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Nelson Puccio (Heidelberg)



Un filo rosa unisce il nostro paese – Der Giro d'Italia als italienischer Erinnerungsort



A pink thread binds our country together – The Giro d'Italia as an Italian lieu de mémoire
The bicycle race Giro d'Italia is Italy's most famous and popular sporting event. Born in 1909, it was from the very first to perform the task of unifying symbolically the relatively young but heterogeneous Italian nation. The organizer's intention of both promoting the national topography and commemorating the past was achieved by the establishment of an appropriate discourse. In addition, the cycling tour of Italy manages to incarnate the collective memory of the Italians concretely by connecting national historic landmarks and locations throughout its circuit – becoming thus a lieu de mémoire to the second. Nevertheless, the representation and realization of Italian identity as well as unity lacks somehow completion since not all parts of the Italian territory are approached by the Giro in equal shares.



1 Vorbemerkung

"Ob etwas einen Sinn ergibt, kommt auf den Standpunkt des Betrachters an" (Geideck / Liebert 2003: 3) – die Allgemeingültigkeit dieser These lässt sich nur äußerst schwer in Abrede stellen. Denn ganz gleich ob auf einer persönlichen, zwischenmenschlichen Ebene oder im Bezug auf einen makrodimensional angelegten, interkulturellen Vergleich – zur Bestätigung bzw. Untermauerung obiger Aussage könnte wohl ein jeder aus eigener Erfahrung und auch aus dem Stegreif eine stattliche Anzahl an Beispielen ins Feld führen, welche die Perspektivabhängigkeit bei der Sinnfüllung und Wertschätzung von Objekten oder Sachverhalten demonstrierten. Und dabei bräuchte noch nicht einmal auf eine genaue Unterscheidung Rücksicht genommen werden, ob das (eventuell) sinnergebende Etwas eher der außer-ordentlichen, heiligen Sphäre zuzuordnen ist oder sich doch vielmehr durch alltägliche Profanität auszeichnet, wobei hier allein schon die Zuordnung zu Kategorien wie 'heilig' oder 'profan' bereits den Ausgangspunkt unüberwindlich divergierender Ansichten ausdrücken kann.




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So nehme man einmal den Sport als anschauliches Fallbeispiel. In diesem Zusammenhang interessiert allerdings nicht die Fülle an individuellen, subjektiven Einschätzungen (wonach Sport für die einen Lebenselixier bzw. Religionssurrogat, für die anderen hingegen die bloße Manifestation von Irrelevanz und Überflüssigkeit darstellt), sondern die Betrachtung soll vielmehr auf die "Herauskristallisierung symbolischer Sinnwelten […] [als] gesellschaftliche Produkte, die Geschichte haben" (Berger/Luckmann 2004: 104), gelenkt werden. Dieserart lassen sich denn auch bei der Gegenüberstellung von ganzen Gesellschaften, Kulturen bzw. Nationen eine merkliche Relativität bei der Bedeutungszuschreibung bezüglich sportlicher Phänomene und der durch sie ausdrückbaren kollektiven Sinnstiftung zu Tage fördern. Mag verhältnismäßige Einhelligkeit über die allgemeine Popularität und Identifikationskraft von 'König Fußball' bestehen, dieser "Art universellem Bezugspunkt, […] dem einzigen Element männlicher Weltkultur, das allen klar ist, ungeachtet der Verschiedenheit von Region, Nation und Generation, der jemand angehört" (Bromberger 2008: 238), so sind die Dinge beispielsweise beim Straßenradsport schon etwas anders gelagert. Unter diesem Aspekt kann sich das "Radsportentwicklungsland Deutschland" (Knobbe 2000: 164) nicht einmal annähernd mit Italien, dem "Schlaraffenland des Radsports" (Leissl 2008: 7), messen lassen, wo diese Sportart auf eine unvergleichbare Erfolgsgeschichte zurückschauen kann, weswegen dort dieser traditionsreiche Massensport seit seinen Anfangstagen fest in der Volkskultur verankert zu sein scheint.

Wie sehr es nun auf den Standpunkt des Betrachters ankommt, ob bzw. vielmehr welchen Sinn etwas ergibt, kann im Folgenden ganz konkret an dem für Italien wichtigsten Radsportereignis, der großen Landesrundfahrt Giro d'Italia, besonders anschaulich demonstriert werden. Aus der unversiegbaren Flut an Diskursereignissen, die zu diesem Thema im Umlauf (gebracht worden) sind und immer wieder neu gebracht werden, seien zu Argumentationszwecken zwei vermeintlich idealtypische Charakterisierungen willkürlich herausgegriffen, welche stellvertretend einerseits die (in diesem Fall deutsche) Außensicht, auf der anderen Seite die italienische Blickweise einnehmen mögen.

Als exemplarisch fremdperspektivische Beschreibung des italienischen Radrennens soll zuerst ein Auszug aus Ekkehard Krolls Radsport Lexikon (1993) herangezogen werden. Hiernach wird der Giro d'Italia definiert als




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[a]lljährlich seit 1909 stattfindende Italien-Rundfahrt […] über heute 3500–4000 km in 20–22 Etappen mit unterschiedlicher Streckenführung […]. Er gilt als ideale Vorbereitung für die zeitlich danach folgende Tour de France, die renommierteste Radrundfahrt der Welt.
Analog zur Tour de France entschloß sich auch in Italien eine Zeitung ('Il Corriere dello Sport' [sic! Bei der gemeinten Zeitung handelt es sich um den 'Corriere della Sera'; N.P.]), ein Radrennen zu veranstalten. Der Hauptkonkurrent 'La Gazetta dello Sport' [sic] kam zuvor und organisierte den ersten Giro d'Italia. Der Führende der Gesamtwertung trägt entsprechend der Zeitungsfarbe ein rosafarbenes Trikot. (Kroll 1993: 73)

Vollkommen gegensätzlich zu dieser eher nüchtern-informativen Schwerpunktlegung bei der Objektvorstellung nimmt sich das ausgewählte italienische Beispiel aus, bei dem es sich um die alles andere als sachliche Charakterisierung des betreffenden Sportereignisses handelt, so mittlerweile nachzulesen als offizielle "Produktinformation" auf der Facebook-Präsenz des Giro d'Italia (vgl. http://it-it.facebook.com/giroditalia?sk=info). Ursprünglich handelt es sich bei dem folgenden Text um einen Werbesport, der in diesem Wortlaut im Frühjahr des Jahres 2011 (selbstredend mit der entsprechenden emphatischen Diktion und musikalischen Untermalung) bei italienischen Radiostationen über den Äther ging und die Öffentlichkeit auf den bevorstehenden Giro einschwor bzw. aufmerksam machte:

La follia di una discesa che è un muro verso il centro della terra.
L'inferno di una salita che punta al cielo.
La solitudine della strada e la festa del traguardo.
L'abbraccio della gente che ti spinge con le mani e col cuore.
La guerra contro il tempo che è con te e contro di te.
La fatica, che non finisce mai, nemmeno quando è finita.
E poi la pioggia, il vento, la neve, le lacrime, la felicità.
Questo è il Giro.
La corsa più dura del mondo nel Paese più bello del mondo.




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Auch wenn sich dem unvoreingenommenen Betrachter der legitime Verdacht aufdrängen mag, dass hier Birnen mit Äpfeln verglichen werden – zwangsläufig unterscheiden sich Lexikoneintrag und Werbetext allein schon unter textpragmatischen Gesichtspunkten grundlegend, soll ersterer doch vor allem informieren und Wissen bereitstellen, während letzterer um die öffentlichkeitswirksame Vermarktung und Außendarstellung des gepriesenen Objektes bemüht ist –, die deutliche Divergenz in der Wahrnehmung und Einschätzung des Giro als radsportliche Landesrundfahrt ist auszumachen und soll als solche (aller vorgenommenen Pauschalisierungen zum Trotz) den konkreten Ausgangspunkt für die Interpretation andersartiger, d.h. kulturspezifischer Tradierungs- wie auch Objektivierungsmecha­nismen bilden. Wo der deutsche Lexikonartikel unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte und die wichtigsten Charakteristika des Giro auch dessen Unterordnung bzw. Minderwertigkeit in Bezug auf die Tour de France erwähnt, hält sich die italienische Selbststilisierung nicht weiter mit Zwischentönen oder gar zweiten Plätzen auf, sondern verweist pathosreich in epischen und patriotischen Anklängen auf die eigene Außergewöhnlichkeit und Superlativität. Man gewinnt schnell den Eindruck, dass hier etwas einen besonderen Sinn ergibt, d.h. mit einem besonderen Bedeutungsüberschuss ausgestattet ist bzw. wird. Dass dies nicht nur auf den Umstand zurückzuführen sein kann, dass zur Stützung der soeben erbrachten Beweisführung auf ein besonders befangenes Textbeispiel zurückgegriffen wurde, lässt sich etwa durch den Einbezug seriöser Quellen veranschaulichen. Denn auch in der bis dato doch eher zaghaften Auseinandersetzung italienischer Wissenschaftskreise mit dem Massenphänomen Giro d'Italia wird für dessen Wertigkeitseinstufung das wuchtige Etikett 'Institution' (vgl. Marchesini 2003: 11–15) oder – was noch aufschlussreicher ist – "istituzione non solo sportiva" (Brambilla 2007: 38) verwendet. Die Italienrundfahrt scheint für Italien weit mehr als nur ein bloßes Sportereignis darzustellen, ihr wird als Fix- oder gar Konzentrationspunkt der italianità offenbar eine sinnstiftende wie auch -stabilisierende Funktion zugeschrieben. In ihrer institutionellen Bestimmung organisiert und verwaltet sie Wissen, Selbstverständnis wie auch Erinnerung, ihr kommt bei der Wahrung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses Italiens eine nicht unwesentliche Rolle zu. Der Giro fungiert demgemäß als lieu de mémoire, worunter man einen Ort versteht, in dem "sich das Gedächtnis der Nation […] in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat" (Nora 1998: 7). Dabei tut sich gerade Italien – im Gegensatz zu Frankreich, an dessen inventarisierter Erinnerungskultur (vgl. Nora 1984–1992) das Konzept der lieux de mémoire entwickelt und begründet wurde – als relativ junge Nation voller Widersprüche und historischer Differenzen bisweilen schwer, kollektiv gültige Erinnerungsorte zu finden, in denen es sich und seine Geschichte im Hinblick auf nationale Identität und Einheit wiedererkennen kann. Dessen ungeachtet bzw. vielleicht gerade deswegen scheint es durchaus nachvollziehbar, dass der Giro d'Italia in Mario Isnenghis dreibändigen programmatischen Werk I luoghi della memoria (Isnenghi 1996–1997) Eingang gefunden hat und ihm hier – als "grande rito popolare" (Isnenghi 1997a: X) eingestuft – ein eigenes Kapitel gewidmet wird (vgl. Pivato 1997). Immerhin bekommt er auch von höchster enzyklopädischer Instanz, der Enciclopedia Treccani, bescheinigt: "Il Giro d'Italia ha avuto – e ha ancora – il grande merito di unificare il Paese sotto il profilo sportivo".1 Aus Anlass des 2011 gefeierten Jubiläums zum 150-jährigen Bestehen Italiens soll deswegen im Folgenden konkret der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Giro d'Italia – ganz im Geiste Giuseppe Garibaldis, legendärer "Symbolfigur d[es] Einigungsprozesses" (Hausmann 1985: 11), und in Bewahrung des durch ihn verkörperten patriotischen Gedankens – im Laufe seiner Geschichte die unità d'Italia symbolisiert und diese als Gedächtnismedium immer wieder aktualisiert bzw. tradiert hat.




