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Marcus Steinbrenner (Luzern)



Markus Messling und Ute Tintemann (Hg.) (2009): "Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache". Zur Sprachlichkeit des Menschen. München: Wilhelm Fink.



Die Sprachlichkeit des Menschen als (Bildungs-)Aufgabe

Die 13 Beiträge des Sammelbandes gehen auf eine Tagung an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Oktober 2007 zurück. Der Band ist optisch sehr ansprechend und sorgfältig gestaltet und dem Berliner Romanisten und Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant gewidmet, der auch durch einen eigenen Beitrag mit dem Titel Über das Ende der Sprache vertreten ist. Passend zu diesem Titel wurde auch die Umschlagabbildung von Martin Kippenberger Das Ende des Alphabets ausgewählt. Trabants Beitrag und der Aufsatz von Brigitte Jostes Einsprachigkeit – Skizze eines unpopulären Forschungsprogramms rahmen die weiteren Beiträge, die alle um das titelgebende Zitat von Wilhelm von Humboldt Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache kreisen und es aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Das Zitat stammt aus der ersten Rede Humboldts vor der Berliner Akademie im Jahr 1820. Dieser durchweg deutlich erkennbare rote Faden ist neben der prägnanten Kürze und der klaren und gut lesbaren Sprache fast aller Beiträge, der wohl auch auf ihren Vortragscharakter zurückgeht, besonders hervorzuheben. Dies ist nicht selbstverständlich für einen Sammelband mit Festschriftcharakter und macht das Buch auch für ein größeres Publikum, das am aktuellen Diskurs über Sprache interessiert ist, zugänglich. Über weite Strecken handelt es sich hier um wissenschaftliche Prosa im Sinne Humboldts. Der Band lässt sich gut in einem Zug lesen, wobei man einen differenzierten und vertieften Einblick in die sprachphilosophischen, sprachwissenschaftlichen und sprachpolitischen Implikationen des Humboldtzitats und des mit ihm verbundenen Sprachdenkens gewinnt, das auch im Zentrum der Arbeiten von Jürgen Trabant steht.

In den beiden aus meiner Sicht rahmenden Beiträgen von Trabant und Jostes werden essayistisch und auf erfrischend unkonventionelle Weise durchaus kontroverse sprachtheoretische und sprachpolitische Positionen entworfen und vertreten. Jürgen Trabant reflektiert Über das Ende der Sprache – allerdings nicht im Sinne einer Voll-Endung, wie Humboldt dies getan hat, sondern im Sinne eines Niedergangs.




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In einem kurzen Überblick zeigt er auf, wie sprachskeptisches, ja sprachfeindliches Denken schon immer einen großen Einfluss in unserer Kultur- und Geistesgeschichte hatte und stellt diesem Denken das Sprachdenken Humboldts pointiert entgegen, in dessen Zentrum die Auffassung von Sprache als dem "bildenden Organ des Gedankens" steht, durch das (geistige) Reflexion und (körperliche) Artikulation miteinander verbunden werden. Dieser Prozess ist immer auch individuell bestimmt und diese Individualität führt zu Verschiedenheiten und Vielfalt, die Humboldt allerdings nicht als Gefahr oder Bedrohung, sondern als Potenzial sieht, das Freiheit, kreative Neuschöpfungen und eine Erweiterung der Weltansichten ermöglicht. Indikatoren für den Niedergang der Sprachlichkeit im Humboldtschen Sinne sind für Trabant u.a. der dramatische Rückgang der Anzahl der gesprochenen Sprachen und der Rückgang der Anzahl der vollausgebauten Hoch- und Kultursprachen, die sich durch den Einfluss des globalen Englisch immer mehr zu auf private Kontexte bezogenen Vernakularsprachen entwickeln – dies gilt auch für die deutsche Sprache. Weitere Indikatoren sind die Dominanz von Musik und Bildern in den Neuen Medien, das Verschwinden von Sprache in Teilen v.a. der männlichen Jugendkultur und eine zunehmende Dominanz der technisch-funktionalen und pragmatischen Dimension von Sprache zulasten der poetischen und künstlerisch-kreativen Dimension. Letzteres prägt auch die PISA-Erhebungen und die mit ihnen einhergehenden Bildungsreformen. Trabants Beitrag ist ein Essay und will auch als solcher gelesen werden. Die Gründe für den vermeintlichen Niedergang der Sprache werden argumentativ nicht weiter entfaltet und auch der Überblick über das europäische Sprachdenken bleibt kursorisch (vgl. hierzu ausführlich Trabant 2006 und 2008). Der Beitrag erfüllt seine Funktion als einleitender Essay aber voll und ganz, indem er engagiert für ein Sprachdenken im Sinne Humboldts eintritt und damit neugierig auf die Einzelbeiträge macht, in denen diese Gedanken weiter verfolgt und zum Teil vertieft werden.

