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Gerhard Kruip (Mainz)




Frank Leinen (Hg.) (2012): México 2010. Kultur in Bewegung – Mythen auf dem Prüfstand. Düsseldorf: düsseldorf university press.



Dieser von Frank Leinen herausgegebene Sammelband nimmt das doppelte mexikanische Gedenkjahr 2010, in dem der an die 200 Jahre bzw. 100 Jahre zurückliegenden ersten Aufstände gedacht wurde, die dann zur Unabhängigkeit des Landes bzw. zur ersten sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts führten, zum Anlass, um über die aktuelle Situation Mexikos, Fragen seiner nationalen Identität, den Stand von Politik und Kultur sowie seine Zukunftsperspektiven nachzudenken. Die Beiträge des Sammelbandes gehen auf eine Ringvorlesung zurück, die das Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Sommersemester 2010 veranstaltet hatte. Sie wurden darüber hinaus um weitere interessante Beiträge von Mexiko-Expertinnen und -Experten ergänzt.

Mit einem grundlegenden Beitrag "Mexiko 1810 – 1910 – 2010: Entwicklungen, Perspektiven, Problemfelder" wird der Sammelband vom Herausgeber selbst eröffnet. Zunächst stellt er einige wichtige Einsichten sowohl in die Mechanismen einer kulturell und politisch aus Gegenwartsinteressen heraus konstruierten Historiographie als auch des "New Historicism" vor, der jenseits der großen, immer ideologieverdächtigen Linien auf die Arbeit an den oft widersprüchlichen und äußerst vielfältigen historischen Details und deren historische Verflechtungen abzielt. Die dann direkt auf Mexiko bezogenen weiteren Teile des Beitrags machen die innere Zerrissenheit dieses überwiegend ja in Nordamerika liegenden Landes sehr deutlich. Paradoxerweise waren es die aus Spanien stammenden Kreolen, die zum Zweck ihrer eigenen Machterhaltung die Unabhängigkeit erkämpften und ebenso paradox ist es, dass die Revolution zwar ideologisch die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten propagierte, letztlich aber eine bürgerliche Revolution im Dienste der Eliten oder derer, die sich im Laufe des Revolutionsprozesses als neue Eliten festsetzen konnten, blieb. Trotz der durch diese beiden Aufstands- und Umsturzbewegungen begründete revolutionäre Tradition, die die Eliten auch stets ideologisch zu ihren Zwecken einzusetzen verstanden, konnte das autoritäre Regime der "Partei der Institutionalisierten Revolution" (PRI) erst im Jahre 2000 durch die Abwahl der PRI und die Wahl von Präsident Vicente Fox überwunden werden – ein Sieg der Demokratie, der allerdings bis heute prekär geblieben ist. Mexiko könnte durchaus auch in neue Formeneines autoritären Regimes zurückfallen.




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Angesichts der dramatischen Zuspitzungen von Krisensituationen von der eskalierenden Gewalt bis zu den jüngsten Naturkatastrophen, die aber doch immer wieder ein Weiterleben ermöglichen, wird die Situation Mexikos mit dessen wohl berühmtesten Chronisten seiner Gegenwartskultur Carlos Monsiváis (1938–2010) gern als "postapokalyptisch" bezeichnet. Meines Erachtens tragen solche eher literarischen oder poetischen Diskurse aber wenig zu einer wirklichen Problemanalyse, aus der dann auch Ideen zur Problemlösung erwachsen könnten, bei. Leinen beschreibt deshalb in sehr wohltuender Weise auch einige konkrete Herausforderungen, die Mexiko anzugehen hätte, beispielsweise die Überwindung der nach wie vor extremen Ungleichheit der Bildungschancen und der ökonomischen Ungleichgewichte innerhalb des Landes, das im Norden fast ganz auf die USA ausgerichtet ist, sich im Süden aber kaum von der nach wie vor extremen Armut der mittelamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua unterscheidet. Von der Armut betroffen sind insbesondere die indigenen Völker, deren Beteiligungschancen am Leben der Nation unter Respektierung ihrer kulturellen Eigenständigkeit dringend gefördert werden müssten, wozu auch gehört, den Konflikt mit den Zapatisten in Chiapas endlich wirklich konstruktiv anzugehen und zu lösen. Dringend müsste auch den Problemen der illegal in den USA lebenden Mexikaner mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, damit die USA und Mexiko sich gemeinsam und zu beiderseitigem Vorteil entwickeln können, anstatt dass die USA über 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer eine Grenze zwischen Nord und Süd immer stärker befestigen, an der bereits heute mehr Menschen ums Leben gekommen sind als durch den eisernen Vorhang. Die noch schwache mexikanische Demokratie – bei den letzten Präsidentschaftswahlen kehrte die PRI an die Macht zurück – müsste gestärkt, die Gewaltenteilung konsequenter durchgesetzt und die Korruption in der Polizei, beim Militär und im Justizapparat bekämpft werden. Im Grunde können die Gewalt und der Drogenhandel nur zusammen mit den genannten Reformen erfolgreich angegangen werden, um so zu verhindern, dass Mexiko eines Tages doch noch zum failing state wird. Eine mögliche Lösungsperspektive könnte auch die inzwischen intensiv diskutierte Möglichkeit einer Legalisierung bestimmter Drogen bieten. Leinen verweist am Ende aber zu Recht auch auf die positiven Entwicklungen in Zivilgesellschaft und Kultur. Dort engagieren sich besonders seit dem großen Erdbeben von 1985, bei dem der Staat furchtbar versagte, viele Gruppen für Menschenrechte, für Armutsbekämpfung, für die Gleichberechtigung von Frauen und indigenen Völkern, für bessere demokratische Strukturen und gegen Korruption und Drogenkrieg.

