PhiN 60/2012: 102



Stefan Ettinger (Augsburg)



Carmen Mellado Blanco/Patrícia Buján Otero/Claudia Herrero Kaczmarek/Nely Iglesias Iglesias/Ana Mansilla Pérez (eds.) (2010): La fraseografía del S. XXI. Nuevas propuestas para el español y el alemán. Berlin: Frank & Timme (= Romanistik, 6).



Der vorliegende Sammelband, reich an vielfältigen, konkreten Anregungen zur gegenwärtigen Phraseographie des Deutschen, des Spanischen sowie zur bilingualen deutsch-spanischen Phraseographie, weist einige Besonderheiten auf, die vorab hervorgehoben werden müssen.

Der spanische Titel des Sammelbandes, die auf Deutsch und Spanisch verfassten Beiträge namhafter Phraseologen aus Deutschland, der Schweiz, aus Slowenien und Spanien sowie die Veröffentlichung in einem noch jungen, ambitionierten deutschen Verlag, Frank & Timme, fügen sich wie Puzzlesteine zusammen und ergeben ein harmonisches Bild erfolgreicher europäischer wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Mochte noch bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Phraseologie ein Forschungsschwerpunkt sowjetischer Linguisten sein, der später über die DDR-Slawistik und -Germanistik auch in den Westen ausstrahlte, wobei die verdienstvollen Arbeiten zur Popularisierung der neuen linguistischen Disziplin im Westen von Burger (1973), von Häusermann (1977) oder auch von Burger/Buhofer/Sialm (1982) noch besonders hervorgehoben werden müssen (Ettinger 1997: 7/8, Vorwort), so kann man heute mit Fug und Recht von einem gemeinsamen europäischen Forschungshaus sprechen, in dem intensiv Phraseologie betrieben wird, auch wenn sich frühe romanistische Pionierarbeiten (Thun 1978, Schemann 1981) zunächst nicht schulebildend auswirkten. Einen vorläufigen monumentalen Schlussstein bilden die beiden HSK-Bände zur Phraseologie, die 2007 von Burger/Dobrovol'skij/Kühn/Norrick herausgegeben wurden.

Mit dieser geographischen Verlagerung der phraseologischen Forschung hängt ein weiteres bemerkenswertes Faktum zusammen, nämlich der Gebrauch verschiedener Wissenschaftssprachen. Neben Slawisten mit profunden Russischkenntnissen, die vor allem auf Russisch publizierten, sind es nun deutsch publizierende Germanisten, die die Phraseologieforschung vorantreiben oder wie im vorliegenden Fall als Auslandsgermanisten befruchtend auf die Phraseologieforschung in ihrem Mutterland, d.h. hier auf Spanien, einwirken.




PhiN 60/2012: 103


Der dynamischen Germanistin Mellado Blanco, Herausgeberin des zu besprechenden Sammelbandes, ist es zu verdanken, dass Santiago de Compostela zu einem auch international beachteten Forschungszentrum für Phraseologie auf der iberischen Halbinsel wurde, wobei die Nähe des sehr aktiven Centro Ramón Piñeiro mit seinen in Phraseologenkreisen viel beachteten Cadernos de Fraseoloxía Galega sowie die Aktivitäten der Frankoromanistin González Rey mit ihren Publikationen zur Phraseologie des Französischen zur Profilierung dieses Forschungsschwerpunktes beigetragen haben. Daraus ergeben sich nun auch Auswirkungen auf die Verwendung einer Wissenschaftssprache für die Phraseologieforschung. Besaß zunächst das Russische geradezu eine Monopolstellung, kam später Deutsch hinzu und heute nimmt das Spanische einen wichtigen Platz ein. Man könnte fast sagen, die Sprache folgt den Forschern und man sollte nicht aus schnöden kommerziellen Erwägungen heraus versuchen, die Vielfalt europäischer Wissenschaftssprachen freiwillig zugunsten des Englischen aufzugeben. Allerdings wäre jeweils eine Zusammenfassung der Beiträge auf Englisch oder Französisch in dem zu besprechenden Sammelband nicht unpraktisch gewesen, um einen größeren Leserkreis zu erreichen.

Diese Ost-West-Verschiebung der phraseologischen Forschung ging chronologisch auch mit einer Veränderung der Forschungsinhalte einher. Bemühte man sich zunächst um eine detaillierte Klassifikation der Phraseme und um die Ausarbeitung einer adäquaten, einheitlichen Terminologie, so rückten später praxisnahe Probleme der Phraseologie, nämlich die Phraseographie und Phraseodidaktik in den Vordergrund und zeitigten vielfältige Publikationen in Form von Wörterbüchern und Lehrmaterialien.

Ein weiteres gemeinsames Charakteristikum, das sich bei der Lektüre der fünfzehn Aufsätze feststellen lässt, ist die für "ältere Semester" noch recht ungewohnte Forschungsweise. Forschung wird heute nicht mehr von einem Forscher allein im berühmten Elfenbeinturm betrieben, sondern man forscht im Team und im Rahmen eines staatlich unterstützten Projekts. Allerdings sollte man bei einer derartigen Forschungsförderung nicht vergessen, dass Geldgeber auch Forschungsschwerpunkte setzen können und wollen und dass dadurch stark individualistisch ausgeprägte Forschernaturen benachteiligt werden können. Die materielle Förderung der hier beschriebenen verschiedenen Projekte durch den spanischen Staat, d.h. vor allem durch das Ministerio de Educación y Ciencia, ist bewunderns- und nachahmenswert. Diese gezielte und massive Förderung hat dazu beigetragen, dass Spanien zu einem wichtigen Mitspieler in der phraseologischen Champions League geworden ist. Oder sollte man in unserer ökonomisierten Zeit nicht doch besser ein Bild aus der Wirtschaft nehmen und von einem "triple AAA" für die spanische Phraseologieforschung sprechen? Dass mit den Forschungsgeldern nicht nur zweck- und kommerzfreie Grundlagenforschung betrieben wird, verdient besondere Hervorhebung.




