PhiN 57/2011: 85



Guido Mensching (Berlin) / Elisabeth Stark (Zürich)



Zur Rezension von Frank Jablonka zu Noam Chomsky (2010): Raison & liberté. Sur la nature humaine, l'éducation & le rôle des intellectuels. Préface de Jacques Bouveresse. Paris: Édition Agone, in: PhiN 54/2010, 60–61.



Rezensionen erfreuen sich in der Sprachwissenschaft und darüber hinaus wachsender Beliebtheit und stellen einen wichtigen Bereich wissenschaftlicher Zeitschriften dar (in jüngster Zeit ist sogar eine Zeitschrift nur für Rezensionen ins Leben gerufen worden, cf. Hundt et al. 2009ff.).

Ihre Funktion ist im Wesentlichen eine zweifache. Erstens sollen sie informieren über Gegenstand, Ziel und Inhalt von wissenschaftlichen Publikationen des jeweiligen Fachgebietes, zu dem die wissenschaftliche Zeitschrift als Publikationsort der Rezension, der Autor der Rezension als Fachexperte und in aller Regel auch der Inhalt des zu rezensierenden Werkes gehören, und dies, um dem interessierten Leser eine erste Orientierung in der unüberschaubar gewordenen Publikationsvielfalt zu bieten. Zweitens sollen sie durchaus auch werten, d.h. eine argumentativ gut abgestützte und aus der Darstellung des Inhalts sich nachvollziehbar ergebende zweite Orientierung und Empfehlung geben und somit die Leseentscheidung des in aller Regel unter Zeitnot stehenden Lesers ggf. beeinflussen. Die erste Funktion verbindet sich mit größtmöglicher Objektivität bei der Wiedergabe der tatsächlich vorhandenen Inhalte, die zweite mit durchaus auch großer Subjektivität bis hin zur Polemik (die bei aller Schärfe immer das Argumentieren zwingend einschließt, jedenfalls nach allen gängigen Definitionen des Begriffes), wobei hier die Regeln wissenschaftlichen Argumentierens gelten (d.h. z.B. Behauptungen nachvollziehbar durch auf unabhängiger Evidenz beruhende Argumente abstützen).

Beides, die Inhaltswiedergabe und eine nachvollziehbar begründete Ablehnung des zu rezensierenden Werkes fehlen nun in der Rezension von Frank Jablonka so gut wie vollständig, so dass man sich fragen kann, welche Textsorte hier eigentlich vorliegt. Weder erfährt der geneigte Leser etwas über den Inhalt des rezensierten Werkes, noch kann er die wertenden Äußerungen des Autors nachvollziehen, denn diese sind argumentativ nicht gestützt, schon gar nicht auf der Basis eines dem zu rezensierenden Gegenstand angemessenen Inhaltsreferats.

Man gewinnt nämlich in der Rezension den Eindruck, es seien in dem besprochenen Band einschlägige linguistische Arbeiten Noam Chomskys abgedruckt. Hingegen handelt es sich um drei (von elf, d.h. acht sind politisch/soziologisch) Aufsätze, in denen sich Chomsky zum Zusammenhang seiner beiden Tätigkeitsbereiche äußert (Langage et liberté (1970), Un savoir qui ne s'apprend pas (1983), Égalité. Sur le développement du langage, l'intelligence humaine et l'organisation sociale (1976)). Diese drei Schriften sind zu einer première partie mit dem Titel "La nature humaine" zusammengefasst. Hierzu muss man die Hintergründe kennen. Chomsky äußert sich nämlich sehr selten, ja sogar ungern, und wenn ja, dann nur zögerlich zu der Frage, ob zwischen (seiner Art der) Linguistik und seinem politischen Engagement ein Zusammenhang besteht. Auf jeden Fall hält er offenbar einen Zusammenhang für eher vage und sehr allgemein und auch nicht unbedingt für relevant, so entnimmt man Interviews (wie etwa denen, die in dem Band Language and Politics (Chomsky 22004) zusammengestellt sind).