Auch die weiteren Beiträge sind ausgesprochen interessant, können hier aber nur kurz erwähnt werden. Vittoria Borsò befasst sich mit den 100 Jahren der Nationbildung zwischen der Zeit der Reforma und dem Masssaker von Tlatelolco (1867–1968). Das erste der beiden Ereignisse markiert das endgültige Ende der kolonialen Epoche, das zweite läutet den Niedergang der PRI-Herrschaft ein. An der Literatur dieser Zeitspanne lässt sich zeigen, wie ein bestimmter Mythos einer vom Mestizentum geprägten Mexikanität die nationale Identität bestimmte und dann ab 1968 immer mehr zerfiel. Friedhelm Schmidt-Welle betrachtet insbesondere, wie das Gedenken der Ereignisse von 1810 und 1910 in Mexiko begangen wurde, wobei er sowohl die regierungsamtlich-offiziellen Varianten, wie die vielfältigen, stark kommerzialisierten Formen betrachtet – bis hin zu dem Phänomen, dass mittlerweile viele materiale Gegenstände mexikanischer Erinnerungskultur in China hergestellt werden. Stephan Leopold widmet sich den Memorias des Dominikaners Fray Servando Teresa de Mier, der im 19. Jahrhundert koloniale Stereotypen umdrehte und gegen Spanien wandte. Pablo Mora möchte durch seinen Blick auf die mexikanische Lyrik von 1810 bis 1920 wichtige Aspekte des literarischen Erbes des Landes erschließen. Mit bislang kaum bekannten mexikanischen Autorinnen befasst sich Yasmin Temelli in ihrem Beitrag.




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Weitere literaturwissenschaftliche Aufsätze behandeln so unterschiedliche Themen wie den mexikanischen Revolutionsroman (Olea Franco), das Autorenpaar Manuel Scorza und Jorge Ibargüengoitia (Jean-Marie Lassus) oder die in vieler Hinsicht bemerkenswerte literarische Produktion der Bewegung der Zapatisten (Karl Hölz). Besonders interessant ist der Beitrag von Frauke Gewecke über das kulturelle und politische Verhältnis der USA und Mexikos, einschließlich der gegenwärtigen Emigration vieler Mexikaner in die USA. Sie stellen dort den größten Teil der spanischsprachigen Zuwanderer. Gewecke erinnert mit Recht an die Tatsache, dass ein großer Teil der Südstaaten der USA einst zum mexikanischen Staatsgebiet gehörten, von der mexikanischen Staatsregierung aber kaum kontrolliert werden konnten und sich deshalb einerseits auf Grund der Einwanderung von angloamerikanischen Siedlern aus den USA, aber auch auf Grund von Unabhängigkeitsbestrebungen dort lebender mexikanischer Oligarchien von Mexiko abwandten, um dann nach dem Krieg von 1848 endgültig durch die USA annektiert zu werden. Teile der spanisch-sprachigen Bevölkerung in den USA (die sog. Hispanics) gehen also gar nicht auf spätere Einwanderung zurück, sondern stammen von denjenigen Mexikanern ab, die bis 1848 in diesen Gebieten als Bürger/innen des sehr viel größeren mexikanischen Staates lebten. Viele haben deshalb auch überhaupt kein Problem, sich selbst sowohl als Mexikaner wie als Bürger der USA zu bezeichnen. Elemente mexikanischer Kultur lebten fort in der Alltagssprache, im Liedgut und in Essgewohnheiten. Zusammen mit den später neu hinzugewanderten Mexikanern – Anfang des 20. Jahrhunderts waren dies nicht nur Arbeitsmigranten, sondern auch Intellektuelle, die vor den Revolutionswirren geflohen waren – bildete sich so eine Grundlage für die Frage nach einer eigenen US-mexikanischen Mischidentität, wie sie dann durch die chicano-Bewegung propagiert wurde und bis heute viele Diskurse prägt.

Im letzten Beitrag stellt Guido Rings anhand des Films My family von Gregory Nava, einem US-Amerikaner mexikanisch-baskischer Herkunft, kulturelle Inszenierungen von Mechanismen der transkulturellen Identitätsbildung von Migranten vor, wobei er sowohl die damit verbundenen Potenziale, wie auch die Grenzen aufzeigt. In diesem Film ergänzen sich Ghetto- und Assimilationskonzepte von Identität. Die Assimilation an die angloamerikanische Kultur erscheint durchaus auch als attraktiv, Teile lateinamerikanischer Realität und Kultur werden zunehmend kritisch beleuchtet – vielleicht kein Wunder bei einem Regisseur, der sich weitgehend in die nordamerikanische Film- und Fernsehindustrie integriert hat und seine Filme durchaus auch nach Kassenerfolgsprognosen konzipiert.

Selbstverständlich kann ein solcher Band nicht das gesamte Spektrum mexikanischer Realitäten zum Thema machen. Für ein umfassenderes Bild fehlen Beiträge zur sich wandelnden Rolle der Religionen und der Religionsgemeinschaften, zu den ökonomischen Prozessen einer immer stärker sich auf die Globalisierung und die US-Wirtschaft ausrichtenden mexikanischen Ökonomie und zu den wachsenden Umweltproblemen, die auch in Mexiko große Anstrengungen erfordern. Trotzdem kann dieser Sammelband mit seinen vielfältigen, gut geschriebenen Beiträgen all denen empfohlen werden, die sich wissenschaftlich für die mexikanische Kultur und ihre Bezüge zu Geschichte und Politik interessieren.