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2 Der Giro d'Italia als Bestandteil der italienischen 'Kultur'

Bereits wenige Blicke in die aktuelle italienische Radsportberichterstattung reichen aus, um sich ein gutes Bild davon zu machen, mit welchen Konzepten und Assoziationen der Giro d'Italia belegt wird. Das zeitgenössische Pressewesen – einschließlich der ausrichtenden Gazzetta dello Sport, deren Stimme deswegen vielleicht etwas lauter und tonangebender aus dem ansonsten relativ einstimmigen Chor herauszuhören ist – bietet eine bunten Blumenstrauß an Metaphern und Zusatzbedeutungen an, welche die Italienrundfahrt als eben "molto più di un evento sportivo" (gazzetta.it 17.02.2011) charakterisieren: Demnach ist der Giro

una meravigliosa avventura umana (GdS 30.05.2009);

la metafora della vita (GdS 26.05.1997);

battaglia e epopea (GdS 12.05.2007);

un magnifico viaggio nel Paese realmente reale, […] l'annuale corso di aggiornamento sullo stato della nazione (ilgiornale.it 24.10.2010);

[i]deale per fare un tuffo nella memoria (ilsole24ore.com 01.12.2007);

parte della nostra identità (GdS 24.10.2010);

nei nostri cromosomi (GdS 09.05.2008);

una bella lezione di storia e geografia (GdS 06.05.2011);

l'Italia. Con […] la sua storia, la sua cultura (gazzetta.it 24.05.2011);

il filo rosa che unisce il paese (La Repubblica 05.05.2011)

Neben einer transzendent-exegetischen Erzählweise, wonach die Italienrundfahrt episch aufgeladen mit existentiellen Sinninhalten ausgestattet wird, ist ebenso eine symbolisch-funktionale Dimension bei der Bedeutungszuschreibung eindeutig erkennbar. Der explizite Verweis auf Schlüsselkonzepte wie 'Gedächtnis', 'Geschichte', 'Identität', 'Geographie', 'Nation' bzw. 'nationale Einheit' macht deutlich, dass sich mittels des Giro italienische 'Kultur' – wenn man so möchte, das Hyperonym zu der soeben genannten Schlagwortliste – ausdrückt bzw. 'Kultur' erst an diesem konstruiert wird. In diesem Zusammenhang soll unter dem diffusen Begriff 'Kultur' eine bestimmte Art der Wirklichkeitskonstruktion verstanden werden, und zwar

il modo in cui, in circostanze storico-antropologiche date, si segmenta il contenuto (e quindi si obiettivizza la conoscenza) a tutti i livelli, dalla suddivisione delle unità percettive elementari ai sistemi ideologici. (Eco 1973: 156)




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'Kultur' wird in diesem Verständnis zu einem durch und durch semiotischen Komplex, welcher Signifikanz produziert, Wahrheiten generiert, Erkenntnis organisiert und Kohärenz garantiert: "Einer kollektiven Identität entspricht […] eine kulturelle Formation" (Assmann 2000: 139). Um es einmal bildlich auszudrücken, handelt es sich bei 'Kultur' prinzipiell um ein textuelles Phänomen, durch welches Sinn in jedwedes Etwas eingeschrieben und daher auch daran ablesbar wird, wobei es sich dem Betrachter unter Zuhilfenahme der etymologischen Lesart als "selbstgesponnene[s] Bedeutungsgewebe" (Geertz 1983: 9) präsentiert (vgl. lateinisch textus 'Gewebe'). Der Giro d'Italia, metonymisch oftmals auch als 'Corsa Rosa' apostrophiert, ist ein Teil von diesem unendlichen Gewebe, dessen Herstellung und Vergrößerung die kulturelle Gemeinschaft, die man konventional 'Italien' nennt, ständig vorantreibt. Oder um im Bild zu bleiben, stellt die Italienrundfahrt nichts anderes als lediglich einen Faden in diesem "Bedeutungsgeflech[t] der Kultur" (Landwehr 2008: 170) dar – "[un] filo rosa che da oltre un secolo tesse la trama […] di un Paese dal fascino e dalla potenzialità straordinarie" (GdS 24.10.2010). Dass bei allem Gesagten noch simplifizierend von einem Standpunkt aus argumentiert wird, wonach Gemeinschaften wie z.B. 'Kulturnationen' als stabile, eindeutig abgrenzbare und vor allem homogene Entitäten existieren, mag zu Begriffsklärungszwecken vorerst genügen. Dennoch muss aber gerade bei der Beschäftigung mit der diesbezüglich nicht unproblematisch gelagerten italienischen Realität – exemplarisch hierzu die Einschätzung Galli della Loggias (1998: 157): "[L]'identità nazionale e il suo sentimento non esistono in natura" – speziell die Gedächtnisleistung, Identifikationsaufforderung, Gruppenbezogenheit und Kollektivsymbolik des vermeintlich panitalienischen Erinnerungs­ortes 'Giro d'Italia' einer genaueren Prüfung unterzogen werden.

Doch zurück zum eigentlichen roten (rosa) Faden: Generell gesprochen, lässt sich 'Kultur' folglich in allen Aspekten zeichenschaffender Praxis und in allen Bereichen menschlichen Daseins (vom Heiligen zum Profanen) nachweisen. Prinzipiell lassen sich dabei zwei wesentliche Ausdrucksformen bzw. Manifestierungsebenen unterscheiden – eine immateriell-abstrakte und eine dinglich-konkrete.




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2.1 'Kultur' als diskursive Formation

Zu ersterer lässt sich konzeptionell der 'Diskurs' zählen, der – um der eingeführten Metaphorik weiterhin treu zu bleiben2 – in Gestalt eines "Geflecht[s] von thematisch zusammengehörigen Aussagen" (Böke 2000: 12) als supratextuelles, tiefensemantisch erschließbares Phänomen existiert.3 So charakterisiert sich beispielsweise der Diskurs der italienischen Radsportberichterstattung durch seine diachron invariante Aussage- und Erzählweise, welche eine stereotype, ideologisch geformte Eigenwelt generiert. Der Umstand, dass der Radsport-Diskurs somit als zutiefst 'mythisch' (vgl. Barthes 1957) bezeichnet werden kann, indem er sich in den italienischen Zeitungen als anachronistisches Sinnkonstrukt präsentiert, wo alles Geschehen kontinuierlich um episch-existentielle Konfliktszenarien kreist und dabei gleichzeitig auf Kardinaltugendhaftigkeit fußt, spielt für die vorliegende Fragestellung keine zentrale Rolle und wurde des Weiteren bereits an anderer Stelle eingehend beleuchtet (vgl. Puccio 2011). Hinsichtlich der diskursiven Praxis allerdings, den Giro als radsportlich-rundfahrtlichen Ausdruck eines nationalen Einheits- oder Einigungsgedanken auftreten zu lassen, finden sich im Laufe der Geschichte gleichfalls regelmäßig explizite Verweise auf die verbindende Kraft und Mission des Giro d'Italia:4

Sono i ciclisti italiani che portano a traverso tutta l'Italia la buona novella: amici, fratelli, noi festeggiamo quest'anno il cinquantesimo anniversario della nostra risurrezione nazionale. (GdS 10.05.1911 zit. nach Marchesini 2003: 84)

Un saluto ininterrotto per 3100 chilometri, un bacio sportivo a dodici regioni sorelle, delle quali due appena associate, un abbraccio in dieci tempi e tappe della fratellanza nazionale dello sport – ecco cos'è […] il 'Giro d'Italia'. (GdS 22.05.1919)

Il Giro non vive e non trionfa per il solo fatto sportivo in sé. Ha una sua caratteristica spettacolare, […] una sua opera di affratellamento regionale da assolvere. (GdS 09.06.1930)

Il Giro d'Italia ha fatto il suo dovere. E' andato a ritrovare gli italiani. E' andato a dire agli italiani che bisogna stare uniti e che bisogna volersi bene. Senza unità e senza amore l'Italia sarebbe destinata a decadere e a perire. (GdS 08.07.1946)

Il Giro unisce, affratella. (GdS 30.05.2009)

Das nachhaltige Beschwören von Verbrüderung wie auch das Erfahren verbindender Geschwisterliebe scheinen für Italien durch den Giro bzw. seine Streckenführung greifbar zu werden und finden in der Verwendung des "filo di comunanza, di partecipazione, di fratellanza" (repubblica.it 29.05.2011) – besser noch des "Filo Rosa che […] scalda gli animi e attraversa lo Stivale, unendolo in nome della passione per lo sport" (gazzetta.it 30.06.2011) – ihr metaphorisches Äquivalent. Zwar mag die kulturschaffende Funktion oder Absicht einer solchen repetitiven Rhetorik einleuchten, immerhin gewährleistet sie, dass sich Äußerungen bzw. Aussagen "zu wiedererkennbaren Mustern ordnen und als Elemente einer gemeinsamen 'Kultur' identifizierbar sind" (Assmann 2000: 17). Nichtsdestotrotz bleibt ein jeder Diskurs mythisch, d.h. "une sagesse éternelle, un ordre d'affirmations évadé de l'Histoire" (Barthes 1957: 196), solange seine Botschaft und Weltanschauung nicht in irgendeiner materiellen Form seine Bestätigung findet.




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2.2 'Kultur' in ihrer erinnerungsörtlich-konkreten Ausprägung

Neben der abstrakten Weise lässt sich 'Kultur' auch in den unterschiedlichsten vergegenständlichten Formen fassen. Während z.B. der Giro also einerseits als diskursives Phänomen auf einer Deutungsebene mit national-identifikatorischen Implikationen existiert und er somit in den Massenmedien gewissermaßen als Topos für die unità d'Italia fungiert, avanciert er andererseits als konkret(isiert)er Ausdruck von 'Kultur' auch zu einem tatsächlichen luogo della memoria, da er gleichsam selbst zum Medium für kollektives Gedächtnis wird.5 Dem identitätsevozierenden Giro d'Italia-Diskurs kann insofern der identitätsstiftende Erinnerungsort 'Giro d'Italia' gegenüber gestellt werden, welcher die drei für einen lieu de mémoire erforderlichen Kriterien der Materialität, Funktionalität und Symbolizität (vgl. Nora 1998: 32) erfüllt. Die Italienrundfahrt bekommt nicht nur eine spezifische Bedeutung zugeschrieben, sondern übermittelt diese Bedeutung auch eingeschrieben in ihren Rundkurs, sodass hier die Form den Inhalt darstellt.

Egal ob man dem Giro d'Italia als alljährlich stattfindendem Rundfahrt-Ritus einen quasi-religiösen Stellenwert zuschreiben möchte,6 so manifestiert sich in seiner von Ausgabe zu Ausgabe wechselnden Route(nführung), im konkreten Befahren ausgewählter Straßen Italiens doch ein klar mnemonisches Moment, werden doch – gleich einer Pilgerfahrt oder Prozession – mittels des Streckenverlaufs (national)geschichtsträchtige Orte angesteuert und etappenweise miteinander verbunden. Durch das Aneinanderreihen bzw. In-Beziehung-Setzen dieser "'città della memoria', che hanno segnato la storia dell'Italia" (gazzetta.it 01.03.2011) – viele von ihnen also selbst als klassische Erinnerungsorte einstufbar – steigt der Giro selbst zum potenzierten luogo della memoria auf. Im Parcours der Italienrundfahrt manifestiert sich gewissermaßen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, er setzt zeitlich unterschiedlich weit zurückliegende Ereignisse und Aspekte italienischer Geschichtlichkeit quasi simultan zueinander in Relation und initiiert somit jedes Jahr aufs Neue die Suche nach bzw. den Besuch bei der identitäts- und kohärenzstiftenden Vergangenheit.

Als anschauliches Beispiel für das eben Dargelegte mag die Wahl der Start- bzw. Zielorte bei den Auftaktetappen des letztjährigen Giro d'Italia dienen, der (wie bereits erwähnt) aus gegebenem Anlass ganz explizit im Zeichen des nationalen Einheitsgedankens und der Kommemoration Garibaldis stand. Die Italienrundfahrt nahm am 8. Mai mit einem Mannschaftszeitfahren gerade deswegen in und um Turin ihren Lauf, um der Stadt damit in ihrer historischen Bedeutung als "culla del Risorgimento e prima capitale d'Italia" (Touring Club Italiano 2001: 17) eine besondere Ehre erweisen zu können. Dass zeitgleich auch die alljährlich stattfindende Adunata Nazionale degli Alpini in Turin abgehalten wurde, vervollständigt die patriotische Aufladung der Ortsauswahl, wenn man bedenkt, dass die Alpini, also die italienischen Gebirgsjäger, ihrerseits bisweilen als "simbolo dell'Italia unita e solidale" (ilgiornale.it 08.01.2011) angesehen werden. Der zweite Tagesabschnitt führte dann von Alba nach Parma, wobei hier besonders der Startort nationalgeschichtliche Assoziationen weckt, so muss Alba, Hauptort der Langhe, als Hochburg und Symbolort der Resistenza angesehen werden. Dies drückt sich beispielsweise im literarischen Œuvre Beppe Fenoglios aus, welcher den Partisanen in der Gegend um Alba ein literarisches Denkmal gesetzt hat (z.B. in Il partigiano Johnny oder Una questione privata), wobei auch die Tatsache, dass im Herbst 1944 eine Repubblica partigiana di Alba ausgerufen wurde (siehe auch Fenoglios I ventitré giorni della città di Alba), die starke Verbindung der Widerstandsbewegung gegen die faschistische Diktatur mit diesem Landstrich nur untermauert. Etappe Nummer drei brachte die Fahrer und den Begleittross von Reggio Emilia, der Città del Tricolore (wo 1797 die Vorläuferfahne des heutigen Staatsbanners aus der Taufe gehoben wurde), nach Rapallo, welches sich als ruhiges Badestädtchen an der ligurischen Küste immerhin durch die Unterzeichnung zweier internationaler Abkommen weltgeschichtlich einen Namen machen konnte – dank des deutsch-russischen Sondervertrags von 1922 und des für Italien (und seinen irredentistischen Ambitionen auf Triest bzw. Istrien) wichtigen Grenzvertrages mit dem späteren Königreich Jugoslawien von 1920.