Brigitte Jostes geht in ihrem Schlussbeitrag ähnlich pointiert und essayistisch vor, indem sie unter dem Titel "Einsprachigkeit" ein – nicht ganz ernst gemeintes – "unpopuläres Forschungsprogramm" entwirft. Die Romanistin outet sich zunächst selbst als zutiefst einsprachiger Mensch, skizziert dann den Forschungsstand einer "Einsprachigkeitsforschung", wobei sie immer wieder auf einen affektiven Zusammenhang zwischen Sprache und Wohnen bzw. Heimat stößt und umreißt schließlich "mögliche Felder der Einsprachigkeitsforschung". In diesem Abschnitt problematisiert sie das einseitige "Diktum der Nützlichkeit" und die Fokussierung auf direkt verwertbare kommunikative und mündliche Kompetenzen in fremdsprachlichen Bildungskonzepten. Humboldt ging es dagegen auch um die Auseinandersetzung mit alteritären sprachlichen Weltansichten und der spezifische Charakter einer fremden Sprache wurde für ihn erst durch das Studium der in ihr schriftlich verfassten Kultur und Literatur zugänglich. Abschließend problematisiert Jostes den aktuellen Hochwertbegriff Mehrsprachigkeit und zeigt mit plastischen Beispielen auf, dass man durchaus auch von einer Einsprachigkeit von Mehrsprachigen sprechen kann (z.B. der polyglotten globalen Wirtschafts- und Wissenschaftselite) – und dass Mehrsprachigkeit nicht unbedingt mehr Sprachlichkeit im Sinne Humboldts bedeutet.




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Jostes plädiert für eine "aufgeklärte Mehrsprachigkeit" und in diesem Sinn leistet ihr Beitrag auch eine Aufklärung dieses inflationär verwendeten und dabei häufig unreflektiert positiv konnotierten Begriffs.

Auf die weiteren Beiträge wird im Folgenden etwas kürzer eingegangen. Die Herausgeber gliedern sie insgesamt in zwei Sektionen. Die erste Sektion trägt den Titel Sprache – Bild – Erkenntnis. In ihr werden vor allem sprach- und erkenntnistheoretische Fragen verhandelt und die Sprache als Medium im Vergleich zu anderen Medien thematisiert.

Markus Messling, einer der Herausgeber, thematisiert in seinem Aufsatz Bild und Schrift Humboldts Kritik der ägyptischen Hieroglyphenschrift als einer Bilderschrift. Messling macht deutlich, dass Humboldt in seinen schrifttheoretischen Reflexionen vor allem die spezifische Leistung der Schrift(en) für die Kognition interessierte: In der unmittelbar gegenstandsfreien Formalität der Buchstabenschrift, die nicht an die "Macht der Erscheinungen" gebunden ist, liegen für ihn das Potenzial und die Kraft der Individuation und der Abstraktion zugleich. Die Schrift, in der wir schreiben, materialisiert, produziert und beeinflusst immer auch unser Denken und zwar als Individuum wie auch als individuelles Mitglied einer Schriftkultur – womit auch in diesem Beitrag grundlegende anthropologische Fragen angesprochen werden.

