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Martina Stemberger (Wien)



Tourismen, Terrorismen oder Die Unmöglichkeit einer Insel:
Die Neuvermessung der Welt nach Houellebecq



Tourisms, Terrorisms or The Impossibility of an Island: The Re-Measuring of the World according to Houellebecq
The narrative work of Michel Houellebecq testifies to a special sensibility for geographic, cultural and social spaces as well as for "le pouvoir poétique de la topologie" (Houellebecq). A vast meditation on the difficulty of 'inhabiting' the world, on changing urban topographies, on an essentially 'touristic' postmodern condition, on the restructuration of the globe's topology by a new international division of labour, new traffic systems and migration streams, but also on "cartographic narratives" (Schlögel) and on space as an object of artistic (re)creation, Houellebecq's œuvre proceeds to a radical 're-measuring' of the world, sketching a metaphorical cartography of post-postmodernity. This article traces a brief "topoanalysis" (Bachelard) of Houellebecq's texts and their particular "phantasmagorias of space" (Benjamin) – beginning with the depressive collapse of social spaces in Extension du domaine de la lutte (1994) and Les particules élémentaires (1998), continuing with the touristic-terroristic reconfigurations of a globalized world in Plateforme (2001) and the apocalyptic SF-vision of post- or 'neohuman' spaces in La Possibilité d'une île (2005), leading to the meta-spatial reflections in La carte et le territoire (2010), Houellebecq's latest novel.



1. Einleitung

Michel Houellebecq, "grand consécrateur de l'ère du vide", der seine Epoche als 'Medium' reflektiert, ja 'inkarniert' (Bardolle 2004: 47f.), hat eine ganze literarische Generation in Frankreich entscheidend geprägt. Sein Werk (ver-)stört, löst bei Kritik wie Publikum heftige Reaktionen aus; und dies nicht nur, weil Houellebecq, Meister der provokanten Selbst-Inszenierung, konsequent heikle ideologische Themen aufgreift.1 Über das Spiel mit der "ostentative[n] Verletzung jedweder political correctness" (Leopold 2005: 266) hinaus artikulieren sich in seinen Texten zentrale Ängste und Obsessionen der Gegenwart. Houellebecqs Œuvre, "univers romanesque […] délibérément en phase avec la mondialisation" (Laforest 2007: 265), zeugt von einer speziellen Sensibilität für kulturelle und soziale Räume, für "le pouvoir poétique de la topologie" (Houellebecq 2002b: 66), ja von einer "obsession spatiale" (Laforest 2007: 272);2 es ist als metaphorische Kartographie der (Post-)Postmoderne zu lesen, als Serie von Raum-Imaginationen, die – von Extension du domaine de la lutte (1994) über Les particules élémentaires (1998), Lanzarote (2000), Plateforme (2001) und La Possibilité d'une île (2005) bis hin zu La carte et le territoire (2010) – in sich 'topo-logisch' konstruiert ist. Im Folgenden soll eine knappe "Topo-Analyse" (Bachelard 2001: 35) der Werke Houellebecqs skizziert und dabei die Frage reflektiert werden, welche Auskünfte diese Texte über unser heutiges "Zeitalter des Raumes" (Foucault 2005: 931), über eine Epoche, in der "die Beunruhigung […] ganz fundamental den Raum betrifft und weit weniger die Zeit" (ebd.: 933), zu geben vermögen.




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2. Ausweitung der Kampfzone oder Raum-Katastrophen

Houellebecqs Protagonisten, triste Anti-Helden unserer Zeit, haben jede Spontaneität im Umgang mit physischen und sozialen Räumen verloren. "Spacingprozesse" aller Art und die damit verbundene "Inszenierungsarbeit" (Löw 2001: 208) sind ein quälend bewusster Akt, ob es nun um die Einrichtung einer Wohnung, die Platzwahl in Büro, Restaurant, Bus oder um transkontinentale Reisen geht. Die Figuren, obsessive Beobachter der "social morphology" des Raums (Lefebvre 1991: 94), begleiten ihr praktisches Scheitern mit elaborierten raumtheoretischen Reflexionen; schon zu Beginn seiner Thailand-Reise konstatiert der Protagonist von Plateforme, dass er, obwohl perfekt auf die spatio-psychologischen Bedingungen der Reise vorbereitet, sein "positionnement" (PL 43) im Raum der Gruppe verfehlt hat. Diese Figuren verfügen kaum (mehr) über die Fähigkeit, sich Räume anzueignen, ihnen 'einzuwohnen' (Sloterdijk 2006: 403f.). Sie haben kein Zuhause, das diesen Namen verdiente ("mon retour 'à la maison', si l'on peut dire", EXT 104), kein Haus, das "unser Winkel der Welt", ja ein "Kosmos" wäre (Bachelard 2001: 31). Innenarchitektonische Sorgen können zum Suizidgrund werden;3 den zynischen Kommentar zum eigenen raumgestalterischen Versagen liefert die Werbung, die samt dem richtigen Interieur auch gleich das richtige Leben verspricht.4 Selbstpositionierung im Raum wird zur komplexen strategischen Auseinandersetzung mit den subtilen Mechanismen der Inklusion und Exklusion, der 'Prohibition' als "the ultimate foundation of social space" (Lefebvre 1991: 35). Auch in Zonen der zeitlich und räumlich strikt limitierten 'Freiheit' herrschen die Gesetze des Marktes: In Diskotheken werden sexuelle und soziale Existenzen vernichtet;5 Swingerclubs sind Schauplätze einer libidinösen Konkurrenz, die mit dem Zentimeterband operiert; im mediterranen Nudisten-Paradies von Cap d'Agde, fragiler Heterotopie,6 haust man in einem 22m2-Studio (PE 215).7 Gerade vermeintlich alternative Freizeit-Räume sind hier Orte des kompetitiven Terrors, woran auch die spirituell verbrämte Raum-Meditation im New Age-Camp nicht viel ändern kann ("Circulez, rencontrez-vous dans l'espace; prenez le temps de vous rencontrer", PE 114).

Physische Anwesenheit bedeutet noch lange nicht Präsenz im sozialen Raum, wobei nicht einmal "die Aufenthaltsbedingung im Wohlstandsraum, Kaufkraftbesitz" (Sloterdijk 2006: 336) diese Präsenz garantiert. In völliger Isolation vegetieren jene, die den Kriterien des "Sexualdarwinismus" (Harms in Houellebecq 2006: 49) – nach Houellebecq die gleichen wie die des Nationalsozialismus, nämlich "[j]eunesse, beauté, force" (PI 72) – nicht genügen und insofern auf dem in L'Humanité, second stade8 problematisierten "marché du désir" (Houellebecq 2009: 166) von vornherein Verlierer sind; so Raphaël Tisserand, "[l]e personnage le plus tristement darwinien de Houellebecq" (Bellanger 2010: 28). Auch ein dickes und hässliches Schulmädchen namens 'Brigitte Bardot' mag sich physisch im Klassenzimmer befinden, gruppendynamisch betrachtet könnte sie auf dem Mars nicht weiter entfernt sein ("elle ne participait à rien du tout. Sur la planète Mars elle n'aurait pas été plus tranquille", EXT 88). Auch jene, die für ihre Zugehörigkeit bezahlt haben, werden marginalisiert – wie jener Außenseiter in der New Age-Kolonie, der aggressiv sein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Raum reklamiert und in die Psychiatrie abgeschoben wird (PE 130).




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Die zur Konstitution von Raum notwendige "Syntheseleistung" (Löw 2001: 159) scheint ständig bedroht; in einem "contexte de désenchantement global, témoignant d'une spatialisation de l'angoisse dépressive" (Laforest 2007: 266) wird Raum nur mehr "als 'Stückwerk' […] erfahren" (vgl. Löw 2001: 85).9 Systematisch werden urbane 'Mythologien' demontiert ("j'avais également renoncé […] à l'aventure urbaine. Paris pour moi n'avait jamais été une fête", PL 19910); aber auch der naive Anti-Urbanismus, der einen intakten sozialen Raum jenseits der Großstadt fantasiert, wird parodiert: "À Paris on peut crever sur place dans la rue, tout le monde s'en fout. Chez elle, dans le Béarn, ce n'est pas pareil. Tous les week-ends elle rentre chez elle, dans le Béarn" (EXT 27). Nur mit Mühe wird die Inszenierung spatialer 'Normalität' aufrechterhalten. Der Protagonist von Extension du domaine de la lutte, chronisch inkompetenter Leser des urbanen Textes Paris,11 'verliert' sein Auto in der Stadt; er kann sich nach einer Party nicht mehr erinnern, in welcher Straße der in ihrer Monotonie zugleich banalen und unheimlichen Metropole er es geparkt haben könnte: "toutes les rues me paraissaient convenir, aussi bien. La rue Marcel-Sembat, Marcel-Dassault… beaucoup de Marcel. Des immeubles rectangulaires, où vivent les gens. Violente impression d'identité. Mais où était ma voiture?" (EXT 8). Diese mangelnde Raumkompetenz erscheint als peinliches psychosoziales Defizit, das um jeden Preis verborgen werden muss: "Avouer qu'on a perdu sa voiture, c'est pratiquement se rayer du corps social; décidément, arguons du vol" (EXT 9). Vergeblich versucht er, die deprimierende Beliebigkeit eines fragmentarischen Raums zu überwinden; auf einer Michelin-Karte wählt er ein ihm unbekanntes Bergdorf, das er aufsuchen muss, um sein Leben in Ordnung zu bringen: "j'ai acheté la carte Michelin numéro 80 (Rodez-Albi-Nîmes). […] Vers dix-sept heures, une conclusion m'est apparue: je devais me rendre à Saint-Cirgues-en-Montagne. […] une révélation d'un ordre ultime m'attendait là-bas" (EXT 129). Überflüssig zu bemerken, dass auch diese Frontalattacke gegen die Kontingenz des Daseins scheitert.

Auch wenn "die Tachotechniken des 20. Jahrhunderts12 […] ein solches Maß an Distanzüberwindung zur Selbstverständlichkeit [haben] werden lassen, daß der Raum nun als eine fast vernachlässigbare Größe wahrgenommen wird" (Sloterdijk 2006: 392f.), erscheint transkontinentaler Evasionstourismus als nur mit massiver pharmazeutischer Unterstützung zu überstehende Tortur, wobei die Schlaf-/Wachphasen des sedierten Reisenden in Plateforme einen sarkastischen Kommentar zur Verfasstheit einer nach dem Grad der medialen Aufmerksamkeit vermessenen Welt liefern: Der Erzähler schläft über Ex-Ostdeutschland ein und erwacht, als man Tschetschenien eben hinter sich gelassen hat; über Afghanistan schluckt er ein zweites Schlafmittel, nachdem er den da unten 'in ihrem Dreck schmorenden' Taliban nicht ohne Zynismus eine gute Nacht gewünscht hat (PL 34f.). Raum ist zugleich Voraussetzung und Hindernis der touristischen Maschinerie; der einzig gute Raum ist "ein toter Raum" (Sloterdijk 2006: 394) oder auch ein "espace écrasé" (PI 55). Das Universum des 'posthumanistischen' Tourismus (Granger Remy 2007) strebt dem Ideal der totalen "time-space compression" zu, die ihrerseits Identitätskrisen provoziert (Harvey 2001: 123f.).