PhiN 60/2012: 104


Die Ergebnisse der jeweiligen Projekte sollen in Buchform, zumeist jedoch im Internet veröffentlicht werden und dadurch den Benutzern problem- und kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Damit sind wir bei einer weiteren Gemeinsamkeit der Beiträge angelangt. Die Publikationsform der modernen Forschungsergebnisse verlagert sich immer stärker ins Internet und es ergeben sich dadurch geradezu ideale Publikationsmöglichkeiten für die Phraseologie. Der unbegrenzte Speicherplatz, die Möglichkeit zur ständigen Aktualisierung und die vielfältigen, sekundenschnellen Zugriffsmöglichkeiten eignen sich hervorragend gerade für Phrasemwörterbücher mit ihrem umfangreichen Kontextbedarf. Man darf sich nach der Lektüre des Sammelbandes freuen, dass in Bälde den Phraseologen vielseitige Internetwörterbücher bzw. Datenbanken zur Verfügung stehen werden.

Letztendlich kann man bei der Lektüre aller Beiträge erfreut feststellen, dass in der internationalen Phraseographieforschung das Frauenquorum mehr als erreicht wurde.

In einer kurzen Einführung "Introducción. Perspectivas y nuevas ideas para la fraseografia" (7–14) gibt Patricia Buján Otero einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes und fasst resümeeartig die einzelnen Beiträge zusammen. Am 22. und 23. Mai 2009 fand in Santiago de Compostela (Spanien) eine Internationale Konferenz zur Phraseographie statt. Anlässlich dieser Konferenz wurde das FRASESPAL-Projekt vorgestellt. Ausgewiesene Phraseologen aus Deutschland, der Schweiz, aus Spanien und Slowenien haben mit ihren phraseographischen Beiträgen zur thematischen Abrundung der Tagung beigetragen und vermitteln in der Tat einen guten Einblick in die aktuellen Tendenzen der Phraseographie unseres Jahrhunderts. Den Schwerpunkt der Aufsatzsammlung La fraseografía del S. XXI bildet daher zunächst eine Beschreibung des umfangreichen Projektes FRASESPAL. Auf ca. 40 Seiten stellen die Mitarbeiter dieser Forschergruppe das Projekt eines onomasiologisch gegliederten phraseologischen Wörterbuches des Deutschen und des Spanischen mit insgesamt 3000 Einheiten vor und zeigen an ausgewählten Beispielen, wie dieses Wörterbuch konzipiert wurde und wie es ausgearbeitet werden soll. Die Projektleiterin Carmen Mellado Blanco, Professorin an der Universität in Santiago de Compostela und Autorin zahlreicher wichtiger Arbeiten zur Phraseologie des Deutschen und des Spanischen (Mellado Blanco 2008, 2008a, 2009), gibt eine Einführung in das Projekt "Introducción y planteamiento del proyecto. Los modelos cognitivos" (17–25), indem sie knapp die beiden Teile des Projekts erläutert: Einerseits die Erarbeitung eines zweisprachigen deutsch-spanischen und spanisch-deutschen Thesaurus, andererseits die Analyse der den Phrasemen zugrundeliegenden kognitiven Modelle. An einem konkreten Beispiel des onomasiologischen Feldes /HABLAR/, d.h. /REDEN/ zeigt sie, welche Bedeutung in Anlehnung an Jäckel (2003) der kognitiven Metapherntheorie zukommt.




PhiN 60/2012: 105


Es werden in dem geplanten Wörterbuch nicht isolierte Metaphern beschrieben, sondern es sollen universelle Gruppen herausgearbeitet werden. So umschreibt die Autorin das spanische Phrasem hablar como un disco rayado/parecer un disco rayado (= dt. wie eine Schallplatte reden) mit hablar sin parar (= ohne Pause, Unterbrechung reden) und ordnet es dem metaphorischen Modell hablar es funcionar/la boca es una máquina (d.h. der Mund ist ein Gerät, das nicht still steht) zu.

Die Autorin Ana Mansilla Pérez zeichnet für die onomasiologische Gliederung des Phrasemwörterbuches verantwortlich. In ihrem Beitrag "La ordenación onomasiológica del material fraseológico" (27–36) bespricht sie kritisch die im Deutschen und im Spanischen vorhandenen onomasiologisch gegliederten Phrasemwörterbücher und versäumt es auch nicht auf die bekannten Probleme einer onomasiologischen Anordnung von Phrasemen einzugehen: Es ergeben sich Überlappungen bei den einzelnen Gruppen, vor allem bei polysemen Phrasemen. Es fehlen bisweilen sprachliche Oberbegriffe für bestimmte Phraseme. Des öfteren lassen sich aber auch Phraseme verschiedenen Begriffsfeldern zuordnen. Mansilla Pérez (33) schreibt: "La catalogación de los FR (= fraseologismos) en campos y subcampos conceptuales conduce inevitablemente a que determinados FR tengan que insertarse en varios campos conceptuales, sobre todo si tenemos en cuenta la vaguedad de significado que caracteriza a los FR." Da in der ersten Phase des FRASESPAL-Projektes die Bedeutungsfelder auf drei größere Bereiche beschränkt sind (1. HABLAR/CALLAR; 2. VIDA (ETAPAS DE LA VIDA)/MUERTE); 3. SALUD/ ENFERMEDAD), kommt der Autorin die Aufgabe zu, hier zusätzliche Untergruppen herauszuarbeiten. Von großer Hilfe dürfte hierbei sicherlich das Synonymwörterbuch der deutschen Idiome von Schemann (2012) sein.

Nely Iglesias Iglesias stellt in ihrem Beitrag "Algunas reflexiones en torno a la equivalencia fraseológica interlingüística" (37–44) Betrachtungen an, die sich aus der konkreten phraseographischen Arbeit ergaben und die sich mit Äquivalenzen der Phraseme im Spanischen und im Deutschen befassen. Bekanntlich steckt ja der Teufel im Detail und wenn es an die phraseologisch genaue Erfassung von Äquivalenzen geht, ergeben sich zahlreiche Probleme. Mit Recht weist Iglesias Iglesias auf die so genannten phraseologischen Faux Amis hin, die zwar immer noch nicht terminologisch exakt und allgemeingültig definiert worden sind (faux amis; falsos amigos; Pseudoäquivalente; ghost equivalents usw.), die aber häufig zweisprachige Phrasemwörterbücher zu einer Quelle zahlreicher Konfusionen machen können (vgl. hierzu Ettinger 1994, 2012).