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Am darauffolgenden Tag ging die Reise von Quarto dei Mille, einem am Meer gelegenen Vorort Genuas, nach Livorno: Während ersterer unauslöschlich mit dem Namen Giuseppe Garibaldi verbunden ist, weil dieser von hier aus bei seiner Spedizione dei Mille zur Einigung Italiens in Richtung Sizilien in See stach, ist auch Livorno als Sitz der renommierten Accademia Navale, in deren unmittelbaren Nähe die Etappe endete, mit nationalen Assoziationen besetzt (immerhin fungiert die Stadt demgemäß als Heimathafen des italienischen Segelschulschiffes Amerigo Vespucci, Botschafter Italiens auf den Weltmeeren). Die angefangene Auflistung lässt sich ohne Weiteres fortsetzen – die patriotische Bedeutungs­schwangerschaft bei der Wahl der Etappenverläufe ist dabei nicht von der Hand zu weisen und veranschaulicht die symbolisch-funktionale Wichtigkeit des Giro d'Italia als Hyper-Mnemotop, d.h. als Verbindung von einzelnen Orten, an denen sich nationale Vergangenheit kristallisiert findet, zu einem ins Quadrat erhobenen Erinnerungsort.


3 Der Giro d'Italia und die ästhetische In-Wert-Setzung der Geographie Italiens

Da der Radsport im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen nicht auf Ortsgebundenheit und Statik basiert, sondern stattdessen auf der Erfahrung der Topographie und des Raums gründet, wird im Falle einer großen Landesrundfahrt die Möglichkeit eröffnet, nationale Identität und Geschichte über die Geographie einer Nation abzubilden oder gar zu konstruieren: "L'histoire est d'abord toute géographie" (Michelet 1875: 2). Die kausalen Verknüp­fungen und Zusammenhänge zwischen physischen Raumfaktoren und dem historisch-sozio­kulturellen Prozess der Nationwerdung können im konkreten Fall Italiens – ohne geodeterministisch erscheinen zu wollen – vor allem im Kontext der kleinräumigen Parzellierung der Landesnatur gesucht werden:

L'articolata frammentazione morfologica del paesaggio italiano […] è certamente tra le premesse che più hanno contato nel determinare, con la frammentazione antropologica dei tanti gruppi sociali e delle tante società della penisola, anche la frammentazione della sua storia. (Galli della Loggia 1998: 10)

Die relativ junge Einheit der italienischen Nation muss dementsprechend vor dem Hintergrund der großen Uneinheitlichkeit seines Naturraums und seiner Geschichte verstanden werden: "[L]'unité s'est faite à partir d'éléments disparates, tant par l'histoire que par la géographie naturelle" (George 1964: 6). Im Gegensatz zu seinem transalpinen Nachbarn Frankreich, welches idealisiert als "Land der Vermittlung, der Mitte, des Ausgleichs […], wo sich Gegensätze zur Harmonie, zum Maß, zum Gleichgewicht ausschwingen" (Curtius 1930: 32), charakterisiert wird und dessen "naturräumliche Gliederung […] auf den ersten Blick klar und einfach" (Pletsch 2003: 1) erscheint, muss Italien mit seinen "innumerevoli e tanto vari paesaggi" (Touring Club Italiano 1957: 307) grundsätzlich als "terre de diversité" (George 1964: 6) eingestuft werden. Bereits die Tatsache, dass mehr als drei Viertel des gesamten italienischen Staatsgebietes Hügel- und Bergland ausmachen (vgl. Rother/ Tichy 2008: 6), während sich mehr als 60 Prozent des kontinentalen Frankreichs lediglich zwischen Meeresniveau und 250 Höhenmetern erhebt (vgl. Martonne 1941: 245), vermittelt trotz der eingeschränkten statistischen Vergleichbarkeit der Zahlen einen ungefähren Eindruck, wie sehr sich beide Länder topographisch und hypsometrisch unterscheiden.




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Besonders im Falle Italiens bringt insofern die außerordentlich starke Kontrastivität des Naturraums, seines "paesaggio quanto mai contraddittorio e diversificato" (Castelnuovo/ Ginzburg 1979: 287) die Notwendigkeit mit sich, einen gemeinsamen Nenner, ein verbindendes Element für die Schaffung einer national-identifikatorischen Projektionsfläche zu finden. Daher kann es nicht verwundern, dass speziell im Zuge der unità d'Italia verstärkt die ästhetische Außergewöhnlichkeit der Apenninenhalbinsel hervorgehoben und auf diese Weise versucht wurde, den Italienern mittels der Fokussierung auf die vorzüglichen landschaftlichen Gegebenheiten ihr Staatsterritorium vorzustellen und ans Herz zu legen. Ein Erfolgsbuch wie beispielweise Il Bel Paese (Erstausgabe 1876) von Antonio Stoppani hat in erster Linie den massentauglichen Anspruch sowie die didaktische Aufgabe, die Schönheit und Einzigartigkeit der italienischen Landesnatur trotz oder gerade wegen ihrer Fragmentierung zu zelebrieren: "[L]'Italia è quasi (non balbetto nel dirlo) la sintesi del mondo fisico" (Stoppani 1883: XII). Seinen diskursprägenden Charakter verdankt das Werk seinem "valore inestimabile di guida del vedere" (Bollati 1983: 148), d.h. der Fähigkeit, ein allumfassendes Panorama über die geographischen Grundlagen und die landschaftlichen Reize Italiens zu bieten, wenn nicht erst diese durch die anschaulichen Regionalbeschreibungen narrativ zu konstruieren. Damit löst Stoppani letztendlich ein Desiderat ein, das einige Jahrzehnte zuvor u.a. schon von Niccolò Tommaseo formuliert wurde und welches den direkten Zusammenhang zwischen Vaterlandsliebe und Landeskunde deutlich macht:

[I]o vorrei che Guide si facessero […] pe' cittadini: opera d'educazione patria doppiamente proficua e doppiamente difficile, dove il nostro popolo imparasse a meglio conoscere la terra in cui nacque, e ad amarla. (Tommaseo 1836: 172)

Kollektiv­bewusstsein und nationale Identität können demzufolge an idealtypischen Landmarken festgemacht werden, die kulturspezifische Raumsemantik definiert sich seitdem in Italien besonders gerne über "la straordinaria, avvolgente, molteplicità dei paesaggi più diversi, così rapidamente avvicendantisi gli uni agli altri, talora nello spazio di pochi chilometri" (Galli della Loggia 1998: 27) – über ein Mosaik von diversen Landschaften, die zusammengesetzt 'Heimat' ergeben (sollen).7 Die schwer fassbare Einheit 'Landschaft' darf in diesem Zusammenhang als Produkt, Projekt sowie Projektion einer gemeinsamen Kultur angesehen werden und bietet den Stoff für gemeinsame Erinnerungen und Symbole, die die Gruppe verbinden und die Verständigung ermöglichen. Die Landschaft wirkt wie eine gewaltige Gedächtnisstätte für die Erhaltung von Tradition und Gruppenideal (Lynch 1968: 146).




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Das itinerarische Prinzip der Heimaterzählung oder -aufbereitung wie auch die patriotische Fundierung des Territoriums anhand wirkungsvoller Rhetorik bzw. Topoi lassen Stoppanis Il Bel Paese somit als ideellen Verwandten respektive Vorfahren des Giro d'Italia erscheinen. Dieser bewerkstelligt letzten Endes nichts anderes, als dessen sinnstiftenden Grundgedanken in die Tat umzusetzen und jahraus jahrein zu sublimieren. Der Giro wird seit seiner ersten Austragung dementsprechend als "una straordinaria scuola en plein air" (GdS 04.06.2007) konzipiert und präsentiert. Die durchfahrenen Landstriche werden dabei (früher wie heute) mit dem pädagogisch-patriotischen Hintergedanken narrativ so aufgearbeitet, dass erzählter Raum zum Sinnträger avancieren kann: Örtlichkeiten erscheinen somit als pittoreske Essenzen, deren Schaffung und Konservierung sich an stereotypen Leitbildern mit hoher Einprägsamkeit respektive Attraktivität orientieren, um sich dauerhaft im kollektiven Bewusstsein festzusetzen. Auf diese Weise vollzieht sich die radsportliche Reise – hier an der berichterstattenden Aufbereitung der Italienrundfahrt 1909 demonstriert – immer mit Augen für "[i]l paesaggio […] delizioso" (GdS 24.05.1909 zit. nach Colombo 1998: 158), "la maestosità del panorama" (GdS 21.05.1909 zit. nach ebd.: 129) oder "le graziose sorprese di ristretti eleganti panorami" (GdS 24.05.1909 zit. nach ebd.: 157). Die Streckenführung ist dabei so gewählt, dass sie das Fahrerfeld durch "regioni pittoresche ed ubertose attravers[o] la penisola fiorita" (GdS 12.05.1909 zit. nach ebd. 1998: 33) führt, sodass beispielsweise "il verdissimo e floreggiante Abruzzo" (GdS 17.05.1909 zit. nach ebd.: 78), "[l]'Umbria […] costellata di piccoli borghi, ricca di colore e di poesia" (GdS 24.05.1909 zit. nach ebd.: 156), "[l]e frastagliate rocce di Liguria" (GdS 26.05.1909 zit. nach ebd.: 170) oder "[l]a grassa nebbiosa Lombardia" (GdS 28.05.1909 zit. nach ebd.: 217) passiert werden.8

Die narrative Konzeptionalisierung und Illustrierung des Vaterlandes, wie sie von der italienischen Radsportberichterstattung seit jeher vorgenommen wird, mag als nicht irrelevanter Einflussfaktor für die Erzeugung einer mittlerweile als kristallisiert wie auch konventionalisiert anzusehenden mental map, einer mentalitätsspezifischen Kartographie Italiens beigetragen haben. Die mythische Charakterisierung der durch den Giro verbundenen Orte und Landschaften wird zur nachhaltigen Verankerung im Kollektivbewusstsein mittels ausdrucksstarker Bildstereotype im Rahmen der jährlich variierenden Land- bzw. Streckenkarten der Italienrundfahrt bewerkstelligt (vgl. Abb. 1).


Abb. 1: Kognitive Karte des Giro 1994





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Die auf diese Weise erschaffene, Sinn und Geschichte verdichtende Geographie reduziert die Etappenorte auf jeweils eine besonders prägnante architektonische, folkloristische oder naturräumliche Eigentüm- bzw. Vorzüglichkeit, indem sie sie tautologisch fixiert, d.h. definiert (im vorliegenden Fall: Balanzone ist Bologna, das Mineralwasser ist Fiuggi, die Vespa ist Pontedera, Schuhplatteln ist Meran etc.). Ein solches kognitives Kartieren erfüllt primär die Bestimmung, der italienischen Kulturgemeinschaft ein eingängiges, das Selbstverständnis förderndes Bedeutungssystem, eine räumlich-mnemotechnische Strukturierungsanleitung zur Verfügung zu stellen, denn diese spezielle Heimatkunde "annihiliert die Orte nicht, sondern verschiebt sie bloß ein bißchen zugunsten ihrer gereinigten Ikonen" (Schütze 1995: 12). Seit Jahrzehnten wird dieserart eine Raumorganisation respektive -interpretation vorgenommen, die es ebenfalls im großen Maßstab versteht, Lokalitäten in Gemeinplätze umzuwandeln. Selbst an den für jede Giro-Etappe skizzierten Höhenprofilen – hier kommt die radsportspezifische Verehrung des Unebenen zur vollen Entfaltung: "Il ciclismo è tante cose ma è soprattutto salita" (GdS 29.05.2004) – lassen sich eine identitätsfossilisierende wie auch -sichernde Raumsymbolik, eine Kartographie malerischer Idylle ablesen (vgl. Abb. 2).9


Abb. 2: Höhenprofil der Etappe Venedig-Bozen (Giro 1952)


Bis in die Gegenwart hinein wird somit am Giro d'Italia die mythische Wahrheit über den vermeintlich arkadischen Charakter der verschiedenartigen Landschaften Italiens exemplifiziert und konventionalisiert. Bereits in seiner losungshaften Kennzeichnung als 'corsa più dura del mondo nel Paese più bello del mondo' (siehe obige Eigendefinition) lässt sich bezeichnender­weise eine doppelte Ästhetisierung und Glorifizierung der italienischen Topographie erkennen. Die Härte und Anspruchsfülle der Rundfahrt sind demgemäß auf die bergige Natur der Apenninenhalbinsel zurückzuführen – denn: "La forma del suolo italico in generale è montuosa" (Amati 1860: 15) –,10 wobei das abwechslungsreiche Relief seinerseits wiederum in mythischer Verklärung als Inbegriff des landschaftlich Ansprechenden umfunktioniert werden kann, weil: "Est pittoresque tout ce qui est accidenté" (Barthes 1957: 136). Die Presseberichterstattung kultiviert seit jeher (mit bisweilen gespieltem Mitleid für die Radrennfahrer) sehr effektvoll diesen Mythos in Bezug auf "[l]'Italia varia, con […] la gibbosità crudele delle troppe sue montagne" (GdS 28.05.1909 zit. nach Colombo 1998: 218) und lässt die Italienrundfahrt gleichzeitig als "sintesi […] di quadri superbi di nostra terra" (GdS 04.01.1909; zit. nach Malfitano 2010: 79) erscheinen. Dabei gelingt das Kunstwerk Giro stets, da es mit "l'immensa tavolozza dell'Italia, con gli Appennini e le Alpi, con le colline e i litorali" (GdS-Beilage Le guide del Giro 21.05.1993) gezeichnet werden kann – der Giro d'Italia fördert und exponiert "[i]ncanto, bellezza, di scene e di quadri che l'Italia, questa meraviglia del mondo, offre"(L'Unità 10.05.1953).




