PhiN 57/2011: 15



Florian Niedlich (Würzburg)



Spiegelstadium und Posthumanismus:
Identität in Chris Cunninghams "All Is Full of Love"



Posthumanism and the Mirrorstage: Identity in Chris Cunningham's "All is Full of Love"

This article is concerned with the concept of identity in English director Chris Cunningham's celebrated music video to the song "All Is Full of Love" by Björk. First, through a close reading of the clip drawing on psychoanalytic theory, it will be shown that Cunningham's work can be understood as an allegory of the Lacanian mirror stage. Secondly, the analysis will bring to light and investigate the posthumanist discourse infusing the video. The uncanniness of the clip will be explored in terms of a return of the repressed, namely of the elusiveness of the boundary separating man from machine. The video with its Harawayian cyborgs implies that a transgression of this boundary and the concomitant emancipation from humanist conceptions of man and the self permit the construction of new identities as well as the creation of alternative configurations of desire and thus open up the possibility of a transformative politics.



"Machines have less problems. I'd like to be a machine." (Andy Warhol)

Unter Berufung auf die originellen Arbeiten von Michel Gondry, Spike Jonze, Jonathan Glazer und anderen hat der Kritiker und ehemalige Chef-Autor des Musiksenders Viva II Olaf Karnik von einer "Nouvelle Vague des Musikvideos" (Karnik 2004: o.S.) gesprochen. Auch der britische Regisseur Chris Cunningham kann als brillanter auteur des Mediums gelten. Seine Werke zeichnen sich durch eine völlig eigene Bildsprache und Ästhetik aus, die fast immer äußerst düster und bedrohlich wirkt. Auch thematisch lassen sich wiederkehrende Motive ausmachen: So spielt Cunningham in nahezu allen seiner Clips mit der "Fragmentierung, Vertauschung und Vervielfältigung von Identitäten und ihren körperlichen Trägern" (Heiser 2004: o.S.). Auch in seinem meisterhaften Video zu Björks Song "All Is Full of Love" (2002), das mittlerweile in die Dauerausstellung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen wurde, sind Identität und Körper von zentraler Bedeutung. Die folgende Untersuchung widmet sich dem Thema Identität in dem Clip und geht dabei in zwei Schritten vor: Zunächst wird das Video in einem an psychoanalytischer Theorie orientierten close reading als Allegorie des Lacanschen Spiegelstadiums ausgewiesen. Im sich anschließenden, längeren Abschnitt wird sodann gezeigt, dass der Clip darüber hinaus die Identität des Menschen als Gattung neu verhandelt. Der Clip erscheint als kulturelles Artefakt, das die verschwommene Grenze zwischen Mensch und Maschine als Wiederkehr des Verdrängten inszeniert und auf einen zukünftigen, 'posthumanen' Zustand verweist.

Cunninghams Video zeigt die Konstruktion eines menschenähnlichen Roboters mit Björks Antlitz durch mehrere Greifarme von Arbeitsmaschinen in einem weißen, steril-futuristisch wirkenden Raum. Nach kurzer Zeit erscheint ein zweiter, (fast) identisch aussehender Androide und die beiden beginnen sich leidenschaftlich zu küssen und zu berühren, während die Roboterarme weiterhin mit ihrer Fertigstellung beschäftigt sind. Geht man mit Jacques Lacan davon aus, dass sich "die Rolle des spiegelnden Apparates in den Erscheinungsweisen





PhiN 57/2011: 16


des Doppelgängers entdecken" (Lacan 1973: 65) lässt, kann Cunninghams Video als visuelle Umsetzung der von dem französischen Psychoanalytiker in seinem Aufsatz über das Spiegelstadium beschriebenen Entwicklung des Ichs gedeutet werden.1 Dabei repräsentiert die unfertige Roboterfigur den menschlichen Säugling, der im Vergleich zu anderen Lebewesen verfrüht geboren wird und seine Motorik deshalb anfangs noch nicht koordinieren und kontrollieren kann. Das Kleinkind befindet sich daher zunächst in einem Zustand der Hilflosigkeit und Abhängigkeit, der erst mit dem entscheidenden Blick in den Spiegel imaginär überwunden wird. Es sieht dabei sein Spiegelbild als ein Ganzes ('Gestalt'), wie Evans ausführt:

und die Synthese dieses Bildes prägt den Eindruck des Widerspruchs zur fehlenden Koordination des Körpers, der als ein zerstückelter Körper erfahren wird. Diesen Gegensatz erfährt das Kind zuerst als eine Rivalität gegenüber seinem eigenen Bild, weil die Ganzheit des Bildes dem Subjekt mit der Zerstückelung droht. (Evans 2002: 278)

In Chris Cunninghams Video wird dieses Bild (bzw. allgemeiner: der 'Andere') von dem Double des Androiden verkörpert; die anatomische Unvollständigkeit der Maschine, der immer noch neue Teile hinzugefügt werden, repräsentiert den zerstückelten Körper (vgl. Abb. 1). Bezeichnenderweise senkt der Androide kurz nach der Begegnung mit seinem Eben-/ Spiegelbild für einen Moment das Haupt – eine Geste, die resignativ wirkt und als Metapher für die beschriebene Wahrnehmung des eigenen Körpers als unfertigen und geteilten und das daraus resultierende Gefühl der Angst und der Rivalität mit dem Bild (der hier allerdings jede Aggressivität fehlt) funktioniert (vgl. Abb. 2).







PhiN 57/2011: 17


Abb. 1: Cunningham, "All Is Full of Love" (Quelle: Björk.Com [unit.bjork.com/specials/gh/SUB-01/index.htm])



Abb. 2: Cunningham, "All Is Full of Love" (Screenshot-Aufnahme)






PhiN 57/2011: 18

Dem Lacanschen Muster gemäß wird diese Spannung in der Folge jedoch durch die Identifikation mit dem Spiegelbild gelöst (vgl. Abb. 3). Diese erlaubt es dem (Maschinen-)Subjekt, sich als autonome, kohärente Einheit zu imaginieren und so die Abhängigkeit von der Umgebung zu bewältigen, was metaphorisch dadurch deutlich gemacht wird, dass genau in dem Moment, in dem die Roboterfigur ihren Doppelgänger anblickt, die bis dahin noch eifrig an ihr arbeitenden Maschinenarme mit einem Mal verschwinden. Hier konstituiert sich also das Ich.