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Die fatale Entfremdung von Menschen, aber auch "des choses de ce monde" (EXT 8) ist ein Leitmotiv Houellebecqs. Seine Figuren, tätig in der Dienstleistungsbranche, umgeben von Dingen, die 'lügen', um ihren Ursprung zu verbergen (Lefebvre 1991: 81), kultivieren ihre Nostalgie der 'Produktion': "Qu'avais-je produit, moi-même, pendant mes quarante années d'existence? À vrai dire, pas grand-chose" (PL 88, vgl. auch PE 201f., PL 217f.); ihre Entfremdung kompensieren sie durch absurde Präzision in der Beschreibung fetischisierter Räume und Objekte – bezeichnenderweise oft touristischer Accessoires der tristen Nomaden der Postmoderne.13 In La Possibilité d'une île bleibt vom okzidentalen Mythos des industriellen Fortschritts nur mehr ein hilfloser westlicher Wohlstandsbürger übrig, allein in einer stillgelegten Metallurgie-Fabrik, in der die Bedienungsanleitung für die Maschinen nur auf Türkisch vorliegt (PI 13).

Die Protagonisten Houellebecqs, Angehörige der relativ privilegierten Mittelklasse, verfügen theoretisch über gute "Chancen, Raum zu konstituieren", soweit diese "abhängig von den Ressourcen Reichtum, Wissen, Hierarchie und Assoziation" sind (Löw 2001: 214f.). Aber die scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit von Welt erzeugt ihre eigene Paralyse: Bruno in Les particules élémentaires kommt als Student nach Paris, zieht in das vom Vater gekaufte Studio in Bestlage ein; es liegt nur an ihm, das ersehnte 'neue Leben' zu beginnen. Doch 'seine' Weltstadt reduziert sich rasch auf einen trostlosen bulimisch-onanistischen Parcours, der ihn Tag für Tag den Boulevard Saint-Michel entlang durch die immergleichen Fastfood-Lokale, Konditoreien und Pornokinos führt (PE 150f.).

Das Subjekt, "séparé du monde par quelques centimètres de vide, formant autour de lui comme une carapace ou une armure" (PE 86), "protégé du monde par une pellicule transparente, inviolable, parfaite" (EXT 99), erfährt die Haut, "zentrale[n] Metapher des Getrenntseins" (Benthien 1999: 7), als reale 'Grenze' ("Je ressens ma peau comme une frontière", EXT 156); es lebt wie in Zellophan verpackt – einsame, unbegehrte, traurig ihrem Ablaufdatum entgegensehende Ware im monströsen 'Supermarkt der Welt':14 "J'ai l'impression d'être une cuisse de poulet sous cellophane dans un rayon de supermarché" (EXT 99). Selbst Sexualität strebt dem Ideal der 'Unberührbarkeit' zu, das die Pariser SM-Avantgarde in ihren Clubs vorexerziert: "il n'y a plus aucun contact physique. Tout le monde porte des gants, utilise des ustensiles. Jamais les peaux ne se touchent" (PL 185).15 Aus diesem von totaler Isolation geprägten Raum, in dem keinerlei Kommunikation mehr möglich ist ("L'espace sépare les peaux. La parole traverse […] l'espace entre les peaux. Non perçus, dépourvus d'écho […] ses mots se mettaient à pourrir et à puer", PE 113), verlagern die Figuren die kümmerlichen Reste ihres Soziallebens zusehends in virtuelle Räume; Minitel rose ersetzt den Bordellbesuch, das Satellitenfernsehen den direkten Kontakt zur Welt: "Je n'étais pas malheureux, j'avais cent vingt-huit chaînes" (PL 23).16 Nachdem der "cocon familial" (PL 127), "le dernier îlot de communisme primitif au sein de la société libérale" (PE 116), zerstört wurde, ist das Individuum der "société de marché" (Houellebecq 1998: 63) schutzlos ausgeliefert. Die Sehnsucht nach diesen nicht mehr vorhandenen Intimräumen ("de petites places chaudes irradiées par l'amour. De petits espaces clos, réservés", PE 87f.)17 mündet bei diversen (männlichen) Protagonisten Houellebecqs in Hasstiraden gegen alles und alle, die für ihre Zerstörung verantwortlich scheinen (die 'sexuelle Befreiung', 'moderne Frauen' etc.). Für frustrierte Männer wird das weibliche Geschlechtsteil zum letzten Zufluchtsraum: "L'univers était lent et froid. Il y avait cependant une chose chaude, que les femmes avaient entre les jambes; mais cette chose, il n'y avait pas accès" (PE 61). Bruno in Les particules élémentaires taumelt verloren durch eine Welt, der nur weibliche Genitalien vag(inal)e Struktur verleihen ("il entama un parcours erratique […] il titubait, en quelque sorte, entre les vagins", PE 115). Nur Sex kann flüchtig die Illusion eines intakten, sinnlich lustvoll 'erfahrbaren' sozialen Raumes wieder herstellen; so auf einem orgiastischen Auto-Parcours durch Paris ("Elle jouit à peu près à la hauteur de la place d'Italie", PL 251). Entsprechend groß fällt die Aggression aus, wenn das temporäre Asyl in der Vagina verweigert wird: Bruno tötet als Teenager überaus symbolträchtig eine Katze, die ihm nicht beim Masturbieren zusehen will (PE 70f.), nachdem er das Geschlecht seiner nicht nur im Schlaf indifferenten Mutter Janine alias 'Jane' – "Janine, sa mère, qui s'était fait rebaptiser Jane" (PE 252) ist eine misogyne Karikatur, amerikanisierte Hippie-Version einer in jeder Hinsicht 'degenerierten' Jeanne d'Arc18 – betrachtet hat.




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Der Erzähler von Extension du domaine de la lutte, dessen Ex-Freundin – wenig schmeichelhaft als "un détritus entouré de papier glacé" (EXT 104) charakterisiert – ihn durch die Polizei der gemeinsamen Wohnung verweisen lassen wollte, bedauert, ihr nicht die Ovarien aufgeschlitzt zu haben (EXT 104f.). Für den alternden Protagonisten in La Possibilité d'une île wird die Abweisung seiner amourösen Avancen durch seine viel jüngere (Ex-)Geliebte zum Anlass, sich endgültig als sein eigener Klon in die Unsterblichkeit zu verabschieden. In nostalgischem Chauvinismus werden Frauen als Heldinnen der erotisierten Caritas beschworen: "les femmes étaient meilleures que les hommes […] plus caressantes, plus aimantes, plus compatissantes […] moins portées à la violence, à l'égoïsme, à l'affirmation de soi" (PE 164). Auf den sozialen und sexuellen "suicide occidental" (PE 237) reagiert kompensatorisch die Erotisierung 'exotischer' Räume; wenn die okzidentalen Vaginae ihm verschlossen bleiben, ist Bruno bereit, bis ans 'Ende der Welt', aber jedenfalls bis nach Bangkok zu reisen, um an eine "petite chatte" im Minirock zu kommen (PE 106). Bei der strategischen Vermarktung ferner Länder spielen die sexuellen Ressourcen eine immer größere Rolle, wobei die Reize 'exotischer' Frauen und Tiere – Safari- oder Sex-Destination? – gegeneinander abgewogen werden: "elles sont bonnes, les femmes au Kenya. […] Oui, mais des femmes tu en as partout. Au Kenya tu as quand même des rhinocéros, des zèbres, des gnous, des éléphants et des buffles" (PL 245).


3. Nouvelles Frontières oder Der Fluch des Touristen

Dem okzidentalen Subjekt auf der vergeblichen Suche nach 'neuen Grenzen' (der Name der Agentur 'Nouvelles Frontières' wird zum running gag) verkauft die Tourismusindustrie nicht nur streng nach Tarif bemessenes 'Glück' (PL 205), sondern auch die Illusion, ein 'Reisender' und nicht nur "un simple touriste" zu sein (PL 166). Der Tourismus, kollektives Evasionsunternehmen einer suizidalen okzidentalen Menschheit (PL 31), erscheint als sinn- und weitgehend freudloser 'Konsum' von Raum (Lefebvre 1991: 349), wobei diverse 'exotische' Reiseziele sich dem Fluchtpunkt der totalen Beliebigkeit nähern: "Anne reviendrait d'une expédition Nouvelles Frontières, à l'île de Pâques ou au Bénin, il ne se souvenait plus au juste" (PE 165). Michel in Plateforme, äußerst ambivalenter Tourist, fühlt sich von Beginn an als 'Trottel' in seiner Rolle ("Et maintenant j'étais là, seul comme un connard, à quelques mètres du guichet Nouvelles Frontières", PL 31). Während seine Reisegenossen sich am für touristische Zwecke präparierten "feast of authenticity" (Lefebvre 1991: 84) delektieren, einen naiven Fanatismus der exotischen couleur-coutume-cuisine locale kultivieren (PL 73), gibt er sich keinen Illusionen über die Authentizität seiner Erfahrungen hin: "'C'est un peu trop touristique…' Qu'est-ce qu'elle voulait dire par là? Tout est touristique. Je me retins une fois de plus de lui foutre mon poing sur la gueule" (PL 52). Der Roman Plateforme, der "von Anfang an im Zeichen des kulturell und ethnisch Anderen" steht (Leopold 2005: 256), ist eine einzige Illustration der "malédiction du touriste", der, voll Hass auf seinesgleichen,19 auf der frenetischen Suche nach dem 'Nicht-Touristischen', nach 'Authentizität' eben diese zum Verschwinden bringt (PL 299f.). Während der erste Teil des Romans den Helden als (wenn auch hyper-bewussten) Touristen vorführt, wechselt dieser im zweiten Abschnitt hinter die Kulissen: Über seine neue Partnerin, Tourismus-Managerin, gewinnt er Einblick in die "arcanes de l'industrie touristique" (Granger Remy 2007: 277) und die Marketing-Maschinerie hinter der kosmopolitischen Illusion ("Ouais, les moments magiques… fit Jean-Yves avec lassitude. […] N'oubliez pas de le mettre quelque part, 'moments magiques', bizarrement ça marche toujours", PL 169).