Horst Bredekamp wendet sich Wider die Bildangst der Sprachdominanz, die er als eine Gefahr eines Sprachdenkens in der Nachfolge Humboldts sieht und warnt davor, das Verhältnis von Bild und Sprache antagonistisch zu denken. An Bild-Text-Kompositionen aus der Wissenschaft und der Kunst zeigt er anschaulich auf, wie "die Lebendigkeit der Bilder als Produkt eines Bild-Sprache-Kreisels auftritt" (66). Gerade der Versuch, Bilder zu beschreiben und zu kommentieren, könne die Sprache zur Höchstform antreiben und dieses Zusammenspiel verdiente es genauer betrachtet zu werden, anstatt vorschnell das eine gegen das andere Medium auszuspielen. Für den Bereich der Bild-Text-Kompositionen kann man diesem Gedanken m.E. auch mit Humboldt, der ein Feind aller Antagonismen war, folgen. Zudem halte ich es für etwas forciert, ausgehend von wenigen Zitaten geradezu von einer "Bildangst" bei Humboldt zu sprechen.

Ganz im Gegensatz zu Bredekamp weist Tilman Borsche in seinem Beitrag Die Sprache als Medium der Medien (des menschlichen In-der-Welt-Seins) aus und versucht dabei zu zeigen, dass auch die bildenden Künste für uns nur Künste sind, indem sie vermittelt durch das Medium Sprache zu uns "sprechen". Borsche streift in seinem Beitrag auch die Sprachverwendung bei Humboldt selbst. Gerade das titelgebende Zitat Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache dürfe nicht als wissenschaftliche Definition, sondern nur unter Berücksichtigung seiner performativen Valenzen gelesen werden. Mensch und Sprache seien eben keine in sich abgeschlossenen und überzeitlich existierenden Gegenstände, die man problemlos von außen beschreiben könne.




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Dieses Problem wie auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von "Sprache und Kunst" werden in Borsches Beitrag, bedingt durch seine Kürze, allerdings nur angerissen und verdienten eine eingehendere Reflexion auch mit Bezugnahme zur aktuellen Fachliteratur zu diesen Themen.

Ähnlich in Stil und Stoßrichtung der Argumentation fragt Peter Bieri Was macht die Sprache mit uns? Seine Antwort lautet: "Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind. Bevor wir über Wörter und Sätze verfügen, sind wir blind den kausalen Kräften der Welt ausgesetzt und werden von ihnen herumgestoßen" (79). Das Verstehen bezieht Bieri auf vier Bereiche – die Welt verstehen, die Anderen verstehen, sich selbst verstehen und sich schreibend verstehen –, wobei er sehr prägnant anschauliche Phänomene für jeden Bereich skizziert und immer wieder auf die Bedeutung der Literatur und der literarischen Sprache eingeht. Sein Beitrag endet mit einem engagierten Plädoyer für Humboldts Sprach- und Bildungsauffassung: "Doch wenn es um Bildung in dem reicheren Sinne geht, in dem sie kommunikative Begegnungen, Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung einschließt, ist die Sprache unverzichtbar" (90). Dieses Bildungsverständnis ist gegenwärtig – und hier folgt Bieri den Einschätzungen von Trabant und Jostes – gefährdet.

Auch für Gunter Gebauer ist Sprache für die Selbst- und Welterkenntnis zentral. In seinem Beitrag Aspektsehen. Über die Kreativität der menschlichen Sprache bezieht er sich auf die Sprachphilosophie vor allem des späten Wittgenstein, in deren Zentrum der Begriff des Sprachspiels steht. Gebauer zeigt auf, dass kompetentes Handeln in einem Sprachspiel vor allem zwei Fähigkeiten verlangt: "das Erkennen der Perspektiven der anderen Spieler und das Sehen neuer Aspekte einer Spielsituation, das kreative neue Spielzüge ermöglicht" (92). Beide Fähigkeiten werden im Verlauf des Beitrags mit Bezugnahme auf klassische und aktuelle Sprachtheorien entfaltet. Insbesondere das "Aspektsehen" ermögliche dem Menschen anstelle einer starren Betrachtung seiner selbst, sich selber mit einem "Aspektwechsel" (sprach-)spielerisch immer wieder auch anders zu sehen.