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Der Italienrundfahrt obliegt insofern traditionell die Aufgabe, Italien immer wieder die Vielfältigkeit seiner zahlreichen loci amoeni vor Augen zu führen und seinen Bewohnern kohärenzfördernd etwas vorzustellen, das sie topographisch als Heimat an- und wiedererkennen können: "E' una lezione di geografia. E' un viaggio nella bellezza e nella cultura. E' il nostro bel Paese che viene scoperto dalle ruote" (GdS 30.05.2009). Selbstredend verstärkt bzw. begründet die zerklüftete und fragmentierte Geomorphologie Italiens – mag sie noch so pittoresk sein – die ethnodemographische Gegensätzlichkeit oder Zer­splitterung der Halbinsel, weswegen der Giro d'Italia gerade auch in seiner symbolischen Funktion als idealer Einheitsstifter und aussöhnender Erinnerungsort für das polyzentrische, stark kommunal geprägte Land (besonders in Zeiten großer Konfliktualität) nachkommen muss:

Napoletani e torinesi, lombardi e laziali, veneti ed emiliani, gli italiani tutti, tante regioni per un'unica civiltà e per un unico cuore, attendono nel Giro lo specchio nel quale riconoscersi e sorridersi. (GdS 15.06.1946)

Wider allem campanilismo bzw. localismo – als typisch italienische Phänomene heutzutage immer noch von Relevanz: "[E]ssere italiani è appartenere a un Paese fatto essenzialmente di paesi" (Clemente 1997: 39) – wird dem Giro d'Italia die Mission auferlegt, das verbindende Band zu knüpfen zwischen den "diversità immense e faticose da tenere assieme" (repubblica.it 29.05.2011). Selbst das Inkohärenz vermittelnde Bild der 'mille Italie' (vgl. Galli della Loggia 1998: 59–85) kann bei einem so hehren Vorhaben seine negativen Konnotationen verlieren und zu einer fast idyllischen Szenerie umfunktioniert werden: "Quest'Italia dai mille visi come si fa a non volerla bene? A ogni angolo di strada la tocchi e le mani ti si riempiono d'oro" (Paese Sera 26.–27.05.1955 zit. nach Pratolini 2001: 89). Unter diesem Aspekt wird die Italienrundfahrt in mythischer Bedeutungszuschreibung zum Symbol für "[l]'Italia della provincia, della solidarietà, dei tricolori esposti alle finestre, dei mille paesini" (repubblica.it 29.05.2011). Eine solch überzeugende Interpretations- und Identifikationsvorlage kann bei derartig insistenter und repetitiver Sinnattribuierung allerorts nur angenommen werden: "[O]gni borgata, ogni frazione, ogni sperduto casolare offre il suo tributo di entusiasmo e di fratellanza" (GdS 17.05.1909 zit. nach Colombo 1998: 70). Der Giro d'Italia wird idealtypisch als kleinstes gemeinsames Vielfaches wie auch als kleinster gemeinsamer Nenner der italianità proklamiert. Wenn man so möchte, ist er denn der Versuch einer möglichen Antwort auf die Gretchenfrage "[E]sistono realtà che possono definire l'Italia?" (Calcagno 1993: VI) – der Giro als "una delle poche, vere rappresentazioni dell'identità italiana, capace di mettere d'accordo tutti (GdS 04.06.2007). Doch wie steht es ganz konkret um diese Fähigkeit des Giro d'Italia, alles und jeden in Einklang zu bringen? Handelt es sich dabei eher um einen typisch mythischen Wunschgedanken, um eine "exigence insidieuse et inflexible, qui veut tous les hommes se reconnaissent dans cette image éternelle […], qu'on a construite d'eux un jour comme si ce dût être pour tous les temps" (Barthes 1957: 264–265)? Oder stellt der Giro wirklich "l'album di famiglia della nostra identità" (corriere.it 26.04.2011) dar, in dem sich alle Italiener als solche abgebildet wiederfinden können? Wenn man voraussetzt, dass es sich bei einer 'Nation' um eine konventionale Abstraktionsgröße, d.h. um eine 'vorgestellte Gemeinschaft' (vgl. Anderson 1991) handelt, und dass sich Italien aufgrund seiner Partikularisierung folglich aus vielen "[i]magined Italies" (Dickie 1996) zusammensetzt, fällt es schwer zu glauben, dass es dem Giro materiell, d.h. mittels seiner Streckenführung gelingen kann, einen allseitig akzeptierbaren und das gesamte Staatsgebiet ausfüllenden Erinnerungsort zu bilden.




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4 Der Giro d'Italia als Manifestierung der unità d'Italia

Bei aktuell 8092 Gemeinden (vgl. http://www.istat.it/it/archivio/6789), aus denen sich Italien verwaltungstechnisch zusammensetzt, kann natürlich nicht erwartet werden, dass der Giro, um seiner erinnerungsörtlichen Pflicht in vollem Umfang nachzukommen, alle Kommunen der Halbinsel tatsächlich ansteuert.11 Doch allein schon auf einer kleinmaßstäbigen Betrachtungsebene fällt überraschenderweise auf, dass die Italienrundfahrt – trotz der ihr zugeschriebenen gesamtnationalen Reichweite bzw. Einheitssymbolik – viel weniger unitarisch auftritt, als eigentlich zu erwarten wäre. Sie scheint hingegen einmal mehr die alt bekannte Problematik des italienischen Nord-Süd-Gegensatzes bzw. -Ungleichgewichtes zu materialisieren, wobei die hier im Fokus stehende Streckenführung im Verlauf der mittlerweile über 100-jährigen Geschichte des Radrennens in unterschiedlichem Maße von politisch-ideologischen, ökonomischen, logistisch-organisatorischen wie auch rennstrategischen Motiven geprägt war.

So lassen sich bereits bei der ersten Austragung des Giro d'Italia 1909 einige zentrale Aspekte oder Einflussfaktoren herausarbeiten, welche für die damalige Routenwahl als ausschlag­gebend und auch im Hinblick auf alle zukünftigen Ausgaben als traditionsbegründend anzusehen sind. Ein knappes Dreivierteljahr vor dem ersten Startschuss veröffentlichte die Gazzetta dello Sport als veranstaltende Zeitung nämlich eine Art Projektskizze und erläuterte hierbei die Beweggründe für die geplante Parcourswahl:

[S]'era studiato di svolgere nella parte della penisola che ha strade più ciclabili, una prova di otto o dieci tappe che comprendesse le principali regioni geograficamente italiane sino a Napoli.
Con sommo dispiacere, per difficoltà insormontabili di organizzazione e, soprattutto per mancanza di strade, si dovettero omettere le Puglie, la Calabria, la Basilicata e naturalmente la Sardegna. (GdS 24.08.1908)

Das entscheidende Ausschlusskriterium für einen geographisch ausgeglichenen ersten Giro muss hiernach im deplorablen Zustand der süditalienischen Straßen gesehen werden – ein Sachverhalt, der noch Jahrzehnte lang viele Gebiete des Mezzogiorno zu weißen Flecken auf der Radsport-Landkarte degradierte, denn straßeninfra­strukturell konnte der Süden erst in den 1950er Jahren, also knapp ein Jahrhundert nach der unità d'Italia mit dem Norden gleichziehen (vgl. Mioni 1980: 72).12 Die Urteile zur Straßen­beschaffenheit und -befahrbarkeit fielen bezüglich der süditalienischen Straßen demzufolge noch geraume Zeit vernichtend aus: "[N]elle regioni meridionali troppe strade sono una successione ininterrotta di buche, di cunette, di lastroni sporgenti, di ciottolame accozzato nel fango" (Ceriani 1926: 3).13




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Weit weniger explizit und in ihrer ganzen ideologischen Fundierung nur unter Berücksichtigung des seinerzeit geplanten Streckenverlaufs zu begreifen, nimmt sich die harmlos anmutende Wendung 'principali regioni geograficamente italiane' aus. War Neapel als südliche Wendemarke im Streckenverlauf vorgesehen, sah die erwogene Rund­fahrtroute als Eckpunkte im Westen, Norden und Osten Städte wie Nizza, Trient und Triest vor, die zwar geographisch, aber zu jener Zeit eben nicht politisch zu Italien gezählt werden konnten. Diese irredentistische Bestrebung, speziell die unerlösten Gebiete unter habs­burgischer Flagge (Trient und Triest) mittels der Aufnahme in den Strecken­verlauf des Giro d'Italia symbolisch an die Heimat anzuschließen, zeigt das die rein sportliche Ebene von Anbeginn an übersteigende Bedeutungspotential der Italienrundfahrt. Wenn man berück­sichtigt, dass der erste Giro durchaus als Ventil für angestaute Vaterlandsliebe diente – glaubt man der damaligen Radsportberichterstattung, bewirkte er bei der Bevölkerung "uno scoppio di patriottismo a lungo compresso, che aspettava soltanto un'occasione per erompere, per lanciare il suo grido di saluto e di gioia" (GdS 17.05.1909 zit. nach Colombo 1998: 70) –, erscheint es begreiflich, dass man letzten Endes (wohl auch aus Angst vor diplomatischen Krisen oder gar politischen Konflikten) von dem geplanten, äußerst heiklen Vorhaben abrückte und den tatsächlichen Giro 1909 in acht Etappen ohne Grenzübertritt auf nur italienischem Staats­gebiet stattfinden ließ (vgl. Abb. 3).


Abb. 3: Giro-Streckenplan 1909





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Wie sehr den Veranstaltern das Ausschöpfen der irredentistischen Symbolik dennoch auf der Seele gebrannt haben musste, beweist der Umstand, dass sowohl Trient als auch Triest bereits am gleichen Tage der österreichisch-ungarischen Kapitulation 1918 als Etappenorte des ersten Nachkriegs-Giro 1919 gefeiert wurden (vgl. GdS 04.11.1918). 14 Vor allem das seitdem auch radsportlich angeschlossene und erlöste Triest – "Trieste finalmente immacolata" (GdS 22.05.1919) – blieb während des Faschismus und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der jugoslawisch-italienischen Streitigkeiten um die Stadt mit nationalistisch-patriotischen Gefühlen besetzt: "[P]erché il 'Giro d'Italia' senza Trieste [è] una statua decapitata, un fiume senza sorgente, una impresa senza meta" (GdS 01.07.1946 zit. nach Facchinetti 2006: 108). Dies erklärt auch, warum Triest trotz seiner geographischen Randlage zwischen 1919 und 1961 bei 38 Editionen insgesamt 15-mal in den Rundkurs als Etappenort aufgenommen wurde.15 Diese Zahlen werden erst in Anbetracht der radsportlichen Minderberücksichtigung oder Unterrepräsentierung des italienischen Südens bedeutsam, der seinerseits vom Giro allzu oft selbst zur Peripherie degradiert wurde: In den Jahren von 1909 bis 1961 besuchte die Italienrundfahrt lediglich vier Mal Sizilien und verweilte ein einziges Mal (just 1961) für eine Etappe auf Sardinien.16 Im gleichen Zeitraum, der 44 Auflagen des Rennens entspricht, kam der Giro d'Italia auf seiner Reise durch Italien 33-mal nicht über den erweiterten Großraum Neapel (also einschließlich Caserta, Avellino und Salerno) als südlichstem Vorstoßpunkt hinaus – frei nach Carlo Levi: Il Giro si è fermato a Napoli… –, dreimal machte er sogar in Rom schon wieder kehrt (1912, 1920 und 1939). Wenn man bedenkt, dass sich nach Salerno noch über 400 Kilometer "Stiefelspann" bzw. "-spitze" erstrecken, muss man konstatieren, dass der Giro Italien mit großer Regelmäßigkeit bereits am Schienbein enden ließ bzw. immer noch lässt und damit eine ganz eigene radsportspezifische questione meridionale schafft.17

Die Gründe dafür können (vor allem heutzutage) nicht mehr nur bei organisatorisch-logistischen Schwierigkeiten oder infrastruktureller Insuffizienz liegen, sondern sind prinzipiell auch mit rennstrategischen, d.h. geographischen Aspekten in Verbindung zu bringen – denn ob oder wie gut einzelne Landstriche bzw. ganze Regionen in den Giro-Parcours aufgenommen werden können, hängt grundsätzlich davon ab, von wo die Rundfahrt gestartet wird und wo sie endet.

Zur Erläuterung dieses Sachverhalts sei ein kurzer Blick nach Frankreich auf das Vergleichs- bzw. Bezugsmodell Tour de France gestattet: Sie gilt als Paradebeispiel, wie eine große Landesrundfahrt die Einheit(lichkeit) einer Nation betonen kann, indem sie – fortwährend "um einen Ausgleich zwischen Zentrum und Peripherie bemüht" (Scholler 2011: 43) – die zur Verfügung stehende Staatsfläche optimal ausnutzt. Mit Paris als unumstrittenen Bezugspunkt der francité und deswegen seit jeher auch als Endpunkt des Radrennens gesetzt, verlief die Tour de France von den ersten Austragungen an (seit 1903) bis in die 1950er Jahre hinein nach dem Grundsatz, die mère patrie mittels einer symbolischen Streckenführung vollständig einzukreisen bzw. zu umschließen – und zwar "sur les routes extrêmes qui bordent nos mers et les frontières de notre pays" (L'Auto 21.06.1924 zit. nach Gaboriau 1995: 47) (vgl. Abb. 4).