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4. Klaustrophobie im Kristallpalast oder Die Welt als Flughafen

Der Globus verwandelt sich dem von metaphysischer Klaustrophobie beherrschten Touristen ("L'univers était un champ clos", PE 205) in einen 'Flughafen', in dem nationale Kulturen noch in den Standards der schönen neuen Warenwelt entsprechend kommerzialisierter Form zu 'konsumieren' sind:

Bien que le hall de l'aéroport soit entièrement couvert, les boutiques affectaient la forme de huttes, avec des montants en teck et un toit de palmes. L'assortiment des produits mêlait les standards internationaux (foulards Hermès, parfums Yves Saint Laurent, sacs Vuitton) aux productions locales (coquillages, bibelots, cravates de soie thaïe); tous les articles étaient repérés par des codes-barres. En somme, les boutiques de l'aéroport constituaient encore un espace de vie nationale, mais de vie nationale sécurisée, affaiblie, pleinement adaptée aux standards de la consommation mondiale. Pour le voyageur en fin de parcours il s'agissait d'un espace intermédiaire, à la fois moins intéressant et moins effrayant que le reste du pays. J'avais l'intuition que, de plus en plus, l'ensemble du monde tendrait à ressembler à un aéroport. (PL 128f.)

Houellebecqs globaler 'Flughafen' erinnert an Sloterdijks "Weltinnenraum des Kapitals", verstanden als "sozialtopologischer Ausdruck […] der hier für die interieurschaffende Gewalt der zeitgenössischen Verkehrs- und Kommunikationsmedien eingesetzt wird" (Sloterdijk 2006: 308f.). 'Globalisierung' wäre im Wesentlichen die Angelegenheit eines internationalen Netzwerkes der privilegierten Angehörigen der 'Ersten Welt' ("Je suis un Occidental […] pour l'instant c'est encore moi qui ai le fric", PL 114), Bewohner eines "dynamisierten und komfort-animierten artifiziellen Kontinent[s] im Weltmeer der Armut" (Sloterdijk 2006: 306), die trotz aller touristischen Evasionsversuche das große "Komforttreibhaus" (ebd.: 357) niemals verlassen.

In Plateforme mit seiner Sensibilität für "spatial textures" (Lefebvre 1991: 42) wird der "space of speech" in Interaktion mit dem "space of bodies" vorgeführt (ebd.: 403). Die Welt wird durch die Filter von Werbeprospekten und Reiseführern wahrgenommen, gegen die der "lecteur-touriste" (Delorme 2007: 289) beträchtliche Aggression entwickelt, ohne aber auf seine "lecture-écran" (Granger Remy 2007: 284) verzichten zu können. Der okzidentale (Trivial-)Text ist stets mit auf Reisen – schon der Sitznachbar im Flugzeug lässt im Schlaf "un best-seller anglo-saxon merdique d'un certain Frederic Forsyth" (PL 34) fallen; die Reiselektüre des Protagonisten beschränkt sich auf "deux best-sellers américains […] achetés un peu au hasard à l'aéroport" (PL 38), Grishams The Firm und Baldaccis Total Control. Der Reiseführer, Objekt einer heftigen Hassliebe, bleibt das wichtigste Defensivinstrument im Kampf mit der fremden Realität. Allesamt der touristischen Zwangsneurose der 'Autopsie' verfallen, sind die Mitglieder der Reisegruppe unaufhörlich mit der Überprüfung und Korrektur des 'Wahrgenommenen' anhand ihrer Guides beschäftigt. Der Erzähler schleudert seinen Guide du Routard wütend von sich (wobei er beinahe den Sony-Fernseher in seinem Hotelzimmer, sein anderes 'Fenster zur Welt', ruiniert, PL 55), entsorgt ihn schließlich in der Mülltonne einer Autobahnraststätte (PL 102); seine Bestseller vergräbt er am Strand. Da das Leben ohne Lektüre aber zu 'gefährlich' ist ("Vivre sans lecture c'est dangereux", PL 92f.), stiehlt er einer Mitreisenden ein Exemplar von Elle (PL 94).




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Die "vormals weite Welt", zur "schmutzige[n] kleine[n] Kugel" geworden (Sloterdijk 2006: 392), erscheint hoffnungslos 'ausgelesen' ("le monde désespérément connu, cartographié et mondialisé du roman houellebecquien", Laforest 2007: 275). Die fremde Kultur verschwindet im Reiseführer ("Du roi Ramathibodi il ne restait pas grand-chose, sinon quelques lignes dans le guide Michelin", PL 82); das exotische 'Paradies' ist längst zum touristischen Simulakrum degeneriert ("l'hôtel évoquait parfaitement l'image du paradis tropical tel qu'on le représente dans les dépliants d'agence", PL 87); darin angekommen, weiß der triste postmoderne Adam nicht viel mehr mit sich anzufangen, als sich in seinem Bungalow zu verkriechen und zwischendurch Alkohol und Snacks im nächsten Mini-Markt zu besorgen. Der parodierte touristische Werbe-Diskurs bleibt aber der einzige – und offenbar einzig mögliche – Kommentar zur gesehenen/übersehenen 'Realität'; abseits des Reiseführers herrscht Rat- und Sprachlosigkeit: "'Il faut reconnaître, quand même, la nature, oui…' dis-je. Valérie tourna vers moi un visage attentif […] 'La nature, quand même, des fois…' poursuivis-je avec découragement" (PL 119).

Der Tourismus, "entreprise égotiste avec le seul but d'isoler le voyageur en un vacuum" (Verpoort 2007: 305), reduziert den Raum des Anderen zum 'non-lieu' im Sinne Augés (1992). Die 'exotische' Außenwelt wird (wie) hinter Glas erlebt; der Protagonist von Plateforme nimmt Thailand durch Hotel- und Busfenster wahr, zusätzlich isoliert durch Filter von Pharmaka im Blut und Insektenschutzmittel auf der Haut. Die Prostituierten im hoteleigenen Health Club wie im Pussy Paradise sitzen nummeriert hinter Glas (PL 50, 110). Sloterdijk greift Dostoevskijs Bild des 'Kristallpalastes' auf, um das Leben im 'Weltinnenraum des Kapitals' zu charakterisieren: "ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat" (Sloterdijk 2006: 26).20 Diese Welt unter Glas provoziert Aus- und Einbruchsgelüste: Terrorakte kontrapunktieren die Erfolgsgeschichte des Tourismus (PL 198);21 sie repräsentieren "die Selbstgefährdung des avancierten Komfortsystems durch belastungsromantische Protestphänomene" (Sloterdijk 2006: 348). Als 'lebendig' erfahren die Figuren den Raum nur in extravaganten bio-geographischen Lust/Angst-Visionen, so etwa in der folgenden Passage mit ihrer bemerkenswerten 'medizinischen' Metaphorisierung der Migrationsströme, die, Blutgefäßen gleich, den 'Körper' Europas durchziehen – höchst ambivalent zwischen Perspektiven der Re-Vitalisierung dieses allegorischen (Kollektiv-)Körpers und der Pathologisierung eines 'Anderen' bzw. religiös/ethnokulturell 'Fremden', das als potentiell tödliche Bedrohung in den 'Adern' des alten Kontinents zirkuliert: "J'eus à ce moment une espèce de vision sur les flux migratoires comme des vaisseaux sanguins qui traversaient l'Europe; les musulmans apparaissaient comme des caillots qui se résorbaient lentement" (PL 27).




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Die Welt verwandelt sich auch deshalb in einen riesigen 'Flughafen', weil der Boden dem in depressiver Eleganz entwurzelten homo touristicus allmählich zu gefährlich wird – nicht nur in São Paulo, wo man sich, wie ein Tourismus-Manager nicht ohne wohligen Schauer erzählt, im Milieu der Privilegierten nur mehr per Helikopter fortbewegt ("Au niveau du sol, la rue est abandonnée aux pauvres – et aux gangsters", PL 193). Während man auf Reisen die vertraute komfortable Lebenswelt kaum verlässt, gibt es im eigenen Land immer mehr Zonen, die sich der Kontrolle der Sicherheits- und Wohlstandsgesellschaft entziehen: Die "banlieues sensibles" (PL 161), in denen der touristische Riesen-Konzern Aurore (alias Accor) seinen Sitz hat, sind wesentlich 'exotischer' als ganz Thailand. Im Konzern arbeitet man daran, anderen die Faszination der Ferne, der Begegnung mit dem 'Anderen' zu verkaufen; die Begegnung mit den 'eigenen Anderen' vor der Haustür, den arbeitslosen Immigranten und gewaltbereiten Jugendlichen aus der Vorstadt, löst pure Panik aus. Eingekauft wird per Internet, das Konzerngelände verlässt man nur im sicher verriegelten Auto; als eine Mitarbeiterin dieses heilige Gebot missachtet, folgt die 'Strafe' auf dem Fuß: Die junge Frau – mit dem überaus signifikanten Namen 'Marylise Le François', der an ihrem (national-)allegorischen Status keinerlei Zweifel lässt22 – wird in der Schnellbahn von drei Schwarzen brutal vergewaltigt (PL 191f.). Ihre Karriere im Konzern ist beendet; schwer traumatisiert, "comme paralysée" (PL 193), ist sie kaum mehr arbeitsfähig und tendiert außerdem zu "réactions racistes", was sie in der Tourismusbranche mit ihrer "obligation professionnelle" zu (kosmo-)politischer Korrektheit zur persona non grata macht (PL 194). Die Raum-Schutzmaßnahmen werden verschärft, wobei die prekäre Lage dem Arbeitgeber eine bequeme paternalistische Attitüde erlaubt: Der Konzern, der seine Arbeitnehmer vor den "prédateurs", der "vie sauvage" (PL 193) da draußen beschützt, hat nur kindliche Dankbarkeit, keine kritische Distanz oder womöglich arbeitsrechtliche Pedanterie verdient.

Während die Experten der globalen Raum-Vermarktung sich auf ihrer 'Plattform' weiterhin Illusionen totaler Kontrolle hingeben, die Welt strategisch ein- und aufteilen ("nous établissions une plateforme programmatique pour le partage du monde", PL 242), ihr megalomanisches sextouristisches Projekt des "tourisme de charme" (PL 257) perfektionieren,23 beginnt die unmittelbare Außenwelt immer unübersehbarer zu rebellieren. Die banlieue scheint bereits von jenen "hordes barbares" (PL 261) beherrscht, die man in der exotischen Ferne nicht mehr trifft; nur durch die permanente polizeiliche Gegen-Raumstiftung, die "topographie rassurante des uniformes" (ebd.), bleibt die Stadt unter Kontrolle (schon der Held von Lanzarote übersiedelt aus Angst vor der urbanen Kriminalität in das "quartier hyperfliqué" rund um die Assemblée Nationale, LA 75). Der Terror erfasst die internationale Flughafenwelt; in die touristische Luxus-Kolonie in Thailand bricht er in Gestalt islamistischer Attentäter ein. In jenem Moment, da die Protagonisten ihren einigermaßen clichéhaften 'Ausstieg' planen, werden sie daran erinnert, dass der Kristallpalast für sie kein 'Außen' hat. Mitten im (Pseudo-)Paradies wird die Tourismus-Managerin Valérie getötet; für einen Moment splittert die 'Glasglocke', der Raum selbst "zerreißt" (PL 321). Doch das internationale 'Komforttreibhaus' schließt sich rasch wieder um den traurigen Helden, der sich nach einem psychiatrischen Intermezzo in Paris ans Ende der (oder doch zumindest seiner) Welt zurückzieht – ins thailändische Pattaya, "une sorte de cloaque, d'égout terminal où viennent aboutir les résidus variés de la névrose occidentale" (PL 342).