Abb. 3: Cunningham, "All Is Full of Love" (a: Screenshot-Aufnahme; b: Quelle: Björk.Com [unit.bjork.com/specials/gh/SUB-01/index.htm])




PhiN 57/2011: 19



Lacan beschreibt die Aufnahme des Bildes als einen Moment des Jubels und was sonst sollten die mit dem Auftauchen des zweiten Androiden spürbar ausdrucksvoller werdende Musik und die kurz darauf folgende Liebesszene anderes zum Ausdruck bringen, wenn nicht diesen Jubel? Das Spiegelbild suggeriert Macht und Vollkommenheit und wird so zum Objekt einer erotischen Anziehung – das heißt, das herausgebildete Ich wird sofort libidinös besetzt. Bereits in der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds markierte die Begründung des Ichs den Übergang vom Autoerotismus zum primären Narzissmus. In diesem Kontext kann auch die im Video immer wieder gezeigte 'rückwärts' fließende Flüssigkeit auf die Fundierung des Ichs bezogen werden: Auf metaphorischer Ebene werden hier die divergierenden Partialtriebe zu einer Einheit zusammengezogen und auf ein gemeinsames Objekt – das Ich – gerichtet. Diese Verbindung vom Aufkommen des Ichs mit dem Narzissmus wird von Cunningham wunderbar in Form der Roboterliebe in Szene gesetzt: Die narzisstische Verliebtheit in das eigene Spiegelbild figuriert hier als sexueller Akt. Die absolut symmetrische Anordnung der Maschinen macht dabei noch einmal deutlich, dass es sich um nichts anderes als um die duale Beziehung zwischen dem Ich und seinem Spiegelbild handelt (vgl. Abb. 4).2









PhiN 57/2011: 20


Abb. 4: Cunningham, "All Is Full of Love" (a: Quelle: Björk.Com [unit.bjork.com/specials/gh/SUB-01/index.htm]; b: Screenshot-Aufnahme)

Lacan nennt die mit der Bildung des Ichs im Spiegelstadium begründete Ordnung 'das Imaginäre'. Der Name verweist nicht nur auf die diese Ordnung kennzeichnende "Prävalenz der Beziehung zum Bild des Ähnlichen" (Laplanche/Pontalis 1973: 228), sondern auch – und das ist entscheidend – auf den vollkommen illusorischen Charakter der vermeintlichen Ganzheit des Subjekts. Lacan schreibt:

[V]on besonderer Wichtigkeit ist gerade, daß diese Form [d.h. das Ideal-Ich] vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß. (Lacan 1973: 64)

"Die Geschichte des Subjekts, verstanden als Geschichte des Ichs, ist [also] wesentlich imaginäre Geschichte" (Lang 2000: 18), da die vom Kind vorgestellte Einheit in der Realität gar nicht existiert. Lacan spricht in diesem Zusammenhang von einer 'Verkennungsfunktion': Das Erkennen des Ichs (me connaître) ist in Wirklichkeit ein Verkennen (méconnaître). Chris Cunningham findet in seinem Video hierfür ein passendes Bild, wenn er dem Liebesakt der Androiden, verstanden als Metapher für die libidinöse Besetzung des scheinbar einheitlichen Ichs, synchron deren anhaltenden Konstruktionsprozess hinzutreten lässt. Gleichzeitig verweist diese Rückkehr der geschäftig an den Robotern arbeitenden Greifarme auf das Phantasma des zerstückelten Körpers, das als Gegenbild zur im Moment der Spiegelung imaginierten Unversehrtheit entsteht und das von der unbewussten Angst vor dem Ich-Zerfall geplagte Subjekt von da an in Träumen heimsucht.3 Die unüberwindbare Kluft zwischen der 'Imago' des eigenen Leibes und der Realität führt Lacan zufolge zu einer Spaltung des Subjekts, denn: "Die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt, ist ihm nur als 'Gestalt' gegeben, in einem Außerhalb" (Lacan 1973: 64).




PhiN 57/2011: 21


Lacan bringt diese ursprüngliche Gespaltenheit und Entfremdung des Ichs dadurch zum Ausdruck, dass er vom Ich als je und als moi spricht (siehe oben). Die Spaltung ist als unvermeidlicher Bestandteil des Identifikationsprozesses, bei dem der Ort der Synthese immer Außerhalb des Subjekts liegt, ein irreduzibles Merkmal jeder Subjektivität. Die Einheit ist nie eine des Egos, sondern immer die eines Alter Egos – oder, in den dem Dichter Arthur Rimbaud entlehnten Worten Lacans: 'Ich ist ein Anderer'. Der Musikclip zu "All Is Full of Love" trägt dieser Teilung des Subjekts Rechnung, indem er zwei separate Roboter zeigt.4 Cunninghams Androiden-Subjekt ist 'ex-zentrisch'; sein Zentrum liegt im Außen des Anderen.5

Das aus der psychoanalytischen Perspektive durchgeführte close reading enthüllt das Video also als Allegorie des Lacanschen Spiegelstadiums. Die Analyse darf an dieser Stelle jedoch nicht abschließen. In seiner Geschichte des Musikvideos kommentiert Saul Austerlitz den Clip, den er anderen Werken Cunninghams gegenüberstellt, mit den Worten: "Knowing how to play nice when he felt like it, 'All Is Full of Love' was a kinder, gentler (although no less freakish) Cunningham." (Austerlitz 2007: 219, Hervorhebung F. N.) Ganz ähnlich gesteht auch Hilke Wagner, die dem Video sonst "eine fast himmlische Atmosphäre" zuschreibt: "Menschliche Geste und technischer Ursprung irritieren hier" (Wagner 2004: o.S.). Wie diese exemplarischen Zitate deutlich machen, haftet dem Clip trotz seiner ansprechenden Ästhetik etwas an, das vielfach als äußerst verstörend und beunruhigend empfunden wird. Es gilt daher – auf einer eher rezeptionsästhetischen Ebene –, zu untersuchen, warum der Clip auch nach wiederholtem Sehen so beklemmend, oder besser: 'unheimlich' wirkt.

