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Martina Drescher (Bayreuth)



Ursula Reutner (2009): Sprache und Tabu. Interpretationen zu französischen und italienischen Euphemismen. Tübingen: Niemeyer. (= Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 346)



Bei dem zu rezensierenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Habilitationsschrift zu "Sprache und Tabu. Ein französisch-italienischer Vergleich des Euphemismenbestandes" (Augsburg 2007), deren Untertitel deutlicher als der für die Publikation gewählte vermittelt, welches Anliegen die Studie verfolgt: Es geht um einen Vergleich zweier Sprachkulturen, bei dem die "zivilisatorische Bedingtheit von Tabu und Euphemismus" (2) in exemplarischer Weise heraus gearbeitet werden soll. Der Band besteht neben Einleitung und Schlussbetrachtung aus vier inhaltlichen Kapiteln. Hinzu kommen eine umfangreiche Bibliographie sowie ein nach Sprachen differenziertes Register der erwähnten Euphemismen.

Tabus manifestieren sich im Bereich des sprachlichen Verhaltens in Äußerungsbeschränkungen, die vielfältige Formen des indirekten und impliziten Sprechens hervorgebracht haben. Mit den Euphemismen konzentriert sich Reutner zunächst auf die lexikalischen Ersatzformen und grenzt diese Auswahl später weiter ein, indem sie sich ausschließlich mit denjenigen Formen befasst, die in zwei Referenzwörterbüchern – den jeweils neusten, digital verfügbaren Versionen des Petit Robert und des Zingarelli – als Euphemismen ausgewiesen werden. Auf dieser Basis gelangt sie zu einem Korpus von insgesamt 350 Ausdrücken (107), die den lexikographisch markierten Bestand an Euphemismen des Französischen und Italienischen bilden und die im Folgenden als empirische Grundlage für den anvisierten Vergleich dienen.

Damit ist der Gegenstand der Untersuchung vergleichsweise eng abgesteckt, denn indem sie den Fokus auf die usuellen, bereits lexikographisch erfassten Euphemismen legt, blendet Reutner die Frage ihres Gebrauchs und damit auch ihrer Verankerung in einem bestimmten Kontext von vornherein aus.




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Der Akzent liegt vielmehr auf einer vergleichenden Diskussion mentalitätsgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Entwicklungen in den beiden Sprachgemeinschaften, mit dem Ziel, unterschiedliche Motive für die Entstehung von Euphemismen herauszuarbeiten. Denn Reutner sieht sprachliche Tabus im Allgemeinen und Euphemismen im Besonderen als Indikatoren an, die Aufschluss über den zivilisatorischen Entwicklungsstand, das kulturelle Selbstverständnis, die Mentalität sowie die Realitätskonstruktion einer Gesellschaft geben können. Mit der Frage nach der raison d'être der Euphemismen liegt der Schwerpunkt auf funktionalen Aspekten, die mit Blick auf verschiedene Epochen untersucht werden.

Die leitende Fragestellung gewinnt erst bei fortschreitender Lektüre an Konturen. Zentral ist die im einleitenden Kapitel 1 entwickelte Annahme einer soziokulturellen Bedingtheit des Tabus, die auf eine "in jeder Sprachkultur unterschiedlich erfolgende Entwicklung von Bezeichnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe die jeweils wirksamen Arten sprachlicher Tabuisierung in der Gesellschaft umgangen werden können" (1), schließen lässt. Daher ist zu vermuten, dass der Euphemismenbestand im Französischen zumindest in einigen Bereichen von dem des Italienischen divergiert. Und tatsächlich bringt der Vergleich der beiden Sprachkulturen neben Gemeinsamkeiten auch "Unterschiede in Anzahl und Art der tabuisierten Bezeichnungsweisen" (3) zutage, die Reutner nicht nur kommentiert, sondern auch quantitativ auswertet. Im Wesentlichen dient der lexikographisch ausgewiesene Euphemismenbestand des Französischen und Italienischen jedoch "als Ausgangspunkt für kulturpsychologische Überlegungen zu seiner Genese" (85). Diesem Aspekt ist das mit "Zur Einteilung und raison d'être der Euphemismen" überschriebene Kapitel 5 gewidmet, das mit seinen vier Unterkapiteln über 230 Seiten und damit mehr als die Hälfte des Bandes umfasst. Schon der Umfang des Kapitels zeigt, welches Gewicht soziokulturelle und historische Ausführungen zu Motiven der Euphemismenbildung in der vorliegenden Arbeit erhalten.

