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Jan T. Schlosser (Aalborg)



Berlin als Ort und Nicht-Ort.
Franz Hessels Spazieren in Berlin im Kontext der Modernekritik



Berlin as Place and Non-Place. Franz Hessel's Spazieren in Berlin in the context of the critique of modernism
The intellectual behaviour of Franz Hessel in his critique of modernism around 1930 is examined in this paper. For the first time Hessel is placed in connection with Ernst Jünger. Also new is the analysis of Spazieren in Berlin and Benjamin's Berliner Kindheit um neunzehnhundert in relation to the theory of places and non-places. Furthermore, it is examined how the authors use images that oppose ever-accelerating modernity.




I

Dieser Beitrag untersucht den intellektuellen Verhaltenskodex Franz Hessels im Kontext der Modernekritik um 1930 und setzt erstmals Hessels Position in Bezug zu Ernst Jünger. Spazieren in Berlin und Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert werden erstmals vor dem Hintergrund der Theorie von Orten und Nicht-Orten analysiert. Die drei Autoren skizzieren Gegenbilder zur beschleunigten Moderne.

"Die Leitfigur des weltgesellschaftlichen Lebens ist nicht mehr die des Flaneurs, sondern das Leben mit dem Anrufbeantworter und der Mail-Box. Man ist da und nicht da, antwortet nicht und doch automatisch, sendet und empfängt – zeitlich und örtlich versetzt – Nachrichten, die man technisch von anderen Orten der Welt empfangen und gespeichert hat" (Beck 1998: 50)." Die im Zeitalter der Globalisierung vorherrschende Vernetzung von Orten erodiert deren Status als Orte.




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In der Terminologie des Anthropologen Marc Augé bilden sich Nicht-Orte heraus: "Denn der Raum ist nicht mehr das, was er einmal war. Diese Krise im Denken des Raumes scheint mir für unsere Zeit in vollem Maße charakteristisch zu sein" (Augé 1994: 34). Kennzeichnend für die Globalisierung ist die Standardisierung des urbanen Raums: "Ein Ort ist ein Raum, in dem man die individuellen und kollektiven Identitäten, ihre Beziehungen und ihre Geschichte, ablesen kann. […] Ein Nicht-Ort definiert sich umgekehrt als ein Raum, in dem sich weder Identitäten noch Beziehungen, noch Geschichte ablesen lassen" (Augé 2000: 179). Sind Nicht-Orte gar Teil einer neuen Identität? Nicht-Orte existieren jedenfalls auch im Bewusstsein von Menschen, welche ausschließlich auf die Aneignung des Neuen fokussieren. Die Vergangenheit wird vernachlässigt, historische Identität gerät in Vergessenheit.

Schon das Berlin der 1920er Jahre war kein mit Heimatgefühlen verbundener Ort, sondern ein von der Zivilisation beherrschter Nicht-Ort des Verkehrs, des Kommerzes und der Freizeit. Die Stadt lud nicht zum Verweilen ein. Offenkundig befanden sich Berlin und seine Einwohner schon damals auf der "Durchreise" (Augé 2010: 83) und waren sowohl Zeugen als auch Akteure eines kulturellen Paradigmenwechsels.

Die von Ulrich Beck hervorgehobene Ablösung des Flaneurs durch die moderne Technik war bereits in der Weimarer Republik ein zentrales Thema, das in Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929) im Kontext der Transformierung Berlins von einer feudalen Residenzstadt zu einem Schmelztiegel der Moderne entfaltet wird. Hessel nimmt eine mentale Standortbestimmung des historisch bewussten Menschen in einer dermaßen akzelerierten und chaotisch anmutenden Moderne vor, dass die Zentralperspektive in der zeitgenössischen Prosa – etwa bei Walter Benjamin, Ernst Jünger und Alfred Döblin – zugunsten von Fragment und Montage aufgehoben wird. Die Intellektuellen sind aufgerufen, Antworten auf den Status der Großstadt als Transitraum ohne historische Identität zu finden, der ebenfalls in der Gegenwart erkennbar ist: "Das heutige Zentrum Berlins ist kein Ort mehr, der im Sinne Hessels 'bewohnt' werden könnte. Die lebendige Tradition scheint für immer verloren" (Witte 2011: 232).




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Hessels Prosapanorama der Großstadt Berlin ist nicht nur durch historische und kulturelle Epochen, sondern ebenso durch literarische Strömungen beeinflusst, in denen aus der Sicht des Jahres 1929 Bestandsaufnahmen zum Verschwinden des alten im neuen Berlin vorgenommen werden. Interpretatorische Begrenzungen verstellen den Blick auf Parallelen zu zeitgenössischen Texten der späten 1920er Jahre. Gleichwohl die Forschung bereits Kongruenzen zu Benjamin und Döblin herausgearbeitet hat, ist es angebracht, das Spektrum des intellektuellen Verhaltenskodexes zu erweitern, auf den Hessel sich bezieht. Mit der Intention, Berlin aus einer neuen Sicht zu betrachten, schreibt Hessel sich in einen übergeordneten Kontext der Epochenwende um 1930 ein, in welcher Berlin als Fixpunkt der Reflexion über den Modernisierungsschub figuriert. Zuvor hatten Georg Simmel und Oswald Spengler die Lebensform des Großstädters problematisiert. Die zivilisationskritische Diagnose von einer sich unter den Vorzeichen der Mechanisierung auflösenden Welt zwingt die Intellektuellen zu überlegen, ob die Technik überhaupt als Gegenstand der Affirmation zu dienen vermag.

Schon im Jahre 1923 hatte Jünger "in der Kapitale den Ort [erkannt], an dem ein Gang über die Straße mehr lohnen kann als ein in der Provinzstadt schlecht und recht verbrachtes Jahr" (Mühleisen 1998: 3). In Berlin Alexanderplatz symbolisiert das Gehen die Reintegration Franz Biberkopfs in die Gesellschaft: "Er steht nicht mehr allein am Alexanderplatz. Es sind welche rechts von ihm und links von ihm, und vor ihm gehen welche, und hinter ihm gehen welche. Viel Unglück kommt davon, wenn man allein geht" (Döblin 1990: 409). Biberkopf entwickelt sich zum Kollektivwesen und akzeptiert dies. Während bei Döblin das Bekenntnis zur Vernunft wider den Absolutheitsanspruch des sich außerhalb der Gesellschaft und ihrer politischen und sozialen Antagonismen positionierenden Individuums im Vordergrund steht, hält Jünger an diesem Anspruch fest. Fruchtbarer als ein Vergleich mit dem Großstadtroman Döblins erscheint indes das Heranziehen von Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932/1933; 1938 Fassung letzter Hand) und der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1929) von Jünger. Namentlich Benjamin wird gegenwärtig in den Kontext 'Berlin als historischer Ort' eingeordnet.1




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In der immer noch spärlichen Forschungsliteratur zum Werk Hessels wird zwar betont, dass er "das alte Recht des Genusses und der Muße auch im Zentrum der Modernität, auf den Straßen der Großstadt, zur Geltung zu bringen" (Müller 1997: 76) versucht, doch blieb die Frage nach dem Status und der Bewertung der Moderne in Spazieren in Berlin bisher unbeantwortet. Wurde noch vor fünfzehn Jahre "das Einverständnis mit der technisch-zivilisatorischen Modernität des nach-wilhelminischen, republikanischen Berlin" als "Grundtenor des Buches" (Müller 1997: 83) herausgestellt, wird in dem von Bernd Witte verfassten Nachwort zur 2011 erschienenen Neuausgabe von Spazieren in Berlin "ein Gegenbild zu dem Al-fresco-Gemälde einer beschleunigten Moderne […], wie Alfred Döblin es im gleichen Jahr in seinem Montageroman Berlin Alexanderplatz bietet" (Witte 2011: 224), in den Mittelpunkt der Hessel-Forschung gestellt. Da Wittes Ansatz des Gegenbildes zu einer beschleunigten Moderne im Nachwort nicht detailliert weiterverfolgt wird, soll er als These des vorliegenden Aufsatzes dienen. Dabei wäre allerdings die Funktion von Hessels Konzept der Moderne im Spannungsfeld zwischen Ort und Nicht-Ort – "jeder Ort kann ein Nicht-Ort werden und umgekehrt" (Augé 2000: 180) – zu bestimmen, denn Hessel "nimmt die Fremden, die seine Leser sind, beiseite und präsentiert sich ihnen als 'Dilettant', als 'Liebhaber' seiner Heimatstadt, die für ihn ein Erinnerungsort der besonderen Art ist. In ihr tritt ihm die Geschichte der vielen Generationen, die vor ihm an diesem Ort gelebt haben, plastisch und sinnlich vor Augen" (Witte 2011: 224).



II

Bereits in den ersten Sätzen von Spazieren in Berlin – "Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern" (Hessel 2011: 19) – definiert Hessel den Spannungsbogen, in dem sich seine Lektüre der Großstadt Berlin bewegt. Gerade die Absicht, "zwischen den Geschäftigen zu flanieren" (Hessel 2011: 19), erweckt das Misstrauen der Großstadtbewohner und drängt Hessel in die "verdächtige Rolle des Zuschauers" (Hessel 2011: 20).




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Dass der Modus der Fortbewegung – das behäbige Spazieren – nicht mit dem Verhalten der Berliner anno 1929 übereinstimmt, gesteht Hessel selbst ein. Der kontemplative "Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers" (Hessel 2011: 19), der lediglich "als Müßiggänger geduldet" (Hessel 2011: 171) wird, wird immer wieder mit dem Tempo der Großstadt konfrontiert. Das übergeordnete Projekt – das Suchen und Wiederfinden des vormodernen Alt-Berlins – verläuft nicht ohne Störungen. Hessel muss sich "um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist" (Hessel 2011: 23). Der vorliegende Aufsatz bricht mit dem Forschungsdiktum, wonach Hessel nicht auf die Zukunft, sondern auf die Gegenwart der Moderne fokussiere (vgl. Müller 1997: 77).2 In Hessels Konzept der Moderne nimmt der Umschlagpunkt vielmehr einen überaus zentralen Stellenwert ein (vgl. Lindner 1994: 162ff.).3

Die Komposition von Spazieren in Berlin versucht die störenden Eingriffe der Moderne zu minimieren. Hessels Text besteht aus insgesamt 23 Kapiteln, die mit einer Ausnahme zwischen 3 und 13 Seiten umfassen, sowie einem Nachwort. Nach dem Einleitungskapitel Der Verdächtige folgen vier Kapitel, welche die zeitgenössische Moderne Ende der 1920er Jahre einzufangen bestrebt sind: Ich lerne, Etwas von der Arbeit, Von der Mode und Von der Lebenslust. Vor allem mit diesen vier Kapiteln schreibt Hessel sich zugleich in die literarische Moderne des Jahres 1929 ein, in dem auch Texte von Jünger und Döblin, wenig später zudem von Benjamin, Berlin als moderne Großstadt reflektieren.

