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Gerhard Poppenberg (Heidelberg)



Ralf Simon / Nina Herres / Csongor Lörincz (Hg.) (2010): Das lyrische Bild. München: Fink Verlag.



Im Fink Verlag erscheint seit einiger Zeit eine neue Buchreihe unter dem Reihentitel "eikones". Als Herausgeber firmiert der Nationale Forschungsschwerpunkt Bildkritik an der Universität Basel. Die Bände sind allesamt edel ausgestattet: leinengebunden, fadengeheftet, mit Lesebändchen und großzügigem Layout; da dürfte ein Extrazuschuss zu den Druckkosten fällig gewesen sein. Die Schweiz hat es sich zur nationalen Aufgabe gemacht, so erfährt man auf der Homepage der Forschungsgruppe, die Auswirkungen der "digitalen Revolution" und die "bild-gestützte Gesellschaft", die sie hervorgebracht hat, zu erforschen und "die Macht und Bedeutung der Bilder" zu untersuchen. Ob damit tatsächlich, wie forsch behauptet wird, eine "Lücke" geschlossen wird, ist allerdings etwas fraglich. Der iconic turn der Geisteswissenschaften wurde immerhin vor fast zwanzig Jahren ausgerufen. In Basel wird er seit 2005 von einer kaum überschaubaren Gruppe von Wissenschaftlern beforscht. Vier Cluster und ein Graduiertenkolleg untersuchen Fragen der Bildlichkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten. Und die Ergebnisse werden seit 2008 in schneller Folge publiziert: im Zeitraum von nicht einmal drei Jahren an die zwanzig Bände bei steigender Frequenz. Im Jahr 2010 waren es sieben, für 2011 sind zwölf Bände angekündigt. Ob das alles originelle Einsichten sind, die da zu Papier gebracht werden? Es handelt sich großenteils um thematisch gebundene Sammelbände; vereinzelt finden sich auch monographische Werke.

Der hier zu besprechende Band ist eine Sammlung von Aufsätzen zur Frage des lyrischen Bildes. Er ist nicht repräsentativ für die Reihe; er ist aber, wie eine kursorische Sichtung der Bände zeigt, nicht untypisch.

Die Rede vom lyrischen Bild ist paradox; ein Gedicht besteht nicht aus Bildern, sondern aus Worten. Das lyrische Bild wirft die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Bildlichkeit auf. Sie wird seit der Antike diskutiert. Als Sokrates zu Anfang des sechsten Buchs der Politeia zu erklären versucht, warum der Philosoph der beste Lenker der Polis sei, führt er ein Bild an; genauer: er redet ein Bild (eikonon legein) und fordert den Gesprächspartner auf, das Bild zu hören (akoue d'ou tes eikones). Damit deutet er an, dass die Bildrede offenbar nicht ikonisch verfasst ist und deshalb auch nicht optisch aufgefasst werden soll. Deshalb ist das Hören – oder Lesen – die angemessene Rezeptionshaltung. Die von Sokrates dann ausgeführte Bildrede vom Staatsschiff zeigt, dass es dabei in der Tat wenig zu sehen gibt; das Ikonologische will denkend verstanden werden.




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Welche Beziehung dabei das Ikonische und das Logische zueinander haben und wie eine derartige Bildrede zu verstehen ist, stellt vor theoretische Probleme, die seither immer wieder diskutiert wurden. Der vorliegende Band zum lyrischen Bild liefert in der Einleitung ebenfalls ein paar theoretische Überlegungen, die aber auf halber Strecke stecken bleiben. Das optische Bild der Wahrnehmung wird mit dem körperlichen Auge wahrgenommen; die theoretische Idee des Denkens wird mit dem geistigen Auge erkannt. Die Frage, wo das literarische oder lyrische, also das sprachlich verfasste Bild in diesem Feld seinen Ort hat und was seine besondere Bildlichkeit ist, wird allerdings nicht aufgeworfen. Deshalb haben die Beiträge des Bandes auch keinen gemeinsamen theoretischen Rahmen. Ihr Gemeinsames liegt darin, dass sie irgendwie von lyrischen Bildern in lyrischen Texten handeln.

Die Autoren der einzelnen Beiträge gehen großenteils mehr oder weniger selbstverständlich davon aus, dass lyrische Bilder zuletzt auch Wahrnehmungsbilder sind, die visualisiert werden können: referentielle Bilder als Abbilder oder Vorstellungsbilder, nicht figurative Bilder als Denkbilder. Deshalb gelten Dinggedichte, Beschreibungen, auch Metaphern offenbar umstandslos als lyrische Bilder. Man ist allenthalben schnell von den Bildern bei den rhetorischen Figuren, ohne doch die Beziehung genauer deutlich zu machen. Unter der Voraussetzung, das lyrische Bild sei anschauliches Ab- oder Vorstellungsbild, wird dann etwa Mallarmés Dichtung zur Auflösung der Bildlichkeit, da bei ihm ein "konsistent erscheinender Bildzusammenhang" fehlt (134); und Rilkes Poetik der Figur "beeinträchtigt" die "Anschaulichkeit" seiner Gedichte (139). Denkbar ist allerdings, dass Rilkes Figur und Mallarmés "subdivisions prismatiques de l’idée" (Crise de vers) gar nicht auf Anschaulichkeit und visuelle Wahrnehmung zielen, sondern die – ohnehin immer schon problematische, da äquivoke – Vorstellung vom lyrischen Bild vermieden haben. Dann ist aber wenig mit dem Interpretament getan, sie lösten die Bildlichkeit auf. Zu klären ist dann vielmehr, welches der besondere "Abstraktionsprozess" (139) des dichterischen Sprechens ist, was also das dichterische Bild jenseits der Anschaulichkeit sein könnte. Der Aufsatz von Winfried Eckel über "Bild und Figur in der Lyrik des Symbolismus. Beobachtungen zu Baudelaire, Mallarmé und Rilke", auf den diese Anmerkungen sich beziehen, ist nicht repräsentativ für die Beiträge des Bandes; er ist aber auch nicht untypisch. Die Aufsätze bieten zumeist lesenswerte Interpretationen von Gedichten. Manches ist allerdings auch reichlich steil und postmodern vertändelt, in die eigenen Einfälle verliebt, statt philologisch die Gedanken am Gedicht zu entwickeln. Aber über die Frage der Bilder in der Dichtung hat der Band dem Rezensenten keine neuen Aufschlüsse vermittelt.