Claudia Herrero Kaczmarek behandelt die Begriffsfelder HABLAR und CALLAR in "Las metáforas de HABLAR y CALLAR en el tesauro onomasiológico alemán-español" (45–54) und zeigt an einigen Untergruppen die Vorgehensweise der kognitiven Metaphernbeschreibung (47):




PhiN 60/2012: 106


"En alemán, el FR sich den Mund verbrennen alude a la simbología del fuego que en este caso tiene una valoración negativa, porque muestra su parte dañina, la que quema. Por el contrario, el frio paraliza y detiene, por lo que en el FR esp. helársele las palabras a alg., el hielo simboliza el silencio causado por una especie de parálisis interior, a menudo debida a un sentimiento de temor."

Mit ihrem mutigen und ergebnisorientierten Titel "No importa si la llamas o no colocación, describela" (55–80) spricht Margarita Alonso Ramos jedem pragmatisch denkenden und praktisch ausgerichteten Phraseographen zutiefst aus dem Herzen. Die Autorin, die sich durch zahlreiche Publikationen zu den Kollokationen des Spanischen bereits einen Namen gemacht hat, beschreibt in ihrem Beitrag das Projekt eines Diccionario de colocaciones del español (DiCE), das sich bevorzugt an ausländische Spanischlernende wenden soll. Die weitere Planung sieht vor, das DiCE ins Netz zu stellen und mit Hilfe der elektronischen Medien den Zugriff auf verschiedene Kollokationsformen, wie z.B. Verb + Substantiv, Substantiv + Verb, Substantiv + Adjektiv und Substantiv + Substantiv zu erleichtern. Ein anspruchsvolles, aber äußerst notwendiges und hilfreiches Projekt für das Spanische als Fremdsprache.

Ein sehr anspruchsvolles Projekt eines mehrsprachigen elektronischen Wörterbuches stellt Pedro Mogorrón Huerta in seinem Beitrag "Diccionario electrónico de construcciones verbales fijas multilingüe" (81–102) vor. Sein geplantes Wörterbuch enthält die CVFs (= construcciones verbales fijas), d.h. Phraseme mit nicht austauschbaren Verben. Er unterscheidet dabei vier Gruppen: a) locuciones verbales des Typs hacer el sueco (= sich dumm stellen); b) colocaciones verbales des Typs derramar lágrimas (= Tränen vergießen); c) verbos soportes des Typs dar un paseo (= spazieren fahren); d) construcciones verbales comparativas des Typs dormir como un tronco (= schlafen wie ein Murmeltier). Im Grunde behandelt das geplante Wörterbuch alle Phraseme des Spanischen mit Ausnahme der Adjektiv + Substantiv-Kollokationen sowie der Substantiv + Substantiv-Kollokationen. Es ist multilingual konzipiert und soll die Phraseme der Sprachen Spanisch, Französisch, Katalanisch, Englisch, Deutsch und Arabisch enthalten. Neben einer semasiologischen Anordnung der Lemmata ist auch eine onomasiologische Gliederung vorgesehen, die jeweils über einfache Links einen Zugriff ermöglichen soll. Bei der Beschreibung der verschiedenen Arbeitsschritte analysiert der Autor, Dozent im Bereich der Übersetzungswissenschaft an der Universität in Alicante, sehr scharfsinnig die zahlreichen Probleme, die sich bei diesem komplizierten Großprojekt ergeben (können) und er weist auch auf die Möglichkeiten hin, sie phraseographisch zu lösen. Die dabei festgestellten Defizite, Mängel und Unzulänglichkeiten müssten eigentlich jeden Wörterbuchkompilator von vorneherein entmutigen. Allein die Angaben zur Herausarbeitung der Frequenz (87) lassen erkennen, welche Herkulesaufgabe noch auf den Autor wartet.




PhiN 60/2012: 107


1997 haben wir zu einem damals geplanten Phrasemwörterbuchprojekt geschrieben, dass nicht nur für die Politik, sondern auch für die Phraseologie der bekannte Bismarcksche Ausspruch von der Kunst des Möglichen gilt (Ettinger 1997: 3). Wichtig erscheint uns zwar als erster Schritt, die Mängel bisheriger Wörterbücher mit fachlicher Kompetenz zu erkennen, aber noch wichtiger ist der zweite Schritt, das Realisierbare auch zu verwirklichen. Allein im Hinblick auf die Frequenz der Phraseme gibt es viele gutgemeinte Vorschläge, an konkreten Vorarbeiten hierzu mangelt es jedoch. Siehe zu den wenigen geglückten Untersuchungen: Hallsteinsdóttir, E. et al. (2006). Ob in unserem konkreten Falle die phraseologische eierlegende Wollmilchsau jemals geklont werden kann?