Denis Thouard wirft in seinem Beitrag Philologie der Welt einen Blick zurück auf die Geschichte des Lesen- und Schreibenlernens, das in Europa von der Antike bis in das späte 18. Jahrhundert hinein eng an den Erwerb des Lateinischen gekoppelt war. Thouard zeigt auf, dass und wie diese "Schule der Philologie" mit ihren Begriffen, intellektuellen Praktiken und Techniken (lectio – emendatio – interpretatio – iudicium) unsere Wahrnehmung und Gestaltung der Welt als kulturelle Welt nachhaltig geprägt und beeinflusst hat. Entscheidend ist dabei eine Distanzierung von der unmittelbaren Sprachpraxis. Durch diesen Distanzierungsprozess wird die Welt für uns erst zu einer lesbaren und interpretierbaren Welt.




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Ergänzen könnte man hier noch, wie die aufgezeigte Geschichte des Lesen- und Schreibenlernens auch heute noch den Sprachenunterricht in einer durchaus auch ambivalenten und von den Akteuren z.T. nicht durchschauten Weise prägt und beeinflusst (vgl. hierzu u.a. Ivo 1994, 1999).

Sabine Marienberg knüpft in ihrem Beitrag Sprachbilder. Zum Verhältnis von funktioneller Bildgebung und sprachlicher Beschreibung an Gedanken von Bredekamp und Borsche an und behandelt ebenfalls das Verhältnis von Bild und Sprache. Marienberg wirft einen kritischen Blick auf die Verwendung bildgebender Verfahren in der modernen Hirnforschung, die maßgeblich zur Popularität und zur breiten Rezeption dieser Forschungsrichtung beigetragen haben. Sie zeigt überzeugend und unter Bezugnahme auf aktuelle Forschungsliteratur auf, dass die dabei produzierten bildlichen Darstellungen "keineswegs natürlich, sondern geprägt von vielfältigen Entscheidungen [sind], die in Abhängigkeit von Darstellungstraditionen, Darstellungsmitteln und Darstellungsinteressen vor und während des Herstellungsprozesses getroffen werden" (117). Sowohl im Hinblick auf das experimentelle Setting als auch in Bezug auf ihre Interpretation seien bildgebende Verfahren dabei insbesondere abhängig von der Sprache und von den jeweils vertretenen sprachtheoretischen Grundannahmen. Marienberg verweist dabei auf eine Arbeit, die fünf experimentelle Studien vergleicht, die sich mit der Lokalisation phonologischer Verarbeitung beschäftigen und dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, was zu einem guten Teil daran liege, dass sie alle unterschiedliche und eher vage Vorstellungen davon haben, was unter einem phonologischen Prozess überhaupt zu verstehen sei. Der Beitrag endet mit der gut begründeten These, dass sich mit einer linguistischen und einer neurowissenschaftlichen Darstellung nicht Sprache und Bild, sondern Aussagen bzw. Theorien über Verarbeitungsprozesse und deren bildliche Symbolisierung gegenüberstehen – also verschiedene aufeinander bezogene und gleichermaßen infrage stehende Gliederungen eines Gegenstands.

Die zweite Sektion des Sammelbandes trägt den Titel Sprache – Bildung – Gesellschaft. In ihr werden vor allem gesellschaftliche, pädagogische und ethische Implikationen von Humboldts Sprachdenken diskutiert, die auch schon in etlichen Beiträgen der ersten Sektion angesprochen und damit vorgespurt werden.

