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Andreas Gelz (Potsdam/Düsseldorf)



Stellungnahme zur Rezension von Peter Stolz, PhiN 3/1998

Es ist allgemein üblich, Rezensionen über eigene Arbeiten, seien sie auch noch so kritisch, nicht zu kommentieren. Wenn dies hier dennoch geschieht, dann nicht nur, weil ich mich als Autor zu Unrecht angegriffen fühle, sondern vielmehr deshalb, weil die Rezension von Peter Stolz in meinen Augen in eklatanter Weise gegen jegliche wissenschaftlichen Argumentationsstandards und Umgangsformen, gegen jedwede professionelle "déontologie" verstößt, ja im Grunde genommen nicht einmal eine Rezension darstellt, da er deren elementare Zielsetzungen sowie seinen Adressatenkreis völlig aus den Augen verliert.

Der Leser erfährt nicht einmal, worum es in meinem Buch überhaupt geht, auf jegliche inhaltliche Zusammenfassung wird zugunsten fast immer unbegründeter Polemik verzichtet. Obwohl der Rezensent mir methodologische Mängel vorwirft, erklärt er nicht einmal die Methode, die ich meiner Arbeit zugrunde lege, oder ihre Anwendung, geschweige denn den Aufbau und Gedankengang meines Buches. Wer einem Autor "methodische Mängel, aufgrund epistemologischer und definitorischer Unklarheiten, und terminologische Mängel, aufgrund philosophischer und historischer Unschärfen oder literaturwissenschaftlicher Abstraktionen, die vom konkreten Material her gesehen nicht vertretbar sind" vorwirft, der sollte solche Behauptungen äußerst präzise und genau belegen können. Der Text von Stolz ist stattdessen eine Reihung von lauter Behauptungen: "eine These, die im Gegensatz zum Schlußkapitel steht", "[a]uch den Ergebnissen des Schlußkapitels [...] ist zuzustimmen, sie stehen aber häufig im Widerspruch zu den Ergebnissen der Einzelanalysen" – solche und ähnliche Formulierungen finden sich in großer Zahl, ohne daß man in der Rezension die Stelle finden würde, an der Stolz solche Aussagen durch Textzitate aus meiner Arbeit belegen würde.

Ganz und gar unzulässig sind jedoch bewußte Fehllektüren, d.h. Passagen, in denen Stolz vorgibt, ich würde in meiner Arbeit Dinge behaupten, die nachweislich so nicht in meiner Dissertation stehen oder er mir umgekehrt Auslassungen wichtiger Punkte vorwirft, die jedoch in meinem Text zu finden sind. Unter Punkt 8 der nachstehenden Anmerkungen findet sich ein besonders krasses Beispiel, aber auch unter Nr. 1, 2, 3, 7, 10 und 12 sowie unter anderen Punkten.

Im folgenden werden die Entgegnungen gemäß dem Kapitelaufbau meiner Dissertation angeordnet, d.h. es folgen Ausführungen zur Einleitung, zu Julia Kristeva, Philippe Sollers, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec und Italo Calvino.




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Zur Einleitung:


1)

Es verwundert daher nicht, daß der Vf. als Korpus seiner Untersuchung Texte von nur fünf französischen Autoren [...] und von gar nur einem italienischen Autor [...] zugrundelegt. Als Begründung für seine Auswahl führt er an, daß es sich um "das Spätwerk von Autoren [handelt], die in der Vergangenheit beispielhaft Positionen der Avantgarde vertreten haben" (IX). Läßt man sich auf den literarhistorischen Gestus des Vf. ein und stellt Fragen, so fällt zunächst die schmale Textbasis auf, die zur Erstellung einer postavantgardistischen Ästhetik führen soll. (Stolz 1998: 69)

Der Vorwurf des Rezensenten geht ins Leere, insofern meine Dissertation nicht auf die "Erstellung einer postavantgardistischen Ästhetik" zielt, für die das von mir gewählte Textkorpus zu klein wäre. Bereits der einschränkende Untertitel meines Buches, "Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur", zeigt an, daß es darum geht, Elemente einer postavantgardistischen Ästhetik zu beschreiben. Postavantgardistische Ästhetik ist also der Fragehorizont einer Positionsbestimmung eines Ausschnitts der Gegenwartsliteratur. Ich gebe daher nicht vor, etwas zu bestimmen, was im heutigen epistemologischen Kontext sowieso problematisch und mit der von mir angewendeten Methode (die Luhmannsche System- und Beobachtungstheorie) nicht ohne weiteres kompatibel ist, nämlich die Totalität eines Gebildes, hier der postavantgardistischen Ästhetik.