Die auf die Einleitung folgenden drei Kapitel, in denen Reutner begriffliche Vorklärungen vornimmt (Kap. 2), Tabubereiche im französischen und italienischen Wortschatz ausgrenzt (Kap. 3) sowie die beiden Teilkorpora unter formalen, inhaltlichen und lexikographischen Gesichtspunkten auswertet (Kap. 4) sind demgegenüber stärker linguistisch ausgerichtet.




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Kapitel 2 lässt die bisherige Forschung zu Euphemismen Revue passieren. In der kontrovers geführten Diskussion um die Frage, ob der Referent oder das sprachliche Zeichen Anstoß errege, plädiert Reutner für eine Auffassung, wonach "die Art und Weise, wie die Realität im Signifikat des sprachlichen Zeichens denotativ selektiert und perspektiviert ist" (18) tabuisiert sei. Dabei kommt auch sie zu dem Schluss, dass die Interpretation eines sprachlichen Zeichens als Euphemismus in der Regel nicht ohne seine Einbettung in einen situativen und kommunikativen Kontext erfolgen kann (33) – ein Aspekt, der jedoch aufgrund der Ausrichtung der vorliegenden Arbeit auf lexikographisch erfasste Euphemismen zwangsläufig außen vor bleiben muss.

Kapitel 3 ist methodischen Fragen im Zusammenhang mit der Auswertung der Wörterbücher gewidmet. Dabei diskutiert die Autorin nicht ganz widerspruchsfrei die Vor- und Nachteile eines lexikographisch basierten Korpus'. Zu seinen Beschränkungen gehört die Ausblendung einer Vielzahl von Ausdrücken, die – wie Reutner selbst anmerkt – "aus Gründen der Registerzugehörigkeit oder der Tabuisierung in allgemeinsprachlichen Lexika nicht verzeichnet sind" (37). Zu dieser Zensur kommt, dass aktuelle Euphemismen aufgrund des grundsätzlichen Rückstands lexikographischer Werke gegenüber der sprachlichen Praxis noch keinen Eingang in die Wörterbücher gefunden haben, während diese umgekehrt eine Vielzahl nicht mehr vitaler Ausdrücke verzeichnen. Und nicht zuletzt erweist sich die lexikographische Markierungspraxis häufig als arbiträr. Als Vorzug sieht Reutner hingegen die Repräsentativität der Lexika bezüglich der verschiedenen Tabubereiche Sterben und Tod, Krankheiten, Sexualität, Körperteile und -ausscheidungen etc. an (vgl. auch Allan / Burridge 2006 für einen aktuellen Überblick). Allerdings vermag man dem Argument der Autorin, wonach die – vermutlich überwiegend aus Linguisten bestehende – Equipe eines Wörterbuchprojekts für "das Sprachbewusstsein des Durchschnittssprechers besonders sensibilisiert sein sollte" (38), während ansonsten der Rekurs auf das Sprachbewusstsein des Linguisten als "besonders problematisch" (38) eingeschätzt wird, wenn es um die Entscheidung über die Bewertung einer Ausdrucksweise als euphemistisch geht, nicht ganz zu folgen. Reutner vertritt jedoch die Auffassung, dass es der lexikographische Ansatz garantiere, eine "bestmögliche Objektivität zu erreichen", da er im Vergleich zu einer subjektiven Auswahl aus Textkorpora "eine wesentlich repräsentativere und geeignetere Basis" (39) darstelle. Die Auswertung der lexikographischen Quellen ergibt eine heterogene Liste von Wörtern und festen Wendungen, die den verschiedensten Tabubereichen angehören. Diese umfassen neben abgeschwächten Fluchwörtern (parbleu) auch mehr oder weniger konventionalisierte Umschreibungen für den Tod (repos), bestimmte Krankheitsbilder (maladie honteuse, non-voyant), Lebensphasen (troisième âge), sexuelle Kontakte (chose) oder Körperteile (où je pense), welche oft nur in festen Wendungen (être porté sur la chose) als Euphemismus gelten können.




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Daneben finden sich Euphemismen aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Verwaltung und Militär. Diese bilden eine Art Restkategorie, die man größtenteils der Klasse der aufwertenden Renommiereuphemismen (vgl. Rada 2001) zurechnen kann (etwa assistante anstelle von secrétaire).