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Der Terrorismus, "Romantik des reinen Angriffs" (Sloterdijk 2006: 277), "Strategie einseitiger Expansion auf dem posthistorischen Kontinent 'Aufmerksamkeit'" (ebd.: 284), verlagert, da die reale Aufteilung globaler Territorien und Ressourcen nicht mehr rückgängig zu machen ist, den Kampf auf "Terrains in dem weit geöffneten Weltnachrichtenraum" (ebd.: 282); die Terroristen, die "als content provider im Realgewaltsektor nahezu ein Monopol besitzen", erweisen sich einmal mehr als Komplizen der "hysterisierten Infosphäre" (ebd.). Auch Plateforme macht insofern deutlich, "warum der Neoliberalismus und der Terrorismus wie recto und verso desselben Blatts zusammengehören" (ebd.: 284). Im Übrigen waren die Opfer bei Houellebecq selbst längst für den Terror, der naiven Evasionsphantasien ein Ende macht, bereit: Im Text sind von Anfang an Terrorängste und Terrorträume präsent; kaum in Thailand angekommen, hat der Protagonist einen 'prophetischen' Wunsch-/Angsttraum von einem islamistischen Attentat, das er durch eine trennende Glasscheibe beobachtet (PL 41).

Der Schluss von Plateforme erinnert an jenen von Extension du domaine de la lutte und nimmt jenen von La Possibilité d'une île vorweg: Stets misslingt der ersehnte Ausbruch aus dem 'Okzident', aus einer Kultur, die nur mehr ein immenses Unbehagen produziert, stets misslingt die glückliche (Re-)Fusion mit der Welt: "Jusqu'au bout je resterai un enfant de l'Europe, du souci et de la honte; je n'ai aucun message d'espérance à délivrer" (PL 349).


5. Die (Un-)Möglichkeit einer Insel oder Das posthumane Zeitalter

Die in Plateforme gescheiterte Evasion gerät in La Possibilité d'une île,Science-Fiction-Version des (endgültigen) Untergangs des Abendlandes, zum Desaster. Das Touristen-Bashing wird noch halbherzig fortgesetzt ("backpackers australiens armés d'un guide Let's go Europe et d'un plan de localisation des McDonald's", PI 223f.); im Gegensatz zu Plateforme ("le tourisme sexuel était l'avenir du monde", PL 107) weist aber nicht einmal mehr der Sextourismus einen Ausweg. Auch wenn nichts mit der "perfection mobile" eines spätkapitalistischen Shoppingcenters zu vergleichen ist (PI 30), kollabiert das bunte kommerzielle Überangebot von Welt schließlich in einem "espace immense, gris et nu" (PI 161), in dem – physisch und psychisch paralysierte – Menschen in Rollstühlen umherfahren, "sans remarquer les autres […] sans même prêter attention à l'espace" (PI 161f.).24 Kurz vor ihrer Flucht in die Unsterblichkeit wird die zivilisierte Menschheit allmählich von der "terreur pure de l'espace" (PI 418) erfasst. Doch die Erlösung naht: La Possibilité d'une île schließt an den 'posthumanistischen' Epilog von Les particules élémentaires an (PE 307ff.), in dem die von Protagonist Michel Djerzinski prophezeite Transformation der Menschheit in eine "nouvelle espèce, asexuée et immortelle" (PE 308) längst Realität geworden ist.25 Nachdem im Jahr 2029 unter größter medialer Anteilnahme der "premier représentant d'une nouvelle espèce intelligente créée par l'homme 'à son image et à sa ressemblance'" das Licht der neuen posthumanen Welt erblickt hat, sind ein halbes Jahrhundert später nur mehr wenige "humains de l'ancienne race" (PE 315) übrig: "Leur taux de reproduction […] diminue d'année en année, et leur extinction semble à présent inéluctable" (PE 315f.).




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In La Possibilité d'une île sind es die 'Elohimiten', die das Geheimnis des ewigen Lebens suchen (und finden); die Evolution tritt definitiv in ihre "technologisch-wissenschaftliche Phase" ein (Virilio 1996: 128). Das Zentrum der Biotech-Sekte ist die Insel Lanzarote, Produkt einer "catastrophe géologique totale" (LA 49) und dem Mars sehr ähnlich (Houellebecq 1998: 147); hier wird die irdische Empfangsstation für die 'Elohim' (Avatar der 'Anakim' aus Lanzarote), Science-Fiction-Gottesersatz, errichtet.26 Schon beginnt sich die Welt der Anwärter auf Ewigkeitskomfort zu schließen; bei einem versuchten Ausbruch aus dem Elohimiten-Camp stellen die 'Auserwählten' fest, dass sie keinen "espace commun" mehr mit den 'normalen' Menschen haben (PI 255f.). Die neue elitäre Spezies der dank elaborierter Bio-/Cybertechnik potentiell unendlich reproduzierbaren "néo-humains"27 bildet eine paradoxe, da völlig asoziale, abstrakte und virtuelle Gemeinschaft (PI 456), die unter Bedingungen einer "séparation physique totale" (PI 415) in ihren Hochsicherheits-Residenzen lebt, streng isoliert von der Außenwelt (PI 437).28 Dort hausen die 'sauvages', die letzten sterblichen (und aussterbenden) Menschen – darunter auch die "sauvages urbains" (PI 460) in den Ruinen früherer Metropolen wie New York oder Madrid. Die Spaltung zwischen dem 'Weltinnenraum' der privilegierten neo-humanen Klone, "dignes descendants des touristes décrits dans Plateforme" (Granger Remy 2007: 286), und einem zu Gewalt, Krankheit und Tod verurteilten 'Draußen' nimmt hier extreme Formen an. Die Zerstörung sozialer Räume geht der Verwüstung physischer Räume voraus; der Roman illustriert damit in grotesker Form Harveys These, der zufolge die inneren Widersprüche des Kapitalismus sich durch "the restless formation and re-formation of geographical landscapes" (Harvey 2001: 333) ausdrücken. In einem historischen Rückblick evoziert der 'unsterbliche' Protagonist (Version "Daniel24,9") das letzte Stadium des Spätkapitalismus, Anfang des 21. Jahrhunderts – vor diversen "explosions nucléaires" (PI 433) und Klimakatastrophen, vor den posthistorischen Epochen der "Première Diminution", der "Seconde Diminution" und des "Grand Assèchement", die die Weltbevölkerung drastisch reduziert haben, wobei die zukünftige – und definitive – "Troisième Diminution" noch aussteht (PI 112). Der soziale Raum wird paradox renaturalisiert, er verwandelt sich in eine 'Savanne', einen 'Dschungel' (PL 320), nach dessen 'Naturgesetzen' man zu leben lernen muss (PI 188f.). Der Held, ganz und gar in der Tradition des touristischen Eskapismus, verlässt schließlich seine neo-humane Residenz und begibt sich auf Reisen durch eine wieder unübersichtliche, nicht mehr bis ins letzte (aus-)kartographierte Welt (PI 433). Doch auch die 'Ewigkeit' der Unsterblichen erweist sich als geschlossener Raum: "l'univers était enclos dans une espèce de cocon ou de stase […] J'étais indélivré" (PI 471ff.).




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6. Metaroman und Metaraum: Über Gott, Michelin und die Karte(n) der Welt

"Immer wenn eine Welt zu Ende geht und eine neue initialisiert wird, ist Kartenzeit. Kartenzeiten stehen für den Übergang von einer Raumordnung zu einer anderen" stellt Karl Schlögel fest (Schlögel 2007: 87). Bei La carte et le territoire, Houellebecqs bislang letztem und im November 2010 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnetem Roman29 – der als Produkt wohl einer solchen 'Kartenzeit' die carte schon im Titel führt –, handelt es sich um einen raffinierten metaliterarischen Text;30 der Autor zeichnet hier eine einigermaßen grausame Karikatur seiner selbst,31 wobei er in überaus plastischen Schilderungen der wüst zugerichteten Leiche des von einem psychopathischen Killer ermordeten 'Houellebecq' sowie seines Begräbnisses am Friedhof von Montparnasse – in bester literarischer Gesellschaft (CT 317) – schwelgt; eine vielschichtige Reflexion über die Existenz des Schriftstellers und den Ort der Literatur in einer postmodernen Welt, über die Spezifik von Prosa und Poesie, über die (Un-)Möglichkeiten des Erzählens (der Text zeugt von einer profunden Skepsis gegenüber "Le monde comme narration", CT 259),32 aber auch über den Literaturbetrieb, die Pariser Kunst- und Medienszene, das 'Business' des Romanciers und jenes seiner kritischen 'Feinde'.

La carte et le territoire liefert gleich ein mehrfaches Portrait of the artist: Houellebecq lässt in diesem Schriftsteller- und Künstlerroman nicht nur sein eigenes fiktionalisiertes Alter ego auftreten, sondern dieses auch noch von seinem 'Doppelgänger' aus dem Bereich der bildenden Kunst porträtieren (das Gemälde "Michel Houellebecq, écrivain" wird im Rahmen einer parodistischen 'kunsthistorischen' Ekphrasis 'ausgemalt', vgl. CT 184ff.), wobei der textinterne 'Houellebecq' wiederum das Werk Jed Martins kommentiert. Der Roman wird derart zum regelrechten Spiegelkabinett:33 "Ainsi nage-t-on dans une cascade de miroirs. Ainsi le roman est-il un gigantesque palais des glaces où l'on ne cesse de se cogner le nez en s'amusant" (Viviant 2010).

Auch in diesem (Meta-)Roman ist die Raumthematik bereits im Titel präsent: La carte et le territoire knüpft in vieler Hinsicht direkt an die raumphilosophischen und raumsoziologischen Reflexionen des Autors in früheren Werken an, stellt in gewisser Weise eine Summa und Synthese bisheriger Positionen dar.