2)

Literaturgeschichtsschreibung kann, durch ihren Gegenstand bedingt, nie systematisch, sondern höchstens typologisch ausfallen: Aufgrund der Flut von Primärtexten ist ihr paradigmatischer Charakter stets durch Auslassungen, Auswahl und Einschränkung gekennzeichnet. Der Leser übt daher freundliche Nachsicht für diese Versehen und Auslassungen. (Stolz 1998: 69)

Der Rezensent selbst zitiert zuvor aus meiner Dissertation, daß ich die Auswahl meiner Autoren damit begründe, inwieweit sie "in der Vergangenheit beispielhaft Positionen der Avantgarde vertreten haben"; damit dürfte dem von ihm eingeforderten "paradigmatischen Charakter" von Literaturgeschichtsschreibung doch Rechnung getragen worden sein. Was also genau wirft er mir vor?


3)

so fällt [...] der monolithische Gebrauch des Begriffs 'die' Avantgarde [auf]. (Stolz 1998: 69)




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Man spricht wohl kaum undifferenziert von "der" Avantgarde, wenn man sich in den Einleitungskapiteln seiner Arbeit die Mühe macht, das ihr zugrundeliegende Verständnis von Avantgarde anhand der Auffassungen von Roland Barthes, Peter Bürger sowie Niklas Luhmann auf 21 Seiten darzulegen (Gelz 1996: 10-31). Diese Differenzierung muß im Verlauf der Arbeit sicher nicht beliebig wiederholt werden. Der Vorwurf ist umso unverständlicher, als die Problematisierung "der" Avantgarde doch der Gesamtanlage der Arbeit eingeschrieben ist, d.i. die differenzierte Betrachtung der poetologischen wie narrativen Texte von Autoren, die das Paradigma der Avantgarde für obsolet halten und neue ästhetische Lösungsansätze suchen.


4)

Bereits die Grundthese von den "achtziger Jahren als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur" erscheint sehr problematisch, denn sowohl der Epochenbegriff als auch die Gegenwartsliteratur sind keine eindeutigen Begriffe, sondern im ersten Fall ein eher heroischer Gestus und im zweiten Fall eine offene Struktur, ein noch nicht abgeschlossener Prozeß. (Stolz 1998: 70)

Auch diese Vorhaltung greift nicht, da die oben angeführte These keine Setzung meinerseits, sondern die Wiedergabe der Selbsteinschätzung der von mir untersuchten Autoren ist, für die in der Arbeit zahlreiche Belege angeführt werden; also kein "heroischer Gestus", sondern eine heuristische Perspektive und zugleich das Ergebnis poetologischer Selbstreflexion, die der Literaturwissenschaftler auch nicht einfach übernimmt, wie der Rezensent unterstellt, sondern seinerseits analysiert und kritisch beleuchtet. So heißt es in meiner Dissertation explizit: "gerade die Vorbildfunktion der ästhetischen Innovationen von Tel Quel, Nouveau Roman und Oulipo läßt es geboten erscheinen, sich nicht mit der Feststellung einer Epochenschwelle zu begnügen, sich der 'neuesten' Literatur zuzuwenden und die vormals der Avantgarde zugerechneten Autoren in die Literaturgeschichte zu verbannen, ganz zu schweigen davon, daß eine solche Betrachtungsweise noch sehr stark dem Denken in Brüchen verhaftet bleibt, das als avantgardistisch gerade überwunden werden sollte" (Gelz 1996: 4).