In seinem einflussreichen Aufsatz über das Unheimliche unternimmt es Sigmund Freud, über die gängige Bestimmung des Unheimlichen als das, was nicht heimlich bzw. heimisch, das heißt nicht vertraut ist, hinauszugehen. Vielmehr müsse es laut Freud als "eine Art von heimlich" verstanden werden, als "ein Geheimnis, [das] im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist" (Freud 1978: 237, 236). Auf dem Wege einer psychoanalytischen Deutung von E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" sowie verschiedener anderer literarischer Texte, die unheimliche Elemente enthalten, gelangt Freud schließlich zu dem Schluss, dass das Unheimliche "wirklich nichts Neues oder Fremdes [ist], sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist" (ebd.: 254). Es handelt sich demnach um nichts anderes als "das Heimliche-Heimische [...], das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist" (ebd.: 259). Im Falle von Cunninghams Video – Hilke Wagners Formulierung macht dies deutlich – muss das unheimliche Gefühl im Wesentlichen auf die anthropomorphisierten Maschinen zurückgeführt werden. Bereits Freud waren derartige Phänomene als Ursprung des Unheimlichen wohl vertraut. Unter Bezugnahme auf Ernst Jentsch schreibt er: "Nach diesem Autor ist es eine besonders günstige Bedingung für die Erzeugung unheimlicher Gefühle, wenn eine intellektuelle Unsicherheit geweckt wird, ob etwas belebt oder leblos sei, und wenn das Leblose die Ähnlichkeit mit dem Lebenden zu weit treibt." (ebd.: 245) Im Rahmen des Freudschen Modells, das als Quelle jedes unheimlichen Gefühls verdrängte Wünsche und Ängste der (individuellen wie menschheitsgeschichtlichen) Kindheit annimmt, müsste das Unheimliche Cunninghams belebter Roboter mit der Wiederkehr infantiler Allmachtsfantasien (vgl. Freuds Ausführungen zur 'Allmacht der Gedanken' und zum Animismus) und damit eines nicht vollständig überwundenen kindlichen Narzissmus begründet werden. Vielleicht lässt es sich jedoch auch auf etwas anderes zurückführen.




PhiN 57/2011: 22


Aus der Robotik ist ein Phänomen bekannt, das erstmals im Jahre 1970 von Masahiro Mori vorgestellt wurde und den bezeichnenden Namen Uncanny Valley trägt (vgl. Mori 1970). Es besagt, dass die menschliche Akzeptanz von Robotern nicht linear mit deren Anthropomorphismus steigt, sondern ab einem bestimmten Grad an Ähnlichkeit fällt und erst wieder zu steigen beginnt, wenn eine problemlose Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine nicht mehr ohne weiteres möglich ist. In einer graphischen Darstellung ergibt sich so das dem Phänomen seinen Namen gebende Tal. Reist man zum Grunde dieses Tals, so wird man dort ein nahezu vollkommen weißes Laboratorium finden, in dem ebenso weiße Androiden gefertigt werden, die sich während ihrer Herstellung leidenschaftlich küssen. Was Cunninghams Roboter repräsentieren, ist nichts Geringeres als eine weitere narzisstische Kränkung des Menschen in der Tradition der großen Erschütterungen des menschlichen Selbstbildes, die von Kopernikus über Darwin bis zu Freud reicht. Die Maschine rückt immer näher an den Menschen heran, indem sie ihm eine nach der anderen seiner stolzen Domänen streitig macht: Zuerst hat sie Kreativität entwickelt (algorithmische Kunst6), dann das Denken erlernt (Garri Kasparows Niederlage gegen Deep Blue) und nun macht sie sich daran, auch noch die letzte Bastion des Menschen niederzureißen: die Emotionen. Steven Shaviro schreibt über den "All Is Full of Love"-Clip: "The video [...] reveals the erotic life of machines. [...] It suggests that robots and cyborgs might well be more sensitive than we are." (Shaviro 2002: 27) Vielmehr als in einem Wiederaufkommen infantiler Komplexe scheint der Ursprung des Cunninghamschen Unheimlichen demnach in der Wiederkehr eines Verdrängten zu liegen, das einem eher kulturellen Unbewussten angehört, nämlich einer tief greifenden Verunsicherung über den Status des Menschen als solchem. Diese resultiert nicht nur aus Ängsten, schlussendlich von Maschinen ersetzt zu werden7 – bereits 1982 wurde der Computer von dem Nachrichtenmagazin TIME zum Man of the Year gewählt –, sondern vor allem aus dem Verschwimmen der trennenden Grenze zwischen Mensch und Maschine. Das vermeintlich Leblose in Cunninghams Video treibt – in den Worten von Ernst Jentsch – die Ähnlichkeit mit dem Lebenden in der Tat 'zu weit'. Wenn diese Roboter nicht nur denken können, sondern auch fühlen, Liebe und Zuneigung empfinden, ja sogar eine Triebökonomie aufweisen, worin unterscheiden sie sich dann noch vom Menschen? Das unheimliche Gefühl, das der Clip bei den Zuschauern auslöst, ergibt sich also – mit der amerikanischen Psychologin Sherry Turkle gesprochen – aus "einem beklemmenden Gefühl der Verwandtschaft" (Turkle 1998: 31). In einer Zeit, die ohne Unterlass damit beschäftigt ist, das 'Menschliche' zu definieren und seine fest geglaubten Grenzen gegen immer neue Angriffe zu verteidigen,8 ist es das unerträgliche Faktum, dass es sich beim 'Menschen' um nichts als ein 'Konstrukt' handelt, das kulturell verdrängt wird und dann in entfremdeter Form in den verschiedensten Diskursen und Werken wie Chris Cunninghams Musikclip wieder auftaucht. Bereits die Tatsache, dass sich das entscheidende Kriterium zur Unterscheidung von Mensch und Maschine im Laufe der Jahre immer wieder gewandelt hat (die Seele, das Denken, die Sprache, die Emotionen, die Biologie), macht deutlich, dass der 'Mensch' lediglich ein durch mehr oder weniger arbiträre Grenzziehung hervorgebrachtes Konstrukt ist und zeigt zugleich die Instabilität dieses Konstrukts an.Im Anschluss an Saussures wegweisende Einsicht in die 'Negativität des Zeichens' hat die Dekonstruktion unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass Bedeutung, wenn sie nur durch Differenz entsteht, der endlosen Bewegung der différance ausgesetzt ist und daher nicht im Sinne einer im Zeichen fest verankerten Präsenz gedacht werden kann, sondern als "unendliches Einbegriffensein", als "unbestimmte Rückverweisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten" (Derrida 1989: 44) verstanden werden muss. Das gilt auch für das 'Humane', das seine Bedeutung nur aus der Differenz vom 'Nicht-Humanen' gewinnt, welches damit aber immer schon als Derridasche 'Spur' in genau diese Bedeutung mit eingeschrieben ist.