Auch hier befinden sich die Figuren im permanenten Kampf mit den Widrigkeiten der alltäglichen Existenz; wurden schon in Extension du domaine de la lutte Probleme der adäquaten 'Möblierung' des eigenen Interieurs als durchaus plausibler Suizidgrund thematisiert, so beginnt auch La carte et le territoire mit einer ausführlichen Erörterung der grotesken Schwierigkeiten des bloßen 'Wohnens' in der Welt. Die Biographie Jed Martins liest sich über weite Strecken als die skurrile Geschichte seines Kampfes mit seinem Heißwasserboiler (der sich mit seinem außerordentlich vielfältigen Repertoire undefinierbarer Laute im Laufe der Jahre aber auch zum einzigen 'Gesprächspartner' des nach dem sukzessiven Erkalten seiner von Anfang an bestenfalls 'wohltemperierten' Beziehungen etwas vereinsamten Protagonisten entwickelt34) und diversen Handwerks-Servicebetrieben à la Simplement plombiers oder Ze Plomb' (CT 14). 'Houellebecq' selbst fungiert gleichfalls als paradigmatische Figur des Wohnversagens: Auch drei Jahre nach seiner Übersiedlung haust er in seinem irischen Domizil noch in leeren, kalten Zimmern voller Staub und Umzugskartons (CT 138). Nachdem er auf die Fiktion einer 'normalen' sozialen Existenz, die eventuell Empfangs- und Repräsentations-Räumlichkeiten hätte erforderlich machen können, verzichtet hat, übersiedelt er samt seinem (hygienisch nicht eben höchsten Ansprüchen genügenden) Bett und seinem Fernseher ins Wohnzimmer, wo er sich notdürftig 'häuslich' einrichtet.35




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La carte et le territoire setzt auch die Reflexion über sich verändernde urbane Topographien fort; nach der Science-Fiction-Version einer neuen globalen Geographie, wie Houellebecq sie in La possibilité d'une île entwirft, kehrt wieder ein gewisser – wenn auch leicht apokalyptisch gefärbter – soziologischer Realismus ein. Auch hier steht das urbane Zentrum als prekär 'zivilisiertes' Terrain gegen die banlieues difficiles als mehr oder weniger 'barbarische' Zonen, die sich dem Zugriff der Staatsgewalt zusehends entziehen. Kaum hat der Protagonist das Problem mit seinem rebellischen Boiler provisorisch gelöst, steht ihm der nächste Miniaturkampf mit den Service-Einrichtungen der Metropole bevor: jener um ein Taxi, das ihn zum traditionellen gemeinsamen Weihnachts-Diner mit seinem Vater zu bringen bereit wäre. Im Zuge demographischer Entwicklungen hat sich der einst ruhige, ja elegante Vorort, in dem sein Vater trotzig in der zur Festung ausgebauten Familienvilla – letzte "île bourgeoise" im suburbanen Neo-Dschungel36 – ausharrt, in "une zone de plus en plus dangereuse, depuis peu à vrai dire entièrement contrôlée par les gangs" (CT 17) verwandelt, in die nicht einmal Speedtax seine Mitarbeiter zu schicken wagt; der Besuch dort kommt einer abenteuerlichen Expedition in die wahren 'dunklen Kontinente' der Post-Postmoderne gleich, einer regelrechten 'Safari' zu den (großteils auch tatsächlich 'schwarzen') sauvages, die strategisch geplant werden muss. Raum erscheint auch hier als Hindernis, das es möglichst rasch zu überwinden gilt; dies ist ein urbaner Raum, in dem die Figur des traditionellen Flaneurs völlig absurd, um nicht zu sagen suizidal wird.37

Andererseits erscheint auch das Land keinesfalls als idyllische, sondern als allem 'Fremden' – wobei ein Pariser aus der Perspektive provinzieller Aversion gegen alles 'Andersartige' ebenso in diese Kategorie gehört wie ein Norddeutscher oder ein Senegalese (CT 407) – gegenüber feindliche, vage bedrohliche 'Gegenwelt'.38

Die Frage nach der '(Un-)Möglichkeit einer Insel' stellt sich in La carte et le territoire also mit neuer Virulenz: Auch die Protagonisten dieses neuen Romans sind auf der – vergeblichen – Suche nach jenen mythischen 'Inseln' der Geborgenheit in einer indifferenten oder auch gefährlichen Welt. Das Haus der verstorbenen Großmutter Jeds erscheint als derartiger nostalgischer Ort, an dem man "à des choses telles que l'amour" – und sonstige 'Gespenster', wie der Erzähler sogleich ironisch kommentiert – noch glauben kann: "Il était tenté dans cette maison de croire à des choses telles que l'amour, l'amour réciproque du couple qui irradie les murs d'une certaine chaleur, d'une chaleur douce qui se transmet aux futurs occupants pour leur apporter la paix de l'âme. À ce compte-là il aurait bien pu croire aux fantômes, ou à n'importe quoi" (CT 59).

Auch in diesem Roman bricht eine aggressive Außenwelt traumatisch in einen vermeintlich erfolgreich isolierten privaten Mikrokosmos ein; 'Houellebecq', der das Haus seiner Kindheit im Département Loiret zurückgekauft und sich dort ein melancholisches Refugium geschaffen hat, wird in eben diesem Haus von einem Psychopathen, dessen Identität die Polizei erst einige Jahre später zufällig entdeckt (CT 385ff.), bestialisch ermordet: "L'écrivain Michel Houellebecq sauvagement assassiné" titelt Le Parisien (CT 313).39




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Der Tourismus – unter den Bedingungen einer universellen "désocialisation" (Bellanger 2010: 124) florierendes Geschäft mit einem generalisierten Unbehagen in der (eigenen) Kultur – bleibt auch in La carte et le territoire ein zentrales Thema. Nach einem bereits aus Plateforme vertrauten Muster wird der männliche Protagonist über seine Partnerin, professionelle Insiderin der Tourismus-Industrie, in die Geheimnisse der Branche der Zukunft eingeführt; im Gegensatz zu Valérie aus Plateforme befindet sich Olga (ihrerseits als Prototyp der 'russischen Schönheit' eine hochgradig clichéhafte Figur40) gerade in ihrer Eigenschaft als temporäre Neo-Französin in einer privilegierten Position, um die Reize des angeblich authentischen "franco-français" (CT 96) zu erkennen und gekonnt zu vermarkten.

Über die konkrete Reise-Industrie hinaus fungiert der Tourismus auch in La carte et le territoire als Paradigma der postmodernen conditio humana schlechthin. "Dans cette maison, dans la vie en général, il savait désormais qu'il se sentirait comme à l'hôtel", heißt es schon über Michel Djerzinski in Les particules élémentaires (292). In Ennemis publics fasst Houellebecq sein eigenes – von der totalen Absenz eines wie immer gearteten 'Patriotismus' geprägtes – Verhältnis gegenüber einer längst völlig unverbindlich gewordenen patrie mit Hilfe der Hotelmetapher zusammen: "Jamais je ne me suis senti de devoir, ni d'obligation, par rapport à la France, et le choix d'un pays de résidence a pour moi à peu près autant de résonance émotive que le choix d'un hôtel" (EP 122). Die menschliche Existenz überhaupt wird hier zum zeitlich indeterminierten Aufenthalt in einem 'Hotel',41 in dem man sein Zimmer früher oder später wieder räumen muss: "Je trouve ça un peu triste, d'un seul coup, ce que je viens d'écrire; mais c'est malheureusement vrai que je me sens dans ma vie un peu comme à l'hôtel; et que je sais que j'aurai tôt ou tard à libérer ma chambre" (EP 123).

Angesichts einer von einem essentiell 'touristischen' Lebensgefühl dominierten Welt, in der "le dispositif général de transport des êtres humains" eine zentrale Rolle "dans l'accomplissement des destinées individuelles" spielt (CT 105), werden gesellschaftliche Problematiken, unterschiedliche Lebenskonzepte und Menschenbilder wesentlich über tourismus- bzw. verkehrstechnische Fragen ausgehandelt. So werden auch die 'flugtouristischen' Reflexionen aus früheren Werken in La carte et le territoire fortgesetzt; der Roman skizziert en miniature eine globale Geschichte der Flugreisen – von der "époque surprenante des Trente Glorieuses", da die Luftfahrt noch als "symbole de l'aventure technologique moderne" gelten durfte (CT 134), bis hin zum postmodernen Avia-Tourismus als tristem Massenphänomen, der aus dem einst heroischen "voyage aérien" allmählich "une expérience infantilisante et concentrationnaire" gemacht hat (ebd.). Eben die Flugreise, einst Symbol der Freiheit und der stolzen Weltbeherrschung durch einen Menschen, der die Gesetze nicht nur der Schwerkraft, sondern der 'Natur' überhaupt überwunden zu haben schien, steht symptomatisch für die rapide voranschreitende Einschränkung seit den sechziger Jahren errungener 'Freiheiten' in einem security-besessenen, neo-puritanischen, mündige Bürger in auf Schritt und Tritt zu betreuende infantile Mündel zurückverwandelnden Zeitalter (CT 134f.).42




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Das Auto, in denkbar radikalem Gegensatz zum proto-faschistischen Flugtourismus ("Les compagnies aériennes […] organisations intrinsèquement fascistes", CT 301), genießt nicht nur einen Sonderstatus als Objekt metaphysisch überhöhter konsum-fetischistischer Meditationen, sondern wird vor allem auch zum prekären (mobilen) Rückzugsraum stilisiert, einem der letzten individuellen Freiräume in einer immer restriktiver reglementierten Gesellschaft: "un des derniers espaces de liberté, une des dernières zones d'autonomie temporaire offerte aux humains en ce début de troisième millénaire" (CT 301); nicht zufällig setzt schon in Extension du domaine de la lutte die Schilderung des depressiven Selbstverlusts des Protagonisten mit einer Szene ein, in der dieser sein Auto in den Straßen von Paris 'verliert'. In La carte et le territoire wird das Automobil zur perfekten Metapher der sanft autistischen Existenz des Helden; die überaus komfortable Isolation im Innenraum eines Audi Allroad A6 entspricht Jeds Position im Leben überhaupt: "et il se rendit compte qu'il allait maintenant quitter ce monde dont il n'avait jamais véritablement fait partie […] il serait dans la vie comme il l'était à présent dans l'habitacle à la finition parfaite de son Audi Allroad A6, paisible et sans joie, définitivement neutre" (CT 269).

Anlässlich seiner Reisen zu 'Houellebecq' nach Irland ergeht sich der Protagonist aber auch in ausführlichen flug-soziologischen Reflexionen über Klientel, Routen, Preisgestaltung und Marketingstrategien traditioneller Fluggesellschaften und diverser low cost-Kompanien (so etwa über die 'feinen Unterschiede' zwischen der Business-Klientel von Air France und dem bunten Publikum von Ryan Air, CT 160), vor allem jedoch über die Art und Weise, wie neue (Billig-)
Flugnetze – zugleich Produkt und Generator neuer Migrationsströme, Instrument einer schleichenden, doch fundamentalen 'Neuvermessung' der Welt – eine neue "géographie du monde" entwerfen: "Ainsi, le libéralisme redessinait la géographie du monde en fonction des attentes de la clientèle, que celle-ci se déplace pour se livrer au tourisme ou pour gagner sa vie. À la surface plane, isométrique de la carte du monde se substituait une topographie anormale où Shannon était plus proche de Katowice que de Bruxelles, de Fuerteventura que de Madrid" (CT 152).43

Während einer Reise von Shannon nach Beauvais erlebt Jed Martin in einer surrealen Traumvision – es handelt sich hier um eine poetologische wie 'raumphilosophische' Schlüsselstelle des Romans, die auf einen ähnlichen Traum Michel Djerzinskis in Les particules élémentaires zurückverweist (PE 236) – die Welt aus der Vogel- bzw. Flugzeugperspektive als groteskes Textkonglomerat, als monströses 'Buch' bzw. als verwüstetes karto-biographisches Palimpsest. Die eigene Lebensgeschichte erscheint nicht mehr als lineare Erzählung, sondern als chaotische 'Kartenlandschaft' voller Korrekturen, Löschungen, Überschreibungen:

Il était au milieu d'un espace blanc, apparemment illimité. […] À la surface du sol se distinguaient, irrégulièrement disposés, de place en place, des blocs de texte aux lettres noires formant de légers reliefs; chacun des blocs pouvait comporter une cinquantaine de mots. Jed comprit alors qu'il se trouvait dans un livre, et se demanda si ce livre racontait l'histoire de sa vie. Se penchant sur les blocs qu'il rencontrait sur sa route, il eut d'abord l'impression que oui […] mais aucune information précise ne pouvait en être tirée, la plupart des mots étaient effacés ou rageusement barrés, illisibles […] Aucune direction temporelle ne pouvait, non plus, être définie […]. (CT 153)




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Die Verschiebung mondialer ökonomischer Hierarchien, in früheren Werken bereits thematisiert, wird in La carte et le territoire konsequent weitergedacht; die Verlagerung des globalen 'Schwerpunktes' – und damit auch der globalen Migrationsrouten (CT 417) – hin zu den neuen großen asiatischen Industrienationen, die Europa – welches seinerseits die industrielle Moderne längst hinter sich gelassen hat – als (nicht nur) ökonomisches Zentrum der Welt ablösen: "La modernité était peut-être une erreur, se dit Jed pour la première fois de sa vie. Question purement rhétorique, d'ailleurs: la modernité était terminée en Europe occidentale depuis pas mal de temps déjà" (CT 348).

