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Paola Bozzi (Mailand)



Langsame Heimkehr oder der Betrug der Dinge. Zu Affinitäten zwischen Herta Müller und Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke


In my contribution I examine affinities of language, style and content between the texts of Herta Müller and those of Thomas Bernhard, Franz Innerhofer and Peter Handke. Like Herta Müller, all these writers challenge the myth of a cultural or national centre and explore various avenues of critique, focusing on the construction of culturally hermetic and complacent myths (Thomas Bernhard) or on the narratives of 'silenced minorities' and peripheral topographies (Franz Innerhofer and Peter Handke). Questioning a primordial belonging attributed to either a region or a culture, their works unmask the cultural deceptions of identity that support notions of 'homeland' (Heimat) and expose residual forms of fascism, which are of special importance in light of current revisionism and a resurgence of nationalism in the present day Europe.


1 Die Nestbeschmutzer

Herta Müller hat in Gesprächen und Interviews öfters behauptet, Thomas Bernhard habe einen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht, habe sie beeinflußt. Auf die Frage von Annemarie Schuller, ob sie literarische Vorbilder hätte, antwortete die rumäniendeutsche Schriftstellerin bereits 1984, sie könne sie zwar nicht so nennen, es gebe aber Autoren, deren Texte ihr sehr gut gefallen hätten, sie sei insbesondere "tagelang mit dem Roman Verstörung im Kopf herumgegangen" (zit. nach Schuller 1984: 124f.). Die anderen Dichter der deutschsprachigen Nachkriegs-Moderne, die Herta Müller in solchen Fällen erwähnt hat, sind Franz Innerhofer (ebd.) und Peter Handke (Müller 1997: 471; Kroeger-Groth 1995: 233f.) Bei aller gebotenen Skepsis im Umgang mit Aussagen von Autoren kann man diese wohl für bare Münze nehmen. Interessant ist jedoch, daß die Literaturwissenschaft diese Beziehungen nicht beachtet – was wiederum in gewisser Weise auch nicht verwunderlich ist, denn die Parallelen zu Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke sind bei Herta Müller nicht so offensichtlich wie diejenigen zu Paul Celan.

Wie Herta Müller zweifeln diese Autoren in gleichem Maße den Mythos eines kulturellen Zentrums an, indem sie verschiedene Wege der Kritik erkunden, und gelten deshalb alle als "Nestbeschmutzer".1 Aus der Imagepflege, die man unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Österreich betrieb, hatte sich nämlich eine Diskrepanz zwischen dem Mythos Österreich, dem das europäische Ausland sehr schnell verfiel, und der Skepsis und Kritik der Schriftsteller entwickelt, die eben diesen Mythos zu bekämpfen und zu entlarven versuchten. So stellen die drei oben erwähnten Autoren eine natürlich Zugehörigkeit einer Region oder einer Kultur in Frage – wie in der Darstellung der sich verschiebenden Topographie und der hinausgezogenen Rückkehr in Handkes Langsame Heimkehr (Handke 1979b) – und demaskieren dadurch die kulturellen Trugbilder der Identität, die den Begriff von Heimat unterstützen.




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Kaum ein anderer Begriff der deutschen Sprache hat in seiner Vielschichtigkeit soviel Glorifikation und Entmystifikation, Ideologisierung und Entlarvung, Zuspruch und Ablehnung erfahren und so sehr die deutschsprachige Nachkriegskultur geprägt.2 Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß zumindest im Bewußtsein eines großen Teils der österreichischen Öffentlichkeit, die die Problematik des 'Anschlusses' lieber verdrängte oder ignorierte, der Heimatbegriff ein ungebrochener blieb, da im österreichischen Sprachraum die Vorbelastung durch eine nationalsozialistische 'Blut-und-Boden-Literatur' scheinbar entfiel. Die Arbeit von Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Peter Handke führte jene kritische Heimatdiskussion, die im Nachkriegsösterreich nicht stattfand, und entlarvte auf diese Weise immer noch bestehende Formen des Faschismus.

Im Gegensatz zu den pessimistischen Prognosen von Koppensteiner (1982) hat sich jene Literatur, die die Heimat – wenn auch negativ – thematisiert, nicht überlebt: Die Literatur Herta Müllers, die durchaus Affinitäten mit den Werken der obengennanten Autoren hat, zeigt, worin der kritische Beitrag dieser Schrifteller liegt. So sind nach Innerhofer weitere 'Enthüllungen' über Landleben und Heimat vorstellbar3, die angesichts des gegenwärtigen Revisionismus und wiedererwachenden Nationalismus im heutigen Europa von besonderer Bedeutung sind. Bereits in ihrem Debütband sind die knappen Texte Herta Müllers zutiefst geprägt von der Realität des rumäniendeutschen Dorflebens, seinen Normen, seiner Moral, seiner Borniertheit – und seiner Sprache. Das Schwäbische Bad (Müller 1988: 13f.) heißt eine der Erzählungen, und auch Titel wie Der deutsche Scheitel und der deutsche Schnurrbart (ebd.: 129-131) oder eben Dorfchronik machen deutlich, daß die Autorin sich mit ihrer Umwelt und deren meist rigiden Ansprüchen literarisch auseinandersetzt. Die Optik, die Herta Müllers Werk bestimmt, ist die des peripheren Blicks, der die Ubiquität und die wenig hinterfragte Selbstverständlichkeit der Rede von Heimat in der deutschsprachigen Kultur in ihren absurden Ausmaßen erkennt. Als Angehörige einer ethnischen Minderheit, die wegen politischer Verfolgung auswandern mußte, bindet die Schriftstellerin die Frage von Jean Améry "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" (Améry 1977) an eine reale Randfahrung, so daß man es hier nicht mit einem ausschließlich metaphorischen, universalisierenden Diskurs zu tun hat.

 

2 Thomas Bernhard

In ihrer brillanten Dissertation hat Herta Haupt-Cucuiu gezeigt, daß Herta Müller ihre Texte makrostrukturell mit den gleichen Mitteln wie Thomas Bernhard 'komponiert' (1996: 145-153). Für Bernhards und Müllers Werke gilt das, was für gewöhnlich nur in versifizierten lyrischen Gattungen und Formen vermutet wird, denn für beide scheint die lyrische Prosa die einzige adäquate literarische Form zu sein. So lassen sich wider Erwarten stilistische Gemeinsamkeiten nachweisen: die vier rhetorischen Prinzipien der Wiederholung, der Variation, der Polarität und der Steigerung; die vielen auf Klangassoziationen oder Berührungsähnlichkeiten basierenden Wortspiele; die Neologismen; die eindringliche Wiederholung von Wörtern und inquit-Formeln.4 Dabei wird auch jede herkömmliche, sichere Bedeutung aufgebrochen und in Zweifel gezogen, nicht zuletzt durch permanente subtile Verstöße gegen die Regeln der Grammatik. Selbsterkenntnis ist schließlich bei beiden Programm.