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Abb. 4: Streckenverlauf der Tour de France 1924


Das zyklische bzw. zirkuläre Abfahren der Küsten und Landesgrenzen zum Zwecke der territorial-nationalen Selbstvergewisserung wird im Falle Frankreichs auch durch den fast geometrisch regelmäßigen Umriss, d.h. die hexagonale Form der Landesfläche enorm begünstigt. Und ebenfalls der Umstand, dass Paris zwar nicht den geographischen Mittelpunkt Kontinental-Frankreichs bildet (dieser müsste je nach Berechnung im Département Cher zu finden sein), aber als Zentrum des weiten Bassin parisien immerhin nördlich dazu im Lot liegt, erklärt, warum die französische Hauptstadt lange Zeit problemlos sowohl den Start- wie auch Zielort der Grande Boucle bilden konnte.

Diametral entgegensetzt zur französischen Unproblematik der küsten- sowie grenznahen Routenwahl und der davon ableitbaren national-identifikatorischen Aussage erscheint die Situation in Italien: Da es in erster Linie von der Wahl des Start- und Zielortes abhängt, ob die auf territoriale Zusammenfassung angelegte Symbolik bezüglich des Streckenverlaufs gelingt, hat der Giro mit seinem klassischen Rundfahrtendziel Mailand – Sitz der veranstaltenden Gazzetta dello Sport – denkbar schlechte Karten, die ganze Halbinsel in voller Nord-Süd-Ausdehnung in den Rundkurs mit einzubeziehen. Die lombardische Metropole war bei den 44 Austragungen der Italienrundfahrt zwischen 1909 und 1961 insgesamt 37-mal Ausgangs- und 39-mal Endpunkt. Da wie in Frankreich ab den 1960er Jahren die Auftaktorte der Landesrundfahrt jährlich wechseln (der touristisch orientierten, kommerziellen Ausschlachtung des Radsports sei Dank!), bleibt lediglich die Quote Mailands als Endstation aussagekräftig: Einschließlich der letztjährigen Ausgabe endete der Giro in knapp vier von fünf Fällen immer in Italiens "heimlicher Hauptstadt". Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, vor allem wenn man bedenkt, dass Mailand geographisch nicht sonderlich zentral gelegen ist, denn das Ausland in Form der Schweizer Grenze liegt nur 50 Kilometer vor den Stadttoren, während man 1250 Kilometer zurücklegen muss, um das landsmännische Reggio Calabria zu erreichen. Dies mag erklären, warum das französische Rundfahrtprinzip in Bezug auf den Giro d'Italia nicht gleichermaßen übertragbar ist, auch weil Italien aufgrund der verhältnismäßig langgezogenen und alles andere als kompakten Fläche einen Umfang (Küstenlinie zuzüglich Landesgrenze) von beinahe 9000 Kilometern aufweist (vgl. Rother / Tichy 2008: 2). So wie die große Unproportioniertheit der italischen Halbinsel schon historisch dem nationalen Einigungs­prozess entgegen stand – "Grave ostacolo all'unità politica dell'Italia parve a molti la sua forma allungatissima e sproporzionatamente stretta" (Amati 1860: 10) –, so ist in ihr auch der Grund des Scheiterns für die Ausrichtung eines tatsächlich das gesamte italienische Territorium einschließende bzw. vereinende Radrennens zu suchen. Da Mailand seit jeher als klassischer Giro-Zielort scheinbar unbestrittenermaßen etabliert ist, wird wenigstens teilweise verständlich, warum die Italienrundfahrt mit dem Anspruch, im Norden Italiens enden zu wollen, den Süden Italiens notgedrungen vernachlässigen muss(te), ohne im Laufe ihrer dreiwöchigen Dauer den Fahrern unzumutbare Etappenlängen oder Verbindungstransfers zwischen den Etappen aufzubürden.




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Um es nicht jeweils nur bei einer kurzen Stippvisite im Süden bleiben zu lassen, sind zwei Herangehensweisen notwendig, die allerdings beide den klassischen bedeutungsvollen Rundkursgedanken untergraben: Entweder der Startort des Giro wird direkt nach Mittel- oder Süditalien gelegt18 oder es wird für eine stark diskontinuierliche Streckenführung optiert, wo Entfernungen von teilweise mehreren hundert Kilometern zwischen einem Etappenziel und dem darauffolgenden Etappenstart mit dem Flugzeug (in der Vergangenheit auch noch per Schiff oder Bahn) überbrückt werden. Gehört die zweite Maßnahme mittlerweile zum Standardinventar des Giro d'Italia, wobei sie mitunter (wie noch darzustellen sein wird) doch recht seltsame Blüten treibt, wurde und wird von einer südaffinen Startortvergabe zwar öfters Gebrauch gemacht, eine wirkliche Notwendigkeit oder konstante Bemühung, den Mezzogiorno – immerhin können ihm über 40 Prozent der Staatsfläche Italiens zugeordnet werden – intensiver zu befahren, ist dabei nicht zu erkennen.19 Feststellungen des Typs "[N]ella lunga storia del Giro difficil­mente una tappa significativa ha avuto luogo al Sud" (Canale Cama 2010: 109) sind nicht etwa auf eine (wie auch immer geartete) Insuffizienz des Südens zurückzuführen,20 sondern spiegeln schlichtweg die rennstrategischen Überlegungen der Veranstalter wider, das dénouement der großen Erzählung 'Giro d'Italia' konsequent im Nordteil der Halbinsel stattfinden zu lassen.

Eine dreiwöchige Landesrundfahrt funktioniert im Grunde wie ein spannender Fortsetzungsroman, wo sich Kapitel bzw. Etappen aneinanderreihen und der Ausgang so lange wie möglich ungewiss, die Spannung bis zuletzt hoch gehalten bleiben muss. Um ein erfolgreicher Bestseller zu werden, der die Leute in seinen Bann zieht, ist es unerlässlich, die sportliche Entscheidung, d.h. die Verkündung des definitiven Wettkampfergebnisses dramaturgisch hinausgezögert werden. Von Seiten der Veranstalter lässt sich dies derart steuern, dass sie in der Regel die schwersten und selektivsten Etappen ans Ende der Rundfahrt legen, damit sie sicher sein können, dass sich erst dann die Favoriten auf den Gesamtsieg einen schonungslosen, alles entscheidenden Schlagabtausch liefern. Zwei Etappentypen bieten sich dafür besonders an: das Einzelzeitfahren und die Hochgebirgsetappen. Da (wie ausgeführt) die markante Schönheit Italiens besonders der ästhetischen Großartigkeit seiner Orographie zugeschrieben wird, verwundert es nicht, dass auch der Giro d'Italia seinen ganz eigenen Kult des Vertikalen pflegt – getreu dem Motto "[E'] dal tempo dei tempi che il Giro d'Italia svela i suoi ultimi segreti sulle montagne" (GdS 28.05.1965). Rein rechnerisch lässt sich dies beispielsweise daran veranschaulichen, dass sich unter den jeweils letzten drei Etappen der vergangenen zwanzig Giri (von 1992 bis 2011) – unter den vermeintlich entscheidenden Tagesabschnitten also – 30-mal eine ausgewiesene Bergetappe befand, während nur 13-mal auf das Zeitfahren als ultimativen Schiedsrichter zurückgegriffen wurde. Während die Italienrundfahrt folglich ihren Sieger präferenziell im Hochgebirge sucht, vertraut die Tour de France prinzipiell eher auf die Aussagekraft der Uhr, weswegen hier für die vergleichbare stichprobenartige Statistik 21 Zeitfahr-, aber lediglich drei Bergetappen zu verbuchen sind.21 In diesem Zusammenhang kommt der offensichtliche Vorteil Mailands als Rundfahrtziel zur Geltung, denn im Gegensatz zur Île-de-France, die in Bezug auf nennenswerte Erhebungen doch recht peripher gelegen ist, kann die italienische Stadt in Sichtweite der Alpen auf eine enorme Fülle an Hochgebirgspässen in rundfahrtfreundlicher Entfernung zurückgreifen, weswegen sie auch unter geographischen Gesichtspunkten für die Etablierung als klassisches Giro-Endziel prädestiniert erscheint.




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Doch topographische Kriterien sind letztendlich nicht der einzige, nicht der ausschlaggebende Grund, warum streckenverlaufstechnisch beim Giro d'Italia immer wieder alle Wege nach Norden führen. Denn abgesehen von allem erinnerungsörtlichen patriotischen Anstrich ist die Italienrundfahrt von Anbeginn an ein auf marktwirtschaftlichen Kriterien basierendes, gewinnorientiertes Unternehmen. Ein ökonomischer Erfolg kann allerdings nur dort erzielt werden, wo ein geeigneter Absatzmarkt gegeben ist; in dieser Hinsicht profitierten der Giro und der gesamte Radrennsport in Italien von der enormen Popularität des Fahrrades, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts als "una vera e propria rivoluzione, un'invenzione che cambi[a] il mondo" (Foot 2011: 19) gefeiert wurde. Als erschwingliches Massenfort­bewe­gungsmittel sowohl im Alltag als auch für die mittlerweile immer mehr Bevölkerungs­schichten betreffende Freizeitgestaltung – speziell diesbezüglich stieg es bald zum "simbolo della democratizzazione del tempo libero" (Pivato 1992: 24) auf – nahm das Veloziped schnell einen festen Platz im italienischen Kollektivbewusstsein ein.22

Allerdings tut es im vorliegenden Fall unbedingt Not, den Blick für die diversifizierte Realität zu schärfen und den grundlegenden Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden Italiens in Bezug auf die fahrrad- bzw. radsportliche Volksverbundenheit nicht zu übersehen. Ob nun aus wirt­schaft­lichen, sozialen oder mentalitätsspezifischen Gründen – das Fahrrad nahm im Mezzogiorno nie den Stellenwert ein, wie das im Norden der Fall gewesen ist, und kann deswegen kaum als gesamtitalienisches Kulturphänomen oder Volksgefährt bezeichnet werden. Während sich beispielsweise im Jahre 1924 das große Nord-Süd-Gefälle auf kommunaler Ebene dahingehend ausdrückt, dass Ravenna und Caltanissetta bei der Fahrrad-pro-Kopf-Ratio (1:4 gegenüber 1:900) die beiden Extrempositionen einnehmen (vgl. Ceriani 1926: 7–8), so lässt sich zehn Jahre später noch dieselbe Tendenz zur diametralen Opposition zwischen beiden Landesteilen auch für die regionale Fahrradverteilung nachweisen. Folgende Übersicht (vgl. Tab. 1) veranschaulicht effektiv, wie gespalten Italien nach über 70 Jahren politischer Einigung in radfahrerischen Belangen noch war:

Region

Fahrraddichte 1934
(Einwohner pro Fahrrad)

Emilia Romagna

4,4

Lombardei

5,9

Piemont / Aostatal

6,3

Venetien

10,2

Toskana

10,5

Marken

14,6

Trentino / Südtirol

16,4

Umbrien

19,2

Julisch-Venetien / Istrien

20,9

Ligurien

21,6

Latium

28

Apulien

35

Sardinien

48

Abruzzen / Molise

72,5

Sizilien

117

Kalabrien

173

Kampanien

175

Basilikata

289

Tab. 1: Fahrraddichte 1934 nach italienischen Regionen (Gazzaniga 1935: 547)




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Ausnahmslos bilden alle Regionen, die zum Mezzogiorno gezählt werden, den Schlussteil der Tabelle (die Demarkationslinie verläuft in diesem Fall zwischen Latium und Apulien). Dass diese traditionelle Zweiteilung nicht ohne Konsequenzen für die Routenführung und die geographische Ausrichtung des Giro d'Italia bleiben konnte, kann mit den rein kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Überlegungen der ausrichtenden Gazzetta dello Sport erklärt werden. Von der ersten Ausgabe an war diese daran interessiert, ihr Produkt 'Italienrundfahrt' vornehmlich dort stattfinden zu lassen, wo sie sich die besten Verkaufszahlen für ihre Zeitungen versprechen konnte: "En allant chercher le client où il se trouve, et en faisant de lui un lecteur, la course cycliste est essentiellement pour les journaux le plus efficace des moyens de promotion" (Seidler 1964: 192). Dass diesbezüglich auch die enge Zusammenarbeit zwischen dem Pressewesen und der boomenden (norditalienischen) Fahrradindustrie ihr Übriges dazu beitrug, den Nordteil des Landes als äußerst lukrativen Absatzmarkt23 zu bevorzugen, erscheint nachvollziehbar. Die Tatsache, dass die beschriebene Zweiteilung im Fahrradgebrauch und -verkauf wiederum Auswirkungen auf der radsportlichen Ebene mit sich bringt, kann letzten Endes ebenfalls nicht verwundern: Von den bis dato insgesamt 67 italienischen Giro-Siegen konnte lediglich ein einziger Triumph (2007) durch einen süditalienischen Fahrer eingefahren werden (ausgerechnet aus den Abruzzen, dem nördlichsten Mezzogiorno) – herausragend sind hier die lombardischen bzw. piemontesischen Radsportler, die 29 respektive 19 Rundfahrterfolge für sich verbuchen konnten. Insofern scheint die vor Jahrzehnten getroffene Feststellung des Journalisten Orio Vergani bis zum heutigen Tag nicht ihre Gültigkeit verloren zu haben: "Non esiste ancora oggi […] una 'unità' nello sport italiano, né come preparazione, né come densità di reclutamento, né come rendimento tecnico"(Vergani 1954: 197). 24

Rekapitulierend muss gesagt werden, dass sich der Giro d'Italia im Laufe bzw. gleich seit dem Beginn seiner Geschichte aufgrund eines Komplexes aus unterschiedlichen Motiven zu einer eher norditalienisch orientierten Veranstaltung entwickelt(e), was ihn als konkreten panitalienischen luogo di memoria nur bedingt Wirkung entfalten lässt. Lediglich vereinzelt blitzt sein national-identifikatorisches Potential unter Einbeziehung der gesamten Halbinsel in seinen Parcours auf: Bezeichnender- oder vielmehr symbolischerweise besann man sich 1961 zum hundertsten Jubiläum der Einheit Italiens seiner erinnerungsörtlichen Funktion und bewerkstelligte es nach über 50 Jahren zum ersten Mal, das etablierte geographische Ungleichgewicht zu überwinden und alle 20 italienischen Regionen in den Streckenverlauf des Giro d'Italia – "un tracciato che […] ha il pregio dell'assoluta originalità" (La Stampa 18.05.1961) – aufzunehmen (vgl. Abb. 5).