Der postmoderne europäische Raum wird in diesem Roman radikal restrukturiert: So wird das Ruhrgebiet zu einer Art Freiluftmuseum der industriellen Ära in Europa ("un conservatoire du premier âge industriel en Europe") umfunktioniert und als Zentrum eines neuen "tourisme industriel" etabliert;44 rund um die industrietouristischen hot spots wird die Landschaft wieder der 'Natur' und einer wild wuchernden Vegetation, indifferente Erobererin, überlassen; Mitteleuropa, einst Hochburg einer sich universell wähnenden 'Zivilisation', verwandelt sich mit unheimlicher Geschwindigkeit zurück in eine "jungle impénétrable" (CT 427f.).

Frankreich besetzt im Rahmen dieser neuen globalen Ökonomie die Position eines Disneylands der Luxusklasse, touristisches Paradies für die neureiche Kundschaft jener Länder, in denen die ökonomische Macht jetzt zu Hause ist (Russland, Indien, China45), wobei sich gerade die russische Klientel, nach wie vor einer aus französischer Perspektive als überaus 'russisch' stereotypisierten Ökonomie des Exzesses – bzw. einer "économie du potlatch", die alle politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts unbeschadet überstanden hat (CT 417) – treu, besonderer Beliebtheit erfreut.

Das Provinznest, in dem 'Houellebecq' ein tragisches Ende findet, wirkt bereits zutiefst inauthentisch, für den generalisierten touristischen Blick des homo postmodernus inszeniertes französisches 'Potemkinsches Dorf', das mit seinen "unerbittlich restaurierten" historischen Monumenten und mit der philosophisch-urbanistischen Miniaturkatastrophe seines "rond-point Emmanuel-Kant […] un simple cercle de macadam d'un gris parfait qui ne conduisait à rien" (CT 282) an den Dekor einer Fernsehserie erinnert: "tout donnait l'impression d'un décor, d'un village faux, reconstitué pour les besoins d'une série télévisée" (CT 280). Dieser "strukturell verlassene" Ort, "figé dans sa perfection rurale à destination touristique", erscheint zugleich aber auch schon als surrealer Science-Fiction-Schauplatz, artifizielle Welt, in der sich diverse Aliens nach einer eventuellen intergalaktischen Katastrophe komfortabel einrichten könnten: "[…] c'est exactement ainsi que se présenterait le monde, se dit Jed, après l'explosion d'une bombe à neutrones intergalactique. Les aliens pourraient pénétrer dans les rues, tranquilles et restaurées, de la bourgade, et se réjouir de sa beauté mesurée" (CT 360).




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Als Jed, der Eremit der Creuse, nach immerhin mehr als zehn Jahren Einsamkeit wieder einmal eine Exkursion ins benachbarte Dorf unternimmt, ist er von den Veränderungen dort überrascht; die französische Provinz ähnelt nunmehr einem einzigen großen Tourismus-Reservat: "Il ne se remémorait que vaguement Châtelus-le-Marcheix, c'était dans son souvenir un petit village décrépit, ordinaire de la France rurale, et rien de plus. Mais, dès ses premiers pas dans les rues de la bourgade, il fut envahi par la stupéfaction. […] On se serait cru à Koh Phi Phi, ou à Saint-Paul-de-Vence, bien plus que dans un village rural de la Creuse" (CT 412). In der Folge unternimmt er allerlei Entdeckungstouren durch Frankreich, neue touristische terra incognita: "La France, de toute évidence, avait beaucoup changé. […] oui, le pays avait changé, changé en profondeur" (CT 414).

Die sextouristischen Interessen einzelner Figuren, erotisch frustriert in ihrem freudlosen mitteleuropäischen Alltag, richten sich freilich nach wie vor auf bewährte 'exotische' Ziele,46 so die Karibik (eines der Zentren des globalen "tourisme de charme"-Projektes, das die Protagonisten in Plateforme entwickeln): Marylin,47 eine mäßig attraktive, umso ausgeprägter neurotische, beruflich jedoch höchst erfolgreiche französische PR-Managerin, kehrt von ihrem Aphro-Urlaub auf Jamaica zurück und macht aus ihrer Begeisterung über die erotischen Qualitäten der indigenen Männlichkeit keinen Hehl: "J'ai super bien baisé […] putain, les mecs, ils sont géniaux" (CT 156). Es ist hier aber schließlich vor allem Frankreich selbst, das nach seinem Ausstieg aus der industriellen Produktion exklusiv auf seine kulinarischen, önologischen und erotischen Atouts setzt und sich dank erfolgreichem Cliché-Recycling als neue Hochburg eines internationalen Genuss- und Galanterie-Tourismus etabliert hat: "La prostitution avait même connu, sur le plan économique, une véritable embellie, due à la persistance […] d'une image fantasmée de la parisienne […] La France, pour la première fois depuis les années 1900 ou 1910, était redevenue une destination privilégiée du tourisme sexuel" (CT 415).

Eine sehr ähnliche Zukunftsperspektive für Frankreich skizziert Houellebecq auch in Ennemis publics. Frankreich, als eventuelle Industrie-, Hightech- oder Finanzmacht chancenlos, werde sich unweigerlich – und zu seinem eigenen Besten – in ein durch und durch musealisiertes Land bzw., kruder formuliert, in eine Art 'Touristenbordell' verwandeln, das auf dem mondialen Markt im Wesentlichen "des hôtels de charme, des parfums et des rillettes – ce qu'on appelle un art de vivre" (CT 416) verkauft, wobei Houellebecq gegen diese neue globale 'Arbeitsteilung' keinerlei Einwände hat:

Et comme activité économique pour la France de demain, ça suffira bien. S'imagine-t-on vraiment que nous allons devenir des leaders dans l'industrie du logiciel ou des micro-processeurs? Que nous allons maintenir une industrie puissante et exportatrice? Que Paris va se transformer en un pôle d'excellence financière? Allons allons. […] Est-ce que ça veut dire que j'accepte sans broncher cette nouvelle division internationale du travail? Ben oui, et je ne vois d'ailleurs pas comment je pourrais faire autrement. […] Disons les choses plus crûment: est-ce que j'ai envie de voir transformer la France en un pays muséifié, mort? en une sorte de bordel à touristes? […] Sans hésiter, je réponds: OUI. (EP 125)




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Eines der zentralen Themen von La carte et le territoire ist jedoch vor allem Raum als Objekt bewusster künstlerischer Gestaltung: Etliche 'spatiale Obsessionen' aus früheren Werken Houellebecqs kehren hier wieder – und werden sämtlich auf der Meta-Ebene reflektiert.

Auch der Protagonist von La carte et le territoire verbindet wie seine 'Vorfahren' aus früheren Houellebecq-Romanen eine ausgeprägte 'raumsoziologische' Sensibilität mit einer an sanften Autismus grenzenden Unfähigkeit, für sich selbst im sozialen Raum einen adäquaten Platz zu finden; wie seine Vorgänger ist auch er das letzte Glied einer aussterbenden Familie, Grenzgänger der menschlichen Spezies ("c'en était à se demander s'il appartenait au genre humain", CT 64) und insofern ein ziemlich naher – wenn auch de-sciencefictionalisierter – Verwandter nicht nur Michel Djerzinskis aus Les particules élémentaires und Michels aus Plateforme, sondern auch der 'néo-humains' aus La possibilité d'une île.

Nachdem er als Shootingstar auf dem internationalen Kunstmarkt finanziell 'ausgesorgt' hat, zieht Jed sich in die französische Provinz zurück, baut in einer bemerkenswerten Mischung aus familiärer Nostalgie und Weltekel das bäuerliche Anwesen seiner Großeltern zur postmodernen Eremitage aus, und erwirbt, instinktiv bestrebt, so viel Distanz wie nur möglich zwischen sich und seine 'Mitmenschen' zu legen, rund um sein Haus eine Fläche von 700 Hektar Land, die er unverzüglich mit einem drei Meter hohen elektrischen Metallzaun umgibt (CT 409).

Jed, in seiner ruralen Hochsicherheits-Residenz verschanzt (auch dieses sein Refugium erinnert an die Wohnstätten der 'néo-humains' in La possibilité d'une île), verlässt sein Anwesen abgesehen von seinen allwöchentlichen Exkursionen "au Carrefour de Limoges" nicht mehr; auch hier bleibt der Supermarkt als letzter potentieller Ort eines approximativen 'Glücks' zurück: "Il y allait généralement le mardi matin, dès l'ouverture, ayant remarqué que c'était à ce moment que l'affluence était la plus faible. Il avait, quelquefois, l'hypermarché pour lui tout seul – ce qui lui paraissait être une assez bonne approximation du bonheur" (CT 410).