Im Gegensatz zu Borsche liest Konrad Ehlich in seinem Aufsatz "Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache". Bioethische Exkursionen zu den definitorischen Rändern eines philosophischen Gemeinplatzes das Humboldtzitat zunächst als Definition und fragt ausgehend davon kritisch, ob der Mensch, der nicht, noch nicht oder nicht mehr über Sprache verfügt, kein Mensch mehr sei. Ganz im Sinne einer Kritik unterscheidet Ehlich in seinem Beitrag zwischen dem Menschen als Gattung und als Individuum, zwischen wissenschaftlich-logischen und alltäglich-pragmatischen All-Quantifizierungen, zwischen der Sprache und den (Einzel-)Sprachen und schließlich zwischen Sprache und Kommunikation.




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Am Beispiel des Umgangs mit der Gebärdensprache und mit Migrantensprachen zeigt er das exklusorische Potenzial einer Definition des Menschen über seine Sprachlichkeit. In beiden Fällen wurde und wird auch noch häufig die eigene Sprache, die Sprache der Mehrheit zur eigentlichen Sprache gemacht und dadurch werden Menschen von der Teilhabe/Partizipation ausgeschlossen. Anstelle einer Soziobiologie, die soziale Strukturen oft biologistisch reduziert, plädiert Ehlich daher für eine Biosoziologie, die die soziale und "kulturelle Konstituierung der Gattung auch als einer biologischen Gattung" unterstreichen würde (137). Abschließend skizziert Ehlich unterschiedliche Formen des Verlustes von Sprache – aktuell ist hier vor allem an die zunehmende Zahl von Demenzkranken zu denken. Vor diesem Hintergrund sieht er das solidarische und kommunikative Handeln im Umgang gerade mit diesen Menschen als eine der großen positiven sozialen Erfahrungen und Errungenschaften unserer Gesellschaft als einer Solidargemeinschaft.

Auch Henri Meschonnic interessieren ethische Aspekte des Sprachdenkens. In seinem Beitrag Realismus, Nominalismus: Sprachtheorie ist Gesellschaftstheorie untersucht er die Wechselwirkung von Sprache, Poesie, Ethik und Politik. Mit Verweis auf Saussure zeigt er auf, dass in Bezug auf die Sprache immer nur verschiedene Standpunkte existieren können – Standpunkte allerdings mit erheblichen logischen, ethischen und politischen Konsequenzen. Ein Denken der Sprache als repräsentierendes Zeichen im Sinne des logischen Realismus setzt Meschonnic dabei mit einem Essentialismus gleich, der das Individuum gefährdet, das im Zentrum seiner eigenen ethischen Überlegungen steht. Ein (Extrem-)Beispiel hierfür sei die Sprache und das Sprachdenken Heideggers. Dementgegen stellt Meschonnic die Sprachlichkeit der hebräischen Bibel – ein spannender und anregender Gedanke, der aber mit den wenigen Beispielen nicht recht plastisch wird und vor allem für Leser und Leserinnen, die mit dieser Diskussion und diesen Kontexten nicht vertraut sind, etwas kryptisch bleibt.

Bettina Lindorfers Aufsatz "Parler, c'est assujettir": Ist die Sprache etwa faschistisch? ist hier – zumindest für mich als Leser – wieder einfacher zugänglich. Lindorfer bezieht sich darin auf Hélène Merlin-Kajmans Buch La langue est-elle fasciste? Langue, pouvoir, enseignement (2003). Merlin-Kajman sieht einen wesentlichen Grund für die Krise des Französischen darin, dass den Kindern über Jahrzehnte im Sprachunterricht ein negatives Bild ihrer Sprache als machtbehaftetes Medium vermittelt worden sei. Muttersprachlicher Unterricht habe heute in vielen Fällen die Form eines schizoiden Sprachproblematisierungsunterrichts und ein wesentliches theoretisches Fundament dieser Entwicklung sei die Barthessche Sprachtheorie – ein Gedanke, dem Lindorfer allerdings vehement und aus meiner Sicht auch begründet widerspricht. Ihr zufolge mündet Barthes' Sprachkritik "nämlich nicht in einer Verweigerung der Sprache, sondern im Gegenteil in die Arbeit an und mit der Sprache" (162). Ganz im Sinne einer "Lust am Text" gehe es mit Barthes auch darum, Sprache zu "spielen", "d.h. weder ihren Regeln und Normen 'nur' zu folgen noch sie zu zerstören oder sich ihr zu verweigern" (164).