In den vier Kapiteln befasst sich Hessel mit einem Maximum von moderner Architektur, Technik, Arbeit, Mode und urbanem Nachtleben, um sich in den darauf folgenden 18 Kapiteln der aus seiner Optik authentischen Erfahrung Alt-Berlins zu widmen. Das Interesse Hessels für das vormoderne Berlin zeigt sich erst in epischer Breite, nachdem er das moderne Berlin auf den ersten 35 Seiten des Textes in fünf Kapiteln 'abgehandelt' hat. Er "will mit der Zukunft anfangen" (Hessel 2011: 23). Das gilt nicht nur kompositorisch, denn die Antizipation einer besseren Zukunft ist die übergeordnete Perspektive des Textes.




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Das mit Abstand längste, über 60 Seiten umfassende Kapitel ist das sechste Kapitel: Rundfahrt. Es nimmt in zweierlei Hinsicht einen äußerst zentralen Stellenwert in Spazieren in Berlin ein. Erstens markiert es den kompositorischen Übergang zwischen den zuvor ausschließlich die Moderne und den nachfolgenden, das historische Berlin behandelnden Kapiteln. Zweitens bildet es eine Synthese und ein ständiges thematisches Wechselspiel zwischen zeitgenössischen und historischen Eindrücken von Berlin, das darin zum Ausdruck kommt, dass Hessel sich in diesem Kapitel sowohl in einem modernen Verkehrsmittel, dem Auto, fortbewegt, aber während der Fahrt durch Berlin-Mitte auch gedankliche Abstecher des Spaziergängers in die Vergangenheit der Stadt unternimmt. Dem Spazieren kommt die Funktion zu, die vergessene Kultur in einem der Zentren der Moderne erneut in Erinnerung zu rufen.



III

Zuweilen enthalten Hessels Prognosen für das sich stets verändernde Berlin seherische Qualitäten bis ins Berlin im Zeitalter der Globalisierung: "Auch in den alten Stadtkörper soll neuformend eingegriffen werden. Der künftige Potsdamerplatz wird von zwölfgeschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das Scheunenviertel verschwindet; um den Bülowplatz, um den Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine neue Welt" (Hessel 2011: 23). Als Begleiter eines Architekten registriert Hessel das "weitläufige Chaos" (Hessel 2011: 25) der Moderne. Der gemächliche Spaziergänger ist in dem Kapitel Ich lerne kaum vorhanden.

Das Auto ist das der Moderne entsprechende Fortbewegungsmittel. Die Dynamik des neuen Berlin wird mehrmals dadurch hervorgehoben, dass Hessel und der Architekt stets durch die Stadt "sausen" (Hessel 2011: 24). Das Auto nimmt nicht nur die Funktion des grammatischen, sondern auch des logischen Subjekts ein: "Über die Spreebrücke beim Schloß Charlottenburg eilt unser Wagen den Kanal entlang und zum weiten Westhafen" (Hessel 2011: 25).




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Da dem Auto menschliche Eigenschaften – "Hinunter auf die Straße und in sein wartendes Auto" (Hessel 2011: 24); "Dort werden die beiden großen Depothallen (vgl. Augé 2000, 186)4 sich erheben, die Schlafstellen der Wagen" (Hessel 2011: 25); "Dann treten wir überall ein, erst in die Glas- und Eisenhalle, in der die Wagen wohnen" (Hessel 2011: 25) – zugeschrieben werden, versucht Hessel über die Etablierung einer emotionalen Nähe zur Technik seine grundlegende Fremdheit gegenüber der Moderne zu überwinden. Dass dieses Vorhaben misslingt, wird zum einen an seiner permanenten Beifahrerposition – Hessel selbst erhebt sich niemals zum lenkenden, die Technik beherrschen wollenden Subjekt – während sämtlicher Autofahrten deutlich, zum anderen am Ende des Kapitels Ich lerne. Bevor er sich in dem folgenden Kapitel 'Etwas von der Arbeit' erneut der Moderne zuwendet, betrachtet er zunächst, als Gast einer hoch betagten Berlinerin, zahlreiche "Erinnerungsstücke" (Hessel 2011: 26) an Alt-Berlin, gewissermaßen ein "Ensemble verschiedener Epochen" (Hessel 2011: 22), unter anderem Felix Ebertys Jugenderinnerungen eines alten Berliners (1878), die in Hessels Text einen festen nostalgischen Referenzpunkt bilden, der hier nicht näher beleuchtet werden soll.

In keinem anderen Kapitel von Spazieren in Berlin kommt die ambivalente Haltung Hessels zur Technik so deutlich zum Ausdruck wie in Etwas von der Arbeit. Zunächst stellt er Berlin explizit in den Kontext einer auf Arbeit basierenden funktionalen Ästhetik:

Dafür hat aber Berlin seine besondere und sichtbare Schönheit, wenn und wo es arbeitet. In seinen Tempeln der Maschine muß man es aufsuchen, in seinen Kirchen der Präzision. Es gibt kein schöneres Gebäude als die monumentale Halle aus Glas und Eisenbeton, die Peter Behrens für die Turbinenfabrik in der Huttenstraße geschaffen hat. Und von keiner Domempore gibt es ein eindrucksvolleres Bild als, was man von der Randgalerie dieser Halle sieht, in der Augenhöhe des Mannes, dessen Luftsitz mit Kranen wandert, welche schwere Eisenlasten packen und transportieren. Auch ehe man versteht, in welcher Art die metallenen Ungeheuer, die da unten lagern, zur Bereitung ähnlicher und andersartiger Ungeheuer dienen, ist man von ihrem bloßen Anblick ergriffen: Gußstücke und Gehäuse, noch unbearbeitete Zahnkranztrommeln und Radwellen, Pumpen und Generatoren halb vollendet, Bohrwerke und Zahnradbetriebe fertig zum Einbau, riesige und zwergige Maschinen auf dem Prüfstand, Teile von Turbogeneratoren in der betonierten Schleudergrube. (Hessel 2011: 29)




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Die Furcht vor dem "Ungeheuer" Maschine versucht er durch eine ganzheitliche Sicht der totalen Erfassung sämtlicher Maschinen zu vermindern. Da sich die Technik mittels des Verstandes nicht erschließen lässt und Hessels Zugang zu ihr von "mehr Staunen als Begreifen" (Hessel 2011: 29) geprägt ist, verleiht er ihr eine religiöse Aura inmitten der Beschleunigungsbewegung der Moderne: "Es ist nicht nötig, alles zu verstehn, man braucht nur mit Augen anzuschauen, wie da etwas immerzu unterwegs ist und sich wandelt" (Hessel 2011: 30). Das Bewusstsein für die Verselbständigung der Technik in der Moderne verschärft sich beim Betrachten der Maschinen:

Wir sehen, wie Nickelstahl in Stangenform auf der Schaufel gefräst und geschliffen wird, wie in die Rinnen der Induktorwelle blecherne Zähne eingeschoben werden, wie die gewickelten Erregerspulen zwischen das Zahnwerk greifen […] Wir stehn am Wasser vor der Transformatorenfabrik und sehen, wie Kohle aus dem Spreekahn mit der Laufkatze herübergekrant wird in eine Art Eisenhammer, um dort ganz ohne Menschenhand in Kohlenstaub verwandelt zu werden. Wir treten in die Halle, in der niemand zugegen ist. (Hessel 2011: 29f.)

Hessel schwankt. Zuerst behauptet er: "All das machen die Maschinen, die Menschen stellen nur an, nehmen heraus, schieben weiter" (Hessel 2011: 31). Nachdem er nicht nur auf die Maschinen geblickt hat, sondern ebenfalls auf die Arbeitenden, gelangt er zu einer Synthese und betont das "von Menschen und Maschinen geschaffene Licht" (Hessel 2011: 31), um den Menschen kurz darauf erneut zum Beherrscher der Technik zu erklären, der allerdings nur ein optischer "Bändiger" der Maschinen sei: "Wenn in den großen Maschinenhallen die Männer klein neben Kolossen erscheinen und wie Seeleute oder Bergleute vorsichtig am Rand der elementaren Gewalten bleiben, so beherrschen sie hier ihr Maschinentier mit Bändigerblicken" (Hessel 2011: 32). Bei Hessel figuriert der konkrete Arbeiter als vermeintliches Subjekt hinter einer sich verselbständigenden Technik, bei Jünger tritt der Typus des Arbeiters (1932) als ihr Beherrscher hervor. Im Abenteuerlichen Herzen indes fokussiert er noch auf einen "Maschinenraum, in dem ohne jede menschliche Wartung ein ungeheures Schwungrad um die Achse pfiff" (Jünger: 1961: 153).




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Wenn die Technik im Rundfahrt- oder in den übrigen Kapiteln erneut aufgegriffen wird, geschieht dies unter der Voraussetzung, dass die Großstadt Berlin "immerzu unterwegs, immer im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern ausruht" (Hessel 2011: 220f.). Das Verweilen in der Vergangenheit erweist sich aber als zentrales Anliegen Hessels. Die ständige Umwandlung Berlins wird mehrmals am Beispiel des Alexanderplatzes aufgezeigt. Die Umgestaltung des urbanen Raums erreicht ein solches Ausmaß, dass das Interesse Hessels an Vergangenheit und Gegenwart abnimmt: "Lohnt's noch vom heutigen und gestrigen Alexanderplatz zu sprechen? Er ist wohl schon verschwunden, ehe diese Zeilen gedruckt werden. Schon wandern die Trambahnen, Autobusse und Menschenmassen um die Zäune breiter Baustellen und tiefaufgerissener Erdlöcher" (Hessel 2011: 163). Die in Berlin Alexanderplatz erwähnte Dampframme – "Rumm rumm wuchtet vor Aschinger auf dem Alex die Dampframme. Sie ist ein Stock hoch" (Döblin 1990: 144) – findet ebenso bei Hessel Beachtung: "Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier Stockwerk hoch" (Hessel 2011: 166). Hessel steht der abermaligen Umgestaltung des Alexanderplatzes ablehnend gegenüber und bezeichnet ihn als "Trümmerstätte" (Hessel 2011: 163). Vom Bestehenden "wird fast alles eingerissen" (Hessel 2011: 163). Das gilt vor allem für das Scheunenviertel. Dem Revier Franz Biberkopfs wird von Hessel ein hohes Maß an Authentizität attestiert. Das Scheunenviertel ist ein Raum des beschleunigten temporären Übergangs von Alt-Berlin zur Moderne: "Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not an" (Hessel 2011: 163). Das Provisorische und die nie endende Mobilität weisen Berlin als Nicht-Ort aus, für den "Abbruch und Aufbau, Ruinenstadt und werdende Stadt" (Hessel 2011: 142) kennzeichnend sind.