PhiN 57/2011: 23


Howard Caygill stellt zutreffend fest: "[T]here are no such things as the human and the inhuman, but only the negotiation between and within them." (Caygill 2000: 228) In ähnlicher Weise kommt die feministische Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway zu dem Schluss, dass selbst die Vorstellung vom 'Organismus' eine von Immunologie- und anderen Diskursen geschaffene Konstruktion sei und erklärt in Anlehnung an Simone de Beauvoir: "[O]ne is not born an organism. Organisms are made" (Beauvoir 1991: 208). Es gilt also, "die Spezies Mensch als geschichtlichen 'Effekt' und Humanismus als ideologischen 'Affekt'" (Herbrechter 2009: 11) zu begreifen. In dem Clip zu "All Is Full of Love" wird durch die in hohem Maße anthropomorphisierten Roboter das Konstrukt des Menschen auf fundamentale Weise in Frage gestellt. Diese Infragestellung wird mitgetragen von der Farbgebung und der Musik des Videos. So wirkt das den Clip dominierende Weiß einerseits steril, kalt und leblos, ruft aber andererseits Assoziationen wie Unschuld und Reinheit hervor (vgl. Meier 2004: o.S.), die auf eine menschliche Existenz verweisen, sodass auch hier die Grenze zwischen Human und Nicht-Human verwischt. Über den Gesang des Songs schreibt Steven Shaviro: "Björk's voice is dehumanized. It sheds the richness of texture and timbre that individuates a singing voice. Instead, it tends toward the anonymity and neutrality of digital, synthesized sound." (Shaviro 2002: 27) Der elektronische Beat des Stücks und diese technische Verfremdung der menschlichen Stimme, die unter anderem von den Musikern der englischen Band Massive Attack auf ihrem stilbildenden Album 100th Window perfektioniert wurde, lassen eher an eine kreative Maschine denken denn an einen Menschen, und tatsächlich sind es die mit Björks Gesichtszügen ausgestatteten Androiden, die das Lied in dem Video vortragen. Die von Anfang an präsente warm klingende Gitarre und der gegen Ende des Stücks dann doch überaus ausdrucksstarke Gesang – der passenderweise die äußerst menschlich wirkende Liebesszene untermalt – erinnern indessen eher an ein Lebewesen. So vollzieht sich parallel zur visuellen auch auf der musikalischen Ebene die Fusion von Mensch und Maschine. Vor vielen anderen war es Donna Haraway, die in ihrem einflussreichen Cyborg-Manifest diese sich abzeichnende Fusion erkannt und theoretisch reflektiert hat. Für sie ist das ausgehende 20. Jahrhundert von der Auflösung dreier entscheidender Grenzen gekennzeichnet: der zwischen Mensch und Tier, der zwischen dem Physischen und dem Nicht-Physischen (Mikroelektronik etc.) und der zwischen Organismus und Maschine. Zu letzterer schreibt Haraway:

Late twentieth-century machines have made thoroughly ambiguous the difference between natural and artificial, mind and body, self-developing and externally designed, and many other distinctions that used to apply to organisms and machines. Our machines are disturbingly lively, and we ourselves frighteningly inert. (Haraway 1990: 193f)

'Wir' sind jedoch nicht nur 'inert'. Es existiert heute eine Vielzahl von Bewegungen, die ihrerseits aktiv die Verbindung von Mensch und Maschine anstreben. Der von Max More begründete Extropianismus ist eine dieser 'transhumanistischen' Philosophien. In seinen Grundsätzen heißt es:

Für uns stellt die Menschheit nur ein Übergangsstadium im Prozess der Evolution von Intelligenz dar und wir befürworten den Einsatz von Technik, um unseren Übergang vom menschlichen zum transhumanen oder posthumanen Zustand zu beschleunigen. [...] Wir wollen die traditionellen, biologischen, genetischen und intellektuellen Grenzen, die unseren Fortschritt einschränken, überschreiten. [...] Wir werden [...] schließlich in einer posthumanen Symbiose mit unserer intelligenten Technik leben, was unsere Möglichkeiten vervielfachen und unsere Freiheit erweitern wird. (More 1998)9






