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Nelson Puccio (Heidelberg)



Theresa Vögle (2012): Mediale Inszenierungen des Mezzogiorno. Die "Südfrage" als Prüfstein der Einheit Italiens und der Idee Europas. Heidelberg: Winter.


Dass die literatur- bzw. kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen oftmals in Abhängigkeit von Anniversarien erfolgt und sich somit an der Eigenzeitlichkeit kultureller Formationen orientiert, ist nur schwer von der Hand zu weisen. Exemplarisch lässt sich dieser Nexus am Beispiel Italiens und der eingehenderen Beschäftigung mit der komplexen Interdependenz zwischen nationaler Geschichte, Erinnerung und Identität sowie deren symbolischen Repräsentationen und medialen Ausprägungen demonstrieren. Dieser kulturwissenschaftliche "Dauerbrenner" stand im Kontext des hundertfünfzigjährigen Jubiläums der Unità d'Italia besonders im Fokus des Forschungsinteresses und wurde demgemäß auch von der Auslandsitalianistik mit mehreren Studien bedacht (vgl. u.a. Lukenda 2012; Myers 2012; Rebane 2012; Patriarca / Riall 2012).

Diesem thematischen Bezugsrahmen lässt sich auch die 2011 von der Universität Siegen angenommene Dissertation Theresa Vögles zuordnen, die sich dem Untersuchungsauftrag verschreibt, unter Rückgriff auf geschichtsphilosophische Konzepte und postkoloniale Theoriebildung die stereotype Darstellung des Mezzogiorno in den italienischen Medien seit der politischen Einheit Italiens diskursanalytisch nachzuzeichnen bzw. zu dekonstruieren. Anhand eines variationsreichen Korpus aus Zeitschriften, literarischen Werken und Filmen nimmt sich die Verfasserin der Frage an, wie sich im Anschluss an das Risorgimento – d.h. ab dem Zeitpunkt, als die lange angestrebte Unità d'Italia die eigenen innerkulturellen bzw. inländischen Disparitäten erst zum Vorschein brachte – ein norditalienisch geprägter, kolonialistisch-hegemonialer Diskurs konstituierte, der den Süden des Landes teilweise bis in die Gegenwart hinein als territoriale Metapher für Gegenzeitlichkeit, Rückständigkeit und Primitivität stigmatisiert. Mithilfe der Proklamierung der Questione meridionale wurde Süditalien somit pauschal als "afrikanisches" (oder unter Verweis auf die postcolonial studies vielmehr als "orientalisches") Krisennarrativ implementiert, welches seitdem als Antonym zu einem mit progressistisch konnotierten, europäisch ausgerichteten Norditalien fungiert und sich dementsprechend leicht als Konstrukt bzw. Raum ex nihilo in der kognitiven Kartographie Italiens verorten lässt.




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Die diachrone Untersuchung dieses inneritalienischen Othering vollzieht sich in der vorliegenden Monographie ausschnitthaft unter Miteinbeziehung heterogenen Analysematerials, an dem in geschliffenem Duktus die journalistische, literarische als auch cineastische Behandlung des Mezzogiorno demonstriert wird. Dabei erfolgt die Auswahl der Quellen nach dem Prinzip der chronologischen Staffelung: Die beiden herangezogenen Zeitschriften Rassegna settimanale und L'Illustrazione Italiana decken passagenweise den Zeitraum zwischen 1875 und ungefähr 1900 ab, das Literaturkorpus erfasst von Erzählungen Tarchettis bis hin zu Stratis Gente in viaggio (1966) – unter Einbezug themaaffiner Autoren wie u.a. Verga, Pirandello, Levi und Silone – praktisch ein Jahrhundert meridionaler bzw. meridionalistischer Erzählweise und die untersuchte Filmographie weist mit Lattuada (Mafioso, 1962), Wertmüller (I Basilischi, 1963; Mimì metallurgico ferito nell'onore, 1972) und Rubini (La terra, 2006) insgesamt drei Regisseure auf, die einen Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart schlagen.

Die kritische Auseinandersetzung mit Aspekten des süditalienischen Alteritätsdiskurses steht unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten weder in noch außerhalb Italiens erst seit kurzem auf der Forschungsagenda, auch wenn sich die Verfasserin zu Aussagen des Typs "Die sog. 'Inlandsitalianistik' hat sich der 'Südfrage' noch wenig angenommen" (14) hinreißen lässt. Diese relativiert sie allerdings dahingehend indirekt, dass in ihrer umfangreichen Dokumentation verarbeiteter Sekundärliteratur sehr wohl etliche italienische wie auch internationale Beiträge zu diesem Thema rangieren. Ergänzend dazu sei an dieser Stelle angemerkt, dass beispielsweise mit Meridiana 1987 eigens eine Zeitschrift gegründet wurde, die sich einem interdisziplinären, differenzierten Zugang auf die Mezzogiorno- bzw. Mittelmeer-Realität(en) sowie der Demaskierung althergebrachter, stereotypischer Diskursmuster verschrieben hat und die sich auch der medialen Darstellung bzw. Konstruktion Süditaliens annimmt (vgl. u.a. Moscati 2003; Pedullà 2003; Vereni 2008).