Hessel begrüßt den Bau neuer moderner Wohnsiedlungen, da sie "Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen" (Hessel 2011: 23). Als ein "wohltuender Anblick" (Hessel 2011: 157) tritt die Hufeisensiedlung in Britz hervor. Den Bewohnern ermögliche sie "innerhalb eines viel gemeinsameren Ganzen" (Hessel 2011: 158) zu leben als in den Mietskasernen. Die Siedlung wird zum Mikrokosmos für Hessels Wunschbild von Berlin, sie erscheint als die "glückhafte kleine Stadt" (Hessel 2011: 158), als das vermeintlich idyllische Alt-Berlin.




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In den Kapiteln Dampferfahrt und Südwesten ist Hessel abermals "in erfrischendem Tempo" (Hessel 2011: 161) in einem Auto unterwegs. Angesichts – wie er im Nachwort schreibt – "soviel Ungeduld und Unruhe" (Hessel 2011: 221) der Moderne – kommt er zu dem Schluss: "Wir wollen nicht verweilen" (Hessel 2011: 213). Das Sicheinlassen auf das Tempo der Moderne ist jedoch ein auf ein finales Ziel ausgerichtetes Projekt: "Bald aber haben wir genug von alter Zeit und sanftem Spazieren, und die gastliche Dahlemerin fährt uns im Eiltempo zur neuen Siedlung an der Riemeisterstraße, zu alten Lichterfelder Villenstraßen und nach Zehlendorf, wo wieder mitten im Neuen und Neueren die achteckige Dorfkirche mit dem spitzigen Dach für einen Augenblick fesselt, die aus den Zeiten des Großen Friedrich stammt" (Hessel 2011: 216). "Im Eiltempo" führt die Technik nicht nur zum Neuen, sondern zum Alten. Die Beschleunigung ist auf einen Umschlagpunkt ausgerichtet. Gehuldigt wird nicht der Gegenwart, sondern einer im Textgefüge von Spazieren in Berlin bisher nicht näher erläuterten Zukunft, die Berlin indes wieder als Ort historischer Identität und sozialer Relationen etablieren soll: "Dieses neue, werdende Berlin vermag ich noch nicht zu schildern, ich kann es nur preisen" (Hessel 2011: 158).

Auch im Nachtleben richtet sich Hessels Aufmerksamkeit auf das Tempo der Großstadt, das insbesondere an der "neuen Jugend" (Hessel 2011: 43) und einem neuen, nachwilhelminischen Frauenbild ablesbar ist: "Und ehe ich mich's versehe, sitze ich schon neben der eiligsten von ihnen im Auto, sie steuert die Budapester Straße entlang" (Hessel 2011: 44). Für Hessel wird die Jugend zum Sinnbild dafür, dass Berlin "Anschluß an die neue Zeit" (Hessel 2011: 45) gewinnt. Die politische Naivität Hessels geht mit dem festen Glauben einher, Berlin entwickle sich nunmehr zu einer weltoffenen und kosmopolitischen europäischen Metropole: "Rings an den Tischen wird geflüstert wie im besten Europa. Man spricht nämlich im neuen Berlin nicht mehr so laut wie im früheren" (Hessel 2011: 45). Die Jugend sei dem westlichen Lebensstil – Paris dient als kulturelles Vorbild – zugetan und lerne zu genießen, im Gegensatz zum "Berliner von gestern" (Hessel 2011: 42), welcher der "Gefahr der Häufung, der Quantität, des Kolossalen" (Hessel 2011: 42) anheim gefallen sei. Hessel schreibt gegen das "Monströse der Zeit" (Hessel 2011: 155) an und skizziert die Konturen einer Übergangsphase, deren eigentliches Ziel nicht in der Beschleunigung, sondern in der Ruhe der Maskierung liegt:




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Sie eilen nicht, sie legen sorgsam letzte Hand an das Werk des einen Abends wie ein Künstler, der Dauerndes schaffen will. Sie erfinden wunderbare Übergangsgebilde vom Maskenkostüm zum Gesellschaftskleid, unschuldige Nacktheiten, lockende Verhüllungen und groteske Übertreibungen, hinter denen sie sich gut verbergen können. Da kann man in aller Ruhe ihre Gegenwart genießen, was sonst nicht leicht ist. Denn im allgemeinen haben sie das Tempo ihres Berlin, das unsereinen etwas atemlos macht. (Hessel 2011: 44)

Hessel skizziert das Ideal des Berliners der Zukunft, der die Dynamik der Moderne kontemplativ zu betrachten vermag anstatt an ihr zu partizipieren.



IV

Spazieren in Berlin kennzeichnet zwar nicht eine totale Ignorierung der politischen Sphäre der späten 1920er Jahre, wohl aber eine Fremdheit gegenüber dem politischen Geschehen, das an Naivität grenzt. Obschon Hessel einen flüchtigen "Blick auf die düsteren Gefängnismauern von Plötzensee" (Hessel 2011: 25) wirft, die dann während der NS-Zeit zur Exekutionsstätte mit Fleischerhaken werden, kann diese Bemerkung nicht über seinen Glauben an eine friedliche Zukunft Berlins hinwegtäuschen, in dem er "Ansätze zu einem demokratischen Großstadtfrohsinn" (Hessel 2011: 122) zu erkennen meint. Das Ende der Kaiserzeit setzt er mit der Beseitigung des preußischen Militarismus gleich: "Diese Zeiten, da sich unter den Linden die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind – bis auf einige Reste – ja nun vorüber" (Hessel 2011: 95). Auf dem Tempelhofer Feld, zur Kaiserzeit noch ein Truppenübungsplatz, zeigt sich Hessel in Bezug auf eine geschichtliche Zäsur zwischen der in die Schrecken des Ersten Weltkriegs mündenden wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik ebenfalls optimistisch: "Nun ist es hoffentlich für eine gute Weile vorbei mit diesen traurigsten aller Felder, diesen zu leeren oder zu vollen Exerzierplätzen, die ernüchternd sind wie die Kasernen, aus denen sie sich füllten" (Hessel 2011: 150f.). Die angedeuteten Zweifel – "bis auf einige Reste"; "hoffentlich" – werden von Hessel nicht weiterverfolgt.




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Für ihn ist die Politik eine "Welt […], in der ich mich etwas fremd fühle" (Hessel 2011: 107). Als Zuschauer bei einer Reichstagssitzung rät er seinen Lesern "acht [zu] geben, daß du Rechts und Links nicht verwechselst […] Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten nicht für Völkische hältst und umgekehrt" (Hessel 2011: 107). Diese Sätze mögen insofern erstaunen, als er Rosa Luxemburg den Status einer "edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit dem Tod büßen musste" (Hessel 2011: 138), zubilligt. Angesichts des von den Nationalsozialisten verfochtenen Legalitätskurses mag Hessels naiv-unpolitischer Standpunkt vertretbar sein, doch dass er selbst dort, wo die ideologischen Unterschiede zwischen KPD und NSDAP propagandistisch ungefiltert offen zutage treten, an ihm festhält, ist für seine Haltung überaus charakteristisch: "Wenn sie nicht ihre Abzeichen trügen, Orden der Reaktion oder Revolution, sie wären kaum zu unterscheiden, die kecken Berliner Jungen aus beiden Lagern" (Hessel 2011: 212). Der Sportpalast "steht auch der politischen Leidenschaft offen" (Hessel 2011: 212). Hessel schenkt den markanten politischen Differenzen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten keinerlei Beachtung. Dass er die Gefahr des Antisemitismus – bekanntlich bis zu seiner späten Emigration 1938 – vollends ignoriert, geht aus der folgenden Passage hervor: "Es ist ja alles Überschwang derselben ungebrochenen Lebenslust" (Hessel 2011: 212). Die politische Naivität Franz Hessels gipfelt darin, das Wirken des Nationalsozialismus als Ausdruck "ungebrochener Lebenslust" zu charakterisieren.

Das Scheunenviertel schildert Hessel als einen unpolitischen jüdischen Lebensraum, in dem der Spaziergänger keine Angst davor haben muss, "in ein nationalistisches Lokal geraten zu sein" (Hessel 2011: 169). Er weiß, dass es antisemitische Kneipen gibt, sieht sie aber nicht im Scheunenviertel verortet. Ursprünglich durften sich die Berliner Juden auf der Straße "nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen" (Hessel 2011: 73). Auch diese historisch verbürgte Stigmatisierung projiziert Hessel nicht auf die NS-Propaganda. Für die Großstadtjuden der Moderne sieht er dagegen "humanere Zeiten" (Hessel 2011: 73) gekommen, so dass das Scheunenviertel "nun ganz zum Idyll mitten in der lärmenden Stadt geworden ist" (Hessel 2011: 73) und damit dem in Spazieren in Berlin formulierten Leitgedanken entspricht. Durch die Idyllisierung der Gegend nördlich des Alexanderplatzes und der Ausklammerung der etwa von Joseph Roth in der Ghettowelt registrierten sozialen Missstände erreicht Hessel die Integration des jüdischen Lebens in sein übergeordnetes Projekt Alt-Berlin. Eine Bedrohung für die Juden erblickt er nicht im Nationalsozialismus, sondern in ihrem eigenen Assimilationsvermögen:




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Noch sind diese Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen, schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse. (Hessel 2011: 73f.)

Jünger, im Bemühen um einen als Bestandteil der Zivilisationskritik formulierten Angriff auf die in Deutschland lebenden Juden, stimmt mit Hessel in der negativen Bewertung der Assimilation der so genannten 'Zivilisationsjuden' überein, die sich dem liberalistischen System anpassen würden (vgl. Jünger 2001: 587-592).