PhiN 57/2011: 24


Ob man derartige Visionen teilt oder nicht – nicht nur im Hinblick auf das zunehmende 'Menschwerden' der Maschinen, sondern auch angesichts der Tatsache, dass die Menschen durch Fortschritte in der Medizin (Prothesen, künstliche Organe, Schönheitschirurgie etc.) und der Medientechnologie (Virtual Reality etc.), durch die Psychopharmakologie, die Gentechnik und vieles mehr immer enger mit der Technologie verflochten werden10 und sich die Vokabulare wissenschaftlicher Disziplinen wie der Human- und Neurobiologie auf der einen und der Kommunikationswissenschaft und Informatik auf der anderen Seite immer mehr vermengen, scheint ein Abschied bzw. eine Neubestimmung vom Konstrukt 'Mensch' unumgänglich. Ihab Hassan erklärt:

We need [...] to understand that the human form – including human desire and all its external representations – may be changing radically, and thus must be re-visioned. We need to understand that five hundred years of humanism may be coming to an end, as humanism transforms itself into something that we must helplessly call posthumanism. (Hassan 1977: 212)11

Dieses Verschwinden des 'Menschen' in der wechselseitigen Annäherung von Mensch und Maschine – deren entgegengesetzte Bewegungen im Turing- und Moravec-Test ihr jeweiliges Sinnbild finden (vgl. Hayles 1999: xif) – muss laut Donna Haraway, Norbert Bolz und anderen jedoch nicht betrauert werden. Ganz im Gegenteil. Schon Michel Foucault hatte auf den letzten Seiten seines Werks Die Ordnung der Dinge diagnostiziert, "daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", und in einer Rhetorik der Verheißung prophezeit, "daß etwas Neues zu beginnen im Begriff ist, von dem man erst einen leichten hellen Streifen unten am Horizont wahrnimmt" (Foucault 1974: 462, 459f). In ähnlicher Weise sieht Norbert Bolz im klassischen Humanismus "die stärkste Fessel des Denkens, die uns heute daran hindert, ein vernünftiges Verhältnis zu einer Umwelt zu entwickeln, die von Mikroelektronik und Computertechnologie, Informatik und Telekommunikation geprägt ist" (Bolz 1994: 141). Für ihn steht fest: "Menschliche Wesen werden sich erst dann frei, individuell und vielfarbig entfalten können, wenn sie den Bann des humanistischen Menschenbildes gesprengt haben" (ebd.: 138). Auch Donna Haraway feiert die Überwindung des Humanismus und schreibt dem Posthumanismus, als dessen Verkörperung der von ihr beschriebene 'Cyborg' gelten kann, ein enormes emanzipatorisches Potential zu.12 In ihrer Cyborg-Kreatur, die das Konstrukt des 'Menschen' ersetzt, ist die Grenze zwischen Mensch und Maschine aufgehoben: "A cyborg is a cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, a creature of social reality as well as a creature of fiction." (Haraway 1990: 191) Der Cyborg reißt alle wesentlichen die philosophische Tradition des Abendlandes bestimmenden Dichotomien nieder – Körper und Geist, Organismus und Maschine, Natur und Kultur usw. – und lehnt jede Form der Vereinheitlichung von Identität zugunsten von Heterogenität und Wandelbarkeit ab: "The cyborg is a kind of disassembled and reassembled, postmodern collective and personal self" (ebd.: 205). "[I]t does not seek unitary identity and so generates antagonistic dualisms without end (or until the world ends); it takes irony for granted. One is too few, and two is only one possibility" (ebd.: 222). Der Cyborg nähert sich somit dem Ideal vom schizo- bzw. polyphrenen Subjekt der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari an, die sich in der von ihnen entfalteten 'Schizo-Analyse' daran machen, "die Illusion des Ich" zu zerstören, denn: "jeder ist eine Kleinstgruppe und muß so leben" (Deleuze/Guattari 1977: 401, 470). Wie das schizophrene Subjekt sprengt auch der Cyborg die festen Geschlechtergrenzen und befreit das libidinöse Begehren aus seinem gesellschaftlichen Korsett: "Cyborgs might consider more seriously the partial, fluid, sometimes aspect of sex and sexual embodiment." (Haraway 1990: 222) "The cyborg is a creature in a postgender world; it has no truck with [...] seductions to organic wholeness through a final appropriation of all the powers of the parts into a higher unity" (ebd.: 192).




PhiN 57/2011: 25


Wie bei Deleuze und Guattari, an deren Konzept des organlosen Körpers dieses Bild der Fragmentierung erinnert, geht es also auch hier um die Freisetzung der fest codierten und territorialisierten Wunschströme. Die technologische Umgestaltung des menschlichen Körpers erscheint demnach als emanzipatorisches Mittel zur postmodernen Pluralisierung von Identität und zur Transgression der fixen Grenzen vorgegebener Formen von Geschlechtsidentität und Sexualität. Obwohl Cunninghams anthropomorphisierte Roboter weiblich wirken, macht eine solche Bestimmung in Bezug auf ihre künstlichen Körper keinen Sinn.13 Vielmehr muss das dargestellte lesbische Begehren – als gesellschaftlich marginalisiertes – als Metonymie eines von jeglicher Form sozialer Regulation befreiten Begehrens gelesen werden. Die Endsequenz des Clips zeigt demnach, im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne, Deleuzesche und Guattarische 'Wunschmaschinen', die ungezügelt produzieren und deren Ströme ungehemmt fließen (auch dies angesichts der immer wieder eingeblendeten Flüssigkeit sowohl wörtlich wie übertragen verstanden). Mit den beiden französischen Philosophen gesprochen sind hier die gesellschaftlichen Einschreibungen bis an eine absolute Grenze decodiert, "die die Ströme in freiem Zustand über den desozialisierten organlosen Körper fließen läßt" (Deleuze/Guattari 1977: 316). Zugleich erinnert die Sequenz an das Lacansche Konzept der jouissance. Das Küssen der zwei Androiden, ihre intimen Berührungen, die angedeutete anale Penetration durch die Greifarme der Arbeitsmaschinen (vgl. Abb. 4)14 und der ausgedehnte Moment des Innehaltens und des gegenseitigen Ansehens (vgl. Abb. 5) verweisen hier auf eine Verbindung der oralen, genitalen und analen Phasen und des seit dem Spiegelstadium lustbesetzten Blicks.15