Mit den Kollokationen im Deutschen befasst sich kenntnisreich und scharfsinnig die Basler Germanistikprofessorin Annelies Häcki-Buhofer "Phraseographie in einer plurizentrischen Sprache – Die Behandlung von Kollokationen" (103–124). Mit Recht bemerkt die Autorin, dass die Kollokationen "im Kontext der ambivalenten Faszination zwischen negativ zu beurteilender Vorfabrikation und Professionalitätsmerkmal bisher zu wenig phraseographische Aufmerksamkeit erfahren" haben. In ihrem Beitrag geht sie anhand zahlreicher Beispiele auf Fragen ein, die sich bei der lexikographischen Erfassung von Kollokationen in einer plurizentrischen Sprache wie dem Deutschen ergeben. Besonders wichtig für eine lexikographische Erfassung der Kollokationen erscheinen uns ihre kritischen Bemerkungen zur positiven bzw. negativen Bewertung der Kollokationen in der öffentlichen und teilweise auch in der schulischen Meinung zu sein. Allein schon die Begriffe, wie z.B. "Floskel", "Formel", "Versatzstück" implizieren negative Konnotationen und erschweren "eine unvoreingenommene Würdigung von Mehrworteinheiten". Vielleicht könnte es in diesem Kontext hilfreich sein, bei didaktisch ausgerichteten Arbeiten zu den Kollokationen zwischen Mutter- und Fremdsprache zu unterscheiden. Hat ein deutschlernender Ausländer nicht unendlich viel erreicht, wenn er bei der Substantiv + Verb-Kollokation die von einem recht bekannten Sprachkritiker heftig kritisierte Kollokation "Waldbrände wüten" aktiv verwenden kann? Bastian Sick (2004: 136) bemerkt nämlich hierzu: "Brände haben übrigens die bemerkenswerte Eigenschaft, immer zu "wüten". "Auch in weiten Teilen Norditaliens wüten Brände", liest der Nachrichtensprecher vom Blatt, und er klingt dabei gewohnt sachlich. Ein wahrhaft wagnerianisch wuchtiges Wort wie "wüten " klingt aber grotesk, wenn es sachlich vorgelesen wird. "Lodern" wäre auch mal ganz hübsch, aber im Journalistendeutsch können Brände nun mal nicht anders als wüten." An deutschsprachige Journalisten gerichtet, mag eine solche Kritik wahrscheinlich einer gewissen Rechtfertigung nicht entbehren, jedoch gilt dies keineswegs für den Fremdsprachenunterricht (vgl. hierzu Rinas 2011). Vice versa erleben wir dasselbe auch bei germanophonen Lernern einer Fremdsprache, wie z.B. dem Französischen, wenn sie die schon von Gustave Flaubert (1913) in seinem Dictionnaire des idées reçues stigmatisierten Adjektiv + Substantiv-Kollokationen zur Erweiterung ihrer Sprachkompetenz einsetzen möchten. Bei Flaubert heißt es zu solchen Mehrworteinheiten ironisch, dass ein bestimmtes Substantiv "toujours précédé de ..." bzw. "toujours suivi de ... " von einem bestimmten Adjektiv sei.




PhiN 60/2012: 108


In der heutigen Terminologie würden wir von einem hochfrequenten Kollokator sprechen. Ein Blick allein auf die Substantive des Buchstaben A, wie z.B. "accident, ambition, amiral, aplomb oder assassin mögen dies verdeutlichen ( http://librivox.org/dictionnaire-des-idees-recues-by-gustave-flaubert/). Mit solchen Vorwürfen dürfte auch Häcki-Buhofer konfrontiert werden, wenn sie – wie in dem Beitrag angekündigt – ein sich noch in statu nascendi befindendes, aber dringend notwendiges Kollokationswörterbuch zum Deutschen Grundwortschatz ausarbeiten wird. Weniger problematisch dagegen dürfte sich die Erarbeitung des geplanten Variantenwörterbuches zum Baseldeutschen gestalten.

Der einzige Beitrag dieser Sammlung ("Sprichwörter im Netz – Eine Internet-Lernplattform für das Sprachenlernen", 125–148), der ein bereits erfolgreich abgeschlossenes Projekt vorstellt, entstammt der Feder von Vida Jesenšek von der Universität Maribor (Slowenien). Die Autorin hat zudem schon ein früheres EU-Forschungsprojekt mit dem Namen EPHRAS koordiniert und erfolgreich durchgeführt. Ziel dieses ersten Projekts war es, ein lehrwerkunabhängiges Lernmaterial auf CD-ROM zum Bereich "Phraseologie" im Fremdsprachenunterricht für die Sprachen Deutsch, Slowenisch, Slowakisch und Ungarisch zu erstellen. Insgesamt stehen auf einer elektronischen Datenbank 4000 Phraseme in den vier Sprachen zur Verfügung. Dazu kommen 150 interaktive Übungen zu ausgewählten Phrasemen in den erwähnten Sprachen sowie ein ausführliches Handbuch. Die Präsentierung des Lehrmaterials auf einer CD-ROM hatte leider eine schnelle und erfolgreiche Verbreitung sowie eine rasche Steigerung des Bekanntheitsgrades des Projekts verzögert. Das neue, ebenfalls von der EU geförderte parömiologische Forschungsprojekt (Laufzeit 2008–2010) und wiederum unter der Leitung von Jesenšek, soll dagegen als Internet-Lernplattform problemlos allen Internetbenutzern zugänglich sein: www.sprichwort-plattform.org. Ziel dieses Projektes, das Sprichwörter der Nachbarsprachen Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Slowenisch und Ungarisch enthält, ist die Erstellung einer Online-Lernplattform zur Vermittlung von Sprichwörtern in den erwähnten Sprachen. Nur teilweise mit Recht beklagt die Autorin in einem kurzen historischen Überblick, dass es trotz einer langen Tradition in der europäischen Sprichwortforschung bislang an "empirisch-linguistischen, korpusbasierten, kontrastiven und didaktischen" Untersuchungen fehlt und dass bislang "keine statistisch relevanten empirischen Untersuchungen zum aktuellen Gebrauch und zur Kenntnis von Sprichwörtern bei den Sprachenlernenden bekannt" sind. Auch die Behandlung der Parömiologie im gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (Glaboniat et al. 2005) sei nicht frei von widersprüchlichen Äußerungen hinsichtlich der rezeptiven und produktiven parömiologischen Kompetenz. Erinnert man sich jedoch an die zahlreichen Arbeiten von Peter Grzybek in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur Parömiologie und an das seinerzeit durchgeführte DFG-Projekt zum deutschen Sprichwörterminimum, dann ist dieser Überblick doch etwas zu düster gemalt. Auch die Dissertation von Umurova (2005) zum Sprichwortgebrauch anhand von Beispielen aus dem Internet hätte das düstere Tableau ein wenig aufhellen können.