Im Kapitel Dampfermusik trifft Hessel auf einen herrischen Schalterbeamten. Es bleibt unklar, ob dessen Feindseligkeit sich gegen den Spaziergänger oder gegen den Juden Hessel richtet: "Ich weiß nicht weshalb, er ist streng mit mir, wie viele seinesgleichen in Berlin […] Ich gedenke mit dem zweiten zu fahren, der eine Viertelstunde später abgehen soll, werde aber im entscheidenden Augenblick in den ersten beordert und verfrachtet" (Hessel 2011: 159). Die Gebundenheit des Autors Hessel an seinen journalistischen Auftrag in Spazieren in Berlin mag die explizite Ausblendung des Antisemitismus im Berlin der späten 1920er Jahre erklären.



V

In Dampfermusik findet sich zudem ein seltenes Beispiel dafür, dass Hessel das "Altertümliche" (Hessel 2011: 159) kritisiert. Auf dem Ausflugsdampfer fühlt er sich wie ein Gefangener. Obgleich die Dampferfahrt mit einem modernen Verkehrsmittel stattfindet, empfindet er sie als "qualvoll langsam […] zwischen all dem Fleiß der Eisenhallen, Schornsteine und Krane an den Ufern" (Hessel 2011: 159). Die Dampferfahrt wird zum Sinnbild der erforderlichen Vorantreibung der Moderne.

Das missliche "Schneckentempo" (Hessel 2011: 160) nutzt Hessel freilich zu geistigen Abstechern in die Kindheit: "Da muß doch wohl noch die Liliputeisenbahn sein, die auf ihrer Schiene rundum fuhr gleich der, die man im Kinderzimmer aufbaute und aufdrehte" (Hessel 2011: 160).




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Die Technik: damals noch ein Spielzeug, mühelos vom Kinde kontrolliert, aber sich ohne die angestrebte dynamische Vorwärtsbewegung lediglich im Kreise drehend.

Das Tempo des modernen Lebens bildet den Hintergrund für die Ausgestaltung der Großstadt als Traumerfahrung. Beim Sechstagerennen im Sportpalast begegnet Hessel wiederum dem "jüngsten Großstädter" (Hessel 2011: 211). Dieser

fiebert im Massenrausch. Er fährt wie aus tiefem Traum, wenn der Gongschlag den Beginn einer neuen Stunde verkündet. Einen Augenblick verläßt sein Blick die Spur seines Fahrers und streift den Apparat, der die geleisteten Kilometer anzeigt. Im Paroxysmus kannst du ihn sehn bei plötzlichen Jagden oder in der letzten Nacht, wenn sein Feuer noch geschürt wird durch die Zählapparate am Ziel, welche die noch zu fahrenden Minuten angeben. (Hessel 2011: 211)

Sport wird als Massenpsychose der Moderne dargestellt, gleichwohl mit einem auf ein Ziel ausgerichteten Tempo.

In der Friedrichstadt wird Hessel mit der Nacht- und Schattenseite der frühen Moderne konfrontiert, der das Grauen eingeschrieben ist: "Aber mir grauts zu sehr hier unter falsch spiegelnden Lichtern und streifenden Schatten. […] Rasch eile ich dem Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen Blicken an Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit, Gegenwart!" (Hessel 2011: 199). Dass es der als nicht authentisch aufgefasste urbane Raum der wilhelminischen Epoche ist, der als Bedrohung erscheint, erfährt Hessel gleichfalls beim Betrachten der Leuchtreklamen, die als endgültiger Durchbruch der Moderne zwar eine Entzauberung der Stadt mit sich führen, doch zugleich das endgültige Ende der wilhelminischen Epoche zu garantieren scheinen:

Wie lang sich dieses Kolossal-Nürnberg noch halten wird gegen das eilig laufende Band der Lichtreklameflächen, die jetzt die Fassaden von Berlin glatt und gleichmachend erobert, das weiß ich nicht. Historisch ist es jedenfalls schon jetzt wie seine Zeitgenossin, die nach dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie. In die kann ich nicht ohne einen leisen Moderschauer eintreten, nicht ohne die Traumangst, keinen Ausgang zu finden. (Hessel 2011: 196f.)




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Mit seiner Furcht davor, keinen Ausgang aus der Frühmoderne zu finden, schreibt sich Hessel in einen zeitgenössischen Kontext der Modernekritik ein, die nicht nur auf Walter Benjamins Passagenwerk rekurriert, sondern ebenso auf Das Abenteuerliche Herz. Die Plötzlichkeit und die Traumtiefe sind auch bei Ernst Jünger zentrale Topoi (vgl. Jünger 1961: 72).5

Jünger nimmt zwar auch eine überaus kritische Haltung gegenüber der Zeit vor 1914 ein, doch seine alptraumhaften Prosaskizzen der Nachtseite der Moderne weisen eher die Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg als bedrohliche Zeit des Übergangs aus: "Man wird feststellen, daß das Gesicht des modernen Großstädters einen zweifachen Stempel trägt: den der Angst und des Traumes" (Jünger 1961: 76). Auch bei Hessel birgt die Gegenwart der Moderne der späten 1920er Jahre durchaus Gefahren, die nur im Medium des Traums zum Ausdruck kommen. Östlich des Alexanderplatzes vollzieht sich die Begegnung mit der unheimlichen Nachtseite durch eine buchstäblich auf den Kopf gestellte Moderne, deren Status als Nicht-Ort durch "aggressivste Werbung" (Augé 2000: 186) unterstrichen wird. Die Lesbarkeit der modernen Umwelt wird zunehmend schwieriger. Wenn überhaupt, gelingt die Entzifferung nur mittels einer 'verqueren' Optik, die hinter das auf der Oberfläche ersichtliche Erscheinungsbild zu blicken vermag: "War hier die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder – nur geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte" (Hessel 2011: 165). Der grausamen Kehrseite der Moderne wohnt auch ein effizienter Hygienebetrieb inne, der besonders im Schlachthof sichtbar wird (vgl. Döblin 1990: 117-124)6: "Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch fortgewaschen" (Hessel 2011: 175).



VI

Bei der Begegnung mit dem modernen Berlin richtet sich das Interesse Hessels stets auf das vormoderne Potential des Betrachteten: "Von den neuen strahlenden Stoffen seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus Altberliner Porzellan" (Hessel 2011: 59).




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Er registriert "zwei großscheibige Laternen. Was für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit, als sie zeitgenössisch waren?" (Hessel 2011: 54). Selbst wo das Moderne nicht nur offensichtlich, sondern ganz und gar dominierend ist, destilliert Hessel das Vormoderne in emsiger Kleinarbeit heraus, etwa im Verkehrswesen: "Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen und erste Eisenbahnen en miniature, vor allem aber eine Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest" (Hessel 2011: 60). Im Kapitel Rundfahrt empfiehlt Hessel den Lesern mehrmals, die offizielle Besichtigungsroute für Touristen zu verlassen und eine "Tour durch Alt-Berlin" (Hessel 2011: 62) zu machen. Auf der Fischerinsel und im Nikolaiviertel verschließt er die Augen vor dem sozialen "Großstadtelend" (Hessel 2011: 177), das er in anderen Stadtteilen, wie Neukölln, kritisiert. Der Kern des mittelalterlichen Berlins wird von Hessel idyllisiert. Hier kann "ganz altes Berlin erstehn" (Hessel 2011: 67). Statt Slums hebt er "richtige Gassen" (Hessel 2011: 62) mit "Blumenkästen" (Hessel 2011: 63) und "schöngerahmten Fenstern" (Hessel 2011: 63) heraus. Gerade das "Unscheinbare" (Hessel 2011: 63) berge Authentizität. Während der Rundfahrt unterstreicht Hessel oft, dass sich Alt-Berlin mit modernen Verkehrsmitteln nicht erschließen lässt: "Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die nahen Gassen am Fluß verschieben" (Hessel 2011: 69). Nicht das von Tempo geprägte Fahren – "Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang" (Hessel 2011: 108) –, sondern das gemächliche Spazierengehen ist die adäquate Form, um das alte Berlin überhaupt erfassen zu können. Die Rundfahrt endet konsequenterweise damit, dass Hessel den Wagen mit Touristen vorzeitig verlässt und sich von der modernen Fortbewegungsart distanziert: "Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden!" (Hessel 2011: 115).

Hessels Aufmerksamkeit richtet sich auf jene Lokalitäten, die von der Moderne "unversehrt geblieben" (Hessel 2011: 74) sind. Sein Projekt ist, die "rein erhaltene Vergangenheit" (Hessel 2011: 104) zu lokalisieren. Es gilt, das "Bild der alten Zeiten […] um 1800" (Hessel 2011: 98) freizulegen. Schinkels Klassizismus und die damit verbundene Rezeption der Antike und Romantik sind die Wegweiser des Spaziergängers. Gebäude, Straßen und Plätze versucht Hessel sich stets "in alten Zeiten vorzustellen" (Hessel 2011: 109), um ein "Stück bestes Altberlin" (Hessel 2011: 110) aufspüren zu können. Hinter der Behauptung des vermeintlich ziellosen Spazierengehens verbirgt sich das Ziel, "etwas der ursprünglichen Bedeutung Entsprechendes" (Hessel 2011: 154) wieder zu finden.




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Auf seinem Weg durch Berlin versucht Hessel eine "holde Kinderstubenordnung" (Hessel 2011: 135) zu etablieren: "Ich möchte beim Ersten Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden" (Hessel 2011: 19). Wo das Stadtbild modern geworden ist und von der "Neuzeit" (Hessel 2011: 177) beherrscht wird, muss der Spaziergänger auf Lektüreerfahrungen zurückgreifen, um erneut "in alter Zeit" (Hessel 2011: 192) zu wandeln und die ursprüngliche Bedeutung greifbar zu machen: "Von dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah" (Hessel 2011: 190) – oder sich schlichtweg der Imagination bedienen: "Da zu meiner Rechten liegt der weite Dönhoffplatz überflutet von Trambahnen, Autos und Menschenmassen und nun, da ich in die alten Zeiten geraten bin, stell ich ihn mir vor, als er noch eine Esplanade vor dem alten Leipziger Tor war" (Hessel 2011: 202). Bisweilen treibt Hessel den Kontrast zwischen neuer und alter Zeit auf die Spitze, wenn er sich inmitten der Großstadt als Idylliker gebärdet: "Wie ein Kleinstädter, der sich in der stillsten Straße seiner Heimatstadt ergeht, blätterte ich mitten im Weltstadtverkehr, häufig gestoßen und angefahren, in diesem lehrreichen Buch, kam gleich an ein herrliches Zitat aus 'Schattenriß von Berlin, 1788' und las angesichts des spiegelglatten Asphalts und in strahlender Erleuchtung" (Hessel 2011: 200). Hessels Position entspricht dem idealen Verhalten künftiger Berliner: Kontemplation inmitten der Beschleunigung der Moderne.