Abb. 5: Cunningham, "All Is Full of Love" (Quelle: Björk.Com [unit.bjork.com/specials/gh/SUB-01/index.htm])





PhiN 57/2011: 26



Damit zeigt die Sequenz einen Zustand maximalisierten Lustgewinns an, der über die Grenzen der symbolischen Ordnung hinaus zu einem Jenseits des Lustprinzips drängt, da dieses vom Subjekt stets eine Einschränkung und Regulierung des Begehrens fordert. Die Liebesszene repräsentiert also einen Vorstoß zum Genießen, das heißt zum Schwelgen in der unmittelbaren Befriedigung eines absoluten Begehrens. Cunninghams Androiden können somit als Harawaysche Cyborg-Kreaturen verstanden werden, die die herrschenden Geschlechtsnormen subversiv auf eine trans- bzw. postgender world hin überschreiten, in der multiple Identitäten und vielfältige Konfigurationen des – befreiten – Begehrens möglich sind. Das Video impliziert, dass die Zerrüttung der vormals festen Grenze zwischen Mensch und Maschine und der damit einhergehende Abschied von der humanistischen Konzeption des Menschen das Potential für eine transformative Politik eröffnen; ganz im Sinne Donna Haraways, die schreibt: "[M]y cyborg myth is about transgressed boundaries, potent fusions, and dangerous possibilities which progressive people might explore as one part of needed political work." (Haraway 1990: 196)

Zu diesen zu erforschenden Vereinigungen gehört auch die zwischen Mensch und Tier. Haraway erklärt:

By the late twentieth century in United States, [sic] scientific culture, the boundary between human and animal, [sic] is thoroughly breached. The last beachheads of uniqueness have been polluted, if not turned into amusement parks – language, tool use, social behavior, mental events. Nothing really convincingly settles the separation of human and animal. (Ebd.: 193)

Mit dieser Feststellung des Verschwimmens der Grenzen nicht nur zwischen Mensch und Maschine, sondern auch zwischen Mensch und Tier rückt Haraways Cyborg-Theorie in die Nähe des ecocriticism (vgl. hierzu Garrard 2004: 148), der ebenfalls auf die Nichtexistenz einer Mensch und Tier eindeutig trennenden insuperable line hingewiesen hat. Wie im Falle der historischen Wandlung des Kriteriums zur Unterscheidung von Mensch und Maschine macht auch die wiederholte Neudefinition dieser Linie – entlang ganz ähnlicher Kriterien, wie dem Besitz einer Seele oder existentieller Freiheit, der Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen oder zu sprechen – deutlich, dass eine absolute Differenz zwischen dem Humanen und dem Nicht-Humanen nicht existiert, sodass diese Kategorien ineinander überzugehen beginnen. In den Worten Greg Garrards: "[I]t betrays an anxious, self-defeating need to construct and continually reinforce a difference that nature has not supplied" (ebd.: 143). In ähnlicher Weise hat auch der einflussreiche italienische Philosoph Giorgio Agamben von einer 'anthropogenen' bzw. 'anthropologischen Maschine' des Humanismus gesprochen. Ihm zufolge ist der Homo sapiens "weder eine Substanz noch eine klar definierte Gattung: Die Formel ist eher eine Maschine oder ein Artefakt, um die Erkenntnis des Humanen zu produzieren." (Agamben 2003: 37) Agamben stellt sich das Tier als "das immanente Andere des Menschen [dar], das erst durch die 'anthropologische Maschine' von jenem geschieden [wird]" (Hartle 2004). Er schreibt:

Die Teilung des Lebens in [...] animalisches und humanes Leben durchzieht [...] wie eine bewegliche Grenze vornehmlich das Innere des Menschen, und ohne diese innerste Zäsur wäre die Entscheidung darüber, was menschlich und was nicht menschlich ist, wahrscheinlich nicht möglich. (Agamben 2003: 26)






PhiN 57/2011: 27


In Donna Haraways Cyborg ist diese Zäsur aufgehoben: "The cyborg appears in myth precisely where the boundary between human and animal is transgressed. Far from signaling a walling off of people from other living things, cyborgs signal disturbingly and pleasurably tight coupling." (Haraway 1990: 193) Wie die Verschmelzung von Mensch und Maschine, ist auch die von Mensch und Tier immer häufiger in den Diskursen der Popkultur zu finden. So zum Beispiel in den Musikvideos zu Björks Songs "Hunter" und "Alarm Call" oder in dem großartigen Clip zu "Butterfly Caught" von Massive Attack (2006), in dem sich der Protagonist langsam in einen flügellosen Totenkopfschwärmer verwandelt (vgl. Abb. 6).




PhiN 57/2011: 28


Abb. 6: Levi, "Butterfly Caught" (Screenshot-Aufnahmen)



Das von dem Südafrikaner Daniel Levi inszenierte Video ist wie das zu "All Is Full of Love" zutiefst 'unheimlich' im Freudschen Sinne, wobei der Eindruck des Unheimlichen hier – in Analogie zu Cunninghams Werk – auf die Wiederkehr des verdrängten Gefühls der Verwandtschaft mit dem Nicht-Humanen und die daraus resultierende Verunsicherung über den Status des Menschlichen zurückzuführen ist. Hinzu kommt, dass die starke technische Verfremdung der menschlichen Stimme und die überwiegend elektronische Musik des Stücks zugleich auf die verschwommene Grenze zwischen Mensch und Maschine verweisen.16 Eine solche, hier bloß angedeutete, gleichzeitige Vereinigung des Menschen mit seinen beiden 'Anderen', der Maschine und dem Tier, setzt Chris Cunningham in seiner Videoinstallation "Monkey Drummer" ins Bild (2006; vgl. Abb. 7).