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Die Affinitäten5 zwischen Herta Müller und Thomas Bernhard sind aber nicht immer so verdeckt und kompliziert wie Haupt-Cucuiu behauptet. Bei der Lektüre von Texten beider Autoren fallen dem Leser nicht nur Unterschiede auf. Ähnlich ist z.B. die Einstellung zu und der Umgang mit der Heimat. In der Literatur von Thomas Bernhard geht es nicht nur um verfeinerte Intellektuelle, um Geistesmenschen oder um das Denken. Die Abstraktionen des Schriftstellers haben einen realen Hintergrund, und zwar einen österreichischen, der sich nicht immer so leicht als "Chiffre für einen Endzustand" (Laemmle 1974: 47) ins Undeutliche, ins Fatalistische verlängern läßt. Die verbosen Aggressionen gegen Österreich, österreichische Städte und Landschaften lassen sich, ausgenommen in Ereignisse (1969a), in der gesamten Prosa Bernhards nachweisen. Der Roman Verstörung (1967) liest sich nach Reich-Ranicki (1993: 17) "streckenweise wie ein Blut-und-Boden-Roman à rebours"; Wallmann (1967) hat denselben als "Gegenbild zum Blut-und-Boden-Mythos" beschrieben, während Schonauer (1967: 326) dafür den Ausdruck "Heimatliteratur mit negativem Vorzeichen" geprägt hat. Zwar stellt die österreichische Heimat sicherlich nicht das Hauptmotiv des Bernhardschen Werks dar6. Dennoch nimmt das Thema 'Heimat' als problematischer öffentlicher Bereich bzw. als kulturell hermetischer und selbstgefälliger Mythos einen eminenten Rang ein. Exemplarisch ist in diesem Sinne die Rede des Fürsten in Verstörung: "Die Kulturen [...] stellen an uns unerfüllbare Ansprüche. Die ältesten Kulturen die größten. Aber zugrunde gehen wir an unsren eignen. Wie wir an unsren eignen Religionen zugrunde gehen und behaupten: an der Natur." (203) Zentren dieses fürstlich-fürchterlichen Sprachzyklons sind die Traditionen, ihre prinzipielle metaphysiche Ziellosigkeit, der sinnlose Reichtum, der sich nicht mehr überliefern läßt – wie in Ungenach (1968), wie in Watten (1969b) –, die Leere des Zentrums, auf das die feudal-hierarchische Struktur zusammengezogen war. Es geht also um eine konzentrische Struktur, um auf einen Mittelpunkt hin sich verengende Kreise, wobei das Zentrum eine verlorengegangene mystische Totalität bedeutet.

Bei Herta Müller läßt sich ein entsprechendes Kompositionsverfahren auffinden. Ihre Literatur ist nämlich eine Antwort auf ihr soziales Umfeld (im Konflikt mit den Traditions- und Wertvorstellungen sowohl der Minderheit als auch mit denjenigen des stalinistisch verfestigten Mehrheitsstaates) und auf die literarische Tradition (im Widerspruch zu der beschränkten Heimatkunst der Mehrzahl der deutschsprachigen Autoren), in der sie allerdings steht, was sie immer wieder thematisiert, wenn auch opponierend. Die fiktive zentrale Verkörperung der ungemütlich starren und alles vereinnahmenden Dorftradition ist bei ihr "der deutsche Frosch" aus den Niederungen (1988: 94), eine Dekonstruktion des Volksmärchenmotivs: "Der deutsche Frosch verwandelte alles in Eitelkeit und Verbote. Er wußte, daß Einzelne, wenn sie einzigartig sind, keine Gruppen bilden." (1991: 21) Im Dorf mündet eine Enge in die andere, und wo die Weite anfangen könnte, hört die Welt auf. Die Tradition ist für das Dorf Voraussetzung und Grundlage seiner Existenz, das grundlegende Muster, welches alle Abläufe regelt. Das Respektieren der Verbote wird zur Selbstverständlichkeit (ebd.: 24), das Verbot vor dem Spiegel insbesondere (ebd.: 22) drückt die Angst vor der Möglichkeit der Selbsterkenntnis aus, die die Gruppenidentität gefährden würde. Denn im Mittelpunkt hat das Kollektiv und nicht der Einzelne zu stehen. Jeder Versuch, dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen, wird als Angriff gegen die Minderheit selbst gelten. Das Verbot steigert sich auch von der Ebene der Familie über jene des Dorfes bis hin zum obersten Mechanismus des Staates (ebd.: 54). Konzentrisch kreist die Literatur der Müller um diese Mittelpunktsfixierung, die sich nicht erfüllen läßt.7 Ihr Werk nähert sich somit den Zentren des traditionellen deutschen Selbstverständnisses, ohne ihr Ziel zu erreichen. Sie entsteht nicht aus der Tradition deutscher Identität, sondern aus einer Differenz zu ihr – eine Differenz, die durch die Ausrichtung des Schreibens an den Fixpunkten deutschen Daseins vermindert wird.




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In ähnlich paradoxer Weise entfaltet Bernhard seine palimpsestartigen Motive: Die Hinterwelt entlegener Gebirgsdörfer und Waldgüter als anachronistisch ausgewiesener Hintergrund der hierarchischen Ordnung, die Anstrengung auf die Totalität des Kreises und ein Ungenügen am Weltentwurf (Weltmittelpunkt), der keinen Sinn mehr bietet. Dieser Komplex durchzieht das Werk von einer monomanen Energie, bestimmt den Inhalt, vor allem jedoch die Sprachgestik Bernhards. Sie findet ihre 'Ursache' auch in dieser diffizilen Auseinandersetzung mit einer Heimat, die nicht nur "ein literarischer Ort" (Obermeyer 1981: 221) ist. Nicht zufällig weist das erste Buch der Pentalogie eindringlich und eindeutig auf die Heimatstadt, die Stadt Salzburg, die im Mittelpunkt dieses Textes steht: "Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden." (Bernhard 1975: 11)

Die Tatsache, daß das Bundesland Salzburg die höchste Selbstmordrate in Europa hat, wird in Die Ursache mit der prägnanten Formel des "durch und durch menschenfeindlichen, architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalistisch-katholischen Todesbodens" (ebd.) veranschaulicht. In dieser Stadt hat das Erzähl-Ich das sogenannte "Nationalsozialistische Schülerheim" erlebt, jenes Internat in der Schrannengasse, das nach Kriegsende, fast über Nacht, das "streng katholische Johanneum" (ebd.: 94) wurde: Ein "Präfekt hatte auf katholische Weise das Erbe des nationalsozialistischen Grünkranz angetreten" (ebd.: 95) und es nur leicht modifiziert. Für das erzählende Ich handelt es sich bei den Salzburgern immer um "(hundertprozentige) Katholiken" oder um "(hundertprozentige) Nationalisten" (ebd.: 112). Da aber der Katholizismus den Nationalsozialismus über Nacht abgelöst hat, kann er auch über Nacht wieder vom Nationalismus abgelöst werden, so daß viele Salzburger eine Mischform von Katholizismus und Nationalismus verkörpern: "in vielen Salzburgern erkenne ich immer wieder den Präfekten, der für mich Nationalist und Katholik in einem gewesen ist, eine Menschenform als Geisteshaltung, die in Salzburg die weitverbreiteste ist" (ebd.: 116). Bernhard hatte ein scharfes Auge für die 'Metastasen des Faschismus'. Die nach wie vor gegenwärtige Frage nach dem österreichischen Verhältnis zur Geschichte und die auf bedrückende Weise aktueller werdende Frage nach zunehmender Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus werden später Gegenstand von Auslöschung (1986) und von Heldenplatz (1988) sein.