Hessels Spaziergänge führen "in die alte Welt, in der wir bleiben wollen" (Hessel 2011: 131). Wo die "gute alte Zeit bewahrt" (Hessel 2011: 139) ist, fühlt er sich heimisch. Auch das Stadtschloss gemahne an die "großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock und Rokoko und den preußischen Klassizismus" (Hessel 2011: 83). Hessel schätzt die "übersichtlich gegliederte" (Hessel 2011: 91) Architektur jenseits des bombastischen Pomps der 1890er Jahre. Neben dem Berliner Dom steht er in Mitte auch der Gegend um den Hackeschen Markt kritisch gegenüber, in der sich die Entzauberung Berlins zeige. Es ist das "Wilhelminische Spiel mit alten Stilen" (Hessel 2011: 62), welches ihm widerstrebt und an dem sich seine Fundamentalopposition entzündet. Historismus ist für Hessel mit einem Mangel an Authentizität gleichbedeutend. Im neuen Westen stößt hauptsächlich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf Ablehnung: "Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens ein bißchen altern und zerfallen wollte" (Hessel 2011: 115). Dieser Wunsch sollte während des Zweiten Weltkriegs auf eine von Hessel nicht gewollte Art teilweise in Erfüllung gehen.




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Dass Hessel der Technik durchaus die Funktion als Zerstörerin des Überkommenen beimisst, wird an seiner Betrachtung des Kurfürstendamms erkennbar:

Die aufleuchtenden und verschwindenden, wandernden und wiederkehrenden Lichtreklamen ändern noch einmal Tiefe, Höhe und Umriß der Gebäude. Das ist von großem Nutzen, besonders an Teilen des Kurfürstendamms, wo von der schlimmsten Zeit des Privatbaus noch viel gräulich Getürmtes, schaurig Ausladendes und Überkrochenes stehngeblieben ist, das erst allmählich verdrängt werden kann. Diese schrecklichen Zacken, Vor- und Überbauten der 'Geschwürhäuser', wie wir sie früher zu nennen pflegten, verschwinden hinter den Reklamearchitekturen. (Hessel 2011: 121)

Aus dieser Optik erscheint die Gedächtniskirche lediglich als ein "massives Verkehrshindernis" (Hessel 2011: 114) synthetisch hergestellter Vergangenheit. Hessel erweist sich hier als Anhänger des Funktionalismus in der Architektur.



VII

Eine überaus kritische Sicht auf den Siegeszug der Technik zeigt Hessel im alten Westen. Ein neu eingebauter Fahrstuhl wird als ein "düstrer Eindringling […] in dem einst gelassen breiten Treppenhaus" (Hessel 2011: 22) gesehen. Der Verfall Alt-Berlins im bürgerlichen alten Westen, in dem Hessel und Benjamin ihre Kindheit verbrachten, vollzieht sich mittels der modernen Technik: "Nur der Pferdestall und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt" (Hessel 2011: 129). Gegen Hessels Romantisierung von Alt-Berlin im Kontext seiner Kindheit lässt sich einwenden, dass er die Tatsache ausklammert, selbst in der überaus kritisch eingestuften Epoche des Wilhelminismus aufgewachsen zu sein.

In Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert wird die Kindheit gleichermaßen als überlieferte Kultur dargestellt. Die Kindheit um 1900 figuriert als Endzeit, in welche die Beschleunigungsprozesse der Moderne bereits eingedrungen sind.




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Im Gegensatz zu Hessel unterstreicht Benjamin vor dem Hintergrund der Exilerfahrung die "gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen" (Benjamin 1987: 9), das allerdings als "Tiefe der Erfahrung" (Benjamin 1987: 9) Anerkennung findet. Die "spätere geschichtliche Erfahrung" (Benjamin 1987: 9) ist in den 'Bildern' der großbürgerlichen Kindheit präformiert. Der Austritt aus der Geborgenheit der Kindheit ist das Thema Benjamins, in dessen Text sich Berlin sowohl als Ort wie als Nicht-Ort manifestiert.

Bereits der Ausgangstext der Loggien reflektiert "das Gesetz des Ortes" (Benjamin 1987: 12). Die Loggien des alten Westens und das Kaiserpanorama – dieser Text legt den Akzent gleichfalls auf die von Jünger im Abenteuerlichen Herzen gepriesene stereoskopische Wahrnehmung – markieren Berlin als Ort des Verweilens und der Unveränderlichkeit: "Seitdem ich Kind war, haben sich die Loggien weniger verändert als die anderen Räume. Sie sind mir nicht nur darum nahe" (Benjamin 1987: 13). Benjamin agiert als Fürsprecher eines um 1930 bereits untergegangenen Berlins und bekennt sich zur identitätsstiftenden Qualität des geschichtlichen Ortes, wie er exemplarisch in den Loggien zum Ausdruck kommt: "An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich dort so gegenwärtig, daß nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander" (Benjamin 1987: 13). Mit Berliner Kindheit um neunzehnhundert schreibt er gegen die Vergessenheit des Ortes Berlin an. In Markthalle und Die Farben wird der ursprüngliche Handel, dem Hessel in der Markthalle in Mitte nachgeht, vor der Kommerzialisierung in den Mittelpunkt gerückt. Benjamin rekurriert damit auf einen "Erfahrungsmodus, den Warenverkehr und gesellschaftliche Arbeit noch nicht absorbiert haben" (Sadowsky 2000: 37).

Bei Benjamin gewähren Ort und Zeit zwar Identität, doch die Beschleunigungsprozesse der Moderne transformieren jeglichen Ort in einen Nicht-Ort. Orte kommen "aus der Mode" (Benjamin 1987: 13). Die Siegessäule etwa wandelt sich von einem Ort der Geschichte, dem Sedantag, zu einem Monument über das Ende der Geschichte, der das Inferno der Moderne Mitte des 20. Jahrhunderts bereits eingeschrieben war. Kindheit um 1900 heißt für Benjamin gewissermaßen Zugehörigkeit zur 'Generation der letzten Orte‘. In Wintermorgen figuriert die Kindheit als Ort, dem das Wissen um die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit innewohnt. In Anbetracht des drohenden Verlusts wird in Eine Todesnachricht der Versuch unternommen, sich den Ort der Kindheit genau einzuprägen.




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Der von Hessel thematisierten Veränderung des alten Westens zu einem Nicht-Ort schließt Benjamin sich in Tiergarten an, in dem Hessel als "ein Landeskundiger" (Benjamin 1987: 24) bezeichnet wird.

Das Telefon, vertrauter Apparat der darauf folgenden Generation, verwandelt die großbürgerliche Wohnung, die in erster Linie in Steglitzer Ecke Genthiner und Blumeshof 12 als ein Ort der "bürgerlichen Sicherheit" (Benjamin 1987: 50), Geborgenheit, Kontinuität, Geschichte, Erinnerung und des gemächlichen Arbeitstempos etabliert wurde und damit die vormoderne Selbstgenügsamkeit der Stadt – "dann war die Stadt so in sich selbst versunken wie ein Sack, der schwer von mir und meinem Glück war" (Benjamin 1987: 54) – verkörperte, in einen Nicht-Ort. Der Klingelton ist nicht bloß Ruhestörer der bürgerlichen Sicherheit, sondern "Alarmsignal" (Benjamin 1987: 18) für die Gefahren der Moderne. Die Verselbständigung der Technik erfährt Benjamin in Pfaueninsel und Glienicke am eigenen Leib: "Das Rad, obwohl es keinen Freilauf hatte und der Weg noch eben war, ging wie von selbst. Mir aber war, als hätte ich noch nie auf ihm gesessen. Ein eigener Wille begann in seiner Lenkstange sich anzumelden" (Benjamin 1987: 48).

Neues, das Tempo der Moderne, verdrängt das Altbekannte und lässt das Kind in Knabenbücher plötzlich in einer beunruhigenden Moderne erwachen. Als Medium des Modernisierungsschocks dienen beunruhigende Träume, die die Lebensform des Großbürgertums in ihren Grundfesten erschüttern und einen fundamentalen Kontrast zu dem in Winterabend erkennbaren Ort des nächtlichen Berlin bilden. Das Behaustsein des Ortes – in Schmetterlingsjagd lediglich angedeutet, in dem stillen, einem Ort des Rückzugs entsprechenden Kinderzimmer von Krumme Straße noch vorhanden, um im Nähkasten mit der Positionierung der Kindheit als Märchenort zu kulminieren – ist aufhebbar und nimmt im Konzentrat Zu spät gekommen die lebensbedrohlichen Züge der totalen Identitätsnegierung an, die eben jenen treffen, der den Beschleunigungsgesetzen der Moderne nicht zu gehorchen vermag. Die wilhelminische Schule enthüllt die Verunsicherung des bürgerlichen Individuums durch die Zeit. Der Mond fokussiert gleichfalls auf die Angst der Kindheit. Zwei Rätselbilder stellen der Moderne sogar eine Todesprognose aus. Der Strumpf versucht an der Beherrschung des Raumes festzuhalten, mündet indes in die Erkenntnis vom Nichts als Kehrseite der Moderne.




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Das Fieber der Kinderkrankheit gestaltet den "Ort des eingezogensten und stillsten Daseins" (Benjamin 1987: 38) um und geht mit einer Zeitdehnung einher, die die "Züge des Kommenden" (Benjamin 1987: 43) erahnen lässt. Der Fischotter nämlich lebt in einer Behausung, die Benjamin als den Ort des Kommenden bestimmt:

Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, daß sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich jemals aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes (Benjamin 1987: 43)

Durch Verweilen und Zeitdehnung wird der Mensch zum Beobachter des Tempos der Moderne, deren Beschleunigung zwar auf die Zukunft ausgerichtet ist, aber nur um das Vergangene freizulegen: "Und meine Zukunft rauschte es mir zu, wie man ein Schlaflied an der Wiege singt. Wie gut begriff ich, daß man in ihm wächst. In solchen Stunden hinterm trüben Fenster war ich bei dem Fischotter zu Hause" (Benjamin 1987: 45).