Bei der Selbsteinschätzung der Autoren handelt es sich um Aussagen, die ich in Übereinstimmung mit der von mir zugrunde gelegten Methode gewonnen habe (von Luhmann als Beobachtung dritter Ordnung bezeichnet i.S. einer Beschreibung eines sich selbstbeschreibenden Systems, vgl. Gelz 1996: 28-31) und im Verlauf der Arbeit ausführlich diskutiere. Da der Rezensent mir die richtige Darstellung von Luhmann bescheinigt, er darüber hinaus die Auffassung der Geschichte der Gegenwart(sliteratur) als offener Struktur, als unabgeschlossenen Prozeß als eine der Vorraussetzungen meiner Arbeit umschreibt ("Geschichte wird zum raum-zeitlichen Prozeß ohne eindeutiges Telos, zum wuchernden System ohne begriffliche Aufhebung, so daß ihre Einheit eher in ihrer Paradoxie besteht als in ihrer terminologischen Eindeutigkeit. Dieses Luhmannsche "Fundierungsparadox" führt der Vf. als Arbeitshypothese an (29/39).") steht sein an mich gerichteter Vorwurf, genau dies nicht erkannt zu haben, im Gegensatz zu seinem eigenen Referat meines Textes.




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Zu Kristeva:


5)

Ihr Roman Les Samouraïs wird dabei mit ihren früheren theoretischen Positionen ohne Rücksicht auf Diskursunterschiede verrechnet, narratologische oder rhetorische Fragen, Fragen zu Form und Strukturiertheit des Romans bleiben außen vor (Stolz 1998: 70).
Die Zitate aus Kristevas Texten, etwa das einer "communion des lecteurs" [...]oder das der "structure ouverte", bzw. ihre Forderung "d'affiner la description de cette structure ouverte", führt der Vf. zwar an, analysiert und interpretiert aber die epistemologischen Implikationen nicht. (Stolz 1998: 70)

"Das Bemühen, Leistungen und Funktionsweisen der Literatur auf andere Diskurse zu übertragen oder zumindest in diesen wiederzufinden, wie es Kristevas Verständnis von Psychoanalyse nahelegt" (Gelz 1996: 34), diese Annahme führt dazu, daß diskursive Unterschiede entgegen der Behauptung des Rezensenten einen Schwerpunkt meiner Analyse von Kristevas jüngeren Arbeiten darstellen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Ausgangspunkt meiner Analyse Barthes' Projekt eines 'livre du Moi' darstellt, für das der Intertextualitäts- und Pluralitätsbegriff konstitutiv ist. Was passiert beim Übergang von einem diskursiven Text wie Mémoire, in dem Kristeva sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, zu Les Samouraïs, in dem sie dann eine ihrer Auffassung von (der eigenen) Geschichte als Prozeß, als paradoxale "histoire d'un ensemble en transformation perpétuelle" (S.42) adäquate und möglicherweise innovative narrative Form finden muß (vgl. Gelz 1996: 41)? Mit einer solchen Fragestellung lenke ich automatisch den Blick auf narrative (i.e. auch rhetorische) Strukturen in Kristevas Texten. Um nur einige Beispiele von mir analysierter narrativer Strukturen anzuführen: die Metapher des "étoile", die für Kristeva eine Strukturmetapher in "Les Samouraïs" ist und die sie Barthes entlehnt (ebd.: 41), die Samourais als "poetologisch, historisch und nicht zuletzt psychoanalytisch perspektivierte Allegorie der Avantgarde" (ebd.: 44), das geschichtsphilosopische Hintergrundschema der Revolution als avantgardistischer Utopie (ebd.: 46), die formale und inhaltliche Bedeutung der Intertextualität (ebd.: 48) etc.

Später untersuche ich dann auch noch ein anderes Diskursgenre, ihre literaturgeschichtlichen Untersuchungen des Werkes von Duras, Proust sowie weiteren Autoren vor dem Hintergrund ihres in Les Samouraïs unternommenen Bilanzierungsversuchs der Nachkriegsavantgarden.