Kapitel 4 setzt sich zunächst kritisch mit der lexikographischen Behandlung von Euphemismen auseinander und geht dabei auf Inkonsistenzen in ihrer Markierung ein, die auf einen fehlenden Konsens in Bezug auf euphemistische Markierungen schließen lassen. Augenfällig wird dies insbesondere beim sprachinternen Vergleich, der "keine mehrheitliche Übereinstimmung der Markierungsangaben der Wörterbücher einer Sprache erkennen lässt" (100). So stimmen die französischen Quellen für den Bereich "Sterben und Tod" nur zu 17 % überein. Auch zwischen dem Französischen und dem Italienischen ergeben sich große Unterschiede, denn das italienische Korpus enthält fast doppelt so viele Euphemismen wie das französische (104). Es ist daher zu fragen, ob dieser Befund auf divergierende Einschätzungen der Lexikographen zurückzuführen ist oder ob er tatsächlich auf eine unterschiedliche Besetzung der verschiedenen Tabubereiche im Französischen und Italienischen hindeutet. Die lexikographische Übereinstimmung hinsichtlich der Bewertung bestimmter Formen ist hier jedoch im Grunde sekundär, da es Reutner weniger auf den einzelnen Euphemismus, als auf die Ausgrenzung gewisser Tabubereiche ankommt, für die in der Folge kulturgeschichtliche "Interpretationen" (siehe Untertitel) vorgeschlagen werden. Um die Auswahl der Tabubereiche abzusichern, greift die Autorin auch auf Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Umfragen zurück. Zudem wurde eigens eine Erhebung mit jeweils 60 Befragten in Rom und Paris durchgeführt, über deren Verlauf der Leser jedoch weitgehend im Dunkeln bleibt. Ihre Ergebnisse dienen zur länderspezifischen Hierarchisierung der Tabuthemen (113f.), wobei sowohl in Frankreich als auch in Italien die Themen "Sexualität" an erster und "Arbeit" an letzter Stelle rangieren. Verschiebungen finden sich allerdings im Mittelfeld. Außerdem bietet Kapitel 4 einen Überblick über verschiedene formale und semantische Modifikationen, die zur Euphemisierung eines tabuisierten Ausdrucks führen und geht dabei auch auf die abschwächende Funktion von Entlehnungen ein. Überlegungen zu über das Einzelwort hinausgehenden pragmatisch-kontextuellen Strategien der Indirektheit, beschränken sich auf bestimmte rhetorische Figuren (Litotes) und metasprachliche Umschreibungen.

Wie bereits erwähnt stellt Kapitel 5, in dem der Versuch unternommen wird, mit Hilfe zivilisations- und kulturhistorischer Exkurse "die Existenz und Existenzberechtigung von Euphemismen zu erklären" (155), das eigentliche Kernstück der vorliegenden Studie dar.




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Reutner schlägt hier eine Klassifikation der Euphemismen nach den Gründen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, vor. Als grundlegende Motive arbeitet sie heraus: 1. den magisch-religiösen Aspekt, unter den auch die Tabubereiche "Sterben und Tod" sowie "Krankheiten" subsumiert werden; 2. den ethisch-ästhetischen Aspekt, dessen Kern die Rücksichtnahme bildet und der die Bereiche "Sexualität", "Körperteile", "Körperausscheidungen" etc. umfasst sowie 3. den ethisch-sozialpolitischen Aspekt, wobei die Euphemismen dieses Typs weiter differenziert werden in Abhängigkeit davon, ob als Motiv für ihre Bildung Rücksichtnahme oder Profitdenken unterstellt werden kann.

Gerade in diesem Kapitel kann die Autorin ihre große Belesenheit dokumentieren. Diese zeigt sich nicht nur in der umfangreichen, mehr als 30 Seiten umfassenden Bibliographie, sondern sie wird auch in der Fülle der von der Antike bis in die Gegenwart reichenden Lektüren greifbar, von denen sich Kapitel 5 nährt. Die unter der Überschrift "'Ethik und Religion'. Sprachliche Verhaltenskodizes zwischen Furcht und Scham" in Kap. 5.1 angebotenen Interpretationen reichen von Ausführungen zum mystisch-religiösen Sprachdenken, über die Geschichte der Blasphemie bis hin zur kathartischen Dimension des Fluchens und den Ursprüngen der Sprachtabus bei Krankheit und Tod. Mit "'Ethik und Ästhetik'. Rücksichtnahme im Verhalten und Sprachverhalten" ist Kap. 5.2 überschrieben, das sich insbesondere mit der Ästhetisierung des Sprachverhaltens zur Zeit der Renaissance befasst. Es handelt sich um einen breit angelegten Exkurs zum Sprachdenken in der frühen Neuzeit, der sich in seiner Darstellung der höfischen Umgangsformen zu verselbständigen droht. Für das Italienische liegt der Akzent auf den Abhandlungen von Castiglione, della Casa und Guazzo, für das Französische steht demgegenüber die Auseinandersetzung mit den Auffassungen der Preziösen im Mittelpunkt. Während die ersten beiden Teilkapitel eine historische Perspektive einnehmen, kehrt Reutner mit dem dritten Teilkapitel zu "'Ethik und Sozialpolitik'. Die Politische Korrektheit und vergleichbare Entwicklungen" in die Gegenwart zurück und setzt sich nun mit dem durch die amerikanische Bürgerrechtsbewegung eingebrachten Anspruch nach einem Verzicht auf diskriminierende Bezeichnungen auseinander. Auch hier erfolgt eine umfassende sozialgeschichtliche Einbettung, die die Möglichkeiten einer ideologiefreien Sprache auslotet und schließlich in eine Diskussion des Zusammenhangs von Sprache und Denken mündet, um mit einer thematisch geordneten Zusammenstellung politisch korrekter Euphemismen zu enden. Kap. 5.4 befasst sich mit "'Ethik ohne Moral'. Profit- und Profilierungsdenken im öffentlichen Leben", wobei nun verschleiernde Euphemismen im Zentrum stehen, bei deren Gebrauch dem Sprecher eine Täuschungsabsicht unterstellt werden kann.