Auch La carte et le territoire spinnt insofern die postmoderne (Surrogat-)Mythologie des Supermarkts aus früheren Werken Houellebecqs, dieses "Baudelaire des supermarchés" (Noguez 2003: 30), fort. Dem einsamen Passanten in der abendlichen Großstadt erscheinen Supermärkte und Tankstellenshops als letzte "lieux de vie", als letzte intakte Koordinaten in einer chaotischen Welt, der nur mehr die desakralisierten 'Tempel' des Konsums etwas wie menschliche Struktur, emotionale bzw. 'energetische' Dichte verleihen: "Un hypermarché Casino, une station-service Shell demeuraient les seuls centres d'énergie perceptibles, les seules propositions sociales susceptibles de provoquer le désir, le bonheur, la joie" (CT 195).48




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Schon der Vater des Protagonisten, gleichfalls 'Raumexperte' in seiner Eigenschaft als Architekt mit gescheiterten künstlerischen Ambitionen ("Oui, moi aussi, je voulais être un artiste…", CT 219),49 hat ein ganzes Berufsleben mit der Errichtung, Instandhaltung und Renovierung von 'Wohnmaschinen' aller Art – "configurations habitables" und "machine[s] à habiter" (CT 39) – verbracht und sich schließlich, auch er Tourismus-Profi wider Willen, auf die Revitalisierung heruntergekommener Ferienanlagen spezialisiert. Jed Martins – ihrerseits überaus erfolgreiche – künstlerische Karriere, die quer durch die Medien Fotografie–Malerei–Video verläuft, reflektiert sämtliche oben skizzierten räumlichen Problematiken des Houellebecqschen Œuvres (von diversen 'Wohnkatastrophen' über sich wandelnde urbane Topographien und makrostrukturelle Fragen einer neuen globalen Ökonomie bis hin zum Anbruch eines 'posthumanen' Zeitalters inklusive radikaler 'Neuvermessung' der Welt).

Die nostalgische Faszination für die industrielle 'Produktion', bereits in früheren Texten Houellebecqs ein wichtiges Motiv, wird hier künstlerisch 'gefiltert'; das erste große künstlerische Projekt Jeds, bewusst anachronistischer "hommage au travail humain" (CT 51),50 ist der "photographie systématique des objets manufacturés du monde" (CT 40) gewidmet, der möglichst kompletten Dokumentation der 'Errungenschaften' des okzidentalen Industriezeitalters:51 "rien n'échappait à son ambition encyclopédique, qui était de constituer un catalogue exhaustif des objets de fabrication humaine à l'âge industriel" (CT 41).

Auch in La carte et le territoire kultiviert Houellebecq jenen für seine Texte so überaus charakteristischen 'Detailfetischismus' in der Beschreibung diverser Gebrauchs- und vor allem technischer Gegenstände;52 der Roman reflektiert ausführlich die identitäts-konstitutive und -affirmative Funktion der Dinge, die einem Menschen (an)gehören, wobei die Obsession der 'Choses'53 hier – weit über bloße Konsumideologie oder kapitalistisches Statusdenken hinaus – von einer profunden, geradezu metaphysisch zu nennenden Verunsicherung zeugt. In einer Welt, aus der sich Gott & Co. längst verabschiedet haben – "Parce qu'en effet un monde sans Dieu, sans spiritualité, sans rien, a de quoi faire terriblement flipper", bemerkt der Autor in Ennemis publics (148) –, klammern Houellebecqs Figuren sich an den 'Dingen' fest, letzte (mobile, fahrbare, tragbare) Inseln der Sicherheit und der Selbstgewissheit in einer indifferenten, unübersichtlichen Welt. Biographien verwandeln sich derart in Archive des Konsums;54 Lebensgeschichten erscheinen als die mehr oder minder arbiträre Sequenz von Kauf-Entscheidungen, die ein vermeintlich mündiger Konsument in einer durch und durch kommerzialisierten "Optionen-Wirklichkeit" (Sloterdijk 2007: 324) getroffen hat.55 Nur mehr die Dinge stiften Kontinuität und existenzielle Kohärenz; nicht zufällig gerät 'Houellebecq' in tragikomische Verzweiflung angesichts des Verschwindens seiner Lieblingsprodukte vom Markt (CT 170).56




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Nach einer ersten Schaffensphase, in der Jeds Interesse exklusiv den "produits manufacturés" dieser Welt gilt, wendet er sich deren Produzenten zu (CT 188); seine Serie der 'métiers', intendiert als "une vision exhaustive du secteur productif de la société de son temps" (CT 123), evoziert eine ihrerseits bereits obsolete Mythologie der 'Arbeit' und zeigt Menschen der Epoche in ihrem Berufsumfeld, auch hier mit besonderer Sensibilität für die jeweiligen räumlichen Dispositive (vgl. etwa CT 200f.): "D'un tableau à l'autre j'essaie de construire un espace artificiel, symbolique, où je puisse représenter des situations qui aient un sens pour le groupe", erklärt Jed Martin sein künstlerisches 'Programm' (CT 149).

Zum zweiten großen künstlerischen Initiationserlebnis des Protagonisten wird der Kauf einer Michelin-Karte auf dem Weg zum Begräbnis seiner Großmutter in die Creuse:

Cette carte était sublime […] Jamais il n'avait contemplé d'objet aussi magnifique, aussi riche d'émotion et de sens que cette carte Michelin au 1/150 000 de la Creuse, Haute-Vienne. L'essence de la modernité, de l'appréhension scientifique et technique du monde, s'y trouvait mêlée avec l'essence de la vie animale. […] dans chacun des hameaux, des villages, représentés suivant leur importance, on sentait la palpitation, l'appel, de dizaines de vies humaines, de dizaines ou de centaines d'âmes – les unes promises à la damnation, les autres à la vie éternelle. (CT 54)

Das "kartographische Narrativ"57 wird hier metaphysisch überhöht; die touristische Karte, bei Schlögel als "Fall harmlos-unpolitischer Karten" charakterisiert, die "ein Territorium der Schnelligkeit und des komfortablen Wegs zu Sehenswürdigkeiten und der dazugehörigen Service-Einrichtungen" zeigen (Schlögel 2007: 106), wird zum esoterischen Weltenbuch, in dem Erlösung oder Verdammnis postmoderner menschlicher 'Seelen' verzeichnet stehen.

Nach Paris zurückgekehrt, erwirbt Jed Martin unverzüglich – und zwar "dans un état de frénésie nerveuse" – alle auf dem Markt verfügbaren Michelin-Karten ("un peu plus de cent cinquante", CT 62). Eine Serie von Fotografien dieser Karten, auf denen er – dank perspektivischen Experimenten und Photoshop – eine 'magische' Alternativwelt, "un territoire de rêve, féerique et inviolable" (CT 65) entstehen lässt, bringt ihm nicht nur eine Liaison mit der Russin Olga, Marketing-Expertin bei Michelin und im Übrigen nach 'Frédéric Beigbeders' Connaisseur-Urteil "une des cinq plus belles femmes de Paris" (CT 75), sondern auch eine finanziell höchst profitable Kooperation mit dem Konzern selbst – und nicht zuletzt geradezu dithyrambische Kritiken in Le Monde – ein.

Das Michelin-Projekt trifft den – oder zumindest einen – Nerv der Zeit: Es schafft ein künstlerisches Ventil für eine vage Nostalgie der 'Scholle', die Sehnsucht nach 'Authentizität' in einer globalisierten Simulakrenwelt ("le public avait soif d'écologie, d'authenticité, de vraies valeurs", CT 234), nach einer 'Rückkehr zur Natur', die freilich immer schon zur Parodie ihrer selbst degeneriert: "[…] pour la première fois en réalité en France depuis Jean-Jacques Rousseau, la campagne était redevenue tendance. […] Et la carte Michelin, objet utilitaire, inaperçu par excellence, devint […] le véhicule privilégié d'initiation à ce que Libération devait sans honte appeler la 'magie du terroir'" (CT 89f.).




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Zum dreidimensionalen Raum entfaltet wird die glücksverheißende Karte, die eine heile, bunte Welt vorgaukelt,58 anlässlich einer Silvesterparty zum Thema "les provinces de France" (CT 233) in der luxuriösen Residenz von 'Jean-Pierre Pernaut' – Proponent der zu Recht überaus kritisch betrachteten medialen Renaissance eines pseudo-idyllischen Provinzialismus,59 im Roman nach seinem Abschied von TF1 und seinem Coming-out als Direktor von Michelin TV tätig – in Neuilly, zu diesem Anlass in eine Miniatur-Version eines hyper-folklorisierten Frankreich verwandelt.60 Nachdem die mehr oder minder exklusiven Gäste den Eingang, bewacht von "paysans vendéens armés de fourches" (CT 238), erfolgreich passiert haben, erwartet sie ein komplettes musikalisch-kulinarisches Revue-Retro-Programm, nach Regionen und Départements 'sortiert' (à la "une dizaine de sonneurs de biniou bretons […] un knacki aromatisé à l'emmental et un verre de gewurztraminer 'vendanges tardives', proposés par deux serveuses alsaciennes en coiffe […]" CT 239).61

Die Faszination für Mapping als Strategie der Weltbewältigung im Allgemeinen und für Michelin-Karten im Besonderen war eine Konstante von Houellebecqs Werk von Anfang an (man erinnere sich an Extension du domaine de la lutte, wo schließlich nur mehr eine derartige Karte dem depressiven Protagonisten in einer ihn zur Verzweiflung treibenden kontingenten Existenz einen Rest von Ordnung, Orientierung und Sinnstiftung zu versprechen scheint, aber auch an das kartographische 'Glücksversprechen' in La possibilité d'une île). Auch der Künstler aus La carte et le territoire und die Betrachter seines Michelin-Opus gelangen jedenfalls zu der melancholischen Erkenntnis, dass die Welt auf einer Landkarte, und ganz besonders auf einer touristischen Karte von Michelin, viel 'schöner' und paradoxerweise auch viel 'authentischer' aussieht, als dies eine reale Landschaft jemals vermöchte. Gleich am Eingang zu seiner großen Michelin-Show kontrastiert Martin ein Satellitenbild, das die triste 'Realität' der Erde zeigt, und die fotografische Vergrößerung einer Michelin-Karte derselben Zone, wobei kein noch so unbedarfter Betrachter sich der den Titel der Ausstellung inspirierenden Einsicht entziehen kann, dass die Karte definitiv 'interessanter ist als das Territorium':

Le contraste était frappant: alors que la photo satellite ne laissait apparaître qu'une soupe de verts plus ou moins uniformes parsemée de vagues taches bleues, la carte développait un fascinant lacis de départementales, de routes pittoresques, de points de vue, de forêts, de lacs et de cols. Au-dessus des deux agrandissements, en capitales noires, figurait le titre de l'exposition: « La carte est plus intéressante que le territoire ». (CT 82)




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Mit einem Wort: Auch das künstlerische Projekt des Protagonisten kreist um La carte et le territoire, womit der Konnex zum Titel des Gesamttextes hergestellt wäre.62 Verschiedentlich wurde bereits auf eine potentielle Inspirationsquelle dieses neuen Houellebecqschen Titels hingewiesen; von Alfred Korzybski, Begründer der 'Allgemeinen Semantik', stammt die nun dank Houellebecq bzw. Houellebecq-Exegeten zu neuer Popularität gelangte Formel "the map is not the territory" (alias "la carte n'est pas le territoire"63). Auf eine andere mögliche Quelle – den 'neokonservativen' Essayisten und Romancier Philippe Muray64 – verweist ein Artikel im Express.65 Noch vielversprechender scheint allerdings eine andere Fährte, die freilich auch schon von der Kritik aufgenommen wurde66 – und von Jorge Luis Borges über Umberto Eco mitten in die kartographischen Phantasmagorien des (vorerst) letzten Houellebecq-Romans führt.