Benjamins Modernekonzept erweist sich als kongruent mit demjenigen Hessels und Jüngers. Die Mummerehlen verdeutlichen, dass die Berliner Kindheit um neunzehnhundert schon ein Nicht-Ort war, der indessen noch als Ort empfunden wurde: "Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. […] "Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen." Das Verschen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz. Die Muhme Rehlen, die einst in ihm saß, war schon verschollen als ich es zuerst gesagt bekam" (Benjamin 1987: 59). In der Erinnerung der Verstecke alles beim alten vorzufinden, ist eine Selbsttäuschung, denn die Technik hat den Ort entzaubert. Selbst Unglücksfälle und Verbrechen bleiben angesichts des Tempos der Großstadt nicht mehr im Gedächtnis haften: "Die Stadt versprach sie mir mit jedem Tag aufs neue und am Abend war sie sie schuldig geblieben. Tauchten sie auf, so waren sie, wenn ich an Ort und Stelle kam, schon wieder fort" (Benjamin 1987: 66). In Ein Gespenst wird sichtbar, dass ein Ort nicht mehr fixierbar ist: "Den ganzen Tag hatte ich ein Geheimnis für mich behalten – nämlich den Traum der letztvergangnen Nacht. Mir war darinnen ein Gespenst erschienen. Den Ort, an dem es sich zu schaffen machte, hätte ich schwerlich schildern können. Doch hatte er mit einem Ähnlichkeit, der mir bekannt war, wenn auch unzugänglich" (Benjamin 1987: 62).




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Der alte, bekannte Ort ist unwiederholbar zersplittert worden. Das bucklichte Männlein bündelt diese Erkenntnis. Zwei Blechkapellen betonen gar die Enthumanisierung des Ortes durch das Militär. Die Schränke betonen den Verlust einer Zauberwelt.

Benjamin formuliert sein Ziel so: "Doch nicht das Neue zu halten, sondern das Alte zu erneuern lag in meinem Sinn" (Benjamin 1987: 90). Sein Projekt ist die Aneignung des Alten. Ein "verschlafenes Schlendern […] im Bund mit diesen Straßen" (Benjamin 1987: 93) könnte es realisieren, doch im Lesekasten wird folgendes deutlich: "Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. Und das ist vielleicht gut. Der Chock des Wiederhabens wäre so zerstörend, daß wir im Augenblick aufhören müßten, unsere Sehnsucht zu verstehen. So aber verstehen wir sie, und um so besser, je versunkener das Vergessene in uns liegt" (Benjamin 1987: 96). Benjamin sucht eine Ganzheitserfahrung in der Kindheit. Der mit der Moderne einhergehende radikale Bruch mit allen Traditionen wird problematisiert, scheint indes irreversibel zu sein. Die Rationalität manifestiert sich als Zerstörerin einer von Benjamin auf das 19. Jahrhundert projizierten Magie (vgl. Emerek 2010: 143). Die Wiederverzauberung des Vergessenen durch Erinnerung ist ein problematisches Unterfangen.

Nur Orte entfachen die Erinnerung, sie ist an Orte gebunden (vgl. Steinskog 2001: 30f.). Benjamins Sehnsucht nach Orten entspringt der Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit (vgl. Hornbek 2001: 109). Adorno kann darin zugestimmt werden, dass Benjamin "noch das Traditionslose der neudeutschen Kapitale von je als verbürgt [erschien] durch Tradition, das Jüngste als Gleichnis eines Ältesten." Die Bilder der Berliner Kindheit um neunzehnhundert ausschließlich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Nationalsozialismus zu interpretieren, verengt allerdings die Perspektive. Dass die Bilder des Textes "nicht idyllisch und nicht kontemplativ" (Adorno 1987: 111) seien, muss als eine gewagte These eingestuft werden. Ihnen wohnt zwar nicht die von Hessel vorgenommene Idyllisierung eines untergegangenen Berlins inne, doch antizipieren sie die kontemplative Wahrnehmung (vgl. Stüssi 1977: 56f., 89)7




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VIII

Als Hessel in dem Kapitel Zeitungsviertel nach Publikationsmöglichkeiten für seine Artikel sucht, wird er mit den Vorgaben der Tagesaktualität konfrontiert. Hessels Antwort gewährt Einblicke in seine Grundposition: "Daß sie unaktuell sind, das ist ja gerade der Reiz deiner kleinen Schöpfungen" (Hessel 2011: 206). Der künstlerische Wert seiner Texte liegt im Unzeitgemäßen. Dass Spazieren in Berlin eine "Beschreibung der Stadt aus lauter alten Beschreibungen zusammenstellen" (Hessel 2011: 220) möchte und keineswegs der Neuen Sachlichkeit huldigt, wird an der Skizze einer idealen Buchhandlung deutlich:

Das ist nicht gerade zeitgemäß. Aus Buchläden oder ihren Nebenräumen Stätten der Konversation und Geselligkeit zu machen, war wohl früher einigen vom Metier möglich und lieb […] Im heutigen hastigen Berlin gibt es so etwas kaum noch […] aber das rechte beschauliche Verweilen läßt in diesen hübschen Räumen die 'neue Sachlichkeit' nicht zu. […] Nun, wenn der Berliner noch mehr Großstädter und dementsprechend gelassener geworden sein wird, wenn er sich nicht mehr etwas darauf zugute tun wird, daß er 'zu nichts kommt', dann wird man auch wieder im Zimmer des Buchhändlers richtig zu Gaste sein. (Hessel 2011: 207f.)

Der Satz "Aber genug von der alten Zeit" (Hessel 2011: 203) lässt sich nur vor dem Hintergrund des Bemühens um den Eintritt in ein neues, von der Gegenwart der Moderne klar unterscheidbares Zeitalter einordnen. Hessel ist weniger um die Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart der Moderne bemüht als um die Relation zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Neue Sachlichkeit besitzt keinen Wert an sich, ihr kommt vielmehr die Funktion einer dynamischen Übergangsphase zu. Jenseits des Umschlagpunktes soll sich ein neuer, kontemplativ veranlagter Großstadtmensch herausbilden.

Im letzten Kapitel Südwesten bemüht Hessel sich um eine konkrete Gestaltung seiner Vision dieses neuen Großstadtmenschen, dessen Konturen er bereits in Dahlem zu erkennen wähnt: "Dieser Vorort ist eine der Gegenden, wo die Berliner der kommenden Zeit wohnen, ein Menschenschlag, bei dem die Abgehetztheit der Väter, die 'zu nichts kamen', weil sie zuviel zu tun hatten, in eine freie heitere Beweglichkeit sich umzuwandeln scheint. Nun, wir wollen mit Bestimmtheit nichts behaupten, aber immerhin hoffen" (Hessel 2011: 216). Bei der Rückfahrt von Dahlem in den alten Westen lernt er scheinbar die "verschiedenen berühmten Automobilmarken im Vorbeifahren unterscheiden" (Hessel 2011: 218).




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Die moderne Technik, im Kapitel Südwesten versinnbildlicht durch die Autofahrt zurück an den mit historischer Identität verbundenen Ort der Kindheit, ist das Mittel, um das 'neue Leben' zu erreichen. Schon im Nachwort relativiert Hessel die Hoffnung auf einen kontemplativen Berliner der Zukunft. Hinter dem atemlosen Tempo der Moderne verbirgt sich eine fundamentale Verunsicherung, ja eine Angst des Großstädters: "Der Zukunft zittert die Stadt entgegen. Wie sollte man da den Bewohnern zumuten, liebevoll in der Gegenwart zu verweilen" (Hessel 2011: 221). Nur durch Affirmation scheint die Zukunft greifbar zu sein. Die im Nachwort formulierte Skepsis, ob der Spaziergänger sich jenseits des Umschlagpunktes behaupten können wird, korrespondiert mit der These Augés, dass "Grenzübertritte in ihr [der Hypermoderne] nicht mehr in gänzlich fremde Welten führen" (Sadowsky 2000: 39). Wenn die Moderne in Wirklichkeit schon die Hypermoderne ist, ist deren Beschleunigung sinnlos. Dann wird Berlin als historischer Raum nicht mehr auffindbar sein (vgl. Augé: 2010).8

Spazieren in Berlin endet mit dem Aufruf an die Berliner, ihre chaotische Stadt näher kennen zu lernen. Dem kontemplativen Blick kommt die Funktion zu, die Fragmente der Stadt solange zu betrachten, bis ihre Ganzheitsästhetik sichtbar wird: "Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist" (Hessel 2011: 221). Hessel bemüht sich darum, Berlins Status als Nicht-Ort aufzuheben und es wieder als anthropologischen Ort zu positionieren. Die grundlegende Auffassung Hessels vom utopischen urbanen Raum einer besseren Zukunft wird ebenfalls von Augé – wie Hessel zwischen dem Pessimismus der Vermehrung von Nicht-Orten und dem Optimismus der 'Wiederkehr‘ der Geschichte schwankend – im Nachwort zur Neuausgabe seines wichtigsten Textes vertreten: "Wir werden begreifen, dass unsere wichtigsten Städte seit langem schon ein Bild unserer Zukunft bieten. Wir werden wieder von der menschlichen Gattung sprechen. […] Wir werden den Sinn der Geschichte wiederentdecken" (Augé 2010: 132).

Der kontemplative Blick wird von Hessel als die den Berlinern gemäße Optik hervorgehoben: "Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute" (Hessel 2011: 166). Nun wird ersichtlich, warum Hessel in den ersten Kapiteln eine ambivalente Haltung zur Technik einnimmt. Nur sie vermag die Übergangsphase zu beschleunigen. In dieser Phase geht es darum, ein neues Zeitalter der Kontemplation zu antizipieren.




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Dem kontemplativen Blick bietet sich ein "wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt" (Hessel 2011: 71). Während Hessel der Epoche Alt-Berlin mit begeisterter Zustimmung und der wilhelminischen Periode mit unverhohlener Ablehnung begegnet, nimmt er eine zwiespältige Haltung zur Moderne zwischen Akzeptanz als notwendiger Übergangsphase und unverhohlener Kritik ein. Während der Flaneur an die Moderne gebunden ist, ist Hessels Spaziergänger bestrebt, sie zu überwinden. Die Ziellosigkeit des Spaziergängers ist daher eine vermeintliche. Sein Ziel ist es, Platz für eine historische Zeit in einer vom Fortschrittsglauben geprägten Moderne zu schaffen. Hinter der politischen Naivität Hessels verbirgt sich eine Sensibilität für die Gefahr einer enthumanisierten Moderne, wie sie sich bereits unter Wilhelm II. abzuzeichnen begann. Durch ihre Vorantreibung versucht Hessel, dieser Gefahr entgegenzuwirken und geistigen Widerstand zu leisten.