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Der Versuch, einen "taktisch geschickte[n] Sprachgebrauch abzutrennen" (368) offenbart erneut die Grenzen eines lexikographisch basierten, kontextfreien Zugangs zu Euphemismen, insofern lediglich Bezeichnungsangebote untersucht werden können, nicht aber ihr tatsächlicher strategischer Einsatz. Hinzu kommt, dass die Definition dieser Euphemismen – "der sie verwendende Sprecher [gibt] über ihr Signifikat bewusst eine Realität vor, die nicht der des tabuisierten Ausdrucks entspricht, so dass die intendierte Verschleierung für den Adressaten zunächst nicht durchsichtig ist" (390) – erneut die komplexe Frage nach dem Verhältnis von Zeichen und Denotat aufwirft. Unterstellt sie doch die Existenz einer objektiven Realität, die sprachlich unmittelbar und unverzerrt wieder gegeben werden kann. Vor dem Hintergrund neuerer konstruktivistischer Theorien, denen zufolge es nicht die eine, sondern unterschiedliche Realitäten gibt und dynamischen Semantiktheorien, die davon ausgehen, dass Bedeutungen grundsätzlich Gegenstand von Aushandlungsprozessen sind, scheinen solche Annahmen jedoch kaum haltbar (vgl. Deppermann / Spranz-Fogasy 2002).

Insgesamt bleibt nach der Lektüre dieser sehr fundierten und sorgfältig verfassten Studie eine gewisse Skepsis angesichts des von der Autorin gewählten, lexikographisch basierten Zugangs und der damit einhergehenden Beschränkung auf usuelle, weitgehend kontextfrei zu verstehende und oft nicht mehr vitale Euphemismen (vgl. 95ff.). Hier führt auch der Titel des Buches etwas in die Irre, da "Sprache und Tabu" grundlegendere, über den Bereich der in Wörterbüchern erfassten Euphemismen hinausgehende Erwartungen weckt. Zudem scheint mir eine Untersuchung zu sprachlichen Ersatzformen, die ohne deren Gebrauch und damit auch ihre konkrete situative Verankerung auskommt, grundsätzlich problematisch. Denn selbst in einem lexikographisch basierten Korpus finden sich Ausdrücke, die wie vif, pas vraiment, plutôt, fort etc. (97) nur in einem sehr spezifischen Kontext als Euphemismen für bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu interpretieren sind. So sieht sich Reutner einerseits immer wieder gezwungen, bestimmte Verwendungskontexte zu konstruieren, um funktionale Aussagen treffen zu können. Andererseits ist der gewählte Zugang nicht in der Lage, die dem Gebrauch sprachlicher Ersatzformen innewohnende Dynamik, die auch Ad-hoc bzw. okkasionelle Bildungen (vgl. Rada 2001) einschließt, zu berücksichtigen. Für die Forschung zu "Sprache und Tabu" stellt sich daher weiterhin die Aufgabe, euphemistische Redeweisen in ihren Bezügen zu anderen, insbesondere diskursiven Verfahren aufzuzeigen und diese in einer umfassenden sprachwissenschaftlichen Theorie der Indirektheit zu verankern (vgl. Drescher 2008).