6)

Kristevas psychologische Herangehensweise wird nicht als Textinszenierungsmodell aufgefaßt [...] sondern der Vf. glaubt, daß Kristevas "écriture" "mithin einen Versuch der Selbstherapie" darstellt aufgrund einer "sich zur Depression entwickelnden Melancholie [...] des Theoretikers der Avantgarde, der den Glauben daran verloren hat, seine Theorie kenne eine Entsprechung in der Realität, in der Praxis" (56/57). Diese spekulativen Psychologismen zeugen von der o.g. terminologischen und methodischen Schwäche der Arbeit. (Stolz 1998: 70)




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Diese "spekulativen Psychologismen" fußen auf Kristevas Untersuchung des Werks von Marguerite Duras, das ihrer Meinung nach von der Melancholie als dem "intervalle areprésentatif de la représentation" geprägt wird und der Gefahr der "l'asymbolie, [der] perte de sens" ausgesetzt ist und das gerade deshalb in ihren Augen als typisch für die in der Sackgasse angelangte ästhetische Theorie und Praxis der Nachkriegsavantgarden angesehen werden kann. Diese Diagnose führt sie zu einer Befragung der Bedingungen der Möglichkeit von Signifikation im allgemeinen und damit auch zu einer Selbstbefragung der Möglichkeiten des theoretischen Diskurses: "L'affrontement du psychanalyste avec la dépression le conduit donc à s'interroger sur la position du sujet par rapport au sens" (Kristeva 1987:52) und noch deutlicher im Hinblick auf die von Stolz beanstandete Formulierung: "Poser l'existence d'un objet originaire, voire d'une Chose, à traduire par-delà un deuil accompli, n'est-ce pas un fantasme de théoricien mélancolique? [...]. L'obsession de l'objet originaire, de l'objet à traduire, suppose qu'une certaine adéquation (certes imparfaite) est considérée possible entre le signe et, non pas le référent, mais l'expérience non verbale du référent dans l'interaction avec l'autre." (Kristeva 1987:77f.) (vgl. meine Dissertation S. 57f.).

Die Aufhebung dichotomischer Modelle – hier der Text, da die Psychoanalyse (bzw. die Wissenschaft) – war eines der Hauptziele der französischen Theoriebildung der letzten dreißig Jahre; es ging gerade nicht um Applikation z.B. der Psychoanalyse auf die Literatur i.S. eines Textinszenierungsmodells, sondern um die Implikation beider Bereiche i.S. der Artikulation von Subjektivität in Sprache und Literatur. Dafür stehen insbesondere die Namen Barthes und Kristeva. Stolz gibt mit seiner Bemerkung zu erkennen, daß er am Ende an dichotomischen Modellen festhält, die so bei den genannten Theoretikern gerade aufgehoben werden sollten. Dieses Implikationsverhältnis versuche ich in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen in Kristevas Denken nachzuweisen: So untersuche ich in meiner Arbeit ausführlich ihre auf die Psychoanalyse wie auf die Literatur bezogene Theorie des Imaginären, die Bedeutung des psychoanalytischen Gesprächs für die Subjektkonstitution, dessen Funktionsweise sie mit dem literaturtheoretisch einschlägigen Begriff der Poiesis vergleicht (sie spricht gar von einem "idiolecte, une œuvre d'art"; Gelz 1996: 65), ihre Theorie der Metapher, die sowohl auf den Text als auch auf subjekttheoretische Gegenstände bezogen wird. Psychoanalytische, (literatur)historische Reflexion und Textinszenierungmodell korrespondieren also nicht nur, sondern konvergieren bei Kristeva zunehmend.


7)

sondern stellt die referentielle Frage: "Den Tod Roland Barthes richtig zu lesen, ist dies Julia Kristeva wirklich gelungen?" (69). (Stolz 1998: 70)

Aus meinem Argumentationsgang, der die Diskussion der verschiedenen Autoren von und mit Roland Barthes als Klammer benutzt, geht deutlich hervor, daß die Rede von Kristevas Auseinandersetzung mit dem Tod von Roland Barthes alles andere als eine referentielle Fragestellung ist. Es handelt sich ganz offensichtlich um eine rhetorische Frage, hinter der sich weitreichende ästhetische bzw. poetologische Problematiken verbergen, die im Kristeva gewidmeten Kapitel diskutiert werden. Offensichtlich nicht zuletzt deshalb, weil die oben zitierte Frage und die daran anschließenden Ausführungen auf den folgenden Satz aus meiner Dissertation antworten:




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Es geht darum, den Tod desjenigen zu lesen, der ihr nach eigener Einschätzung das Lesen beigebracht hat. Man halte sich die Bedeutung vor Augen, die der Rolle des Lesers nach dem von Barthes so benannten 'Tod des Autors' beigemessen wurde, um die subjekt- und literaturtheoretische Bedeutung dieses Satzes zu erfassen. Es geht darum, die Hinterlassenschaft seiner und anderer zeitgenössischer Theorien zu bilanzieren. Die Überprüfung dieses, ihres Weges – daher sein nochmaliges fiktionales Abschreiten im Roman – ist die autobiographische und zugleich historische Ausprägung einer letzten Auseinandersetzung mit Roland Barthes, die seit 1965 kontinuierlich geführt wurde (Gelz 1996: 39).


Zu Sollers:


8)

[...] er erwähnt nicht, daß es nach Sollers einfach kein Außen, kein tertium gibt, daß der Mensch stets Teil dieses raum-zeitlichen Gedächtnisstromes ist. (Stolz 1998: 71)

Vgl. dazu meine Dissertation:

Das Modell des literarischen Partisanenkampfs bleibt also durchaus funktional äquivalent zu dem der Avantgarde [...]. Der Partisanenkampf unterscheidet sich, militärisch betrachtet, von der Avantgarde u.a. dadurch, daß dort hinter den feindlichen Linien operiert wird. Ist dies nicht eine zutreffende Beschreibung für das Vorgehen in Le secret, wo Sollers immer wieder betont, ein Außerhalb, d.h. klare Frontstellungen bzw. Beobachterpositionen, gäbe es nicht mehr? (Gelz 1996: 103f.)

Sollers zeichnet Verhältnisse ubiquitärer Ideologie, die er zuvor schon mehrmals beschworen hat, die keinen objektiven Beobachterstandpunkt mehr zulassen, der nicht bereits in ein System integriert wäre (ebd.: 100).

Weitere Textstellen könnten zitiert werden.


9)

[...] sieht in Sollers' Konzept die Möglichkeit, "die Literatur könnte dann zu einer Sache der Parteibildung werden, der Begriff des Partisans ist davon nicht allzu weit entfernt" (107). Sicherlich ist Sollers von einer engagierten Literatur à la Sartre weit entfernt. (Stolz 1998: 71)




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Meine ganze Arbeit dreht sich um die Literatur der 80er und 90er Jahre. Kein einziges mal fällt der Name Sartres, nie geht es um die Problematik engagierter Literatur. Meine rhetorisch zugespitzte Schlußbemerkung kann man daher nur dann auf Sartre beziehen, wenn man diesen Satz absichtsvoll nicht als Konsequenz und Ableitung aus meiner Auseinandersetzung mit dem Werk von Philippe Sollers und seiner ästhetischen Überlegungen um den Begriff des Partisanen sieht, sondern dekontextualisiert und anachronistisch mißverstehen will. Zwischen dem Konzept engagierter Literatur und der literarischen und epistemologischen Situation der neunziger Jahre, in der jegliche ethische Position zur kontingenten und lokalen Wahrheit geworden ist, besteht ein großer Unterschied.


Zu Robbe-Grillet:


10)

der Vf. will hier "zu einer Aufwertung der Phänomenologie" für das Werk Robbe-Grillets gelangen (139). Ein sicherlich sehr interessanter Ansatz, wäre er ausgeweitet worden, da er die wichtige Rolle phänomenolgischer Positionen aus dem Bereich der Philosphie für Barthes und die 50er und 60er Jahre in Frankreich hätte aufzeigen können. (Stolz 1998: 71)