Die aus einem Affenkopf, einer hydraulischen Wirbelsäule und menschlichen Extremitäten (sechs Arme, zwei Beine) zusammengesetzte Schlagzeuger-Kreatur kann als Sinnbild einer radikalen Cyborg-Politik gelten, der es um die Realisation einer anderen Gesellschaft geht: "[A] cyborg world", so Donna Haraway, "might be about lived social and bodily realities in which people are not afraid of their joint kinship with animals and machines, not afraid of permanently partial identities and contradictory standpoints." (Haraway 1990: 196)






PhiN 57/2011: 29


Abb. 7: Cunningham, "Monkey Drummer" (Screenshot-Aufnahme)

Der überaus groteske Charakter von Cunninghams Figur – man denke nur an die Bewegungen des Affenkopfes oder den Drumstick an der Stelle des Penis – und ihre betonte Künstlichkeit verleihen dem Clip allerdings einen ironischen Unterton, der eine derartige utopische Vision gleichzeitig auch in Frage stellt.17

Dennoch zeigt "Monkey Drummer" ebenso wie "All Is Full of Love" und die anderen in dieser Untersuchung erwähnten Werke, dass die Identität des Menschen als Gattung heute zunehmend abgetragen wird in Richtung eines posthumanen Zustandes, in dem der Mensch sich auf seine Verwandtschaft mit der Maschine (und dem Tier) einlässt und so aufhört, im humanistischen Sinne 'Mensch' zu sein. Ein solcher Zustand, so suggerieren es die dargestellten Cyborg-Wesen, birgt ein enormes transformatives Potential, da er die Konstruktion neuartiger Identitäten und die Bildung neuer Formen des Begehrens ermöglicht.


Bibliographie

Agamben, Giorgio (2003): Das Offene: Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Austerlitz, Saul (2007): Money for Nothing: A History of the Music Video from the Beatles to the White Stripes. New York: Continuum.

Björk (2002): "All Is Full of Love" (Regie: Chris Cunningham), in: Greatest Hits: Volumen 19932003. DVD. One Little Indian.

Bolz, Norbert (1994): "Für eine posthumane Kultur", in: Kuhlmann, Andreas (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt am Main: Fischer, 133–154.




PhiN 57/2011: 30


Caygill, Howard (2000): "Surviving the Inhuman", in: Brewster, Scott et al. (Hg.): Inhuman Reflections: Thinking the Limits of the Human. Manchester: Manchester UP, 217–229.

Cunningham, Chris (Regie) (2003): "Monkey Drummer", in: The Work of Director Chris Cunningham. DVD. Palm Pictures.

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Derrida, Jacques (1989): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Evans, Dylan (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant.

Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Freud, Sigmund (1978): "Das Unheimliche", in: Gesammelte Werke, Bd. XII (hg. von Anna Freud). Frankfurt am Main: Fischer, 229–268.

Garrard, Greg (2004): Ecocriticism. London: Routledge.

Haraway, Donna (1990): "A Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s", in: Nicholson, Linda J. (Hg.): Feminism/Postmodernism. New York: Routledge, 190–233.

Hartle, Johan (2004): "Grenzen des Sagbaren: Giorgio Agamben. Ein Radioessay", in: Deutschlandradio, 18. Februar. [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/239719/, 24.02.2011]

Hassan, Ihab (1977): "Prometheus as Performer: Toward a Posthumanist Culture?", in: Benamou, Michel / Caramello, Charles (Hg.): Performance in Postmodern Culture. Madison: Coda Press, 201–217.

Hayles, N. Katherine (1999): How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago: The U of Chicago P.

Heiser, Jörg (2004): "Mein Kopf steht in Flammen, doch mein Herz ist voller Glück", in: Görner, Veit / Wagner, Hilke (Hg.): Chris Cunningham: Come to Daddy. Hannover: Kestnergesellschaft, o.S.

Herbrechter, Stefan (2009): Posthumanismus: Eine kritische Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Karnik, Olaf (2004): "Transhumane Körper und Bilder wie Beats", in: Görner, Veit / Wagner, Hilke (Hg.): Chris Cunningham: Come to Daddy. Hannover: Kestnergesellschaft, o.S.




PhiN 57/2011: 31


Keazor, Henry / Wübbena, Thorsten (2007): Video thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen. Bielefeld: transcript.

Lacan, Jacques (1973): "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint", in: Schriften, Bd. I (hg. von Norbert Haas). Olten: Walter, 61–70.

Lang, Hermann (2000): Strukturale Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Laplanche, J. / Pontalis, J.-B. (1973): Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Lauretis, Teresa de (1980): "Signs of Wo/ander", in: Lauretis, Teresa de / Huyssen, Andreas / Woodward, Kathleen (Hg.): The Technological Imagination: Theories and Fictions. Madison: Coda Press, 159–174.

Lyotard, Jean-François (1989): Das Inhumane: Plaudereien über die Zeit. Wien: Passagen.

Massive Attack (2006): "Butterfly Caught" (Regie: Daniel Levi), in: Collected. Dual Disc DVD Layer. Virgin Records.

Meier, Julia (2004): "La vie crie à la mort (Das Leben schreit um den Tod)", in: Görner, Veit / Wagner, Hilke (Hg.): Chris Cunningham: Come to Daddy. Hannover: Kestnergesellschaft, o.S.

More, Max (1998): "Die extropischen Grundsätze", in: De:Trans – Deutsche Gesellschaft für Transhumanismus. [http://www.detrans.de/infothek/grundsatz/extropische-grundstze.html, 24.02.2011]

Mori, Masahiro (1970): "The Uncanny Valley", in: Energy 7.4, 33–35.

Shaviro, Steven (2002): "The Erotic Life of Machines", in: parallax 8.4, 21–31.

Spielmann, Yvonne (2005): Video: Das reflexive Medium. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Turkle, Sherry (1998): Leben im Netz: Identitaet in Zeiten des Internet. Reinbek: Rowohlt.

Wagner, Hilke (2004): "Chris Cunningham: Clip-Kunst und Kunst-Clips", in: Görner, Veit / Wagner, Hilke (Hg.): Chris Cunningham: Come to Daddy. Hannover: Kestnergesellschaft, o.S.