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Die Monographie Vögles knüpft folglich an bestehende Untersuchungstraditionen an, wobei der diskursanalytische Ansatz um historiographische Theoriemodelle erweitert wird und somit – hier veranschlagt die Verfasserin das innovative Potential der Studie (14; 18) – ein zentrales kulturwissenschaftliches Betätigungsfeld an Zeitlichkeitstheorien wie etwa Braudels Konzepts der 'longue durée' oder Kosellecks 'Zeitschichten'-Modell Anschluss findet. Daher mag sich auch der diesbezüglich recht umfassende Theorieteil der Arbeit (59–125) erklären, der ausgehend von einem allgemeinen Abriss zur zeitphilosophischen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte in die Thesen beider Historiker einführt und deren Konzeption unterschiedlicher Zeitstrukturen als Erklärung für die Herausbildung quasi immobiler Sozialstrukturen im Mittelmeergebiet vorstellt. Abgerundet wird die theoretische Fundierung durch ein Kapitel zur Anwendung postkolonialer Theorie auf die Mezzogiorno-Thematik (127–159), welches das Œuvre Foucaults und Gramscis fruchtbar macht. Während die einleitenden Bemerkungen zur programmatischen und thematischen Ausrichtung der Arbeit (13–58) einen anschaulichen kulturhistorischen Einblick in die Darstellungsweisen des mediterranen Raums bis hin zur ersten Problematisierung der Questione meridionale bieten, fällt der genuin empirisch angelegte Untersuchungsteil zu den Repräsentationsformen des italienischen Südens während knapp 150 Jahren Nationalstaatlichkeit (161–324) für diskursanalytische Verhältnisse fast schon unterproportional aus.

Die Studie macht es sich gemeinhin zur Zielvorgabe, "einen entscheidenden Beitrag zur Dekonstruktion des Konzeptes Mezzogiorno [zu] leisten, indem sie […] den medialen Diskurs eines homogenen Mezzogiorno […] unterläuft" (159). Gegen diesen demystifizierenden Impetus ist zwar nichts einzuwenden und die Pluralisierung der Sichtweisen auf den Süden Italiens ausnahmslos begrüßenswert, denn es gilt auch hier einmal mehr der Grundsatz "Diskurse zu analysieren heißt Kritik zu üben" (Jäger 2004, 222). Allerdings kommt man bei der Lektüre der Arbeit nicht umhin zu konstatieren, dass sich jegliche diskursanalytische Verve und argumentative Schlagkraft schnell erschöpft, wenn eine eingehendere Reflexion über den Zusammenhang zwischen der faktisch-realen und der artefaktisch-konstruierten Dimension des Phänomens Mezzogiorno fast vollständig ausgespart wird. So heißt es beispielsweise: "Die vorliegende Dissertation möchte […] nicht ausführlich auf die real gegebene politische, soziale und ökonomische Situation Süditaliens im 19. und 20. Jahrhundert eingehen, sondern die mediale Inszenierung des Mezzogiorno […] anzeigen" (15 n.8).