PhiN 60/2012: 109


Die Lernplattform besteht aus drei wesentlichen Komponenten: 1. eine Sprichwort-Datenbank, 2. Sprichwort-Übungen und 3. eine Sprichwort-Community. In der fünfsprachigen fremdsprachendidaktisch aufbereiteten Sprichwortdatenbank nimmt Deutsch den Status einer Ausgangssprache ein. Auf der Basis großer elektronischer Textsammlungen wurde "ein Inventar von aktuell üblichen und in thematischer Hinsicht didaktisch relevanten Sprichwörtern im Umfang von ca. 300 Einträgen erarbeitet" (129). Die didaktische Relevanz für die Auswahl dieser Parömien ergibt sich einerseits aus der korpusermittelten statistischen Häufigkeit, andererseits aber auch aus der inhaltlichen Relevanz entsprechend dem gemeinsamen europäischen Referenzrahmen. Hier hätte sich mancher Benutzer der Plattform ausführlichere Angaben zur Datengewinnung gewünscht. Die zweite Komponente der Plattform enthält eine integrierte und mit der Datenbank verlinkte Sammlung von vielfältigen interaktiven Übungen (Zuordnungsübungen, Memory-Spiele, Lückentexte, Kreuzworträtsel, Einsetzübungen, Multiple-Choice-Übungen, Kombinationsübungen, Korrekturübungen, Transformationsübungen, Offene Aufgaben und Textübungen). Das den Übungen zugrundeliegende Konzept besteht aus den in der Phraseodidaktik inzwischen seit Peter Kühn allgemein akzeptierten drei bzw. vier Schritten: Erkennen der Sprichwörter im Kontext, Entschlüsselung der Sprichwort-Semantik, Festigung der Sprichwortkenntnisse sowie eine grammatisch-semantisch korrekte und kommunikativ-pragmatisch richtige Verwendung der Sprichwörter in entsprechenden Kontexten. Die dritte Komponente bietet den Benutzern bzw. den Lerngruppen die Möglichkeit eines interaktiven Wissensaustausches. Die Autorin hofft, hier Germanistik- und Sprachenstudierende ansprechen zu können, die später als Multiplikatoren tätig sein werden und die altersbedingt zunächst nicht gerade von Haus aus als sprichwortaffine Community zu bezeichnen sind. Die innovativen Dimensionen des Projekts in technischer Hinsicht eröffnen vielfältige Perspektiven für Experten im Bereich der e-Lernmaterialentwicklung, sie entziehen sich aber der Kompetenz des Rezensenten. Experten für Phraseologiewörterbücher dagegen werden mit Interesse und Gewinn das Kapitel 4.4 Bedeutungen sowie das Kapitel 4.5 Gebrauchsbesonderheiten durcharbeiten. Die Autorin strebt bei den Bedeutungsumschreibungen der Parömien in Kapitel 4.4 eine standardisierte Beschreibungssprache an, die mit Formeln wie z.B. "Sagt man, wenn jmd./etw. .../Sagt man für eine Situation, in der .../Sagt man dafür, dass ..." eingeleitet werden. Das Sprichwort "Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln" wird auf der Sprichwortplattform wie folgt erläutert: "Sagt man abwertend, wenn jemand ohne große Anstrengungen und unverdient Erfolg hat." Sehr hilfreich für jeden Benutzer dürften darüber hinaus auch die Gebrauchsbesonderheiten sein, "die in den Korpusbelegen häufig zu beobachten sind, die aber nicht auf alle Vorkommen des Sprichworts verallgemeinbar sind." (141/142). Die ausführlichen Angaben zu dem Sprichwort "Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen" (143) sind ein phraseographisches Meisterstück!




PhiN 60/2012: 110


Mit dem erfolgreichen Abschluss des Projekts hat die Sprichwortdidaktisierung im Internet einen entscheidenden Schritt nach vorne gemacht und man könnte sich gut vorstellen, dass das Projekt www.sprichwort-plattform.org modellbildend auch für andere Sprachkombinationen verwendet werden kann.

Ganz neue Wege schlägt der Linguist Juan de Dios Luque Durán aus Granada ein. In seinem Beitrag "Alusión, intertextualidad y juegos de lenguaje. La explotación del diccionario lingüístico-cultural del español para la creación de textos argumentativos" (149–168) skizziert er das Projekt eines Diccionario intercultural e interlingüístico, das dem Benutzer das Verständnis von Allusionen, intertextuellen Bezügen und Wortspielen erleichtern soll. Anhand eines ausführlich kommentierten Zeitungstextes verdeutlicht er die Wichtigkeit eines solchen interkulturellen Wörterbuches. Die Lektüre anspruchsvoller, allusionsreicher argumentativer Texte dürfte für jeden Nichtmuttersprachler, aber auch für manch einen Muttersprachler oftmals eine harte Nuss sein. Allein schon das einfache Textverständnis erfordert profunde Kenntnisse im Bereich der Phraseologie und der Parömiologie. Noch schwieriger gestaltet sich dann die Übersetzung in eine andere Sprache. Sprachliche Versatzstücke oder positiver ausgedrückt Kultureme, die zum kollektiven Gedächtnis einer Sprache bzw. einer Nation gehören, wie z.B. Zitate der Dichter oder der Politiker, Buch- oder Filmtitel, historische oder geographische Anspielungen, Belege aus Märchen oder aus der Werbung usw. bilden die Grundlage des geplanten Wörterbuches. Man kann gespannt sein, wie das neuartige Wörterbuch diese journalistischen Okkasionalismen, didaktisch aufbereitet, dem Lernenden zur Verfügung stellen wird. Phraseodidaktisch erfolgte bislang eine andere Vorgehensweise, indem man über die Vorstufe guter phraseologischer Kenntnisse die Lernenden auf die okkasionellen Umformungen eines Phrasems aufmerksam machen wollte.