Der große Exkurs über die Phänomenologie, den der Rezensent an diese Textstelle anschließt, mag von generellem Interesse sein, bezieht sich jedoch überhaupt nicht auf den Untersuchungsgegenstand und -zeitraum meiner Arbeit und kann von daher auch nicht gegen sie ins Feld geführt werden. So ist bereits die Ausgangsbehauptung, "der Vf. will hier zu einer 'Aufwertung der Phänomenologie' für das Werk Robbe-Grillets gelangen", unzutreffend, da das angeblich mir zugeschriebene Zitat in der Dissertation einzig in einer Fußnote auftaucht und dort die Position anderer Autoren wiedergibt: "Vgl. zu einer Aufwertung der Phänomenologie unter Einbeziehung des Imaginären Robbe-Grillets Aussagen in Brochier 1985: 147f. und in Robbe-Grillet 1992a: 47-50" (Gelz 1996: 139, Fußn. 39). Darüber hinaus bezieht sich Stolz mit seinem Exkurs auf die Bedeutung der Phänomenologie "für Barthes und die 50er und 60er Jahre"; er könnte also allenfalls als Vorgeschichte, als Genealogie bestimmter Auffassungen, die in meiner Arbeit diskutiert werden, von Interesse sein. Warum also wirft er mir Lücken vor, bei denen es um Inhalte geht, die in meiner Arbeit keine Rolle spielen?


Zu Perec:


11)

die Abbild- und Mimesisproblematik wird vom Vf. nicht geklärt, die Begriffe autoreferentiell und mimetisch werden als gesicherte literaturwissenschaftliche Begriffe benutzt, obwohl seit Auerbach der Begriff der Mimesis keinesfalls eindeutig definiert vorliegt. (Stolz 1998: 72)




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Dieser Vorwurf ignoriert die gesamte methodische Ausrichtung meiner Arbeit, bei der gerade die Paradoxie am Anfang stand, daß ursprünglich programmatisch areferentiell und ahistorisch arbeitende Autoren sich nun der Problematik der Historizität aussetzen und sie dies mit theoretischen wie narrativen Problemen konfrontiert, die ich zu untersuchen bestrebt bin. Dabei fragt die Dissertation "zum einen nach dem möglichen Bezug der Literatur zur Realität (Referenz), zum anderen nach der formalen Innovation bzw. Evolution [...]. Dabei läßt sich die Untersuchung von folgenden Hypothesen leiten: Die scheinbare Dichotomie zwischen Referenz und Intertextualität kann in sich zusammenfallen, wenn die Reflexion der Autoren sich der Pluralität der (Inter-)Texte unter dem Gesichtspunkt der Historizität der Formen stellt, eine Betrachtungsweise, die nicht zuletzt autobiographischer Erfahrung entsprechen kann"(Gelz 1996: 7). Die Problematisierung des Mimesisbegriffs ist daher ein zentraler Gegenstand meiner Dissertation. Dieser Gedanke wird sowohl im Einleitungsteil als auch in den einzelnen Kapiteln immer wieder aufgegriffen und am Textmaterial untersucht.


Zu Calvino:


12)

Auch Calvinos Geschichtsbegriff kann aufgrund terminologischer Schwächen nicht vollends theoretisch erfaßt werden. Die Rolle des Mythos als Inszenierungsmuster wird aus dem Kontext gerissen zu einer ahistorischen Literaturtheorie: "Die eigenen literarischen Aktivitäten erscheinen somit der Geschichte entrissen. Die Wertungs- und Entscheidungsproblematik, die aus dem ständigen Wechsel der Formensprache, aus der komplexen Simultanität der Formen in der Gegenwart resultiert, kann so mythischen Strukturen überantwortet werden" (203). Die epistemologische Antithese zwischen Mythos und Logos, die der Vf. hier aufstellt, kann im Werk Calvinos so nicht nachgewiesen werden. Gerade die Idee des Kristalls als Bild für den literarischen Prozeß, für das Oszillieren zwischen Struktur und Geschichte, Synchronie und Diachronie, lassen den Vf. dann resümieren: "Mit Geschichtslosigkeit, Selbstreferenz und Subjektlosigkeit hat das dann nicht mehr viel zu tun" (220), aber auch nicht mehr mit einem ahistorischen Mythosverständnis. (Stolz 1998: 72)