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In dem von Jablonka rezensierten Band sind nun einmal drei Texte (zwei Vorträge und ein Interview) abgedruckt, in denen ein solcher Zusammenhang explizit thematisiert wird, der eigentlich weder zu Chomskys politischem noch zu seinem linguistischen Programm gehört. Das Grundmotiv, das in den drei Texten in verschiedenen Variationen ausgearbeitet wird, ist der aus der Philosophie der Aufklärung abgeleitete Gedanke, dass die Sprache ebenso wie der freie Wille bzw. die Suche nach Freiheit zur Natur des Menschen gehören. Die kartesianische Philosophie betrachtete die Sprache als ein wichtiges Kriterium für die Identifikation einer Lebensform als einen Geist besitzend; dieser Geist ist wiederum nach Rousseau mit einer Fähigkeit zum freien Denken und mit einem Freiheitsbedürfnis eng verbunden. Hieraus lassen sich diverse weitere Gedanken ableiten. So ist z.B. die Existenz eines angeborenen abstrakten grammatischen Regelinstruments selbst Ausdruck von Freiheit (jeder Mensch ist frei, jede beliebige Sprache zu lernen). Es handelt sich also um einen philosophischen Ansatz, nicht um einen primär politischen oder soziologischen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ergibt sich nun aus Chomskys striktem an den Naturwissenschaften orientierten Theorieverständnis: im Gegensatz zum menschlichen Sprachvermögen lässt sich nämlich für Chomsky für Konzepte wie Freiheit oder freier Wille nur schwer (oder möglicherweise überhaupt nicht) eine Theorie entwickeln. Auch wenn man es könnte, würde die Theoriebildung (die auch bezüglich der Sprache nach seiner Ansicht noch in den Kinderschuhen steckt) viel zu lange dauern, als dass der politische Aktivist darauf warten könnte.

Von diesem eigentlichen Kern – Chomskys philosophischer Herangehensweise an das Thema Sprache und Politik bzw. Sprache und Gesellschaft – erfährt der Leser von Jablonkas Invektive allerdings nur ganz indirekt am Ende des dritten Abschnittes. Das dortige Zitat (übrigens wie alle Zitate ohne Angabe des Übersetzers auf Deutsch referiert: "dass das intensive Studium eines einzigartigen Aspekts der menschlichen Psychologie – der menschlichen Sprache – vielleicht zu einer humanistischen Sozialwissenschaft beitragen wird, die auch als Instrument für politisches und gesellschaftliches Handeln dient" (30)) lässt sich ohne die oben skizzierten Hintergründe nicht verstehen bzw. wird zweckentfremdet. In Jablonkas Darstellung muss der Leser dagegen unzutreffenderweise annehmen, der Kernpunkt des Buches sei, dass es "nach Chomskys repräsentationalistischer Grundüberzeugung [es] eine objektive Wahrheit bzw. Wirklichkeit [gebe], die 'hinter' der Sprache liegt und auf die sprachunabhängig zurückzugreifen ist." (4. Abschn.).

Insgesamt erlaubt erst der von uns oben kurz skizzierte Hintergrund das Nachvollziehen von einigen Punkten aus Jablonkas Kritik. Dass Chomsky pragmatische Theorien (die allerdings aus seiner Sicht keine Theorien sind) nicht berücksichtigt, mag man ihm in einer philologischen Zeitschrift möglicherweise vorwerfen dürfen. Dass er allerdings in seinen politischen Schriften (und das besprochene Buch ist trotz des nicht sehr glücklich gewählten Titels ein politisches Buch) "sozialwissenschaftliche Theorieabstinenz" und den Mangel an "sozialwissenschaftlich nicht explizierten Begrifflichkeit" an den Tag lege, gehört in eine Rezension einer politik- oder sozialwissenschaftlichen Zeitschrift. Ob die KollegInnen aus diesen Disziplinen diese Kritikpunkte anbringen würden, ist allerdings zweifelhaft, denn Chomsky ist nicht vom Fach: er ist ein Politikkritiker und Aktivist, aber kein Politologe oder Soziologe. So muss sich der Leser also wundern, diese Rezension überhaupt in einer philologisch-linguistischen Zeitschrift von einem Linguisten verfasst vorzufinden, denn behandelt und verworfen wird, wie nun hoffentlich etwas klarer aufgezeigt, fast ausschließlich das politische Wirken Noam Chomskys, ein Fachgebiet, dem weder PhiN noch Frank Jablonka zuzuordnen sind (womit sich seine Feststellung, auf die sich seine Ablehnung von Chomskys politischen Schriften stützt, nämlich nicht einschlägig wissenschaftlich oder methodisch einwandfrei zu sein, ebenfalls dem Autor der Rezension zuordnen ließe). Wir sind erstaunt über den Abdruck eines solchen Textes auf einer ansonsten gut lektorierten und interessanten Publikationsplattform und möchten feststellen: "Schuster, bleib bei Deinen Leisten".


Literaturhinweise

Chomsky, Noam ( 22004): Language and Politics. Oakland (USA)/Edinburgh: AK Press.

Hundt, Markus et al. (Hg.) (2009ff.): Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Sprachwissenschaft (ZRS), Berlin/New York: De Gruyter.