In Spazieren in Berlin wird Berlin als ein Nicht-Ort geprägt durch einen Mangel an Geschichte, Identität und sozialen Relationen dargestellt. Hessel bemängelt die fehlende Relation der Berliner zu 'ihrer' Stadt. Als Nicht-Ort ist Berlin Gegenstand der Zivilisationskritik: Autofahren, Transit (man denke nur an den auf den Kopf gestellten Namenszug des Hotels), Tempo, Oberfläche, kommerzieller Gewinn und Warenaustausch (z.B. die wachsende Bedeutung der Freizeit, wie sie im Nachtleben und im Lunapark fixiert werden), schöner Schein des Wilhelminismus, Neue Sachlichkeit, Stilvermischung in der Architektur (Berlin als ständiges städtebauliches Provisorium) und ein westliches Frauenbild werden von Hessel der Zivilisation – vor allem in den ersten vier Kapiteln über die Moderne – zugeordnet. Demgegenüber steht die Kultur, die er mit Alt-Berlin identifiziert. Kultur ist für Hessel mit dem Ende des 18. Jahrhunderts gleichbedeutend: Schlüter und Schinkel, historische Stilreinheit, Echtheit, Spazieren, das Langsame, Nachdenken, Tiefe, geistige Bildung und Vertiefung in eine Sache um ihrer selbst willen sind die konstituierenden Elemente der Kultur. Als Vermittler zwischen Kultur und Zivilisation und zwischen den Epochen versucht Hessel, das Getrennte wieder zusammenzufügen. Der Text Spazieren in Berlin ist Ausdruck des Bestrebens, Berlin wieder als einen historischen Ort zu etablieren. Hessel versucht, die Stadt, das Leben und die Kultur als Ganzheit in einen zeitlichen Ablauf einzubinden, indem er alles, was zum Großstadtleben gehört, mit einbezieht. Die Vielfalt von Stadtbildern sind Fragmente der Wirklichkeit Berlins, die zusammengestellt eine subjektiv erlebte Ganzheit ausmachen. Dennoch bleiben das langsame Stadtleben und der zweckentfremdete Blick die dominierende Optik wider die Gleichzeitigkeit des Nicht-Ortes Berlin. Hessel versucht, dem urbanen Raum eine zeitliche Dimension zu geben, durch die Berlin in einen historischen Ort transformiert werden kann.




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IX

Jüngers Optik im Abenteuerlichen Herzen ist von der Forschung als die des kontemplativen Beobachters der Großstadt Berlin bestimmt worden, ohne dass dieser mit Hessel in Verbindung gebracht worden wäre (vgl. Meyer 1990: 117f.): "Die Metropole, in die Jünger, der Flaneur, eintauchte, sog ihn auf. Nachts wanderte er durch die Straßen, um Menschen zu studieren, das Geschehen zu beobachten und das Erlebte festzuhalten" (Mühleisen 1998: 5). Die Spaziergänger Hessel und Jünger verbindet eine elitäre Wahrnehmung der Großstadt. In noch höherem Grade als bei Hessel gilt das Interesse Jüngers aber den Schattenseiten einer brüchig gewordenen Moderne. Er fokussiert auf "Vorahnungen einer Zeit, die den Verfall der Werte und der Ordnungen ankündigen" (Mühleisen 1998: 7). Wie bei Hessel wird der urbane Raum als bedrückender und widernatürlicher Nicht-Ort ohne soziale Relationen definiert: "So lebt der Einzelne inmitten der Millionenstädte der Zeit in einer eisigen Isolation" (Jünger 1961: 148). Jünger wendet sich "gegen den Geist der modernen Stadt, gegen ein Dasein, das vom eisernen Stil der Maschinen gerichtet wird" (Jünger 2001: 229). Die Großstadt der Moderne wird auch von Jünger als permanenter Nicht-Ort nicht anerkannt, denn "hier wird um alte Bindungen gerungen gegenüber der Atomisierung des einzelnen zum Massenteil" (Jünger 2001: 229). Dem "fahlen Dunst, der sich in unseren modernen Städten eingenistet hat", stellt er in der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens die niedersächsische Kleinstadt seiner Jugend als Gegenentwurf zur technisierten Großstadt der 1920er Jahre gegenüber (vgl. Schröter 1993: 64f.). Wie Hessel verortet Jünger die intakte Stadtkultur in der Vergangenheit, greift jedoch mit seiner Vorliebe für das 'ritterliche' Mittelalter noch länger in die Vergangenheit zurück als Hessel mit Alt-Berlin.

Von einer ausführlichen intertextuellen Auseinandersetzung mit den Werken Jüngers und Döblins kann nicht die Rede sein, doch "kann man die Promenade ohne festes Ziel riskieren und auf die ungeahnten Abenteuer des Auges ausgehn" (Hessel 2011: 121). Zweimal betont Hessel das "Abenteuer". Die von Hessel erwähnten "Bibliotheken und Sammlungen" (Hessel 2011: 220) kommen auch im Abenteuerlichen Herzen vor – und zwar auch auf einer Textseite. Jünger betrachtet zunächst "in den Sammlungen des Leipziger Mineralogischen Instituts" (Jünger 1961: 33) einen Bergkristall, um sodann die programmatische Aussage einer elitären Gruppe zu formulieren:




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Ich hege den Verdacht, der die Grenzen der Gewißheit streift: daß unter uns eine erlesene Schar, die sich längst aus den Bibliotheken und dem Staub der Arenen zurückgezogen hat, im innersten Raume, in einem dunkelsten Tibet, an der Arbeit ist. Ich glaube an Menschen, die einsam in nächtlichen Zimmern sitzen, unbeweglich wie Felsen, durch deren Höhlen die Strömung funkelt, die draußen jedes Mühlrad dreht und das Heer der Maschinen in Tempo hält – hier aber jedem Zweck entfremdet und von Herzen aufgefangen (Jünger 1961: 33)

Dies ist die Standortbestimmung einer kontemplativen Elite, die mit dem Tempo der Moderne nur in Kontakt steht, um sie zu überwinden. Mit Spazieren in Berlin platziert sich Hessel im Zentrum dieses intellektuellen Verhaltenskodexes. Da Jünger den Nationalismus als ein "großstädtisches Gefühl" (Jünger 2001: 234) definiert, gilt es, das Potential des modernen Lebens für das politische Projekt nutzbar zu machen: "Wir müssen eindringen in die Kräfte der Großstadt, in die Kräfte unserer Zeit, die Maschine, die Masse, den Arbeiter. Denn hier liegt die potentielle Energie, die für die nationale Erscheinung von morgen in Frage kommt" (Jünger 2001: 233). Rational ist die Moderne nicht begreifbar. Jünger geht es daher nicht um eine positive oder negative Bewertung der Großstadt: "Wesentlich ist, daß sie das Gehirn ist, durch das der Grundwille unserer Zeit denkt" (Jünger 2001: 235).

Die Vorstellung vom dialektischen Umschwung nimmt in Texten des Jahres 1929 einen zentralen Stellenwert ein. In Berlin Alexanderplatz erwähnt Döblin einen "Umschlagpunkt, von dem erst Licht auf das Ganze fällt" (Döblin 1990: 409). Im Abenteuerlichen Herzen Jüngers ist von einem "magischen Nullpunkt" (Jünger 1961: 162) die Rede, an dem die Dynamik der Moderne in die Finalität eines ruhenden Seins mündet. Ende der 1920er Jahre figuriert Urbanität als Bestandteil eines Denkens, das auf einen Umschlagpunkt ausgerichtet ist, dessen Überquerung im Zuge der dynamischen Vorantreibung der Moderne in die Kontemplation mündet. Da die Technik als Mittel zur Zerstörung des Überkommenen dient, lässt sich in Spazieren in Berlin kein totaler Verzicht auf moderne Fortbewegungsmittel konstatieren. Im urbanen Raum wird vielmehr der mit der Amerikanisierung des Lebens beginnende Massentourismus angeschnitten. Mit dem Flugzeug kehrt Jünger zu den Schlachtfeldern an der Westfront zurück: "Mich zieht wenig an diese Stellen zurück, die der museale Trieb unserer Zeit für die amerikanischen Vergnügungsreisenden konserviert und an denen sicher das ekelhafte "Here you can see – – – " ertönt, das mir den Aufenthalt auf dem Forum Romanum zuwider machte" (Jünger 1961: 115). Bei Hessel heißt es: "Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße Deutschlands" (Hessel 2011: 54).




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In Spazieren in Berlin gibt es mehrere Hinweise auf Person und Werk Ernst Jüngers. "Das wohlwollend langsame Lächeln im Abbatengesicht dessen, der ein gut Teil der deutschen und ausländischen Literatur in sein Bestiarium gesperrt hat", könnte Jünger als Vertreter der "allerneusten Literatur" (Hessel 2011: 47) gehören, der in seinen vier Büchern über den Ersten Weltkrieg die Eruption des Archaischen gepriesen hatte, zu der die Ästhetisierung der Technik gehört, die auch Hessel betreibt: "Eine ähnliche Schönheit hatten im Kriege die Tanks, die riesenhaft krochen wie Saurier der Urzeit" (Hessel 1982: 41). Die in den Texten Jüngers vorgenommene Ästhetisierung des Schreckens kommt oftmals durch die detailbesessene und mitleidlose Schilderung der Verwundeten und Gefallenen zum Ausdruck: "Der Verwundete mit dem Bauchschuß, ein blutjunger Mensch, lag zwischen uns und dehnte sich fast wohlig wie eine Katze in den warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Er schlief mit einem kindlichen Lächeln in den Tod hinüber. Es war ein Anblick, bei dem nichts Bedrückendes, sondern nur ein brüderliches Gefühl der Zuneigung zu dem Sterbenden mich berührte" (Jünger 1961: 267). Im Rundfahrt-Kapitel gibt es, als Hessel ein provisorisches Antikriegsmuseum besucht, eine Reminiszenz an die Darstellung des Grauens bei Jünger: "Als Blumentöpfe hat er vor dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben trug […] Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien gräßlich Verwundeter" (Hessel 2011: 72). Dass Hessel sich als Gegner jedweder Kriegsverherrlichung zu erkennen gibt, hindert ihn nicht daran, das Frühwerk Jüngers auch an einer anderen Stelle heranzuziehen. In Jüngers Essay Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) werden die Schrecken eines Jahrmarktes ausführlich registriert: "An Stätten, wo das Volk gesteigertes Leben sucht, auf jedem Jahrmarkt, jedem Schützenplatz lockt auf bemalter Leinwand das Grauen in grellen Farben. Lustmorde, Hinrichtungen, Wachskörper, mit eitrigen Geschwüren besät, lange Reihen anatomischer Scheußlichkeiten" (Jünger 1960: 21). Bei Hessel gibt es eine parallele Passage. Er erinnert sich an den alten Jahrmarkt in der Hasenheide: "Ich habe hier als kleines Kind den lächelnden Mund und die rosa Wangen des Mädchens gesehn, dem der Kopf abgeschlagen und wieder aufgesetzt wird […] sicher aber kam mir hier zum ersten Male der Name Dante zu Ohren in einer Bude, wo einige seiner Höllenstrafen panoramisch-plastisch dargestellt waren. Es war sehr schaurig. So etwas wird uns heute nicht mehr geboten" (Hessel 2011: 155). Die Vergnügungsparks der Moderne sind, wie Augé prononciert, hingegen Nicht-Orte. Als Beispiel nennt Hessel den Berliner Lunapark: "Dieses bemerkenswerte Etablissement faßt zusammen, was auch in anderen Großstädten von sogenannten Lunaparks, Magic cities und dergleichen verlangt wird" (Hessel 2011: 123).