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Besonders die für die Untersuchung zentrale, weil auch titelgebende Losung der 'medialen Inszenierung' scheint in diesem Zusammenhang – d.h. speziell bezüglich der Auseinandersetzung mit den journalistischen und literarischen Teilkorpora – etwas unpräzise gewählt, suggeriert sie doch, dass hier systematisch eine "[m]anipulativ ausgerichtete Klischeebildung" (Merten 2006, 178) demontiert werden soll. Zweifel an einem etwas zu beliebig und dadurch letztendlich widersprüchlich formulierten forschungshypothetischen Auftrag kommen allerdings auf, wenn die Studie beispielsweise vorgibt, "die untrennbare Vermischung von Realität und Darstellungsweisen des Mezzogiorno in den Medien […] zu veranschaulichen" (13), dabei aber einräumt: "Diese Diskurse und die stereotype Evokation eines rückständigen Süditaliens mit archaischen, ungleichen Sozialstrukturen benennen […] zum Teil die realen Gegebenheiten" (15 n.8). Oder gar an anderer Stelle: "[Süditaliens] Andersartigkeit und langsame Entwicklung steht [sic] zwar außer Frage, doch sollte [sic] diese […] als normal hinsichtlich seiner geographischen Gegebenheiten und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Möglichkeiten erscheinen" (159). Ungeachtet dieser etwas naturdeterministisch-kausalistisch anmutenden Argumentation, die ganz im Zeichen der für die Arbeit ideengebenden Mittelmeervision bzw. Mentalitätskonzeption Braudels steht und dabei den gängigen Mezzogiorno-Diskurs zeitweilig alles andere als zu unterlaufen scheint, erweist sich die Verwendung der binären Opposition 'anders' / 'normal' ohne differenzierende Auseinandersetzung als problematisch. Insofern lässt sich feststellen, dass die grundlegende Frage nach der Trennung zwischen meridionalem Sein und dem (postulierten) diskursiv konstruierten Schein weitgehend unbeantwortet bleibt. Dabei verschreibt sich doch gerade diskursanalytisches Arbeiten dem Ziel, den komplexen Prozessen bzw. Strategien der Darlegung von Argumenten, des Verschleierns und Verzerrens von Sachverhalten sowie der Aushandlung von ideologisch fundierten "Realitäten" mit samt ihres dazugehörigen soziokulturellen Substrats auf die Spur zu kommen.

Die proklamierte "diskurskritisch[e] Prüfung" (12) der medialen Mezzogiorno-Darstellung entpuppt sich aus dieser Perspektive eher als Deskription einer vermeintlich gleichförmigen Diskursoberfläche. Sie lässt außer Acht, dass der Begriff 'Inszenierung' – unter dem hier jegliche Diskursivität, d.h. jedwede Thematisierung des Mezzogiorno subsummiert wird – stets eine Intentionalität suggeriert. Dass letztere eben nicht immer auf Seiten der hegemonial geprägten Perspektivierung des Meridione zu suchen ist, wird beispielsweise an der Repräsentation des italienischen Südens in der Zeitschrift Rassegna settimanale deutlich (176–183). Die Verfasserin universalisiert jedoch den stereotypen, pro-norditalienischen Diskurs dermaßen, dass sie aus dem Blickfeld verliert, dass gerade dieser Fall nicht in das Schema der klassischen Schwarzmalerei passt, die Süditalien entweder als exotisches Faszinosum oder als barbarischen locus orribile zeichnet. Hier stellt sich der dekonstruktive Impetus selbst ein Bein, zumal verkannt wird, dass die Zeitschrift in gesellschaftskritischer, denunziatorischer Intention die meridionalen Missstände als u.a. ein Resultat der imperialistischen Haltung bzw. Politik Norditaliens anprangert.




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Fragwürdig erscheint überdies die weitgehend rechenschaftslose Zusammenstellung des Untersuchungskorpus, die besonders für die Betrachtung des literarischen Analysematerials Fragen aufwirft. So wird etwa pauschal festgesetzt, "die Werke süditalienischer Schriftsteller […] nehmen eine nördliche Perspektive auf ihre Heimat ein und schließen sich stereotypen Darstellungen an" (17) – nur weil die ausgewählten Autoren Lebensabschnitte nicht in Süditalien verbracht haben.1

Abgesehen davon, dass eine solche Kategorisierung und Argumentation Gefahr läuft, oberflächlich und simplifizierend zu wirken, weil sie thematisch-inhaltliche Übereinstimmungen in der Veranschaulichung undifferenziert als 'Inszenierungen' betrachtet, sollte man generell für Presse und Literatur nicht automatisch dieselbe Konzeption von 'Realitätsdarstellung' voraussetzen.2 Generell wäre in diesem Zusammenhang eine Reflexion hilfreich gewesen, inwieweit sich die unterschiedlich herangezogenen Medien und Quellen, die in ihrem Anliegen und (auch mimetischem) Anspruch stark divergieren, überhaupt für eine solche diskursanalytische Untersuchung eignen.