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Ein Teil dieser Kritik läuft jedoch ins Leere, da sich die Rezensentin zwar eine pragmatisch-diskursiv ausgerichtete Studie zu diesem spannenden Thema gewünscht hätte, dies jedoch ausdrücklich nicht das Anliegen der Verfasserin war. Reutner dient das auf lexikographischer Basis zusammen gestellte Inventar an Euphemismen primär als Ausgangspunkt für kultur- und mentalitätshistorische Ausführungen, die klar im Zentrum der zu rezensierenden Arbeit stehen. Zudem ist sich die Autorin der Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes sehr wohl bewusst, wie die differenzierte und zugleich kritische Diskussion der lexikographischen Behandlung von Euphemismen in Kap. 4.1 zeigt. Durch die historische Staffelung und die profunde Kenntnis der jeweiligen Epochen mit ihren zivilisatorischen Besonderheiten gelingt es Reutner aufzuzeigen, dass sich Veränderungen im Bestand der Euphemismen tatsächlich auf einem Wandel in der Mentalität der jeweiligen Sprachgemeinschaften zurückführen lassen, wobei bestimmte "Tabuisierungsschübe" (194) zu erkennen sind. Um diese zu rekonstruieren, hätte es gerade mit Blick auf die religiös und magisch motivierten Funktionen der Euphemismen ertragreich sein können, auch die reichlich vorhandenen ethnologischen Arbeiten stärker zu berücksichtigen (vgl. etwa Levi Makarius 1974). Vermutlich hätte dies jedoch die schon jetzt vorhandene Unausgewogenheit zwischen den Kapiteln 2–4 sowie Kapitel 5 noch verstärkt. Denn dieses letzte Kapitel, das im Aufbau als eine Folge von Exkursen konzipiert ist, die über weite Strecken den Charakter eines detaillierten Literaturberichts mit sehr ausgearbeitetem Fußnotenapparat haben, birgt bereits in der vorliegenden Form die Gefahr, dass die übergreifende Fragestellung aufgrund der Vielzahl der angesprochenen Aspekte und Themen aus dem Blick gerät. Möglicherweise hätte die Konzentration auf einige wenige Tabubereiche hier zu einer größeren Stringenz führen können. Allerdings hätte dies im Gegenzug auch bedeutet, dass manche Motive für die Genese von Euphemismen nicht zur Sprache kommen.

Durch die unterschiedliche Epochen umfassende historische Tiefe gelingt es Reutner jedoch überzeugend, allgemeine Motive für die Genese von Euphemismen herauszuarbeiten und deren zeitlich bzw. kulturell bedingte Dominanz nachzuzeichnen. Der Gewinn der Studie liegt insbesondere in dieser Zusammenschau, die weit – manchmal vielleicht sogar zu weit – über die Sprachwissenschaft hinausreicht und das Wagnis einer interdisziplinären Öffnung eingeht. Die Untersuchung ist reich an Fakten und klar im Aufbau. So enden Kapitel oder längere Unterkapitel mit einer Zusammenfassung, die gewährleistet, dass der rote Faden trotz der zahlreich beschrittenen Nebenwege nicht verloren geht. Der sprachliche Duktus ist bis auf wenige Ausnahmen angenehm und leserfreundlich.




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Auch in formaler Hinsicht ist das Buch sorgfältig redigiert; lediglich auf Seite 103 scheint eine Tabelle zu fehlen, und ganz vereinzelt finden sich wie auf Seite 104 unschöne Worttrennungen am Zeilenende. Alles in allem bietet die vorliegende Studie dem historisch wie kulturgeschichtlich interessierten Leser vielfältige, gut dokumentierte und anregende Einblicke in die Genese von Euphemismen. Indem sie den Akzent auf die soziokulturellen Motive legt, die der Bildung sprachlicher Ersatzformen vorausgehen, ist die Untersuchung an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft einerseits und Kulturwissenschaft bzw. Mentalitätsgeschichte andererseits angesiedelt. Reutner setzt die deutlichsten Akzente in diesem zweiten Bereich, wenn sie die Rolle der Euphemismen im "Prozess der Zivilisation" ausleuchtet.



Bibliographie

Allan, Keith / Burridge, Kate (2006): Forbidden Words. Taboo and the Censoring of Language. Cambridge: CUP.

Deppermann, Arnulf / Spranz-Fogasy, Thomas (Hg.) (2002): be-deuten. Wie Bedeutung im Gespräch entsteht. Tübingen: Stauffenburg.

Drescher, Martina (2008): "Im Spannungsfeld von Emotion und Tabu: Das Beispiel der HIV/AIDS-Prävention in Burkina Faso", in: Bulletin suisse de linguistique appliquée (VALS – ASLA) 88, 115–141.

Levi Makarius, Laura (1974): Le sacré et la violation des interdits. Paris: Payot.

Rada, Roberta (2001): Tabus und Euphemismen in der deutschen Gegenwartssprache: mit besonderer Berücksichtigung der Eigenschaften von Euphemismen. Budapest: Akademiai Kiadó.