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Im Nobelviertel Grunewald angekommen, erwähnt Hessel kurz eine "Abendgesellschaft bei dem großen Verleger, der die Vorkämpfer von 1890 mit denen von 1930 in seinem Hause und Herzen vereinigt" (Hessel 2011: 125). Mit dem "Herzen" signalisiert Hessel sein Wissen um die biographisch belegte Teilnahme Jüngers an Festen im Hause Rowohlt (vgl. Mühleisen 1998: 5). Von Steglitz heißt es, dass "man hier Schul- und Studienfreunde besuchte, die Sonderlinge waren und zur bessern Erkenntnis der Weltstadt die kontrastierende Stille des abgelegenen Vororts brauchten" (Hessel 2011: 215). Steglitz, in dem Jünger von 1932 bis Dezember 1933 wohnte, beschreibt die Position Hessels: der Berliner Vorortstadtteil ist noch ein Ort. Nur an einem anthropologischen Ort ist auf Dauer kontemplative Einkehr möglich.

Wie Jünger im Abenteuerlichen Herzen besucht auch Hessel das Aquarium. Ästhetischen Reiz üben sowohl auf Hessel wie auf Jünger hauptsächlich die Fische aus: "Aber am schönsten ist es im reinen Fischreich, […] wo wechselnde Farben und wandernde Muster alle Kunstgewerblerphantasie überbieten" (Hessel 2011: 120). Dazu Jünger: "Verdrießlicher Vormittag: ich ging, um mich zu 'montieren', zu den Korallenfischen im Aquarium […] das Schöne erschüttert uns durch eine Kette bunter Explosionen […] Eins dieser Tiere war ganz unübertrefflich gefärbt, tief dunkelrot und mit sammetschwarzen Binden gestreift" (Jünger 1961: 78f.). Der stereoskopische Blick ist für die Autoren um 1930 von herausragender Bedeutung. Hessel sieht sein Motiv in der Tiefe, aber das, was sich außerhalb des Motivs befindet, sieht er nicht. Seine Sicht auf Berlin trägt der Fragmentierung der Wahrnehmung in der Moderne Rechnung. Wie bei Benjamin werden die Großstadteindrücke selektiert, um das in der Stadt angesiedelte Gedächtnis der Menschheit freizulegen. (vgl. Berking 2005: 9). Die Stadt tritt als Überlieferung oder Auflösung der Kultur durch Technik hervor. Berlin wird zur Subkategorie der Gesellschaft. Alt-Berlin ist das zu Bewahrende, dessen Weiterleben das kulturelle Gedächtnis fördert. Das Bewahren Alt-Berlins ist in der Moderne unmöglich geworden, weil in ihr die wilhelminischen Auflösungstendenzen der überlieferten Kultur verstärkt werden. Nur in der Zukunft, so hofft Hessel, werde die kulturelle Auflösung der Vergangenheit einer neuen Wertschätzung weichen.

Die in der Moderne spürbare Abtrennung des Menschen von seiner Vergangenheit soll aufgehoben werden. Das gemeinsame Projekt von Hessel und Jünger ist die Überwindung der Moderne durch ihre Beschleunigung.




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Jenseits des in der bisherigen Hessel-Forschung negierten Umschlagpunktes postulieren sie die Dominanz des kontemplativ veranlagten Großstädters der Zukunft und räumen damit der Utopie einen höheren Stellenwert als dem von der Hessel-Forschung prononcierten "Modus der Erinnerung" ein (vgl. Müller 1997: 103/Witte 1987: 132).9 Als Autoren, die ein finales Entwicklungsziel formulieren, sind sie von dem Selbstverständnis geprägt, Vorreiter eines kontemplativen Spaziergängers zu sein, dessen Verweilen – als Gegenbild zu einer beschleunigten Moderne – sich erst in der Zukunft durchsetzen wird (vgl. Bäcker 2008: 103).10 Beide Texte aus dem Jahre 1929 sind von einem Epochenbewusstsein bestimmt, welches sich der Sichtbarmachung des Neuen nach dem Verlust der alten Werte verschrieben hat. Während Jünger in seiner nationalistischen Arbeiter-Utopie mit einer neuen Stufe des Menschseins spielt und der kontemplative Gewaltverzicht sich erst allmählich in der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938) und in Gärten und Straßen (1942) abzuzeichnen beginnt, findet bei Hessel schon im Jahre 1929 keine Radikalisierung des Krisenbewusstseins statt.

Der von Hessel, Benjamin und Jünger um 1930 gestaltete intellektuelle Verhaltenskodex weist bedeutende, von der Forschung noch nicht beleuchtete Kongruenzen auf. Alle drei deuten die Moderne zwar als die neue Zeit, die ihren Blick prophetisch in die Zukunft richtet, orientieren sich aber dennoch an der Vergangenheit. Diese Übereinstimmungen belegen die Aktualität Hessels in dem von gewaltigen technischen Beschleunigungsschüben, von Forderungen nach ständiger Mobilität, Präsenz und Gleichzeitigkeit sowie geringen Möglichkeiten kontemplativer Einkehr dominierten Zeitalter der Globalisierung. Hessels Haltung gegenüber dem Modernisierungsprozess ist allerdings wohlwollender als diejenige des apokalyptischen Benjamin und des apodiktischen Jünger. In Spazieren in Berlin – und darin ist der Quellenwert dieses Textes zu erblicken – tritt die Prozesshaftigkeit der Modernedeutung plastischer hervor als in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert und im Abenteuerlichen Herzen: von dem in der Vergangenheit angesiedelten Ort Alt-Berlin, über den Nicht-Ort der wilhelminischen Epoche und der neusachlichen Moderne, bis zu der Hoffnung auf eine erneute Verortung Berlins jenseits des Umschlagpunkts. Die in Spazieren in Berlin eingebaute Positivität ist freilich auch der Tatsache geschuldet, dass der Text eine Auftragsarbeit war.




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Anmerkungen

1 Vgl. den Begleittext zur Ausstellung Benjamin in Berlin, Akademie der Künste, Berlin, 23.10.2012 - 14.04.2013: "Historische Aufnahmen erwecken Benjamins Orte zu neuem Leben."

2 "Die Spannung zwischen dem Spaziergänger und der modernen Großstadt, die immer wieder anklingt, ist ihm kein dialektisches Widerspruchsverhältnis, das auf den dramatischen Umschlagspunkt seiner Auflösung hin zu reflektieren wäre."

3 Vgl. zur Relevanz des Umschlagpunkts bei anderen Autoren der 1920er Jahre.

4 "Lagerhallen" sind bei Augé ausdrücklich dem Nicht-Ort zuzuordnen.

5 "Ein tragikomischer Traum. Ich irrte inmitten einer großen Stadt, ich glaube, es war Amsterdam, durch ein Ghetto voll niedriger Häuser und Brücken."

6 Vgl. die analoge Beschreibung des Berliner Schlachthofs.



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7 Dass Benjamins Erinnerung nicht nur auf die Kindheit ausgerichtet ist, sondern auch die noch unerreichte utopische Zukunft antizipiert, ist die These Stüssis: "In der Erinnerung formuliert sich am Stoff des gelebten Lebens das Bedürfnis nach einem echten Ziel der Geschichte, einem Ziel, das der vergehenden Zeit, den schlechten historischen Epochen, ein gutes Ende setzen würde. […] bei solcher Zeitauffassung der Zukunft ein Verweis auf Vergangenheit innewohnt. Die Zukunft kommt nicht nur, sie kehrt auch wieder, insofern sie im Vergangenen immer schon gemeint war."

8 Dass die Nicht-Orte die Orte im Zuge der Globalisierung zunehmend verdrängen, geht aus dem revidierten Titel eines Augé-Hauptwerks hervor. Während die deutsche Erstausgabe (Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt/M: S. Fischer 1994) noch die Parallelexistenz der Orte und Nicht-Orte heraushob, verweist der Titel der 2010 erschienenen Neuausgabe nur auf die Nicht-Orte.

9 "Der Brückenschlag zwischen dem Berlin der Gegenwart und dem um 1800, der hier als Grundmotiv in Hessels Buch hervorgehoben wurde, hat nicht zuletzt den Sinn, die wilhelminische Kultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als monströs-pathologische Sonderentwicklung zwischen eine bessere Vergangenheit und eine bessere Zukunft zu spannen und so ins historische Abseits zu stellen. Das Lob der Gegenwart, das der Spaziergänger im Horizont dieser Konstruktion anstimmt, ist freilich unmißverständlich an die Verlebendigung der Vergangenheit gebunden. Es wird unter dem Vorbehalt formuliert, daß das wahre Bild der Gegenwart erst im Modus der Erinnerung aufscheint." Vgl. aber auch: Bernd Witte, "Nachwort", in: Franz Hessel, Alter Mann. Romanfragment, Frankfurt/M: Suhrkamp 1987, 128-136, hier: 132: "Als Techniken, die in diese Willenlosigkeit einüben, gelten Hessel das Spazierengehen, die Erinnerung, vor allem aber das Lesen und Schreiben."

10 Mit dieser Position grenze ich mich von Bäcker ab. Lindner, 197, verweist auf die elitär-visionäre "Fähigkeit der prophetischen Antizipation des 'neuen Lebens'", das jenseits des Umschlagpunkts angesiedelt ist.