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Abb. 5: Giro-Streckenplan 1961


Inspirationsquelle und Vergleichsfolie für diesen Giro del Centenario, der nur unter großem logistischem Aufwand ausgerichtet werden konnte (immerhin mussten die Radsportler und der Begleittross infolge der Berücksichtigung Sardiniens im Streckenverlauf insgesamt über 800 Kilometer verschifft werden), bildete Garibaldis Spedizione dei Mille, woher auch der Anspruch rührte, möglichst viele Orte und Städte anzufahren, deren Namen mit dem Risorgimento eng verknüpft sind. Neben Turin, Florenz und Rom, die ehemaligen bzw. aktuelle Kapitale(n) der Republik Italien, finden sich insofern Lokalitäten wie Quarto dei Mille, Marsala, Palermo, Milazzo, Reggio Calabria, Teano, Mentana und Castelfidardo im Rundfahrtplan als Etappenorte wieder – in offensichtlich enger Anlehnung an Garibaldis Wirken und als Tribut an die zentralen Schauplätze des italienischen Einigungsprozesses (vgl. Abb. 6: Italiens Weg zur Einigung 1859–1870).25

Auch wenn mit Triest und Trient zwei irredentistische Aushänge­schilder und mit Vittorio Veneto die Symbolstadt für die Bezwingung Österreich-Ungarns am Ende der Grande Guerra in den Parcours mit einbezogen wurden, kommt doch das Bemühen der Veranstalter um Ausgleich, Aussöhnung und eine internationale Ausrichtung dahingehend zum Vorschein, dass das Rennen zum ersten Mal einen Abstecher in alle vier Nachbarstaaten Italiens (Frankreich, Jugoslawien, Österreich und Schweiz) unternahm. Was in diesem Zusammenhang als Vollendung der ohnehin schon enormen Symbolkraft des Giro 1961 interpretiert werden kann, muss allerdings auch in einem weiteren Kontext betrachtet werden, denn der Giro del Centenario gilt in gewisser Weise als Wendepunkt hin zu einer Entwicklung, die bereits wenige Jahre zuvor dezent eingesetzt hat und der eigentlichen erinnerungsörtlichen Funktion bzw. identitätsstiftenden Botschaft der Italienrundfahrt zu widersprechen scheint – der Kommerzialisierung, die sich mittlerweile zur Globalisierung ausgewachsen hat.

Schon die immer häufigere Aufnahme von Provinzorten bzw. -örtchen als Etappenziele im Laufe der 1950er Jahre (vgl. Marchesini 2003: 62), die letztendlich auch in der Maßnahme mündet, ab Anfang des darauffolgenden Jahrzehnts Mailand als klassischen Rundfahrtauftakt durch jedes Jahr wechselnde Lokalitäten abzulösen, deutet an, dass der Giro langsam, aber sicher dem Rufe des Geldes nachgibt – zynisch ausgedrückt: "Per i soldi il 'Giro' si vende al miglior offerente, come si fa al mercato con le patate" (L'Unità 12.06.1956). Erste unübersehbare Ausrufezeichen setzt diesbezüglich die Italienrundfahrt 1962, die ein Jahr nach dem Giro del Centenario unter dem offiziösen, aber vielsagenden Titel "Giro Turistico" (L'Unità 20.04.1962) ausgetragen wurde. Abhanden gekommen scheint die Idee, nur das kollektive Gedächtnis auf vielfältige Weise in die Streckenführung einzuschreiben, stattdessen kommt man sich beim Lesen einiger Etappenorte und -bezeichnungen so vor, als halte man das Werbeprospekt eines etwas zu dick auftragenden Themenparkes in den Händen – die Namen Città della Domenica, Valle della Rinascita, Cavalcata dei Monti Pallidi, Le Balconate Valdostane sowie Baia delle Favole klingen einfach zu fremden­verkehrsorientiert, um radsportliche oder gar erinnerungsörtliche Autorität zu vermitteln.26




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Die logische Weiterentwicklung dieses Trends führt den Giro schon bald (ab 1965) regelmäßig ins Ausland, wobei man es mittlerweile fast als legitime Gepflogenheit ansehen muss, den Rundfahrtstart besonders effektvoll nicht auf heimischem Terrain stattfinden zu lassen, um sich und Italien auch anderswo von der besten Seite zeigen (d.h. vermarkten) zu können.27 Bis heute wurde die Italienrundfahrt deswegen schon neunmal ausländisch auf den Weg gebracht (2012 wird gar dem skandinavischen Dänemark die besondere Ehre zuteil, eine südeuropäische Landesrundfahrt eröffnen zu dürfen): Als Höhepunkte dieses neuen Brauchtums lassen sich mit Sicherheit der Giro-Start 1996 in Athen (zur 100-Jahr Feier der Olympischen Spiele) und der Anfangsverlauf des sog. Euro-Giro 2002 nennen, der anlässlich der einheitlichen Währungseinführung auf den ersten vier Etappen von Groningen nach Straßburg alle Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft (exklusive Italien sind das die Niederlande, Deutschland, Belgien, Luxemburg und Frankreich) bereist hat. Wenn man bedenkt, dass die Italienrundfahrt in den letzten sechs Austragungen (von 2006 bis 2011) mehr Kilometer im Ausland – als Startetappen wie auch als kurze Abstecher im Verlaufe des Giro – unter seine Räder gebracht hat, als dies die süditalienischen Regionen Apulien, Basilikata, Kalabrien, Sizilien und Sardinien zusammen aufweisen können, spricht dies nicht allzu sehr für den Giro d'Italia als wirklich gesamtitalienischen Erinnerungsort, aber dennoch eine deutliche Sprache: "[Il Giro] va dove lo porta il portafogli [sic]" (ilgiornale.it 24.10.2010).28 Solange eine mitunter harsche Kritik gegenüber der Giro-Organisation vom Typ "[S]e domani viene fuori un'offerta per una cronoscalata alla collina dove sta la scritta Hollywood si fa festa e si vola a Los Angeles" (Tuttobici 06/2008) allerdings noch geäußert wird, zeigt dies jedoch auch, dass immer noch ein Korrektiv und ein Verlangen vorhanden sind, welche veranlassen, dass der Giro, obwohl mittlerweile im 21. Jahrhundert angekommen und als "punto d'incontro planetario" (GdS 06.05.2011) nach den Gesetzen der globalen Vermarktung funktionierend, seine nationale Erdung und Symbolkraft nicht verliert.29 Er muss allerdings, will er sich wirklich als global player versuchen, um sich als sportliche Großveranstaltung einer weltweiten Beachtung gewiss sein zu können, zwangsläufig seinen Radius erweitern und dadurch etwas seiner ursprünglichen Bedeutungsdimension verlieren – der "filo rosa che da 102 anni scalda gli animi e attraversa lo stivale, unendolo in nome della passione per lo sport" (gazzetta.it 14.04.2011) wird weitergesponnen zu einem "filo di seta che unisce l'Italia al mondo" (GdS 06.05.2011).

Die eigentliche erinnerungsörtliche Ambition kommt deswegen nur noch selten und besonders bei Jubiläumsanlässen so deutlich bzw. explizit zum Vorschein, wie das beim letztjährigen Giro d'Italia der Fall war. Dieser hatte es sich als "Giro del Centocinquantenario dell'Unità d'Italia" (lastampa.it 24.05.2011) auf seine Fahne geschrieben, der individuellen Geographie und Geschichte des Landes in itinerarischer Form zu huldigen, sodass "tutte le montagne più famose e i luoghi che hanno fatto la storia dello 'stivale'" (tuttosport.com 23.10.2010) angefahren werden sollten (vgl. Abb. 7).


Abb. 7: Giro-Streckenplan 2011


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Die so konzipierte Italienrundfahrt bestach durch ihr Geschick, die Halbinsel mittels der Orientierung an orographischen Landmarken in ihrer (fast) größtmöglichen meridionalen wie auch longitudinalen Ausdehnung wahrzunehmen – vom Fuße des Monte Rosa bis zum Ätna auf Sizilien sowie zwischen dem Monte Zoncolan in den Karnischen Alpen, "[l]a salita più dura d'Europa" (gazzetta.it 23.05.2010), und Sestrière unweit der französischen Grenze, erste Hochgebirgsstraße, über die der Giro je führte (1911). Während also das Territorium an seinen Eckpunkten abgesteckt und das Risorgimento gebührend evoziert werden konnte – markante Etappenorte waren, wie bereits teilweise erläutert, u.a. Turin, Reggio Emilia, Quarto dei Mille, Sapri, Messina, Castelfidardo, Ravenna, Bergamo und Mailand –, mutete man sich keine logistische tour de force wie noch 1961 zu und nahm deshalb lediglich 17 der 20 Regionen Italiens (sehr zum Leidwesen Apuliens, Sardiniens und des Aostatals) und nur 61 der insgesamt 110 Provinzen in den Parcours mit auf. Die Rundfahrt kann unter diesen Gesichtspunkten immer nur als limitierter materieller Ausdruck nationaler Einheit und kollektiven Bewusstseins, als lediglich partiell gelungene "manifestazione […] per abbracciare tutti gli italiani" (La Repubblica 05.05.2011) angesehen werden.


5 Schlussbetrachtung

Ist folglich die medial immer noch hoch gepriesene Erinnerungs- und Identifikationsfunktion des Giro d'Italia im Hinblick auf die durch ihn jährlich vollzogene unità d'Italia als hinfällig anzusehen? Handelt es sich bei den ihm attribuierten gemein­schaftskonstituierenden Anlagen – "fare un tuffo nella memoria" (ilsole24ore.com 01.12.2007), "ritrovare le radici e le tradizioni" (gazzetta.it 04.03.2010), "rinsalda[re] le idee e i sentimenti collettivi" (La Repubblica 27.05.1996) etc. – nur um leere Zeitungsrhetorik? Existiert die Italienrundfahrt als italienischer luogo della memoria in erster Linie dank des mythischen identitätsevozierenden Diskurses, der sie symbolisch-ideell erhöht, oder stellt sie darüber hinaus auch einen konkreten identitätsstiftenden Erinnerungsort für ganz Italien dar?