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Wenn überhaupt, dann liege dem muttersprachlichen Französischunterricht eine stark verkürzende und vereinfachende Rezeption der Barthesschen Texttheorie zugrunde (vgl. zu einer fundierten Rezeption in der Deutschdidaktik Paefgen 1996). Damit bleibt aber die Frage offen, welche alternativen Gründe es für das negative Bild der Sprache im muttersprachlichen Französischunterricht geben könnte, wenn die Diagnose von Merlin-Kajman denn zutrifft. Leider fehlt in dem Sammelband ein Beitrag, der auch einen Blick auf den muttersprachlichen Unterricht und Fragen der sprachlichen Bildung in Bezug auf die Primar- und die Sekundarstufe in den deutschsprachigen Ländern wirft. Ein Vergleich wäre hier spannend, denn auch der Deutschunterricht durchlief ja eine Phase, in der Kritik an der Sprache als machtbehaftetes Medium eine wichtige Rolle spielte. Mit Barthes und mit Lindorfer lässt sich auf jeden Fall dafür argumentieren, Sprache im Sprachunterricht auch ausgehend von den Begriffen Lust und Spiel zu denken und dabei ein Bewusstsein für die eigene Sprachmächtigkeit zu wecken (vgl. hierzu exemplarisch das gerade neu erschienene Deutsch-Lehrwerk Die Sprachstarken).

Ute Tintemann legt in ihrem Beitrag Sprachkompetenz als Schlüssel zum Erfolg: Zur Sprachförderung im Elementarbereich den Fokus auf die sprachliche Frühförderung vor allem in den Kindergärten in Deutschland. Sie zitiert die bekannten Erkenntnisse aus der PISA-Studie, dass in keinem Land der Welt der Bildungserfolg von Kindern so sehr von der Herkunftsfamilie abhängt wie in Deutschland und dass die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in der Bildungskarriere darstellt. Tintemann versucht aufzuzeigen, dass dies nicht erst in der Schule, sondern bereits im Kindergarten grundgelegt wird. Ein Hauptgrund hierfür sei die Ablehnung von mit Schule verbundenen Lernformen und die Fokussierung auf mündliche und nähesprachliche Kompetenzen bei gleichzeitiger Vernachlässigung abstrakterer und distanzsprachlicher Verwendungsweisen, die doch gerade für den schulischen Erfolg maßgeblich sind. Es geht mithin um eine behutsame Anbahnung von Schriftlichkeit schon im Elementarbereich – wie diese jedoch konkret aussehen könnte, wird kaum ausgeführt. Zu Beginn ihres Beitrags thematisiert Tintemann "Sprache und Bildung bei Karl Philipp Moritz" (166f.). Für seinen Aufstieg sei es entscheidend, dass "es im Verlaufe seiner Kindheit und Jugend immer wieder Personen gab, die auf die Begabungen des Kindes aufmerksam geworden sind und die diese zu fördern suchten". Für die sprachliche Entwicklung und den schulischen Erfolg gerade von Kindern aus schriftfernen Milieus scheint ein enger personaler Bezug zu einzelnen Erwachsenen, die sie "entdecken" und die sie fordern und fördern von entscheidender Bedeutung zu sein – ein Modell, an das Förderkonzepte in der Praxis m.E. anschließen könnten (vgl. hierzu auch den Roman von Ulla Hahn Das verborgene Wort und dessen Interpretation bei Cloer 2005 sowie wiederum exemplarisch das Förderkonzept der Mentor-Leselernhelfer http://www.mentor- leselernhelfer.de/index.php).