Im Rahmen des geplanten Wörterbuches von Luque Durán untersuchen Antonio Pamies und Kamilla Tutaeva in ihrem Beitrag "El árbol como referente linguo-cultural y su huella fraseo-paremiológica" (169–190) die Symbolik des Baumes in sprachlicher und kultureller Hinsicht und gehen den Spuren nach, die der Baum – der Olivenbaum im Spanischen und die Birke im Russischen – in der jeweiligen Phraseologie und Parömiologie hinterlassen hat. Man könnte unschwer und mit Gewinn die Untersuchung auch auf die Metaphorik zur deutschen Eiche ausdehnen. Für folkloristisch aufgeschlossene Leser stellt dieser Artikel eine wahre Fundgrube dar. In den beiden Beiträgen erahnt man unschwer eine Fokusverschiebung innerhalb der Phraseologie und der Parömiologie. Der rein linguistische Bereich wird verlassen und man öffnet sich verstärkt dem kulturellen Bereich im weitesten Sinne. Damit schließt sich der Kreis zu früheren Untersuchungen, die im Rahmen der Volkskunde sprichwörtliche Redensarten behandelten. Lutz Röhrich, Verfasser des vielzitierten Wörterbuches Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (1991) war ja bekanntlich bis zu seiner Emeritierung Direktor des Instituts für Volkskunde und des Deutschen Volksliedarchivs an der Universität Freiburg im Breisgau.




PhiN 60/2012: 111


In ihrem Beitrag "El diccionario de locuciones del español actual (DILEA)" (191–210) beschreibt Inmaculada Penadés Martínez, die sich bereits durch die Veröffentlichung dreier phraseologischer Wörterbücher für spanischlernende Ausländer einen Namen als Phraseodidaktikerin gemacht hat, ein vom Ministerio de Educación y Ciencia gefördertes Projekt, in dem nicht etwa Grundlagenforschung betrieben wird, sondern bei dem als Abschluss ein praktisch verwendbares Wörterbuch der in Spanien gebräuchlichen Phraseme stehen soll. Die kluge Beschränkung bei der Auswahl der Phraseme – die Autorin spricht von ca. 13 700 Einheiten –, die Verbindung von semasiologischer und onomasiologischer Gliederung, die Berücksichtigung von synonymen und antonymen Phrasemen sowie die an einigen Beispielen vorgestellte Makrostruktur lassen erkennen, dass das Spanische nach dem erfolgreichen Abschluss des Projektes über ein äußerst nützliches und solides phraseologisches Wörterbuch verfügen dürfte. Wollte man unbedingt ein Haar in der Suppe finden, dann könnte man monieren, dass die Auswahl der Belege sich mit konstruierten, knappen Beispielen begnügt. Allerdings hat man bislang für Wörterbücher in Printform keine bessere Möglichkeit gefunden. Bei einer Weiterentwicklung zu einem Internetwörterbuch könnte dieses Manko behoben werden.

Ein weiteres staatlich gefördertes Projekt, nämlich der Diccionario de partículas discursivas del español wird von Leonor Ruiz Gurillo, Professorin in Alicante und Leiterin der Forschungsgruppe GRIALE, in dem Beitrag "El tratamiento de la fraseologia en el Diccionario de partículas discursivas del español" (211–230) präsentiert. Die unzulängliche Darstellung der diskursiven Partikeln in den bisherigen Wörterbüchern des Spanischen haben die Autorin ermutigt, ein spezielles, für alle Benutzer frei zugängliches Online-Wörterbuch dieser diskursiven Partikeln zu erstellen, das didaktische Ziele verfolgen soll. Als Internetwörterbuch vereinigt es die bekannten Vorteile solcher Datenbanken: eine unbegrenzte Speicherkapazität, die Möglichkeit zur ständigen Aktualisierung und vielfältige, rasche Zugriffsmöglichkeiten. Mit Hilfe eines besonderen Menüs können bei jedem Lemma dieses Wörterbuches weitere Informationen abgerufen werden, wie z.B. die Definition, ein mündlicher oder schriftlicher Textbeleg sowie eine Übersetzung ins Englische. Zu den Belegen heißt es in einer Fußnote auf Seite 222: "Todas las entradas integran ejemplos reales, tanto orales como escritos, que ilustran los diversos aspectos de la microestructura como la definición, las variantes o la posición que ocupan." Die Autorin arbeitet also mit authentischen Textbelegen! Eine stichprobenartige Konsultation des Internetwörterbuches lässt allerdings erkennen, dass die relativ kurzen, zumeist literarischen Belege den Vorteil einer unbegrenzten Speicherkapazität allerdings bei weitem nicht ausschöpfen. Als offene Datenbank lassen sich weitere Textbelege aber unschwer einfügen. Allerdings könnte die spanische Lexikographie sich in diesem Bereich noch manche Anregung holen von der deutschen bzw. französischen Partikelforschung (siehe hierzu Ettinger 2011: 89–93). Man muss nicht unbedingt über prophetische Gaben verfügen, wenn man die Vermutung aufstellt, dass solche spezialisierten Wörterbücher in Zukunft wohl eher im Internet erscheinen werden als in gedruckter Form auf dem Büchermarkt.