Zweifelsohne kann der Giro – aus logistischen, rennstrategischen wie auch vornehmlich geographischen Gründen – immer nur einen Ausschnitt Italiens itinerarisch abbilden, wobei heute wie früher ein besonderer Schwerpunkt auf die topographische Ansehnlichkeit bzw. In-Wert-Setzung der Halbinsel gelegt wird: "La corsa esalta le caratteristiche geografiche dell'Italia" (Giro d'Italia Profile 2011: 15). Während das "anda[re] a valorizzare il territorio nazionale nelle sue pieghe più recondite e fa[r] conoscere […] luoghi e popolazioni"30 früher hauptsächlich aus patriotisch-unitarischen Motiven geschah, spielen heute finanzielle, fremdenverkehrsfördernde Überlegungen sowie das Bestreben nach vorteilhafter Selbstvermarktung eine immer größere Rolle. So wie sich nationale Geschichte durch das 'Erfinden von Traditionen' (vgl. Hobsbawm 1983) charakterisieren lässt, um "gruppenbezogene Kontinuitäts­fiktionen" (Assmann 2000: 88) zu generieren, so beteiligt sich der Giro d'Italia alljährlich an der Erschaffung gruppenbezogener Raumfiktionen – der Tradition und Darstellung des Bel Paese verpflichtet. So wird verständlich, warum sich die folgenden Worte Stoppanis wie eine essentielle, allgemeingültige Charakterstudie des mittlerweile über 100-jährigen (und auf 95 Reisen durch Italien erprobten) Giro d'Italia lesen:

Gran paese è il nostro! Io vi ho condotto così dalle Alpi all'Etna; ma se tornassimo a ripetere il viaggio cento volte, troveremmo che l'Italia è sempre nuova; che per ricchezza e varietà di fenomeni fisici, ha in Europa quel primato stesso che essa tiene per i monumenti gloriosi della storia e dell'arte. (Stoppani 1883: 523)




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Gleich einem Kaleidoskop – Kritiker mögen darin "il caleidoscopio illusorio del turismo" (Augé 2006: 12) sehen – setzt sich das durch den Giro vorgestellte Italien in jedem Jahr aus neuen Mustern, Formen und Farbspielen zusammen: Auf manche wird der Blick regelmäßig gelenkt, andere wiederum werden nur sporadisch sichtbar. Beiden Fällen ist allerdings gemein, dass die Zuversicht, die grundlegende Absicht besteht, früher oder später wieder einen Ausschnitt im großen Arrangement der Italienrundfahrt darzustellen – "Il 'Giro' tornerà un altr'anno: e la gente già l'aspetta" (L'Unità 10.05.1953). Diese Einstellung rührt daher, dass der Giro seinerseits als genuiner Ausdruck der komplexen italienischen Identität angesehen wird, dass er trotz einiger Inkongruenzen und Imperfektionen grundsätzlich um Synthese bzw. Ausgleich bemüht ist – weswegen der Giro d'Italia 2013 auch von Neapel aus seine Fahrt aufnehmen 31 und demzufolge aller Voraussicht nach das oftmals stiefmütterlich behandelte Süditalien ausführlich bereisen wird. Letztendlich entscheidet nur eine Instanz – die Bewohner Italiens, “Tante Italie Una Italia“ ((Muscarà/ Scaramellini / Talia 2011 ) –, inwieweit sich der Giro d'Italia als Sinnstifter und Verwalter des kollektiven Gedächtnisses bewährt. Denn: "[L]e strade del Giro sono la gente d'Italia" (repubblica.it 18.05.2001). Und diesbezüglich erfüllt er für viele überall in Nord- und Süditalien noch seine kohärenzstiftende, vereinigende Funktion ganz materiell: "A vedere tutta la gente che [h]a seguito [il Giro] sulle strade, si capisce quanto faccia parte del patrimonio culturale d'Italia. La gente sa che c'è, lo sente come qualcosa di proprio" (GdS 02.06.2008).

Kann der Giro d'Italia als ein verbindender, verbindlicher gesamtitalienischer Erinnerungsort dienen? "Una memoria collettiva […] nasce da eventi che hanno la forza di coinvolgere" (Isnenghi 1997a: VIII) – der Giro d'Italia ist unter diesem Gesichtspunkt immer noch der Giro degli Italiani. Jährlich mehr als 12 Millionen Italiener am Streckenrand (vgl. Giro d'Italia Profile 2011: 45) können schwerlich irren.


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Abb. 2: Gazzetta dello Sport 30.05.1952, Seite 1.

Abb. 3: Gazzetta dello Sport-Beilage I Miti del Giro 11.05.2004, Seite 3.

Abb. 4: http://fr.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France_1924; 25.03.2012.

Abb. 5: La Stampa 23.04.1961, Seite 11.

Abb. 6: Riall, Lucy (2007): Garibaldi. Invention of a hero. New Haven u.a.: Yale University Press, Seite 225.

Abb. 7: Procycling-Sonderheft Offizielles Programm Giro d'Italia 2011, Seite 10.




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Anmerkungen

1 Vgl. http://www.treccani.it/enciclopedia/percorsi/sport_e_tempo_libero/2011_Giro_Italia.html. Leichte Zweifel, dass in Bezug auf den Giro und sein Identifikations- bzw. Attraktionspotential auch nicht alles zum Besten steht, können einen nichtsdestotrotz schon befallen. Immerhin kommt der Historiker Stefano Pivato, Autor des erwähnten Kapitels zur erinnerungsörtlichen Mission der Italienrundfahrt in Isnenghis Panoptikum italienischer Gedächtnisorte, paradoxerweise zu dem Resümee, dass der Giro heutzutage nur noch als verklärendes Nostalgikum, als Reflex seiner mittlerweile verstrichenen Blütezeit (die Nachkriegsjahre) ohne wirklichen Bezug zur Gegenwart existiert (vgl. Pivato 1997: 344). Auch der Umstand – und damit erscheint auch die Auswahl des eingangs vorgestellten Textbeispiels motiviert und in einen weiteren Kontext einordbar –, dass der Giro überhaupt beworben wird (inwiefern brauchen Institutionen bzw. Riten Radiospots, um sich in Erinnerung zu rufen?), kann als Indiz gewertet werden, dass hier etwas zwar einen Sinn ergibt, aber dass die Italienrundfahrt als genuiner Ausdruck oder als Spiegelbild der italianità vielleicht doch Inkongruenzen aufweist.

2 Die Gewebemetapher zur Charakterisierung von 'Kultur' kann zwar grundsätzlich hilfreiche Dienste leisten, stößt aber zwangsläufig irgendwann an die Grenzen ihrer Anschaulich- wie auch Operationalisierbarkeit und soll deswegen auch nicht mehr weiter strapaziert werden. Die beträchtliche Komplexität des verbildlichten Sachverhalts, die sich allein schon in der universellen Interdependenz ('Alles hängt mit allem zusammen') und der perspektivabhängigen Mehrdeutigkeit ('Ob etwas einen Sinn ergibt, kommt auf den Standpunkt des Betrachters an') von Phänomenen in verschiedenen Konkretisierungszuständen widerspiegelt, kann letztendlich – um es textil zu sagen – nicht unter Zuhilfenahme von 'Fäden', 'Knoten' oder 'Schichten' ausgedrückt werden.

3 Die konzise Definition von Matthias Jung, die sich für die vorliegende nur partiell diskursanalytisch ausgerichtete Untersuchung als operational erweist, begreift 'Diskurs' als "eine verknüpfte Menge von Aussage-Einheiten mehrerer Sprecher zum gleichen Thema, die eine erkennbare zeitgeschichtliche Entwicklung aufweisen und die in der Regel über Text- oder Textstückkorpora zugänglich werden" (Jung 2001: 48). Das hier zugrundeliegende offene Korpus setzt sich aus Primärtexten der italienischen Radsportberichterstattung zusammen, wobei sowohl Periodika wie auch Online-Zeitungen Berücksichtigung finden. Aus Gründen der Platzersparnis wird auf die gedruckte Ausgabe der Gazzetta dello Sport als Quelle nur in abgekürzter Form (GdS) verwiesen, des Weiteren finden beim Zitieren aus der Netz-Presse jeweils nur die Startseitenadresse der entsprechenden Zeitungs-Homepage Erwähnung. Das Aufrufdatum der Internetquellen für alle in diesem Beitrag verarbeiteten Online-Zitate bzw. -Verweise ist der 22. März 2012, weswegen diesbezüglich auf wiederholte Nennungen im Artikel verzichtet wird.

4 Als federführende und diskusprägende Instanz tut sich hier besonders die Gazzetta dello Sport hervor, der besonders um eine hehre Darstellung und Symbolfunktion des durch sie organisierten Radrennens gelegen ist.




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5 Die viel kritisierte Beliebigkeit und Unschärfe des Begriffes 'Erinnerungsort' resultiert wohl mitunter daraus, dass bereits Pierre Nora bei der Zusammenstellung seines Monumentalwerkes Les lieux de mémoire (vgl. Nora 1984–1992) unsystematisch auf äußerst disparate und inkohärente Beispiele französischer Erinnerungskultur zurückgegriffen hat, wobei die konzeptionelle Vagheit wiederum durch die unterschiedliche Rezeption und Weiterentwicklung seines Ansatzes noch verstärkt wurde. Dies hat unweigerlich zur Folge, dass mittlerweile "alle kulturellen Phänomene (ob material, sozial oder mental), die auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in Zusammenhang mit Vergangenheit oder nationaler Identität gebracht werden" (Erll 2005: 25), als Erinnerungsorte angesehen werden können. Eine Möglichkeit, etwas Ordnung in das Chaos zu bringen, sieht die erinnerungsörtliche Differenzierung zwischen Medien und Topoi des kulturellen Gedächtnisses vor (vgl. Schmidt 2004), an die sich in den vorliegenden Ausführungen angelehnt wird, um Anknüpfungspunkte zu der hier relevanten Unterscheidung in diskursiver und konkreter Beschaffenheit von 'Kultur' zu finden.

6 Wenn man der italienischen Gesellschaft ein authentisches, intrinsisches wie auch gemeinsames Bedürfnis nach ritueller Sinn- und Identitätsstiftung eingesteht, lassen sich die folgenden Worte Émile Durkheims auch problemlos in Bezug zum Giro d'Italia setzen: "Il ne peut pas y avoir de société qui ne sente le besoin d'entretenir et de raffermir, à intervalles réguliers, les sentiments collectifs et les idées collectives qui font son unité et sa personnalité" (Durkheim 1912: 610).

7 Besonders der Ende des 19. Jahrhunderts zu boomen beginnende Fremdenverkehr trägt dabei – gemäß dem Grundsatz "Attraverso il turismo [...] si sarebbero fatto gli italiani" (Bardelli 2004 : 154) – in nicht unerheblichem Maße zur Schaffung eines spezifisch italienischen Raum- und Vaterlandsbewusstseins bei: "Col turismo di massa – che all'inizio è cicloturismo – e con la pubblicazione delle prime guide regionali del Touring Club italiano, a partire dal 1896, e delle prime carte stradali dal 1906, la conoscenza del territorio [...] fa un notevole passo avanti" (Bortolotti 1985: 338). Die Heimat nimmt somit für viele speziell dank des Fahrrades eine konkrete Form an und wird körperlich erfahrbar; speziell in Italien gilt das Veloziped deswegen noch lange Zeit als "il mezzo più pratico e indipendente per conoscere meglio il nostro Paese, così ricco di bellezze naturali" (Gazzaniga 1935: 544).

8 Auch wenn mittlerweile der italienischen Nation das eigene Staatsgebiet nicht mehr in dem Maße vorgestellt werden muss, wie das vor 100 Jahren noch vonnöten gewesen sein mag – vor allem infolge des boom economico und der damit einhergehenden Massenmotorisierung –, so bedient sich heutzutage der Giro d'Italia zur Idyllisierung der heimatlichen Geographie immer noch derselben Klischees und Topoi. Dabei stellt er sich mehr oder minder unverhohlen in den Dienst des Fremdenverkehrs, d.h. er vermarktet sich und seine von ihm ausgewählten Etappenorte auch im Hinblick auf eine touristische Breitenwirkung. Deshalb verstehen sich die von der Gazzetta dello Sport herausgegebenen Begleithefte zu den jeweiligen Giro-Austragungen auch als "guida da leggere a casa per scoprire – o riscoprire – le bellezze d'Italia. O da portarsi sulle strade per trasformare il Giro in una vacanza" (GdS-Beilage Sport Week 07.05.2011). Auch das offizielle Routenbuch der Italienrundfahrt, welches detailliert technische Daten zum Streckenverlauf jeder Etappe präsentiert, wartet außerdem mit einer fast noch ausführlicheren Beschreibung landschaftlicher, kultureller wie auch folkloristischer Charakteristika der durchfahrenen Landstriche auf. Dass sich hier der Touring Club Italiano als Verfasser der (Werbe-)Texte hervortut, überrascht insofern nicht, da bereits beim ersten Giro d'Italia 1909 die enge Partnerschaft zwischen der Gazzetta und dem Touring Club – seinerzeit als "ottimo coadiutore della Gazzetta" (GdS 17.05.1909 zit. nach Colombo 1998: 63) gefeiert – zementiert wurde. Gelegentlich bekommt man bei all der Reklamerhetorik den Eindruck, sich in die Seiten eines Hochglanzreiseführers verirrt zu haben, der Italien nur an der schillernden Oberfläche seiner Identität(en) abbilden möchte und deshalb stereotype Postkartenidyllen aneinanderreiht – (um es mit den Worten Michele Serras auszudrücken) "per trasformarli in un unico, interminabile, inverosimile dépliant" (Serra 2008: 54).




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9 Auch in diesem Fall funktioniert die Bedeutungszuschreibung mittels eines elementaren Kompositums aus Ortsname und ikonischem Zeichen, weswegen z.B. anhand 'Venedig-gondoliere/Markuslöwe', 'Vittorio Veneto-Grande Guerra' oder 'Bozen-Rebstock/Trachtenfrau' einiges über die kulturelle Aneignung von Raum und die Tradierung von Erinnerungswerten ausgesagt werden kann. Die hier vorgenommene Verknüpfung 'Hochgebirge-Edelweiss' hat mittlerweile gar als Topos in die italienische Radsportberichterstattung Einzug gefunden, selbst im radsportspezifischen Fachwortschatz wird bisweilen die (katachretische) Fügung "laurea[rsi] stella alpina" (GdS 17.07.1995) verwendet, um damit einen besonders erfolgreichen Bergfahrer zu charakterisieren.