In gleicher Weise ist die Provinz bei Herta Müller nicht allein kategoriale Bestimmung des regionalen Raums, sondern zugleich Chiffre einer sozialen Ortsbestimmung: Provinz gilt als Innenraum und Lebensform, als Raum des geschichtlich Überlebten und (ab-)geschlossenes Terrain. Als Enklave der deutschen Minderheit ist das Dorf Reservat faschistischen Gedankenguts – es gleicht "einer schwarzen Insel" (1988: 41) oder einer "riesengroße[n] Kiste aus Zaun und Mauer" (ebd.: 87), in dem man mit dem Milizmann und mit dem Ortspfarrer schlafen muß (Müller 1986), um die gewünschten Formulare zur Paßausstellung zu bekommen. Prägnant stellt die Kurzgeschichte Grabrede (1988: 7-12) eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar, indem sie die Figur des Vaters als Träger einer geschichtlichen, zeitübergreifenden Problematik zeigt. In Barfüßiger Februar beschreibt der Text Überall, wo man den Tod gesehen hat. Eine Sommerreise in die Maramuresch (Müller 1987: 101-121) eine Reise in die Provinz als Reise in den Tod durch Orte des Eingedenkens und der Trauer, wo die 'rumänisch-deutsche' Geschichte, die Gleichgültigkeit und Roheit verdrängt wurden. In diesem Sinne treten der vergessene Tod der Juden aus der Maramuresch in den deutschen Vernichtungslagern, der verdrängte Tod auf dem "heiteren Friedhof" von Sapînta (ebd.: 115) und der verheimlichte Tod der flüchtenden an der geschlossenen Grenze (ebd.: 117) in eine verborgene Korrespondenz, die das (Ver-)Schweigen hinter dem ritualisierten Umgang mit dem Sterben und der leeren "Choreographie" (ebd.: 111) der Trauer bricht (ebd.: 105).




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Konkrete Ereignisse wie Begräbnisse und Schlachtungsszenen, aber auch brutale Erziehungsmaßnahmen setzen sich bei der Schriftstellerin in Traum und Phantasie fort und wachsen zu grotesken Monstrositäten aus (1988: 31). Die Beerdigung als Motiv, Handlungseinheit oder szenische Episode ist ansonsten in ihren Texten auf vielfältige Weise realisiert und besitzt sowohl eine handlungsleitende als auch eine symbolische (als letzte 'Heimat' imaginierte) Dimension. Im "Heimatroman", den Bachtin "Idylle der ländlichen und handwerklichen Arbeit" (Bachtin 1989: 170) nennt, steht der auffälligen Einheit des Ortes, also der Bindung an einen einzigen begrenzten Raum, eine ins Endlose gedehnte Zeit, die "Einheit der Folklorenzeit" gegenüber. Diese zeichnet sich durch eine zyklische Organisation, die Wiederkehr von zentralen Momenten wie Geburt, Altersphasen und Tod und die Bindung an Natur und Jahreszeiten aus.

In der Tat fehlen Heimweh und Heimkehr nicht mal in Gegentexten wie Auslöschung (Bernhard 1986), wo von der Rückkehr des Protagonisten in seine Heimat zur Beerdigung des Vaters, Bruders und der Mutter berichtet wird, obwohl Österreich für Bernhard der Ort der allgemeinen sozialen Depression und der individuellen Lebenskatastrophen bleibt. Der Schriftsteller kehrt immer wieder die Brutalität und den Stumpfsinn einer nicht emanzipierten Landbevölkerung und eines patriarchalischen Sozialgefüges der Ungleichzeitigkeit heraus. Jeder Rest von idyllischer Wunschvorstellung wird bei ihm dabei endgültig vernichtet. Die Bewohner dieser beschränkten Welt scheinen gerade dort am meisten beschädigt zu sein, wo den Touristen eine unberührte Naturharmonie versprochen wird und aus dem eingestandenen Anachronismus abgelegener Gegenden ein Gewinn gezogen wird. Ähnlich entlarvend zeigt Herta Müller das von Bigotterie, Ahnenkult, Aberglauben, Mißgunst, Sauberkeitswahn und autoritären Strukturen beherrschte Leben im Dorf, das namenlos paradigmatisch für alle derartige Sozialgefüge steht. Die konturlosen Frauen fürchten die Männer, die Jungen fürchten die Alten und umgekehrt, Kinder und Tiere werden gequält. Grau in Grau das Szenario aus trinkendem faschistoidem Vater, ständig weinender, schimpfender, prügelnder Mutter, Fragen abwehrendem Großvater, abgearbeiteter Großmutter, deren Hände "wie die Arbeit selbst" aussehen. Die Menschen erscheinen als Opfer ihrer Lebensverhältnisse, aber auch als Täter, die alles, was ihren starren Normen zuwiderläuft, gewaltsam ersticken.

 

3 Franz Innerhofer

In den 70er Jahren entstehen in Österreich Romane, die durch die "Wucht der Authentizität" (Greiner 1979: 113) gekennzeichnet sind. Der große Anfangserfolg der Publikationen von Autoren wie Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber oder Josef Winkler, Elfriede Jelinek, Michael Scharang führte zu einem wahren Boom der autobiographisch geprägten, realistischen Schreibweise. Erzählanlaß für diese Autoren war die "sprachlose Wut" (Innerhofer 1974: 12 u. 149), die sich in den Jahren der "Vernichtung von Kindheit auf dem Dorfe" (Wagner 1987: 168) aufgestaut hatte.8 Gemeinsam ist allen Texten dieser Art, daß sie mit dem gängingen Klischee von Ländlichkeit als der Verwirklichung "vom einfachen Leben, von der nicht-entfremdeten, weil unmittelbaren Handarbeit, von einer befreienden, natürlichen Reproduktion" (Greiner 1979: 108) gründlich aufräumen. Sie wollen mit ihrem neorealistischen Stil schockieren, indem sie ihre Kindheit auf dem Lande, ihr Aufwachsen in der Provinz, mit der weit verbreiteten Auffassung von der ländlichen Idylle kontrastieren. Der Mythos vom Dorf als Zufluchtsort, als Stätte des Friedens und der Ruhe, wird demaskiert und der ländlich-bäuerliche Raum in seiner Zerstörung denunziert. Die Heimat wird zur Fremde, und die Suche nach Heimat als reale oder fiktionale Rückkehr zu derselben wird hier zur Abkehr. Am eindringlichsten zeigt sich die Gleichsetzung von "Kindheit und Jugend auf dem Lande mit Heimatlosigkeit" (Wagner 1987: 176) durch den Gebrauch der Vokabel "Bauern-KZ" von Franz Innerhofer (Innerhofer 1974: 233), der wie Bernhard aus Salzburg stammt.




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Gerade die Umkehrung der üblichen Auffassung von Ländlichkeit als dem Inbegriff möglicher Heimat in den Ort totaler Heimatlosigkeit – das, was N. Mecklenburg (1980) als "radikale Anti-Heimatliteratur" bezeichnet hat – ermöglicht höchst interessante Einsichten in das Verhältnis von Territorialität und Identität zum Konzept 'Heimat'. Die schonungslose Offenlegung ländlicher Realität in Innerhofers Schöne Tage (1974) ist geeignet, die noch immer in den Köpfen der Leser herumgeisternden Klischeebilder vom nicht-entfremdeten, natürlichen Leben auf dem Land endgültig ad absurdum zu führen. Mit der Utopie der Zivilisationsgeschädigten von der Selbstverwirklichung in der Landarbeit haben diese Verhältnisse rein gar nichts mehr zu tun. Sogar die Natur verliert ihre heimatstiftende Funktion. Die Umgebung besitzt für den Protagonisten Franz Holl zwar einen hohen Grad an Vertrautheit – ja die täglichen Wege sind sogar "bis zum Wahnsinn vertraut" (Innerhofer 1974: 87) – doch werden mit der Erinnerung an die Landschaft keinerlei positive Emotionen verbunden:

Auch hier war ihm jeder Stein, jede Mulde, jeder Graben, jede Pfütze geläufig. Während er über Stellen, wo ihn der Bauer geschlagen hatte, hinaufeilte, erschrak er schon wieder vor dem kommenden Jahr, vor der kommenden Züchtigungsrundfahrt. (ebd.: 31)

Eine Umgebung, die spontan mit der Vorstellung einer "Züchtigungsrundfahrt" assoziert wird, kann trotz maximaler territorialer Vertrautheit unmöglich zur Heimat für das Individuum werden.