Dieser Absatz ist ein deutliches Beispiel oberflächlicher Fehllektüre. In dem von Stolz aus meiner Dissertation zitierten Satz heißt es, "Die eigenen literarischen Aktivitäten erscheinen somit der Geschichte entrissen". Die rhetorische Bedeutung des "erscheinen", daß dann in den folgenden Ausführungen relativiert und mit anderen Funktions- und Eigenschaftsbeschreibungen des Mythos unter Umgehung der "epistemologischen Antithese zwischen Mythos und Logos" verknüpft wird, übersieht Stolz ebenso wie die in meiner Arbeit referierte Verknüpfung avantgardistischer formevolutiver Aspekte mit dem Mythos, die Calvino schon 1967 in "Cibernetica e fantasmi" herstellt. Bereits der folgende Satz in meiner Dissertation, dcn er wohl absichtsvoll übergeht, weist auf den rhetorischen Charakter der von ihm zitierten einleitenden Aussage hin und greift genau die Problematik auf, die Stolz in meinem Text nicht zu finden können glaubt:

Ist sich Calvino des potentiellen Widerspruchs zwischen der von ihm selbst diagnostizierten Infragestellung historischer Stabilität und dem von ihm nunmehr favorisierten Modell des Mythos bewußt? Beziehen sich beide geradezu kompensatorisch aufeinander? [...] einer der Gründe für die Wahl dieser literarischen Form durch Calvino [ist], daß es sich bei dem Mythos [...] um ein poetologisches und historiographisches Erzählmodell handelt. [Der Mythos markiert dabei] den Schnittpunkt zwischen Historie und Erzählung [...]. Der Mythos scheint Calvino ein selbstreferentielles Modell bereitzustellen, das Stabilität und Wechsel miteinander versöhnt und die Literatur gegen ihre Relativierung immunisiert (Gelz 1996: 203f.)




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Vgl. dazu an anderer Stelle meiner Diss:

Eine weitere bisher noch unerwähnt gebliebene Ausprägung der historischen Analyse Calvinos, um diesen Begriff trotz der aufgeworfenen Widersprüche weiter zu verwenden, kann hier vielleicht Aufschluß geben. Diese Variante zeichnet aus, daß Calvino die eigene historische Erfahrung und die dabei durchlebten Widersprüche und Aporien in den Rang allgemeiner, ahistorischer – an manchen Stellen der Lezioni americane spricht er sogar von anthropologischen bzw. mythologischen – Konstanten erhebt. Dennoch handelt es sich dabei, wie noch zu zeigen sein wird, um eine bestimmte historische Figur (Gelz 1996: 202).

Die Stichhaltigkeit der zuvor angestellten Überlegungen zur Besonderheit der historiographischen Methode Calvinos wird am Beispiel des Kristalls untermauert. Indem er dieses Bild, das er zunächst auf eine bestimmte historische Epoche bezieht, nun zur mythologischen bzw. anthropologischen Konstante verallgemeinert, entzieht er sein eigenes Schreiben zunächst scheinbar historischer Entwicklung und Analyse. Scheinbar deshalb, weil die Besonderheit der Strukturmetapher des Kristalls darin liegt, geschichtliche Entwicklungen i.S. der Wiederholung raum-zeitlicher Strukturen darstellbar zu machen, als geschichtliche Metafigur zu fungieren, die ihrerseits historisch nicht aufgeschlüsselt werden kann. Ihre Nähe zu einer mythischen Struktur ist offenkundig (Gelz 1996: 210).


Zum Schluß:


13)

Zwar kündigt der Vf. Barthes als "Moderator" (31), sozusagen als spiritus rector an, dennoch überrascht methodisch eine breite Analyse bisher nicht benutzter Textstellen in einem zusammenfassenden Schlußkapitel. (Stolz 1998: 72)

Gerade weil Barthes immer wieder als Kristallisations- und Brennpunkt der Diskussion der verschiedenen Autoren genutzt wird, weil er sozusagen die Anschlußfähigkeit der Diskussion ansonsten sehr heterogener Autoren gewährleistet, ist es legitim, die Schlußbemerkungen, die ja durchaus vergleichende Bemerkungen zu allen behandelten Autoren enthalten, erneut mit Barthes zu strukturieren und im Sinne eines Ausblicks zu beenden. Ein methodisches Problem besteht hier m.E. nicht.