10 Dass sich der Giro – "una prova di forza lunga tre settimane che per difficoltà del percorso [...] non ha eguali al mondo" (GdS 03.06.2007) – nicht nur von der italienischen Warte aus durch "l'assoluto valore tecnico, per un tracciato sempre molto selettivo e spettacolare" (Tuttobici 07/1998) kennzeichnet, zeigt auch die folgende externe Einschätzung: "Ja, es sind die Berge, die den Giro d'Italia der Gegenwart ausmachen, mehr als jedes anderen [sic] Etappenrennen" (Leissl 2008: 8).

11 Bei der Italienrundfahrt 2011 wurden beispielsweise insgesamt 500 Gemeinden, also knapp jede 16. aller möglichen Ortschaften angefahren (vgl. GdS 24.10.2010).

12 Noch im Jahr 1934 nehmen die Emilia-Romagna, die Lombardei und Venetien die Spitzenpositionen bei der anteiligen Berechnung ihrer Gesamtstraßenlänge in Bezug auf die regionale Fläche ein (allesamt mit deutlich mehr als 800 Metern Straße pro Quadratkilometer); die Schlusslichter in dieser Statistik bilden Sizilien, Sardinien und die Basilikata, welche jeweils nicht einmal 300 Meter Fahrbahn auf den Quadratkilometer aufweisen können (vgl. Gazzaniga 1935: 546).

13 Auch aufgrund einer noch nicht tadellos ausgebauten Hotellerie-Infrastruktur sahen sich die Veranstalter des Giro bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein im Mezzogiorno immer wieder mit logistischen Engpässen konfrontiert: "[Q]uasi 50 anni fa [...] c'erano parecchi problemi, specie al Sud, per trovare alberghi per tutti. C'erano delle zone, [...] per esempio [l]a costa adriatica abbruzzese, che non erano certo sviluppate come lo sono adesso" (Lazzaro 2005: 105).

14 Der Angliederung sowohl Trients als auch Triests an das Königreich Italien wurden im Jahr 1919 gleich zwei weitere radsportliche Denkmäler gesetzt – zum einen die Distanzfernfahrt Torino-Trento-Trieste, zum anderen das Etappenrennen Roma-Trento-Trieste.

15 In den Jahren 1922 und 1924 kam der Giro d'Italia zwar nicht direkt nach Triest, sondern steuerte die nur wenige Kilometer entfernt liegenden Städte Portorose und Fiume an. Da diese Orte ebenfalls als Sinnbilder für den italienischen Kampf um die terre irridente fungierten, sind sie zur Unterstützung der triestinischen Causa in die Statistik mit eingeflossen.

16 Bis heute hat der Giro nur dreimal für insgesamt sieben Etappen auf Sardinien Station gemacht (1961, 1991 und 2007).




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17 Geradezu exemplarisch demonstriert der 1946 ausgetragene Giro della Rinascita, der nach den Kriegswirren eigentlich wie kein anderer darauf ausgelegt war, "pace fraterna tra gli italiani di tutte le contrade" (GdS 15.06.1946) zu stiften, wie es mittels einer simplen Pauschalisierung – die Stadt Neapel fungiert als Stellvertreter für ganz Süditalien – gelingt, den Giro für nur eine Etappe in den Süden zu führen: "Il Giro d'Italia ha mantenuto tutte le sue promesse. Doveva andare a Napoli per testimoniare l'affratellamento degli italiani del nord e degli italiani del sud. E' andato a Napoli" (GdS 08.07.1946).

18 So zum ersten Mal geschehen 1929, wo von Rom aus Kalabrien seine Premiere im Rennprogramm feierte, oder auch im Jahre 1930, wo die Auftaktetappen ohne Umschweife gleich nach Sizilien (ebenfalls ein relativ spätes Novum) gelegt wurden, um dann halbinselaufwärts linear in Richtung Mailand vorzustoßen.

19 Der mit Abstand südlastigste Giro fand wohl im Jahre 1965 statt, wo von 22 ausgefahrenen Etappen überproportional viele – nämlich die Hälfte – zwischen den Abruzzen und Sizilien ihren Verlauf nahmen.

20 Als käme der Mezzogiorno bei der Berücksichtigung im Giro-Parcours nicht schon schlecht genug weg, so verlief die traditionelle Etappe in den bzw. aus dem Süden jahrzehntelang ausgerechnet entlang der verhältnismäßig unspektakulären Küste des Tyrrhenischen Meeres südlich von Rom. Bis 1961 wiesen praktisch drei von vier Giri d'Italia den Tagesabschnitt Rom-Neapel respektive Neapel-Rom auf, in beiden Richtungen der Inbegriff für agonistische Langeweile bzw. sportliche Irrelevanz und deswegen auch als "la tappa di Napoli, la solita tappa piatta e squallida, lungo gli interminabili rettifili dell'Agro Pontino" (GdS o.D.1937 zit. nach Barillari 2010: 35) verschrien.

21 Wie sehr sich der Giro im Gegensatz zur Tour, aber im Einklang mit der heimatlichen Topographie über das Bergige definiert – exemplarisch diesbezüglich die folgende Äußerung: "Noi crediamo che offrire [...] agli appassionati ciò che più amano, vale a dire le montagne, sia [...] una scelta dettata da semplici considerazioni geografiche (non fa male ricordarsi che appena il 23 per cento dell'Italia è costituito da pianure...)" (GdS 23.01.2005) –, zeigt die folgende Übersicht: Während die Italienrundfahrt beispielsweise bei den letzten zehn Auflagen (von 2002 bis 2011) ein knappes Viertel seiner Etappen als klassische Bergankünfte konzipierte, ließ die Grande Boucle nur jeden siebten Tagesabschnitt in derselben Weise enden.

22 Dies verdeutlicht beispielsweise auch die Aufnahme des Lemmas bicicletta in dem von Massimo Arcangeli herausgegebenem Itabolario (vgl. Arcangeli 2011), welches jeweils jedem der 150 Jahre italienischer Einheit einen repräsentativen Schlüsselbegriff zuordnet – das Fahrrad wird mit dem Jahr 1902 in Verbindung gesetzt – und somit die zentralen Themen, Aspekte, Symbole und Episoden der italienischen Nationwerdung vorstellt.

23 Wenn man bedenkt, dass von 1899 bis 1909, dem Jahr des ersten Giro, die Zahl der in Italien zirkulierenden Fahrräder um gut 150 Prozent anstieg und dass im Jahrzehnt nach 1909 der Zuwachs von Zweirädern – trotz der vierjährigen Zäsur bzw. Rezession durch den Ersten Weltkrieg! – bei sogar über 170 Prozent lag (vgl. Marchesini 2003: 40; Ceriani 1926: 2), kann die Verstärkung dieses konjunkturellen Aufwärtstrends sicherlich auch mit der sofort einsetzenden Durchschlagskraft und Popularität der Italienrundfahrt in Verbindung gebracht werden.




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24 Auch wenn mit Vincenzo Nibali die Chancen sehr gut stehen, dass sich in Bälde ein weiterer Süditaliener in die Giro-Siegerliste wird eintragen können, scheint sich an dem radsportlich-geographischen Ungleichgewicht wohl auch in Zukunft nichts zu ändern. Bestes Indiz dafür bietet ausgerechnet die Vita Nibalis, denn es handelt sich bei ihm um einen "messinese emigrato in Toscana per poter gareggiare" (L'Unità 28.09.2004).

25 Seit der Giro-Austragung 1961 ist Giuseppe Garibaldi eng mit der Strecke(nwahl) eines jeden Giro d'Italia verbunden, denn er ist als lexikalisierter Namensgeber im Radsportjargon anzusehen, immerhin wird das offizielle Routenbuch der Italienrundfahrt, in dem sich Straßenkarten, Streckenskizzen, Höhenprofile, Marschtabellen etc. zu allen Etappen finden lassen, Il Garibaldi genannt: "Il Garibaldi è la corsa tradotta in libro" (Favetto 2006: 48). Die ursprüngliche Leitfigur für den Parcours eines bestimmten Giro wurde auf diese Weise gewissermaßen metonymisch auf alle nachfolgenden Ausgaben übertragen. Dass sich die historische Figur Garibaldi besonders gut als Bezugspunkt oder gar Inspirationsquelle für den Giro verwenden lässt, mag auch der konzeptionellen Nähe zwischen der ihr attribuierten Leistung – "un'impresa [...] contraddistinta dai segni dell'eccezionalità: quasi un'Iliade e un'Odissea nate ad un tempo – i giorni del grande viaggio e i giorni arrischiati del combattimento dei pochi contro i molti" (Isnenghi 1997b: 33) – und der epischen Auslegung des Giro d'Italia zugeschrieben werden: "Il Giro è Iliade" (GdS 08.05.2004) bzw. er ähnelt in Teilen einer "odissea a due ruote" (www.gazzetta.it 14.10.2010).

26 Die seit den 1950er Jahren nachweisbare Tendenz, den Giro wahlweise in die Provinz zu verlegen – getreu dem Motto "[I]l ciclismo è uno sport di paesi e non di metropoli" (repubblica.it 29.05.2011) –, hat sich bis zum heutigen Tag als zentrales Planungs- und Organisationsprinzip etabliert. "Il 'Giro' è [...] uno spettacolo che costa e perciò ha bisogno di danaro" (L'Unità 19.05.1954) – gemäß dieser Wahrheit verläuft die Auswahl der Etappenorte wiederum primär nach finanziellen Kriterien und spiegelt andererseits deren Bestreben wider, sich mittels der Italienrundfahrt zu Zwecken der touristischen Selbstvermarktung gekonnt in Szene zu setzen, um für 24 Stunden im Scheinwerferlicht der italienischen, wenn nicht gar internationalen Aufmerksamkeit zu stehen. Eindeutig touristisch inspirierte Etappen finden sich deswegen in fast allen rezenten Giro-Ausgaben (2008: Belvedere Marittimo-Contursi Terme; 2009: Sestri Levante-Riomaggiore/Cinque Terre; 2010: Porto Recanati-Cesenatico). Auch die Tatsache, dass bezüglich der Italienrundfahrt mittlerweile nicht mehr von einer 'Rundfahrt' im klassischen Sinne gesprochen werden kann, da sich die Streckenführung als äußerst diskontinuierlich erweist, darf auf monetäre Gründe zurückgeführt werden: Im Giro-Parcours von 2008 war z.B. kein Etappenziel gleichzeitig auch Etappenstart des darauffolgenden Tages, sodass sich das Rennen aus 21 unzusammenhängenden Tagesabschnitten aufbaute – dies bedeutet das bestmögliche Ausschöpfen des zur Verfögung stehenden dreiwöchigen Werbezeitraums.

27 Seit 1920 bezieht der Giro in Form kurzer Stippvisiten während einzelner Etappen das Ausland in seine Streckenführung mit ein (damals mit einem kurzen Abstecher in die Schweiz auf der Etappe Mailand-Turin); der erste reguläre nichtitalienische Etappenort war mit Locarno (1938) ebenfalls helvetisch.

28 Warum der Giro beispielsweise in den letzten sechs Jahren während sieben Etappen über tirolischen Boden gefahren ist, lässt sich ganz einfach damit erklären, dass das österreichische Bundesland zu Zwecken touristischer Eigenwerbung in diesem Zeitraum als offizieller Sponsor der Italienrundfahrt auftrat.

29 In jüngerer Vergangenheit erhitzte speziell ein Ereignis, nämlich die erste Austragung des von der Lega Nord mit organisierten Giro di Padania im September 2011, viele Gemüter und gab daher indirekt Aufschluss, wie sehr Radsport und speziell der Giro d'Italia als brückenschlagende, national wirkende Größe immer noch im Kollektivbewusstsein der Italiener verankert ist. Das politische Bestreben, ein "Gegen"-Radrennen zum Giro als Ausdruck separatistischer Bestrebungen zu inszenieren, schlug infolgedessen hohe Wellen, sodass keine Etappe der Rundfahrt durch den Norden Italiens, dem Lega-Stammland, ohne Tumulte oder Zwischenfälle über die Bühne ging, wie die folgende kleine Presseschau beweisen mag: "Il 'Giro della Padania' / l'ultima follia leghista" (repubblica.it 21.08.2011); "Proteste e botte al Giro della Padania" (lastampa.it 06.09.2011); "Padania, via al suo Giro tra le contestazioni / Qui siamo in Italia" (La Repubblica 06.09.2011); "Giro di Padania: è sempre caos / Schiaffi e insulti ai corridori" (gazzetta.it 07.09.2011); "Padania [...] / Chiodi sul percorso" (gazzetta.it 10.09.2011); "Chiude tra i fischi il Giro di Padania / Bossi jr soddisfatto" (ilsecoloxix.it 10.09.2011).

30 http://www.treccani.it/enciclopedia/percorsi/sport_e_tempo_libero/2011_Giro_Italia.html.

31 Vgl. http://www.ciclo-news.com/2012/02/27/giro-ditalia-il-via-2013-da-napoli.