In ähnlicher Weise hat die Natur bei der Müller so gut wie nie idyllische Züge und wird als feindlich empfunden (Müller 1988); in enger Verbindung mit dem Tod wird sie auch für die Erwachsenen unter dem Aspekt ihrer Unberechenbarkeit und Bedrohlichkeit erlebt. Es gibt den "verfluchte[n] Pilz aus dem Wald" (ebd.: 23), und die Gefahr in Gestalt von Schlangen etwa lauert in der Wiese hinter den Scheunen oder im Fluß (ebd.: 37 u. 80). Besonders deutlich kommt diese Abhängigkeit der Menschen von einer launischen Natur in der Erzählung der Großmutter von einem feuchten Sommer zum Ausdruck, als es ebenfalls viele Schlangen gab und die Vegetation den Menschen die Nahrungsquellen zu verweigern drohte (ebd.: 38-41). Bei der Müller wie bei Innerhofer wird das Paradies zur Hölle, und der Ursprung aller Freiheiten ist der Ursprung allen Übels und aller Zwänge. Die Kindheit insbesondere, die den Weg ins Leben eröffnet und deshalb in sich ein Mythos ist, ist bei diesen Autoren nicht der Anfang einer unwiederholbaren, einzigartigen Welt.

Die Darstellung der Kindheit im Dorf bei Herta Müller und Franz Innerhofer könnte eigentlich für sich Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung sein. Die Auseinandersetzung mit der Kindheit ist bei der rumäniendeutschen Schriftstellerin permanent und obsessiv, sie bildet als solche ausschließlich das Thema der längsten Kurzgeschichte aus den Niederungen und taucht – in den verschiedensten Facetten – ebenfalls in einer Reihe anderer Prosastücke auf. Durch die schonungslose Darstellung von Kindheitserfahrungen, meist autobiographischer Art, versucht sie, das wahre Gesicht des Dorflebens zu zeigen, um den Mythos von der ländlichen Idylle durch das konkrete Erzählen der Schreckensgeschichte ihrer Kindheit bloßzustellen. In ihren Schilderungen des Banat entsprechen die affektiven Besetzungen keinen einfachen, schnell aufrufbaren infantilen Begehrensmustern: Über das Familienmodell wird hier bestimmt kein unschuldiger Ort konstruiert. Denn ihre Sprache ist nicht die Sprache der Ästhetisierung oder der Abstrahierung, ihre Bilder sind konkret, konkret bis zur Brutalität. Die Zeit der Kindheit und der Jugend ist für sie eine Zeit der Erniedrigung und Unterdrückung, eine Zeit der Heimatlosigkeit. Wie im traditionellen Heimatroman das Dorf ein Hort der Sicherheit und der Geborgenheit ist – das Lob des Dorfes ist dort eine fixierte Formel –, so ist die soziale Realität bei der Schriftstellerin absolut erbärmlich, ohne daß man wie bei Innerhofer von einer Konstante des Hasses sprechen kann.




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Was bei Herta Müller das Dorf ist, ist bei Innerhofer der Hof des Vaters: ein Raum der Identitätsverweigerung. Das "Moment der Landarbeit" erzeugt hier nicht "eine reale Verbindung zwischen den Naturerscheinungen und den Ereignissen des menschlichen Lebens" (Bachtin 1989:173). Die romantische Vorstellung von dem idyllischen Leben auf dem Lande wird hier mit einer Wirklichkeit konfrontiert, in der die traditionellen Ausbeutungsmechanismen eines echten Knechtschaftsverhältnisses noch in vollem Gange sind. Was hier am Protagonisten Holl vollzogen wird, ist nichts anderes als eine mit allen Mitteln durchsetzte gesellschaftliche Dressur, die an die Stelle einer Persönlichkeitsbildung tritt. Die Dorfgemeinschaft ist bei Innerhofer ein Modell an Negativität, denn die Menschen sind intolerant und heimtückisch. Es ist nicht nur der Vater, der ihn besitzt, es ist das Dorf, die Gesellschaft, deren traditionelle Vertreter, wie der Schuldirektor und der Pfarrer, Trinker sind, die einer Vermittlung von humanistischen Werten schon längst abgeschworen haben. Das Land, das ihm zur Heimat geworden ist, kann für die zum Schweigen gebrachte Minderheit der von ihm Abhängigen nicht zu einer solchen werden. Die sozialen Implikationen menschlicher Identität geben Holl keine Satisfaktion.

Von ihrer Kindheit im Dorf erzählte Herta Müller in einem Interview: "Ich wuchs nicht auf, ich wurde erzogen. Nichts durfte man, man mußte alles." (Schuller 1984: 123f.) Insbesondere die Mutter ist Inbegriff der Dorfmoral (Müller 1991: 24), Symbol einer langen Reihe von Zwängen.9 Sie wird den Prozeß der freien Wahrnehmung im Leben des Kindes nicht fördern oder unterstützen, sondern ihn mit allen Mitteln aufhalten wollen. Für veraltete Verhaltensmuster, sinnlose Regeln und Moral überhaupt stellt Herta Müller den Begriff der Norm und der Normalität in Frage und liefert eine theoretische Ergänzung zu diesem Problemkomplex im Essay Das Ticken der Norm (Müller 1994), in dem sie unter anderem schreibt: "Das Wort 'normal' ist nur haltbar im Kollektiv. Es treibt Menschen in die Abhängigkeiten von der Geimeinschaft. Es drückt den Zwang, zur Gemeinschaft zu gehören, tief in den Verstand." Als Lebensraum der Mutter symbolisiert das Dorf in Niederungen (1988) die Eintönigkeit und Gleichförmigkeit einer Gesellschaft, in der jeder mit dem anderen austauschbar ist. Als Reaktion darauf entwickelt sich beim Kind eine abweisende Protesthaltung gegenüber den Werten und Gewohnheiten, die ihm im Dorf und letzten Endes im totalitären Staat Rumänien aufgezwungen werden. Das Bedürfnis, frei und uneingeschränkt handeln zu können, selbst wenn man dadurch als Andersdenkender auffällt, hat bei Herta Müller seinen Ursprung in der Kindheit. Die übliche – von seiten der Gesellschaft oder von einigen ihrer Schichten entgegengebrachte – Haltung der Non-Akzeptanz bewirkt in früher Kindheit die Angst, entdeckt zu werden, während man gegen Verbote verstößt, und aus diesem Grund abgestoßen und ausgeschlossen zu werden (Müller 1991: 13). So leitet Herta Müller in ihrer ersten Paderborner Vorlesung trotz jeglicher Distanzierung von der magischen Seite der Kindheit überzeugend von den Ängsten der Kinder das Sich-erfinden der Wahrnehmung ab (ebd.: 9-13).




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Die Reihe von Zwängen, die in der Kindheit beginnt, setzt sich im Zuge des persönlichen Reifungsprozesses bis in die Zeit der Ceausescu-Diktatur fort. Diese Verkettung von Unfreiheiten schildert retrospektiv die Autorin selbst: "Insofern war eine Ebene meines Schreibens das banatschwäbische Dorf und meine Kindheit. Die Besuche waren wichtig, als ich später in der Stadt lebte. Und später der totalitäre Staat Rumänien. Er machte das Erlebte zu dem, was es war, denn das Auge der Macht sah überall hin. In gewissem Sinn war das, was ich später als 'totalitär' und als 'Staat' bezeichnete, die Ausdehnung dessen, was ein abgelegenes, überschaubares Dorf ist." (ebd.: 20) Anschließend formuliert sie den Grund für diese Art der Beziehung zur Welt: "Der deutsche Frosch aus den Niederungen ist der Versuch, eine Formulierung zu finden, für ein Gefühl – das Gefühl überwacht zu werden" (ebd.); "Der deutsche Frosch, der schon im kleinen Dorf auf das schielte, was später für mich der Staat werden sollte, wurde später der Frosch des Diktators" (ebd.: 27).