Letzten Endes bleiben zwei entscheidende Punkte nicht umfassend geklärt, die in direktem Zusammenhang mit der programmatischen Ausrichtung der Arbeit stehen: Zum einen handelt es sich dabei um die Frage, ob die Studie überhaupt als 'diskurskritisch' zu klassifizieren ist, konzentriert sie sich doch weniger darauf, die ideologisch-epistemische Tiefendimension eines manipulativen Mezzogiorno-Diskurses offenzulegen, da sie vornehmlich auf der Beschreibungsebene verhaftet bleibt. Man kann sich insofern des Eindruckes nicht erwehren, es gehe letztendlich nicht darum, warum bzw. zu welchem Zweck der Mezzogiorno als gegenzeitliche (nach norditalienisch-europäischem Verständnis) Entität präsentiert wurde bzw. wird, sondern dass vielmehr das wie der Verbildlichungen – sprich: das Nachzeichnen des "Topos einer statischen, 'eingefrorenen' Zeit" (23) – im Vordergrund stehe. Aussagen, die "das Thema der Zeit [d.h. der longue durée] und seine inhaltliche sowie formale Umsetzung in den Medien" (215) in den Forschungsfokus rücken, unterstreichen diesen Anschein zusätzlich und bilden den Ausgangspunkt einer exhaustiven Inventarisierung der traditionell meridional konnotierten Motivik bezüglich "Blutrache, Brigantentum, Subsistenzwirtschaft, determinierender Einfluss der Jahreszeiten, trügerisch-freundliches Klima und Ressourcenknappheit, unterschiedliche Rechtssysteme […], mediterrane Genügsamkeit" (212) in den unterschiedlichen Medien.




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Zum anderen bleiben in diesem Zusammenhang Zweifel bestehen, ob der Rückgriff auf die Braudel'schen bzw. Koselleck'schen Zeitlichkeitstheorien dazu dient, eben die "longue durée der archaischen Lebensweise, Traditionen und magischen Riten" (12) topologisch und textimmanent in Presse, Literatur und Film nachzuzeichnen, oder ob hier vielmehr die "longue durée der Questione meridionale" (326) – also die mythische Konstruktion des Mezzogiorno – diskursanalytisch aufgearbeitet werden soll, was allerdings nur unter Miteinbeziehung eines weiten soziokulturellen, politisch-ökonomischen Rahmens und bei Beachtung der diesbezüglich "realen", d.h. vielmehr nicht-inszenierten meridionalen Gegebenheiten bewerkstelligt werden könnte, die hier allerdings bewusst ausgeklammert wurden. Es ist unumstritten, dass beide Ansätze per se lohnenswerte Forschungsunterfangen darstellen. In derselben Monographie vereinbar sind sie allerdings nicht.


Bibliographie

Harth, Helene (1986): "Ein unsentimentaler Meridionalist: Saverio Strati", in: Zibaldone 2, 59–69.

Jäger, Siegfried (2004): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster: Unrast.

Lukenda, Robert (2012): Die Erinnerungsorte des Risorgimento. Genese und Entfaltung patriotischer Symbolik im Zeitalter der italienischen Nationalstaatsbildung, Würzburg: Königshausen & Neumann.

Merten, Kai (2006): "Inszenierung", in: Trebeß, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart / Weimar: Metzler, 177–179.

Moscati, Italo (2003): "Produzione Sud. Cinema, Tv e Mezzogiorno", in: Meridiana 47–48, 117–137.




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Myers, Lindsay (2012): Making the Italians. Poetics and Politics of Italian Children's Fantasy, Oxford u.a.: Lang.

Patriarca, Silvana / Riall, Lucy (Hg.) (2012): The Risorgimento Revisited. Nationalism and culture in nineteenth-century Italy, Basingstoke / New York: Palgrave Macmillan.

Pedullà, Gabriele (2003): "L'immagine del Meridione nel romanzo italiano del secondo Novecento (1941-1975)", in: Meridiana 47–48, 175–212.

Rebane, Gala (2012): Re-Making the Italians. Collective Identities in the Contemporary Italian Historical Novel, Frankfurt am Main: Lang.

Vereni, Piero (2008): "A Sud della fiction. L'immagine del Meridione italiano nella narrativa televisiva (1988-2007)", in: Meridiana 61, 253–274.


Anmerkungen

1 Saverio Strati beispielsweise verlässt im Alter von knapp 30 Jahren seine kalabrische Heimat und lässt sich in Florenz (bzw. kurzzeitig auch im Schweizer Ausland) nieder, bekommt - so die Verfasserin - automatisch "demnach einen nördlichen Blick auf seine [süditalienische] Heimat" (244); dabei kann man gerade Strati nicht vorwerfen, nicht für die meridionalistische Causa einzustehen, denn er möchte mit seinen Werken "in der sozialen Rolle des Zeugens und Vermittlers […] das Schweigen brechen, an Vergangenes erinnern und mit Hilfe des schriftstellerischen Wortes neue Bewegungen in Gang setzen" (Harth 1986, 68).

2 Allgemein ist Literatur als sekundäres Bedeutungssystem anzusehen, welches die Realität imitieren kann, aber nicht muss. Vor allem im Zuge der poststrukturalistischen Auseinandersetzung mit Literatur, ist auf deren Potential hingewiesen worden, quer zu gesellschaftlichen Diskursen zu verlaufen.