PhiN 60/2012: 112


Julia Sevilla Muñoz beschreibt in ihrem Beitrag "Los aspectos fraseográficos del proyecto de investigación El mínimo paremiológico" (231–248) ausführlich die Vorgeschichte zweier seit 2005 laufender Projekte, die der Erarbeitung eines parömiologischen Minimums im Spanischen dienen. Die ausgewiesenene Parömiologin von der Universität Madrid (Universidad Complutense de Madrid) – sie hat 1993 die Zeitschrift Paremia gegründet und forscht seit Jahren schon im Bereich der Sprichwortkunde – hat dieses Projekt im Hinblick auf sprachdidaktische Zwecke konzipiert. Wurden im ersten, von 2005 bis 2008 laufenden Forschungsprojekt, insgesamt 877 Sprichwörter des Spanischen mit ihren 'correspondencias' (= Entsprechungen) im Katalanischen, Galizischen, Baskischen, Französischen und Englischen verglichen, so behandelt sie im zweiten Projekt (Laufzeit 2008–2011) nun insgesamt 1001 Sprichwörter mit den jeweiligen Entsprechungen im klassischen Arabischen, im Polnischen, im Provenzalischen, im Deutschen, im Russischen und in einigen Sprachvarianten des südamerikanischen Spanisch. Wir haben hier den spanischen Terminus 'correspondencia' beibehalten, da die Autorin selbst nicht von äquivalenten Sprichwörtern sprechen will, d.h. von Sprichwörtern, die inhaltlich und formal völlig übereinstimmen (243/244). Alle Sprichwörter des parömiologischen Minimums werden hinsichtlich der Mikrostruktur nach einem einheitlichen, detaillierten und gut gegliederten Schema beschrieben (paremia española, variantes, sinónimos, antónimos, hiperónimo, idea clave, tipo de paremia, significado, observaciones léxicas, observaciones), jedoch ohne Kontextbelege präsentiert. Die gelungene Umschreibung der jeweiligen Parömie und die Hinweise zu ihrem Gebrauch erleichtern allerdings ihr Verständnis und ermöglichen es sicherlich auch, sie aktiv zu verwenden. Der Verzicht auf Kontextbelege erklärt sich wahrscheinlich aus der beabsichtigten späteren Publikationsform als Buch. Ein Beispiel mag ihre Vorgehensweise verdeutlichen (236): "En casa del herrero, cuchillo/cuchara de palo. Se emplea para indicar que los hijos no se parecen a los padres, especialmente los que deciden seguir una vía profesional distinta de la de su progenitor. Se dice también cuando se carece de algo que parece normal y natural poseer en abundancia." Als deutsche 'correspondencia' (= Entsprechung) gibt sie an "Er flickt anderen die Schuhe und geht selber barfuß". An diesem kleinen Beispiel zeigt sich jedoch bereits das Grundproblem mehrsprachiger Sprichwortsammlungen. Entsprechungen mögen zwar in anderen Sprachen vorhanden sein, sind aber weder von der Frequenz noch vom Bekanntheitsgrad her vergleichbar (siehe hierzu auch die Beispiele in http://cvc.cervantes.es/lengua/refranero). Beachtenswert erscheinen uns aber ihre Kommentare hinsichtlich des allmählichen Verlustes der Sprichwortkenntnisse bei der jüngeren Generation. Ihren wiederholten Klagen kann man entnehmen, dass sich offensichtlich im spanischen Sprachraum bedingt durch die sozialen Veränderungen der letzten Jahre schnelle Veränderungen im Gebrauch der Parömien vollziehen. Der Leser, der sich allerdings dafür interessiert, mit welchen Methoden und nach welchen Kriterien das parömiologische Minimum erarbeitet wurde, "se queda con hambre" nach der Lektüre dieses Beitrags. Vermutlich hat die Autorin darüber schon ausführlich in ihren früheren Arbeiten geschrieben.




PhiN 60/2012: 113


Souverän und fachkundig beschreibt Kathrin Steyer vom IDS in ihrem umfangreichen Beitrag – mit fast 30 Seiten der zweitlängste Artikel dieses Sammelbandes – "Korpusbasierte Phraseographie – Neue empirische Methoden und Beschreibungsformen" (249–277) einige Arbeiten ihres Projektes der Usuellen Wortverbindungen (UWV). Der Terminus UWV wurde von der Autorin im Jahre 2000 für ihre Forschungsarbeiten kreiert und beschreibt feste Wortverbindungen verschiedenster Art (251): "Usuelle Wortverbindungen (UWV) sind konventionalisierte Muster des Sprachgebrauchs, die in rekurrenten, also wiederkehrenden, syntaktischen Strukturen manifest werden." Diese UWV "weisen unterschiedliche strukturelle Ausdehnungen auf" erstrecken sich von syntagmatischen Minimaleinheiten bis hin zu Einheiten mit satzwertigem Charakter (252). Sie umfassen folglich feste Wortverbindungen, wie z.B. Kollokationen, Phraseologismen oder Sprichwörter. Mit Hilfe der korpusanalytischen Auswertung großer Datenmengen ergeben sich für die elektronische Phraseographie ungeahnte Möglichkeiten, die vor allem bei der Kodifizierung der Phraseme die immer wieder und mit Recht beklagte Diskrepanz zwischen Sprachwirklichkeit und Wörterbucheinträgen zu reduzieren, wenn nicht sogar eines Tages in Form von Online-Wörterbüchern bzw. Datenbanken gänzlich aufzuheben vermag. Ihre berechtigte Kritik an der "Vererbung identischer Beispiele in Phraseologie und Lexikographie" (255), die wenig oder gar nicht dem aktuellen Gebrauch in der Sprache entsprechen, kann man uneingeschränkt zustimmen (vgl. hierzu auch Ettinger 2004 und 2009). Für ihre Untersuchungen bedient sich Steyer der wichtigen Methode der statistischen Kookurrenzanalyse, die es ermöglicht, feste Wortverbindungen mit ihren typischen Kontexten problemlos aus einem Korpus herauszufiltern und zu analysieren. An einigen Belegen verdeutlicht sie dieses methodische Vorgehen, das vielversprechende Ergebnisse zeitigen könnte. Geplant ist, all diese Daten in so genannten Wortverbindungsfeldern zu verarbeiten bzw. sie als Grundlage für Wörterbuchartikel in dem geplanten Online-Wortschatz-Informationssystem (OWID) zu verwenden. Die leicht zu konsultierenden Internetanschriften in der Bibliographie ihres Beitrages dürfte Germanisten im In- und Ausland zahlreiche Anregungen vermitteln. Man wünscht der Autorin und ihrer Equipe weiterhin ein erfolgreiches, von Personal- und Finanzproblemen ungestörtes, freies Arbeiten, damit die Ergebnisse bald allen Forschern, aber auch einfachen Wörterbuchbenutzern zur Verfügung stehen werden.

Ausgehend von der theoretisch eminent wichtigen Unterscheidung, wonach ein Sprachenpaar idealiter über vier verschiedene Wörterbuchtypen verfügen sollte, eine Unterscheidung, die von der Augsburger Lexikographieschule propagiert wurde – die Autorin bezieht sich auf zwei Titel neueren Datums (Werner/Chuchuy 1992 und Haensch/Omeñaca 1997 bzw. 2004) – versucht Aina Torrent-Lenzen, vielseitige Professorin an der FH zu Köln und an der Universität Wien mit einem Team von Mitarbeitern (Studenten, Linguisten, Philologen und Übersetzern) auf freiwilliger Basis seit mehr als sieben Jahren ein sich speziell an Übersetzer richtendes Wörterbuch Spanisch-Deutsch zu erstellen.