Die Kommunikationsmöglichkeiten auf dem Lande sind auf grobe Sexualität und unartikulierte Aggressionen reduziert, während die Sprache, das Minderheitendeutsch, ein sehr wichtiges Thema ist, das nicht immer ohne weiters verfügbar ist: "Wie hohlwangig du in mir schlägst. Und wenn ich reden will, legst du dich tot auf meine Zunge." (Müller 1987: 123) In gleichem Maße dominiert die Gewalt bei Innerhofer in der immer wieder abrupt durchbrechenden Sexualität, die ebenso wie alles andere jeglicher Zärtlichkeit entbehrt; andererseits ist Sprechen, Nichtsprechen, Bedeutung von Sprache, das Thema der Kommunikation überhaupt zentral in seiner Kindheitsgeschichte. Der Schriftsteller beschreibt das Kind als sprachlos und die Sprache als Instrument der Herrschaft des Bauern, das in seiner Wirksamkeit den Prügeln nicht nachsteht.

Herta Müller hat im Rückblick selbst die Wurzeln ihres Schreibens aus negativen Erfahrungen, Hilfslosigkeit und Sprachnot so geschildert:

Ich hatte damit [mit dem Dorf, P.B.] begonnen, als mein Vater gestorben war. Ich fühlte damals das Bedürfnis, zu wissen, was für eine Kindheit ich gehabt habe, und ich entdeckte, daß sie sprachlos gewesen war. [...] Ich schrieb Gedichte, um mich zu vergewissern, daß ich eine Sprache habe, daß es mich gibt. ich begann, meine Kindheit systematisch aufzubauen. (Schuller 1984: 123)10

Bei Innerhofer ist und bleibt die Sprache so lange ein monopolisiertes Herrschaftsinstrument des Bauern, bis der Sohn seine Stummheit überwindet und durch Sprechen den Weg zum selbstbestimmten Subjekt zu beschreiten vermag. In diesem Sinne kann die Romantrilogie von Franz Innerhofer als die Geschichte einer Identitätssuche gelesen werden. Sie beschreibt den verzweifelten Versuch des Protagonisten Franz Holl, sich aus der umfassenden Heimatlosigkeit der Kindheit zu lösen. Der Weg führt aus der Welt der Kindheit über die "Arbeitswelt" bis in die "Redewelt" (Innerhofer 1977: 45) der Universität. Diese Entwicklung Holls vom unterdrückten Objekt zum denkenden Subjekt vollzieht sich als sozialer Ausstieg im Zeichen fortschreitender Desillusionierung, der die schrittweise Distanzierung von den Ursprüngen mit sich bringt. Damit geht Innerhofer ebenfalls über die bloße Bestandsaufnahme von Provinz hinaus. Allein die Tatsache, daß Holl alles unternimmt, um aus dieser dörflichen Welt auszubrechen, konstituiert eine Inversion des traditionellen Heimatromans, in dem Ortsgebundenheit zu einer Tugend erklärt wurde. Der Auszug aus der Umwelt der Kindheit führt zu einer vorwärtsgerichteten Suche nach neuen Identifikationsräumen in einer veränderten Gegenwart. Das anfängliche Gefühl der Fremdheit führt nach und nach, trotz wachsender territorialer Vertrautheit, in den Zustand totaler Entfremdung von sich selbst. Großstadt und moderne Industriegesellschaft bieten dem Identitätssuchenden ebensowenig annehmbare Heimatbedingungen wie das Land. Am Ende der Trilogie ist Holl damit nach wie vor jemand, der "nirgends und überall zu Hause" (ebd.: 97) ist.




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Ein Text über das Wegfahren und Nichtankommen ist auch Müllers Reisende auf Bein (Müller 1989). Die Erzählung spielt vor allem auf Gleisen, Bahndämmen, in U-Bahnzügen und auf Bahnsteigen. Sogar in der Liebe gibt es bei Herta Müller keine Heimat. Selbst die deutsche Sprache klingt in Deutschland fremd. Eine Heimatlose, Fremde zeigt die Erzählung Reisende auf einem Bein. Sie ist gegangen, aber nicht wirklich angekommen – zwischen den Kulturen.

Dem Scheitern einer nach vorne orientierten Heimatsuche steht bei beiden Autoren die Rückwendung zu den Räumen der Kindheit gegenüber. Bereits in Schattenseite gibt es erste Anzeichen dafür, daß die angestrebte völlige Loslösung von der Kindheitswelt gescheitert ist: "Die Vergangenheit, die ich am liebsten verschwiegen und vergessen hätte, glotzte mich wieder an, das Unbegreifliche, das ich nicht einfach als Schicksal abtun konnte." (Innerhofer 1975: 57) Der von Distanzierungs- und Aufstiegswillen geprägte Lebensweg des Franz Holl erweist sich damit im nachhinein als fataler Irrtum. Die fremdgeprägten Idealvorstellungen von Stadt und 'Redewelt' haben ihn in die totale Desillusionierung gestürzt. Subjektwerdung und Heimatsuche sind immer wieder an den unzureichenden Heimatbedingungen gescheitert. Bei der Müller findet man ebenfalls am Ende der Episode aus den Niederungen, die das Eindringen der Frösche nach der Beerdigung des Großvaters in den Wartesaal des Bahnhofs schildert (1988: 76), die Permanenz der Angst der Kindheit noch einmal bestätigt. Sie kann nicht überwunden werden (vgl. auch Müller 1990a: 69-83; Müller 1991: 49-52).

 

4 Peter Handke

Herta Müller und Peter Handke ist vieles gemeinsam: eine Affinität zum Mystischen, da die Sprache bei beiden Autoren eine Schärfung der Optik leistet und Sinnestäuschung Quelle neuer Sinnerfahrung ist; ihre Darstellungsstrategien, die einerseits auf das Problem einer Begründung von Identität im Schreiben, insbesondere im Erzählen als einer Verknüpfung von authentischer Erinnerung und dichterischer Phantasie, andererseits auf die Entlarvung der Ordnungsfunktion der Sprache zielen; Beunruhigung und eine ständige Irritation als Konstante im Verhältnis zur Heimat; schließlich die Verarbeitung der negativen Kindheits- und Jugenderinnerungen im Heimatbild.




