarischen Moderne" titelt treffend Misiak 2008.

18 Symptomatisch etwa folgende Zeilen des Schulz-Forschers Ficowski (2008: 59) über Vogel, Adressatin der Briefe, aus denen die Zimtläden hervorgehen: "Ihr literarisches Schaffen, das weit hinter dem von Schulz zurückblieb, ist hier nicht von sonderlicher Bedeutung. Wichtig ist Debora Vogel vor allem als die beste, geistig und schöpferisch anregendste Muse von Bruno Schulz."

19 Die 'Schneiderpuppen', ein wichtiges Motiv von Schulz (vgl. "Manekiny" sowie den "Traktat o manekinach" samt Fortsetzung und Schluss in den Zimtläden [1934], Schulz 1957: 58ff.) wie von Vogel (wenn auch bei beiden mit unterschiedlicher symbolischer Bedeutung ausgestattet), spielen auch in Vogels Prosa-Band Akazien blühen eine zentrale Rolle (vgl. Ficowski 2008: 53).

20 Den Lesern nicht vorenthalten sei die plastische Bezeichnung des lieu commun als "weißes Wort", die Vogel von Cyprian Kamil Norwid übernimmt (vgl. Vogels "veyse verter", zit. 219).

21 Auf dieses Genre der fiktiven Autobiographie rekurrieren in den folgenden Jahren – gerade im Kontext familiärer 'Erinnerungsarbeit' auf literarischem Wege – auch andere AutorInnen: So verfasst etwa Élisabeth Gille mit Le Mirador. Mémoires rêvés (1992) die imaginären 'Memoiren' ihrer Mutter, der 1942 in Auschwitz ermordeten französischen Schriftstellerin Irène Némirovsky.

22 Franzos selbst beschreibt 'Halb-Asien' bereits als "Mosaik" (Franzos 1876: 180), als kulturelles 'Patchwork', in dem Europa, "ein echtes Stück Orient" (ibid.: 163) und "ein Stück Amerika" (ibid.: 164) – bzw. "'Amerikum', wie's in der Sprache der 'Gasse' heißt" (Franzos 1899: 232) – koexistieren.

23 So in Bezug auf die Militär-Metaphorik Franzos', der unter gleichzeitiger Bekundung friedlich-zivilisatorischer Absichten "den Geist der Bildung und des Fortschritts auf seinem Kriegszuge im Osten als ergebener, aber ehrlicher Berichterstatter" begleitet (Franzos 1876: VII): "Hier wird sprachlich mobil gemacht für eben jenen Feldzug, den führen zu wollen der Autor ausdrücklich bestreitet: Die Sprache unterläuft – oder überrennt eigentlich vielmehr – die Redeabsicht des Autors" (Urban, 107f.).

24 Dies gilt teilweise auch für Franzos' – freilich historisch zu kontextualisierenden – Diskurs über das östliche Judentum, von dem er ein "ziemlich dunkles", alles andere als stereotypenfreies, letztlich stets "ambivalentes" Bild entwirft (Kłańska 2007: 44); vgl. dazu auch Wodenegg 1987.

25 So etwa die Metapher der terre vierge: 'Halb-Asien' wird als "jungfräulicher Boden" beschrieben, der "keine andere Signatur als jene des Elends und der Oede" hatte, "und so konnte man ihm jede beliebige aufdrücken" (Franzos 1876: 143, vgl. auch 181).

26 So der vom Autor gewählte Untertitel; in der Forschungsliteratur wird diese umfangreiche "Erzählung" bald als "Roman" (Ernst 2007: 10), bald als "romanhafte Erzählung" (Kłańska 2007: 47), bald als "Novelle" (Glasenapp 2007: 59) kategorisiert.

27 "Franzos' literary treatment of 'Halb-Asien' changes from the lively energy and optimism of the 1870s to a more somber and pessimistic tone in the 1890s", hält Sommer (1984: 36) allgemein fest.