PhiN 60/2012: 114


"Objetivos y alcances de la fraseografía bilingüe español-alemán pasiva de descodificación" (279–297). Dieser diccionario bilingüe pasivo de descodificación verwendet (bisweilen leicht veränderte) Belege aus dem Internet – jedoch ohne Quellenangabe soweit aus den wenigen Musterartikeln des Beitrags ersichtlich wird –, verzichtet bewusst auf etymologische Angaben, umschreibt das spanische Phrasem auf Deutsch und bringt jeweils eine vollständige Übersetzung der spanischen Belege auf Deutsch, um auf die kontextbedingten Übersetzungsvarianten hinzuweisen. Die gelungene Darstellung des Phrasems rata de biblioteca – fälschlicherweise wird dieser phraseologische faux ami mit Leseratte ins Deutsche übersetzt – könnte manche Anregung geben für das große Projekt der weitverbreiteten Idiome von Piirainen, bei dem überwiegend formale Äquivalenzen zu dominieren scheinen. Dem Sprachenpaar Spanisch-Deutsch stünde nach dem erfolgreichen Abschluss des Projektes für eine ausgewählte Zielgruppe, nämlich deutschen Übersetzern aus dem Spanischen, ein einmaliges Phrasemwörterbuch zur Verfügung. Weitere ausführliche Erläuterungen zu diesem Projekt findet der interessierte Leser unter: http://opus.bibl.fh-koeln.de/volltexte/2009 /199/pdf/Proyecto_diccionario_locuciones.pdf.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass dieser deutsch-spanische Sammelband zur Phraseographie den aktuellen Forschungsstand in seinen zahlreichen Facetten gelungen widerspiegelt und dass er wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der ein- und zweisprachigen Phraseographie geben wird.



Bibliographie

Burger, Harald unter Mitarbeit von Harald Jaksche (1973): Idiomatik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. (= Germanistische Arbeitshefte, 16)

Burger, Harald/Buhofer, Annelies/Sialm, Ambros (1982): Handbuch der Phraseologie. Berlin: de Gruyter.

Burger, Harald/Dobrovol'skij, Dmitrij/Kühn, Peter/Norrick, Neal R. (Hg.) (2007): Phraseologie/ Phraseology. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung/An International Handbook of Contemporary Research. Berlin: de Gruyter. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 28.1 und 28.2)




PhiN 60/2012: 115


Ettinger, Stefan (1994): "Phraseologische faux amis des Sprachenpaares Französisch-Deutsch", in: Barbara Sandig (Hg.): EUROPHRAS 92. Tendenzen der Phraseologieforschung. Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer, 109 –136. ( = Studien zur Phraseologie und Parömiologie, 1)

Ettinger, Stefan (2004): "'Zeig Pelz die kalte Schulter': Phraseographie und Sprachwirklichkeit", in: Lexikalische Semantik, Phraseologie und Lexikographie. Abgründe und Brücken. Festgabe für Regina Hessky. Hg. von R. Brdar-Szabó/E. Knipf-Komlósi. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang, 315–329. (= Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft, 57)

Ettinger, Stefan (2009): "Haben die Männer am Grill die Hosen an? Phraseographie und Sprachwirklichkeit", in: Mellado Blanco, C. (Hg.): Theorie und Praxis der idiomatischen Wörterbücher. Tübingen: Niemeyer, 45 –64. (= Lexicographica: Series Maior, 135)

Ettinger, Stefan (2011): "Besprechung von René Métrich/Eugène Faucher, Wörterbuch deutscher Partikeln. Unter Berücksichtigung ihrer französischen Äquivalente. In Zusammenarbeit mit Jörn Albrecht. Berlin/New York: de Gruyter, 2009, LII + 985 S.", in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 121/1, 2011, 89–93.

Ettinger, Stefan (2012): "Phraseologische Faux Amis des Sprachenpaares Französisch-Deutsch unter phraseografischen und translatorischen Gesichtspunkten", in: Prinz, Michael/ Richter-Vapaatalo, Ulrike (Hg.): Idiome, Konstruktionen, "verblümte rede". Beiträge zur Geschichte der germanistischen Phraseologieforschung. Stuttgart: S. Hirzel, 357–374 (= Beiträge zur Geschichte der Germanistik, 3)

Häusermann, Jürg (1977): Phraseologie. Hauptprobleme der deutschen Phraseologie auf der Basis sowjetischer Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten, 47)

Mellado Blanco, Carmen (Hg.) (2008): Beiträge zur Phraseologie aus textueller Sicht. Hamburg: Dr. Kovač. ( = PHILOLOGIA. Sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse, 112)

Mellado Blanco, Carmen (ed.) (2008a): Colocaciones y fraseología en los diccionarios. Frankfurt am Main: Peter Lang. ( = Studien zur romanischen Sprachwissenschaft und interkulturellen Kommunikation, 44)




PhiN 60/2012: 116


Mellado Blanco, Carmen (Hrsg.) (2009): Theorie und Praxis der idiomatischen Wörterbücher. Tübingen: Niemeyer. (= Lexicographica, Series Maior, 135)

Rinas, Karsten (2011): Sprache, Stil und starke Sprüche. Bastian Sick und seine Kritiker. Darmstadt: Lambert Schneider.

Schemann, Hans (1981): Das idiomatische Sprachzeichen. Untersuchung der Idiomatizitätsfaktoren anhand der Analyse portugiesischer Idioms und ihrer deutschen Entsprechungen. Tübingen: Niemeyer. (= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 183)

Schemann, Hans (2012): Synonymwörterbuch der deutschen Redensarten. Berlin, New York: de Gruyter.

Sick, Bastian (2004): Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Ein Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Thun, Harald (1978): Probleme der Phraseologie. (= Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, 168)

Umurova, Gulnas (2005): Was der Volksmund in einem Sprichwort verpackt ... . Moderne Aspekte des Sprichwortgebrauchs anhand von Beispielen aus dem Internet. Bern u.a.: Peter Lang ( = Sprichwörterforschung, 24)