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Die Protagonisten Peter Handkes bemühen sich bereits in den frühen Werken um Möglichkeiten einer nicht schon von Begriffen verstellten Wahrnehmung. So ist Joseph Bloch in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1971) eine Sehweise eigen, die sich von einer gewöhnlichen deutlich abhebt. Es ist eine von ihm realisierte und am Schluß des Romans auch absichtlich praktizierte Änderung der Blickrichtung.11 Um Möglichkeiten einer nicht schon von Begriffen verstellten Wahrnehmung seiner neuen Umgebung in Amerika bemüht sich in gleichem Maße der reisende Ich-Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied (1972a). Absicht des Erzählers ist es, die Vorgänge um ihn herum genau zu registrieren; er will "erst einmal schauen statt teilnehmen" (ebd.: 12): Es geht also um ein Ausweichen der normalen Sehperspektive, das aus einem Überdruß am Bekannten resultiert und verbunden ist mit der Hoffnung, von einer marginalen Position aus Neues zu sehen. Herta Müller verwandelt dasselbe Prinzip in eine "Poetik des Randes, die gesteuert wird über die Wahrnehmungsperspektive eines subjektiven (authentischen) oder 'eigensinnigen' [...] Blicks: das beobachtende Zentrum des Textes organisiert sich am Rand des Beschriebenen." (Eke 1991: 12) "Ich versuche", so Herta Müller 1984, "mich immer an den Rand des Geschehens zu denken, das ich wahrnehme. Ich sehe die Menschen, wie sie angeblich frei handeln und dabei nicht wissen, daß sie es unter bestimmten Zwängen tun, daß sie in einem Mechanismus drin stecken, daß sie mit der Freiheit von Marionetten handeln. Ich versuche dann, diesen Mechanismus darzustellen." (zit. nach Schuller 1984: 122)

Die Logik des Erzählens folgt bei der Schriftstellerin der Bewegung des unverständigen Auges. Die Bildlichkeit findet ihre Grundlegung in genauen Wirklichkeitsbeobachtungen, die ins poetische Bild überschritten werden. Im subjektiven Blick verschränken sich Innen- und Außenperspektive, Erlebtes und Vorgestelltes, die Grenzen zwischen diesen Bereichen sind fließend, während die Dimensionen zwischen Detail und Ganzem sich verschieben. Die Wahrnehmungsperspektive der Texte ist in ihrer Detailgenauigkeit zugleich zergliedernd. Das Auge wird mit sich allein gelassen, Abläufe werden zerlegt und im harten Schnitt neu zusammengesetzt. Die ätzende Fügung der Bildsyntagmen und die krasse Engführung der Erzählperspektive lassen am Ende die Brüchigkeit der sozial sanktionierten Institutionen ins Auge springen.

Ebenso sehen die Protagonisten der (vor allem früheren) Romane Handkes die Welt nicht als Ganzes, sondern in Ausschnitten, sie werden der Realität nur in Details ansichtig. Dazu gehören das Sehen von aufdringlichen Einzelheiten in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1971), die Detailbeobachtungen des Hausierers (1967) und das mikroskopische Betrachten der Vorgänge in Die Hornissen (1966). Beim Sehen im Ausschnitt wird durch die Schärfe des hervortretenden Details ein hohes Maß an Deutlichkeit erreicht. Für die Präzisierung der Einzelheit ist eine Einschränkung des Blickfelds notwendig, die Handkes Erzählvorgang entspricht. Die präzise Beobachtung und Beschreibung des Details stellt ein Kontinuum in seinen Texten bis hin zu Die Geschichte des Bleistifts (1982) dar. Wie bei Herta Müller bezieht sich die Wahl des Ausschnittes nicht nur auf einen konkreten Blickfeldteil, sondern auch auf das Verfahren, der Innenwelt der Protagonisten den Vorzug zu geben. Oftmals ist es die Angst der Protagonisten, welche die absichtliche Auswahl der dargestellten Realitätsdetails festzulegen scheint, da diese Angst – dies gilt vor allem für Der kurze Brief zum langen Abschied – auf bestimmte Gegenstände fixiert ist. Sie fügt die einzelnen Textsequenzen unausweichlich aneinander, bringt so Erinnerungen, Reflexionen, Tagträume usw. in das Geschehen der äußeren Handlung ein.




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Beiden Autoren geht es nicht darum, Totalität zu vermitteln. Das Sehen im Ausschnitt ist für sie der Versuch, der sich in ihren fragmentarisch wirkenden Texten – man denke an Das Gewicht der Welt (1979a) und Die Geschichte des Bleistifts (1982) oder an die Kurzgeschichten Müllers – am deutlichsten spiegelt, die Welt als Summe von Ausschnitten zu begreifen. Sie versuchen deshalb, zu einer direkteren Erfahrung zu gelangen, indem sie die allgemeinen, objektiven Begriffe durch subjektives Betrachten ersetzen: Mit dem individuellen Blick soll eine von sozialen Klischees und kulturellen Plattheiten befreite Wahrnehmung erreicht werden. Dies ist der Weg zu einer neuen Erfahrung der Wirklichkeit, nachdem die umgreifenden Deutungssysteme ihre Gültigkeit verloren haben.

Eine Besonderheit, durch die sich die Sehweise der Handkeschen Protagonisten auszeichnet, ist die durch Sinnestäuschung erzeugte Vielzahl irreführender Anblicke, worin sich die Sehobjekte dem Betrachter in Mehrdeutigkeit offenbaren. In Langsame Heimkehr (1979b) stellen sich Dinge, die Sorger schon als bestimmte zu erkennen vermeint – durch ihre eigene Bewegung oder einen Perspektivenwechsel Sorgers –, entweder mit einem Mal als ganz andere heraus, oder ihr Wesen bleibt ungewiß:

Und die Blätter fielen auf Teller [...] oder trieben in hellen Scharen den Fluß hinab; oder waren gar keine Blätter und flogen als Vögel vom Gras in die Sträucher zurück, blieben [...] jäh stehen stehen und rannten als Erdtiere in eine ganz andere Richtung, waren Froschköpfe [...] oder Wild [...]; oder waren dabei schließlich doch alles nur Blätter gewesen [...]. (Ebd: 50f.)

Mit jedem Herantreten an sie bieten sie ihrem Betrachter neue Anblicke.12 Das mehrdeutige Sehen hat etwas zum Inhalt, was schon im 1967 entstandenen Gedicht Verwechslungen (1969: 65-68) formuliert ist: Etwas wird für ein anderes gehalten; die optische Täuschung macht das Objekt in seiner Eindeutigkeit fraglich. In Die Geschichte des Bleistifts postuliert Handke das ästhetische Prinzip des Verwechseln beim Sehen als eines, das in gleicher Weise für das Schreiben gültig ist (1982: 33). Dieses Prinzip geht auf die ersten Erfahrungen des Kindes mit seiner Umwelt zurück, die es erst langsam kennen und erfahren lernt:

Ein Kind sieht die Ähnlichkeiten zwischen Dingen oder Menschen als jemand, der noch am wenigsten Vergleichsmöglichkeiten hat, am besten. Seine Vergleiche sind die genauesten. Einem Kind, das Ähnlichkeiten feststellt, kann man vertrauen. (ebd.: 87)

Auch bei Herta Müller vermag das Kind das Wahrgenommene ebensowenig von sich abzugrenzen. Am Rande der Erwachsenenwelt ist es unfähig zur Unterscheidung zwischen Einzelnem und Allgemeinen, zwischen geistigen und materiellen Prozessen, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Belebtem und Unbelebtem.13 Die Autorin hat sich im Verhältnis zu ihrer banatschwäbischen Umgebung rückblickend als ein eigensinniges Kind beschrieben, dem es lange Zeit gelang, der Bestrafung des Eigensinns durch Täuschung zu entgehen (Müller 1991: 13). Der subjektive kindliche Blick beschreibt nur peripherisch ihren Ort, wird dabei zu einem fremden und bestimmt gleichfalls später als solcher das Verhältnis des Betrachters zu den Gegenständen. So wird Wirklichkeit zum Ausgangspunkt einer "erfundenen Wahrnehmung" (ebd.: 9-32), die (sich) eine eigene Welt entwirft. Das Erfinden der Wahrnehmung ist Grundzug von Herta Müllers Ästhetik, an der Grenze zwischen detailscharfem Realismus und der surrealen Überbietung der Wirklichkeit in Traum und Phantasie. Wieder lösen sich die versteinerten Verhältnisse im 'anderen Blick' auf und geraten in Bewegung.