14)

Der "Roman als eine Begegnung" (235), in der der ganze Körper, auch seine Affekte eine Rolle spielen können, wird mit dem Abbildmodell, wie dies der Vf. suggeriert (234), nicht mehr erfaßt. Die Frage nach der Rolle des Subjektes und ihre Inszenierung im Text, ist dabei eine entscheidende. Die referentielle Lesart des Vf.: "Die Vermutung, es gäbe wahre Texte, die Angst Roland Barthes' vor 'wahren' Semiologen, von der Robbe-Grillet berichtet, ist nichts anderes als die Angst vor dem Tod" (243), entspricht noch nicht diesem neuen Mimesis- bzw. Subjektbegriff. (Stolz 1998: 72)




PhiN 6/1998: 45


Nirgendwo auf der vom Rezensenten als Beleg angeführten Seite steht etwas von der Reaktivierung eines Abbildmodells, im Gegenteil, es wird, bei gleichzeitiger Verabschiedung textualistischer Modelle, problematisiert:

Das Modell des Affekts bietet postavantgardistischer Literatur demnach die Möglichkeit, ein rein textualistisches Verständnis von Literatur zu vermeiden, ohne dabei auf realistische Parameter zurückgreifen zu müssen. Diese Modellvorstellung erlaubt es besser als areferentielle Konzepte, den komplexen Vorgang der Textgenese und Textkonstitution zu erfassen und dabei die wie immer problematische (Inter-)Subjektivität mit einzubeziehen. [...] Das Modell der Affektivität knüpft gerade deswegen an vordem amimetische und areferentielle Positionen an, weil das Problem der Präsenz/Absenz Grundlage seines Wirkens ist, weil die Repräsentationsproblematik dem Affekt inhärent ist (Gelz 1996: 233f.).

Davon einmal abgesehen könnte man in der Tat fragen, ob der Versuch der theoretischen Beschreibung wie narrativen Integration des Affekts durch ein neu zu definierendes Mimesis-Modell nicht gedeckt wäre. Warum verhält sich der Rezensent gegenüber einer solchen Hypothese so ablehnend, wo er mir doch zuvor eine mangelnde Problematisierung des Mimesisbegriffs vorgeworfen hatte ("die Begriffe autoreferentiell und mimetisch werden als gesicherte literaturwissenschaftliche Begriffe benutzt, obwohl seit Auerbach der Begriff der Mimesis keinesfalls eindeutig definiert vorliegt.")? Wo steht geschrieben, daß diese Konzeption einer affektiven, den Körper berücksichtigenden Textdimension nicht mit einem neuen, erweiterten Verständnis von Referenz oder Mimesis verrechnet werden könnte? "Die Frage nach der Rolle des Subjekts und ihre Inszenierung im Text", die er als Desiderat anmahnt, obwohl sie in meiner Arbeit immer wieder diskutiert wird, ist dabei in der Tat eine der zentralen Fragestellungen.

Darüber hinaus perspektiviere ich in der Dissertation die oben zitierte Formulierung vom 'wahren' Text deutlich als heuristische Fragestellung (als avantgardistisches Relikt oder umgekehrt als Utopie), ganz sicher nicht als "referentielle Lesart". Vgl. dazu meine Dissertation:

Die Frage nach dem »wahren« Text als Frage nach der authentischen, objektiven und notwendigen Form erweist sich in einem postavantgardistischen Kontext daher als anachronistisch. Der »wahre« Text, eine Vorstellung aus dem Nachlaß der Avantgarde, ist längst keine programmatisch und offensiv vorgetragene Gewißheit mehr, in deren Besitz sich der Autor wähnt; sowohl Sollers 1992b:198, Calvino 1988:67 als auch Perec (Oriol-Boyer 1981:54) verurteilen einmütig die in dieser Hinsicht einschlägige Textsorte des selbstgewissen »Comment j'ai écrit certains de mes livres«. Der »wahre« Text ist Fluchtpunkt einer Apologie »des« Textes, der Literatur überhaupt geworden" (Gelz 1996: 222).

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