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Den letzten und durchaus rahmenden Beitrag der Sektion Sprache – Bildung – Gesellschaft bildet der schon besprochene Aufsatz von Brigitte Jostes, der noch einmal grundsätzliche Fragestellungen der Sprachenpolitik und der sprachlichen Bildung thematisiert. Abgerundet wird der Sammelband durch ein sorgfältig gearbeitetes Personenregister, das seine Nutzung erleichtert.

In der Gesamtschau zeigen die Beiträge dieses Sammelbandes die Aktualität und das kritische Potenzial von Humboldts Sprachdenken insbesondere für die Sprachenpolitik und für Fragen der sprachlichen Bildung auf – dieser rote Faden überzeugt besonders. Mit Meschonnic / Saussure gilt freilich, dass in Bezug auf die Sprache immer nur verschiedene Standpunkte existieren. Wer den hier von den meisten Beiträgen vertretenen Standpunkt nicht teilt, mag den Beiträgen durchaus kritischer gegenüberstehen. Es ist aber ein Verdienst des Sammelbandes, diese mit bestimmten anthropologischen und normativen Grundauffassungen verbundene Linie des Sprachdenkens klar und pointiert herauszuarbeiten, überzeugend und engagiert zu vertreten und dabei auch kritische Stimmen (u.a. Bredekamp, Ehlich) zu Wort kommen zu lassen.

Sprache ist immer auch dadurch bestimmt, wie wir Sprache denken – und wie wir sie vor allem in Bildungskontexten theoretisch konzeptualisieren und praktisch modellieren (vgl. Steinbrenner 2007a, 2007b). Die Sprachlichkeit des Menschen ist im Kern eine Bildungsaufgabe (vgl. Ivo 1999). Dies wird in dem von Markus Messling und Ute Tintemann herausgegebenen Sammelband immer wieder deutlich. Insofern bleibt zu hoffen, dass er breit rezipiert wird von allen, die mit Sprachenpolitik und mit sprachlicher Bildung befasst sind.



Bibliographie

Cloer, Ernst (2005): "Zur Bildungsbedeutung familialer Enge-Erfahrungen. Erkundungen in der autobiographischen Literatur von Ulla Hahn", in: Literalität, Bildung und Biographie. Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Hg. von Jutta Ecarius und Barbara Friebertshäuser. Opladen: Barbara Budrich, 150–175.

Ivo, Hubert (1994): Muttersprache, Identität, Nation. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Ivo, Hubert (1999): Deutschdidaktik. Die Sprachlichkeit des Menschen als Bildungsaufgabe in der Zeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Lindauer, Thomas; Senn, Werner (u.a.) (2007f.): Die Sprachstarken 2–6. Deutsch für die Primarschule. Sprachbuch. Zug: Klett und Balmer. http://www. klett.ch/de/hauptlehrwerke/diesprachstarken/index/ [10.01.2011].




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Mentor-Leselernhelfer: http://www.mentor- leselernhelfer.de/index.php [10.01.2011]

Paefgen, Elisabeth K. (1996): Schreiben und Lesen. Ästhetisches Arbeiten und literarisches Lernen. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Steinbrenner, Marcus (2007a): "Freiheit und Bindung. Sprachlich-literarische Bildung und die Suche nach einem Denkrahmen für die Deutschdidaktik", in: Wirklichkeitssinn und Allegorese. Festschrift für Hubert Ivo zum achtzigsten Geburtstag. Hg. von Susanne Gölitzer und Jürgen Roth. Münster: Monsenstein und Vannerdat, 390–420.

Steinbrenner, Marcus (2007b): "Sprache denken. Eine Kritik an Jakob Ossners Kompetenzmodell", in: Didaktik Deutsch, 13, 23, 5–14.

Trabant, Jürgen (2006): Europäisches Sprachdenken: von Platon bis Wittgenstein. München: Beck.

Trabant, Jürgen (2008): Was ist Sprache? München: Beck.