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Die Wunschvorstellung einer andersgearteten Sprachwerdung, die sich in Bereichen außerhalb des hergebrachten und überlieferten Zeichenvorrats konstituiert, geht einher mit einer radikalen Absage an die Sprache einer genormten und technisierten Zivilisation und deren "[...] bis auf die letzten Dinge beschriftete und zugleich völlig sprach- und stimmlose Welt [...]" (Handke 1979: 91). In Dorfchronik (Müller 1988: 116-128) bezieht sich Herta Müller immer wieder explizit auf spezifische Sprachregelungen und gibt damit subtil eine Vorstellung von der unbewußt ablaufenden Prägung des Denkens und Wahrnehmens. Erwähnt werden die "Helden, die im Dorf Gefallene genannt werden" (ebd.: 126), der "Papst, der im Dorf der heilige Vater genannt wird", das "Ausland, das im Dorf der Westen genannt wird" (ebd.: 123), die "Alkoholiker, die im Dorf Säufer genannt werden" (ebd.: 119), und vieles mehr.

Das Sehen wird deshalb von beiden Autoren als (Kunst-) bzw. als Wunschtraum verstanden, der die Idee von einer neuen, aber utopischen Wirklichkeitserfahrung birgt. Es ist im wörtlichen Sinne ein Mittel zur Produktion von Kunst, das dem Anspruch auf Innovation gerecht werden will. Man glaubt an die Möglichkeit, daß das, was von innen kommt, dereinst von draußen kommen könnte, und so ist das Werk ein Bild, das das Unsichtbare sichtbar macht. Die Umsetzung des Bildes in Wort und Satz folgt dabei dem mystischen Impuls, die Dinge selbst reden zu lassen. Wenn sich nun somit bei Peter Handke langsam eine affirmative Sprachauffassung entwickelt, bildet sich dagegen bei Herta Müller kein Vertrauen zum 'großen Wort'. Im Gegensatz zu der rumäniendeutschen Schriftstellerin gilt Peter Handke zu Recht als wirklichkeitsblinder Träumer, als "Traumgläubiger seit je" (Handke 1986: 292) und als Harmonie-Stifter. In der ersten Phase seiner literarischen Produktion, die den Zeitraum bis 1970 umfaßt, ist aber die Wendung zum Mythopoetischen noch nicht da, dafür wird Österreich als das Land der frühen Lebens- und Leidensgeschichte, als verallgemeinertes Modell für Ordnung und Zwang, für Systeme von Gewalt dargestellt. Distanzierter und reflektierter wird über die Heimat erst später nachgedacht.

In den drei von 1972 bis 1975 erschienenen Erzählungen – Der kurze Brief zum langen Abschied (1972a), Wunschloses Unglück (1972b) und Die Stunde der wahren Empfindung (1975) – wird Österreich von den Protagonisten und vom Erzähler aus einer räumlichen und geistigen Ferne betrachtet. Dies ermöglicht eine vorurteilfreiere Reflexion über die eigene Herkunft, damit immer auch über das eigene Selbst. So treten in der schreibenden Annäherung an die sprachlose, marginale Geschichte seiner Mutter in Wunschloses Unglück zugleich die Muster der eigenen Sozialisation hervor. Gängige Klischees werden unterlaufen, denn der Erzähler vermag den vorgeprägten Beschreibungen ländlicher Idylle, die die Beschränktheit und den Reiz der Armut hervorheben, nicht zu folgen:

Beim Wort 'Armut' denke ich [...] immer: es war einmal; und man hörte es ja auch aus dem Mund von Personen, die es überstanden haben als ein Wort aus der Kindheit; nicht 'Ich war arm', sondern 'ich war ein Kind armer Leute' (Maurice Chevalier); ein niedlich putziges Memoirensignal. Aber bei dem Gedanken an die Lebensbedingungen meiner Mutter gelingt mir nicht diese Erinnerungshäkelei: Von Anfang an erpreßt, bei allem ja nur die Form zu wahren: schon in der Schule hieß es für die Landkinder das Fach, das den Lehrern bei den Mädchen das allerwichtigste war, 'Äußere Form' der schriftlichen Arbeiten; später fortgesetzt in der Aufgabe der Frau, die Familie nach außenhin zusammenzuhalten: keine fröhliche Armut, sondern ein formvollendetes Elend. (ebd.: 57)




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Ökonomische Abhängigkeiten und bittere Armut zeichnen das Leben im Dorf aus:

Das Gesellschaftssystem als Stufenleiter mit Kaiser-König-Edelmann/ Bürger-Bauer-Leineweber/ Tischler-Bettler-Totengräber: ein Spiel, das im übrigen nur in den kinderreichen Familien der Bauern und Leinenweber vollständig nachgespielt werden konnte. (ebd.: 24)

Brauchtum, Sitte und despotischer Regelzwang der katholischen Kirche, die den Menschen die Achtung vor unumstößlichen Gelegenheiten des Lebens befehlen, garantieren ein unverändertes Weiterbestehen existierender Ordnungen. Die Konsequenz aus solchen Lebensumständen ist Zwang, ist die Einengung der eigenen Persönlichkeit, ist die Beschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeit (ebd. 48f.), die den Lebensweg der Mutter bestimmend in letzter Folge zu ihrem Selbstmord führt. Ihr Schicksal ist individuelle Ausformung einer durch gesellschaftliche, soziale Umstände erzeugten, nicht metaphysichen Bestimmtheit durch den Tod. Er erscheint in dem keine Möglichkeiten bietenden Leben als notwendiges Ende eines vorgesehenen, geplanten Ablaufs: "So hießen ja schon die Stationen eines Kinderspieles, das in der Gegend von allen Mädchen gespielt wurde: Müde/ Matt/ Schwerkrank/ Tot" (ebd. 17).

In Der kurze Brief vom langen Abschied erscheint Österreich als das Land einer Kindheit voller Grauen und Schrecken (103), voll Armut und Tod. Fand die Täuschung bei Müller ihren Ansatz in der rumäniendeutschen Dorftradition, so ist Österreich bei Handke das Land, das durch Ordnungen und Zwänge Phantasie in Gang setzte, irgendwie neue Erlebnismöglichkeiten schuf, allerdings die Wahrnehmung beschnitt, sie systematisierte:

Und trotzdem [...] sorgten die Verbote, dadurch daß sie ein System bildeten, später, als mir die Erlebnisse offenstanden, dafür, daß ich systematisch erlebte, jedes Erlebnis einordnen konnte, auch wußte, welche mir noch fehlten. (ebd.: 124)

Das geschichtsträchtige Land voller Traditionen und seine Landschaft spielen weiterhin auch in der Stunde der wahren Empfindung keine Rolle (Handke 1975: 50), das überkommene Österreichbild wird in sein Gegenteil verkehrt, d.h. es wird zu einem "geschichtslosen Niemandsland mit geschichtslosen Jedermännern" (ebd.: 49): erneut zu einer Vision von reglementierenden Zwängen, von immergleichen Mustern, von einem vorgetäuschten, nicht gelebten Leben.

Erst ab der Tetralogie läßt sich eine neue Erfahrung von Österreich finden. Im zweiten Teil der Erzählung Langsame Heimkehr mit dem Untertitel Das Raumverbot registriert der Protagonist Sorger, der sich geographisch am Rande der westlichen Welt befindet, den kalifornischen Landstrich als Erdbebengebiet; so befällt ihn bei seiner Suche nach den "Leitformen" ein Gefühl des Raumverlustes – "nicht allein auf der Welt, sondern allein ohne Welt" (Handke 1979: 98) –, und er gerät in eine Existenzkrise, in der ihm "nicht einmal die Orientierung an der Bodenschichtung unter den Fußsohlen" (ebd.: 133) sicheren Halt bietet.