Weibel, Peter (2004): "Die algorithmische Revolution: Zur Geschichte der interaktiven Kunst", in: Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. [http://www.zkm.de/algorithmische-revolution/, 24.02.2011]


Anmerkungen

1 Obwohl sowohl Hilke Wagner (2004) als auch Julia Meier (2004) in ihren Ausführungen zu dem Clip auf das Spiegelstadium verweisen, versäumen es beide, daraus eine gründliche, überzeugende Analyse zu entwickeln.

2 Vgl. Evans 2002: 81: "Die duale Beziehung ist immer durch [die] Illusion von Ähnlichkeit, Symmetrie und Gegenseitigkeit gekennzeichnet." Alle diese Aspekte finden sich in Cunninghams Video.

3 In seinem Video zu dem Stück "Afrika Shox" von Leftfield hat Cunningham diesen Ich-Zerfall auf eindringliche Weise in Bilder gefasst.





PhiN 57/2011: 32

4 Yvonne Spielmann interpretiert Cunninghams Musikvideo aus medientheoretischer bzw. -geschichtlicher Perspektive. Für sie steht fest, "daß der Videoclip [...] thematisch das im narzißtischen Grundmotiv der Spiegelung vorliegende Prinzip des Falsch-Erkennens im geschlossenen System auf eine technologische Stufe hebt, die durch Reduplikation von Maschinenkörpern eine faktische Selbst-Gleichheit herausstellt. Dadurch wird [– so ihre entscheidende These –] das Kommunikationsprinzip einer narzißtischen Spiegelung, welches auf einem (simulierten) Dialog/Austausch von Ähnlichem beruht, ersetzt durch das Kommutationsprinzip, das die – endlose – Zirkulation von 'Senden' und 'Empfangen' in der Dissimulation anzeigt." (Spielmann 2005: 113f)

5 Lacan hat für derartige Innen-Außen-Verhältnisse den Neologismus 'Extimität' geprägt.

6 Vgl. Weibel 2004.

7 In Cunninghams Video wird der Mensch vollkommen ausgeblendet. In der Maschinenwelt des Clips erzeugen Maschinen andere Maschinen, in einem Raum, der – die Anfangs- und Endsequenzen, in denen sich die Kamera erst auf den Ort der Konstruktion zubewegt und dann wieder davon entfernt, machen dies deutlich – selbst Teil einer Maschine zu sein scheint.

8 Man denke beispielsweise an die gesellschaftlichen Debatten um Gentechnik, Stammzellforschung und den rechtmäßigen Zeitpunkt eines Schwangerschaftsabbruchs oder die (postkoloniale) Kritik am Menschenrechtsdiskurs.

9 N. Katherine Hayles, Neil Badmington und zahlreiche andere haben unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass vermeintlich posthumanistische Ansätze allzu oft den Grundwerten des humanistischen Paradigmas verhaftet bleiben. Hayles spricht in diesem Zusammenhang von einem "lethal […] grafting of the posthuman onto a liberal humanist view of the self" (1999: 286f).

10 Teresa de Lauretis schreibt hierzu: "Technology is now, not only in a distant, science fictional future, an extension of our sensory capacities; it shapes our perception and cognitive processes, mediates our relationships with objects of the material and physical world, and our relationships with our own or other bodies." (Lauretis 1980: 167)

11 Bereits William Gibsons einflussreicher Cyberpunk-Roman Neuromancer endet mit der Entstehung einer neuartigen Mensch-Maschine-Beziehung, die als posthuman bezeichnet werden kann. Für eine gelungene Analyse des Romanendes hinsichtlich dieser Thematik vgl. Caygill 2000: 226ff.

12 Als Gegenpol zur hier diskutierten Harawayschen Perspektive sei an dieser Stelle auf die Position Jean-François Lyotards (1989) verwiesen. Auch dieser lehnt den Humanismus ab, sieht aber die Technologie wie den Kapitalismus als rationalistische, inhumane Systeme, denen es sich mittels einer anderen Art des Inhumanen, nämlich der wesentlichen Unbestimmtheit und Offenheit des Menschen, zu widersetzen gilt.

13 Die blauen bzw. die roten Lichter in den Köpfen der beiden Androiden ließen sich mit Keazor und Wübbena im Rahmen konventioneller Farbzuweisungen als Symbole für Männlichkeit und Weiblichkeit deuten, was im Hinblick auf ihre weibliche Physis die Unzulänglichkeit von Geschlechtskategorien zur Beschreibung der Maschinenwesen zusätzlich unterstreichen würde (vgl. Keazor 2007: 369).

14 Das geschlossene, Kreislauf-artige System der Schlussszene kann auch als Metapher für die Situation des (post-)modernen Menschen gelesen werden, der "nicht mehr Souverän der Daten, sondern [...] selbst in Feedback-Schleifen eingebaut" ist und so vom "Werkzeugbenutzer" zum "Schaltmoment im Medienverbund" (Bolz 1994: 151) wird.

15 Im Rahmen der Theorie Jacques Lacans, auf die hier Bezug genommen wird, lässt sich der bewusst hervorgehobene Blick des Androiden auch als auf einer Metaebene angesiedelter Kommentar zur Rolle des Clips – bzw. des Mediums Video/Film ganz allgemein – in der Befriedigung des Begehrens der 'sehenden' Zuschauer deuten.

16 In diesem Zusammenhang ist auch die Gestaltung des CD-Covers von 100th Window – dem Album, auf dem "Butterfly Caught" erstmals veröffentlicht wurde – äußerst interessant. Das dargestellte Zerbersten der menschenförmigen Glasfigur kann in Anlehnung an die hier gemachten Ausführungen als Metapher für die von den Künstlern betriebene Auflösung der fragilen humanistischen Konzeption des Menschen gelesen werden.





PhiN 57/2011: 33

17 Aus dieser Perspektive ließe sich Cunninghams Installation auch als bewusste Ironisierung des Cyborg-Diskurses und somit als ernüchternder Kommentar auf die posthumanistischen Utopien der 80er und 90er Jahre lesen.