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Das neue, allerdings sehr langsam gewonnene Verständnis von Heimat als Standortbestimmung des Individuums in der Welt trägt bis ans Ende auch den Zweifel an dem so gefundenen Halt in sich: "kurz hattest du, Sorger, da die Vorstellung, daß die Geschichte der Menschheit bald vollendet sein würde, harmonisch und ohne Schrecken. Ja, es gab die Gnade (Oder?)" (ebd.: 199). Demütig lernt Sorger, daß ihm die Heimkehr erst gelingen soll. Im Unterschied zu Handke scheint aber Herta Müller in der Angehörigkeit der Eltern und der Großeltern einer Minderheit keine menschliche Reinheit, keine mythisch individuelle Kraft (Handke 1980: 88) gefunden zu haben.14 Ihre Figuren fühlen sich immer und überall heimatlos. "Zuhause" ist für sie ein Wort, das geradezu Angst auslöst. So endet die "Sommerreise in die Maramuresch" in Barfüßiger Februar mit der lakonischen Feststellung: "Diese Gegend hat mich nicht gespürt. Sie hat mir weh getan. Doch überall, wo man den Tod gesehen hast, ist man ein bißchen wie zuhause." (Müller 1987: 121)

 

5 Der Betrug der Dinge

In den Texten Herta Müllers scheint sich eine Dynamik abzuspielen, die mit der Unmöglichkeit zu tun hat, als Deutsche eine 'Identität' nach konventionellen, harmonisierenden Mustern aufzubauen, und gleichzeitig mit der Unfähigkeit, dieses nach neu zu findenden Mustern zu tun – und zwar über schwierige Prozesse der historischen Analyse, des Schmerzes, des Aushaltens von Brüchen im Wunsch nach ungebrochener Ganzheit.

Die 'Heimat' nimmt in diesem Prozeß wieder eine ganz besondere Stellung ein. Denn sie dient für die Minderheit auf besondere Weise als "Symbol des Kollektivs", als "Brennpunkt der emotionalen Bindungen von Personen an das Kollektiv" im Sinne von Norbert Elias' Studien über die Deutschen (Elias 1992: 189). Über das Wortsymbol, den Ausdruck, der das Kollektiv vereint, schreibt Elias: "das Kollektiv, auf das er sich bezieht, wird durch ihn mit einer sehr spezifischen emotionalen Aura umkleidet und erscheint so als etwas höchst Wertvolles, Sakrosantes, dem Bewunderung und Verehrung gebührt." (Ebd.: 191) 'Heimat' scheint somit eine solche Funktion sehr viel problemloser ausfüllen zu können als 'Deutschland' – und deshalb erweist sich der Begriff gerade nach 1989 für viele als unersetzbar. In seiner enthistorisierten Form diente der Begriff im Banat der Heimatpflege mit einer scheinbaren Hinwendung zur Vergangenheit, d.h. zu einer Vergangenheit ohne Geschichte, vor allem da, wo sie bestimmte historische Ereignisse der deutschen Geschichte ausblendete und darüber hinaus selektiv das Land vor der Stadt, den Festtag vor dem Alltag, die wiederkehrenden Riten und Ereignisse vor die tatsächlichen historischen Akte setzte. Die Literatur Herta Müllers nähert sich derjenigen von Bernhard, Innerhofer und Handke und zeigt, daß die 'Heimat' sich paradoxerweise ausgerechnet über ein breitgefächertes Vergessen konstituiert, das über die verschiedenen Erzählformen der Erinnerung inszeniert wird: 'Heimat' ist deshalb das, was sie den "Betrug der Dinge nennt" (Müller 1990a). Wie bereits 'Nation' und 'Vaterland', die mit Schuld belastet sind, ermöglicht 'Heimat' in ihrem Werk nicht, neue Setzungen von Sinn und Identität zu legitimieren und kontinuierlich zu stiften. Differenz/en kommen hier richtig zum Ausdruck.

 




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Anmerkungen


1 Die Art, wie die schwäbische Gemeinschaft in einigen der Kurzgeschichten sowie in Äußerungen gegenüber den Medien von Herta Müller dargestellt wurde, löste Empörung in den Reihen der Schwaben aus dem Banat und der Landsmannschaft in Deutschland aus. Vgl. dazu Haupt-Cucuiu 1996: 77-93.

2 'Heimat' kann als Schlüsselwort der deutschen Geschichte gelten, vgl. dazu C. Applegate 1990, 19: "Heimat has never been a word about real social forces or real political situations. Instead it has been a myth about the possibility of a comunity in the face of fragmentation and alienation. In the postwar era, Heimat has meant forgiving and also a measure of forgetting. Right up to the present, it has focused public attention on the meaning of tradition and locality for the nation itself."

3 Das läßt sich auch an der Flut von Publikationen beobachten, die in den 80er und 90er Jahren herauskam und die, mal kritisch, mal affirmativ, nur an den äußersten Rändern in Lager einzuteilen ist, aber in jedem Fall von einem gesteigerten Interesse am Thema zeugt: vgl. für die 80er Jahre u.a. Bienek 1985; Fuhr 1985; Kelter 1986; Pott 1986; Weigelt 1986; Seliger 1987; Hasse 1987. Für die 90er Jahre vgl. u.a. Görner 1992; Müller-Funk 1992; Mulack 1990; Klueting 1991; Riedl 1995; Belschner 1995.




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4 H. Haupt-Cucuiu lehnt sich diesbezüglich an der Untersuchung von Franz Eyckeler der sprachlichen Gestaltung von Gehen, Alte Meister und Der Untergeher; vgl. Eyckeler 1995: 119f.

5 Im Folgenden werde ich, da es dafür keine Anhaltspunkte gibt, nicht von 'Einflüssen' sprechen, sondern weiter Affinitäten, Parallelen, Gemeinsamkeiten unterstreichen.

6 Zu dieser Frage vgl. Martin 1995: 8-32.

7 Dieser Aspekt würde in einer ausführlichen Behandlung vieles wiederholen, was bereits in Bozzi 1997 erläutert wurde.

8 Vgl. zu diesem Komplex auch Laemmle 1980.

9 Vgl. auch dazu in Müller 1988 die Kurzgeschichten "Meine Finger" (77-79).

10 Herta Müller hat oft diesen ähnlichen, sehr subjektiven Ansatzpunkt ihrer Literatur unterstrichen: "es war ein Schreiben gegen diese Identität, auch gegen dieses banatschwäbische Dorf, gegen diese sprachlose Kindheit, die alles unterdrückte." (Müller 1990b: 303)

11 Beim Elfmeter faßt er nicht, wie alle anderen Zuschauer es tun, den Stürmer, sondern den Tormann ins Auge; Bloch beobachtet nicht das Herabstoßen des Vogels, sondern die entsprechende Stelle im Feld (vgl. Handke 1971: 35); stets auf den Tropfen blickt er auf die Stelle des Deckels, wo jener vermutlich auftrifft (vgl. ebd.: 36); er beobachtet den Mann, auf den der Hund zuläuft, statt den laufenden Hund; er sieht auf das Brot, dem sich die Ameise nähert, statt auf die Ameise (vgl. ebd.: 96).

12 Weitere Beispiele für das "mehrdeutige Sehen" in Handke 1979: "gelbköpfige Kamillenbüschel wurden Luftaufnahmen von brennenden Wäldern" (32); "Schwarze Köter wühlten im Strandabfall, die sich dann aber als riesige Raben in die Luft hoben" (47); "Ein Läufer, hinter dem ein Hund herrannte, erhob sich als Möwe in die Lüfte" (195).

13 Zum kindlichen Animismus vgl. Müller 1988: 78.

14 Vgl. dazu F. Hafner 1993.

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