In seinen "Magias parciales del Quijote" verweist Borges auf den amerikanischen Philosophen Josiah Royce, der im ersten Band seiner Studie The World and the Individual (1899) die Idee einer monströsen (Meta-)Meta-Karte skizziert – "un mapa del mapa, que debe contener un mapa del mapa del mapa, y así hasta lo infinito" (Borges 2007: 84) –, die Borges' Reflexionen zufolge denselben 'metaleptischen' Schwindel auslöst wie Tausendundeine Nacht, Don Quijote und Hamlet, diese Klassiker des metaliterarischen Verwirrspiels:

¿Por qué nos inquieta que el mapa esté incluido en el mapa y las mil y una noches en el libro de Las mil y una noches? ¿Por qué nos inquieta que don Quijote sea lector del Quijote, y Hamlet, espectador de Hamlet? Creo haber dado con la causa: tales inversiones sugieren que si los caracteres de una ficción pueden ser lectores o espectadores, nosotros, sus lectores o espectadores, podemos ser ficticios... (Borges 2007: 84)

In einem kurzen Text, betitelt Del rigor en la ciencia (Borges 1987: 136), entwirft Borges die surreale (und in bester Borges-Manier durch eine betont 'pedantische' wissenschaftliche Pseudo-Referenz belegte67) Vision eines 'Imperiums', in dem die Kunst der Kartographie zu derartiger Perfektion getrieben wird, dass die Karte einer einzigen Provinz eine ganze Stadt, die Karte des Reiches eine ganze Provinz einnimmt; der kartographische Exzess erreicht schließlich den Punkt, an dem die Karte des Imperiums "puntualmente" (ebd.) mit diesem selbst zusammenfällt. Die nachfolgenden Generationen, von der Nutzlosigkeit der imperialen Karte überzeugt, überlassen sie den Unbilden der Witterung; nur mehr in den 'Wüsten des Westens' bleiben kartographische Ruinen zurück, in denen Tiere und Bettler hausen: "Menos Adictas al Estudio de la Cartografía, las Generaciones Siguientes entendieron que ese dilatado Mapa era Inútil y no sin Impiedad lo entregaron a las Inclemencias del Sol y de los Inviernos. En los Desiertos del Oeste perduran despedazadas Ruinas del Mapa habitadas por Animales y por Mendigos; en todo el País no hay otra reliquia de las Disciplinas Geográficas" (ebd.).68




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Die Korrespondenzen mit Houellebecqs Raum-Konfigurationen in La carte et le territoire scheinen evident: Auch dieser Roman schildert eine Welt, die sich zusehends in ihre eigene Repräsentation, ihre eigene Karte verwandelt69 – bis nach dem Ende der industriellen Moderne in Europa weite Teile dieser 'Karte' wieder aufgegeben und einer wilden Vegetation überlassen werden, die auch hier rund um die 'Ruinen der Karte', die musealisierten Relikte einer untergegangenen wissenschaftlich-technischen Kultur, ein einst 'zivilisiertes' Territorium zurückerobert.

Nach seinen kartographischen Explorationen einer postmodernen Welt der Simulakren widmet sich Jed Martin in seinem Spätwerk, "méditation nostalgique sur la fin de l'âge industriel en Europe, et plus généralement sur le caractère périssable et transitoire de toute industrie humaine" (CT 428), einer Serie verstörender Videoprojekte, die die Endzeit-Visionen aus La possibilité d'une île re-evozieren und die allmähliche Auflösung einer ganzen Zivilisation symbolisch vorwegnehmen. Jed Martins Residenz in der französischen Provinz fungiert insofern auch als 'Versuchsstation des Weltuntergangs'; das riesige Anwesen wird sich selbst bzw. einer indifferenten 'Natur' überlassen, in der für den Menschen, seine welt- und raumgestalterischen Ambitionen kein Platz mehr ist. Das private 'Territorium' dieses Avantgardisten der Apokalypse ist gegen Ende seines Lebens bereits zum größten Teil von "une forêt dense, au sous-bois impénétrable" bedeckt: "La trace des chemins qui avaient pu parcourir la forêt était depuis longtemps effacée" (CT 421). In diesem privaten 'Urwald' versucht Jed Martin mit Hilfe raffinierter Video-Technik "le point de vue végétal sur le monde" einzufangen (CT 422f.). Auf diese 'vegetale' Periode folgt eine letzte Schaffensphase, in der er den (künstlich beschleunigten) Verfallsprozess diverser industrieller, insbesondere elektronischer Produkte dokumentiert und diese via digitale "surimpression" in alles verschlingenden "couches végétales" verschwinden bzw. regelrecht 'ertrinken' lässt (CT 423ff.). In seiner letzten künstlerischen Arbeit inszeniert er kurz vor seinem eigenen Tod die quasi-rituelle 'Auslöschung' aller Menschen, die er jemals gekannt hat bzw. von denen er Photographien besitzt, und schließlich – in Gestalt von Spielfigürchen, "figurines jouets, représentations schématiques d'êtres humains" – die Auslöschung der menschlichen Spezies überhaupt (CT 425f.). Die Vegetation – das archaische "magma végétal" (CT 425) – gewinnt wieder die Oberhand, überwuchert bzw. überflutet die archäologischen Relikte menschlicher Zivilisation. "Puis tout se calme, il n'y a plus que des herbes agitées par le vent. Le triomphe de la végétation est total" (CT 428) lauten die letzten Sätze des Romans.




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7. Schluss

Hier, mitten im europäischen Dschungel, endet auch diese Wanderung durch die eigenwilligen, oft verstörenden 'Landschaften' des Houellebecqschen Werkes. Houellebecqs im Wortsinn exzentrische "Phantasmagorien des Raumes" (Benjamin 1977: 181) – vom depressiven Kollaps sozialer Räume in Extension du domaine de la lutte und Les particules élémentaires über die touristisch-terroristischen Re-Konfigurationen einer globalisierten Gesellschaft in Plateforme und die virtuellen Räume 'neohumaner' Existenz in La Possibilité d'une île bis hin zu den meta-spatialen Meditationen in La carte et le territoire – bieten ein einzigartiges Panorama einer post-postmodernen Welt bzw. auch "ein gehöriges Maß an Postmodernekritik" mit neokonservativer Tendenz, die "statt unaufhörlicher différance die Rückkehr zur Monade" propagiert (Leopold 2005: 266) – und freilich zugleich eben diese Rückkehr in ihrem fatalen Misslingen problematisiert. In ihrer spezifischen räumlichen Sensibilität sind diese Texte auch als Kommentar zur conditio (post)humana zu lesen, als provokante Reflexionen über zentrale gesellschaftliche und philosophische Fragen der Gegenwart, die oft zum Widerspruch, stets zum Nachdenken reizen, weit über den Bereich der 'schönen Literatur' (deren traditionellen ästhetischen Konventionen sich Houellebecq als Romancier mit seinem bewusst kultivierten Anti-Stil70 bekanntlich konsequent verweigert) hinaus – denn vielleicht hat Høegs Tørk ja recht, wenn er der deklarierten Nicht-Romanleserin Smilla zu bedenken gibt: "Das ist ein Fehler. Die Schriftsteller sehen früher als die Wissenschaft, wohin wir uns bewegen" (Høeg 1994: 458).


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Anmerkungen

1 Aber es ist wohl am besten, in diesem Zusammenhang Houellebecq selbst zu zitieren, der seine eingespielte Rolle als routinierter 'Volksfeind' in Ennemis publics, seiner 2008 veröffentlichten Korrespondenz mit Bernard-Henri Lévy alias BHL, folgendermaßen resümiert: "Nihiliste, réactionnaire, cynique, raciste et misogyne honteux: ce serait encore me faire trop d'honneur que de me ranger dans la peu ragoûtante famille des anarchistes de droite; fondamentalement, je ne suis qu'un beauf. Auteur plat, sans style, je n'ai accédé à la notoriété littéraire que par suite d'une invraisemblable faute de goût commise, il y a quelques années, par des critiques déboussolés. Mes provocations poussives ont depuis, heureusement, fini par lasser" (EP 7f.). In demselben Werk gesteht Houellebecq freilich auch sein wachsendes Bedürfnis ein, einfach nur – wie ein Sport- oder Musikstar – 'geliebt' zu werden: "J'ai eu de plus en plus souvent, il m'est pénible de l'avouer, le désir d'être aimé. D'être aimé simplement, de tous, comme peuvent l'être un sportif ou un chanteur […] Un peu de réflexion me convainquait bien entendu à chaque fois de l'absurdité de ce rêve […] Mais la réflexion n'y pouvait rien, le désir persistait – et je dois avouer que, jusqu'à présent, il persiste" (EP 12).

2 Soziale wie individuelle psychische Befindlichkeiten werden systematisch (re)spatialisiert: "Officiellement, donc, je suis en dépression. […] Non que je me sente très bas; c'est plutôt le monde autour de moi qui me paraît haut" (EXT 135).

3 Ein gewisser Gérard Leverrier scheitert in Extension du domaine de la lutte an der Aufgabe, sich ein neues Bett zu kaufen: "il n'y a pas de quoi rire; l'achat d'un lit, de nos jours, présente effectivement des difficultés considérables, et il y a bien de quoi vous mener au suicide" (EXT 101).

4 "Accroupi sur la moquette, j'ai feuilleté des catalogues de vente par correspondance. Dans une brochure éditée par les Galeries Lafayette j'ai trouvé une intéressante description d'êtres humains, sous le titre 'Les actuels': 'Après une journée bien remplie, ils s'installent dans un profond canapé aux lignes sobres (Steiner, Roset, Cinna). Sur un air de jazz, ils apprécient le graphisme de leurs tapis Dhurries, la gaieté de leurs murs tapissés (Patrick Frey). Prêtes à partir pour un set endiablé, des serviettes de toilette les attendent dans la salle de bains (Yves Saint-Laurent, Ted Lapidus). Et c'est devant un dîner entre copains et dans leurs cuisines mises en scène par Daniel Hechter ou Primrose Bordier qu'ils referont le monde'" (EXT 123f.).




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5 "Les discothèques houellebecquiennes rajeunissent le sentiment chrétien de la damnation. […] Les discothèques, qui perpétuent le culte barbare de la compétition sexuelle, peuvent bien servir de lieux sacrificiels" (Bellanger 2010: 15f.).

6 "Erst kürzlich ist eine neue zeitweilige Heterotopie entstanden, die Feriendörfer, diese polynesischen Dörfer, die den Städtern drei kurze Wochen ständiger ursprünglicher Nacktheit bieten" (Foucault 2005: 940).

7 Protagonist Bruno verfasst im Roman einen Artikel über seine Erfahrungen in Cap d'Agde, das sich seiner Interpretation nach durch "quelque chose comme une ambiance sexuelle 'social-démocrate'" auszeichnet, nicht zuletzt dank der starken Präsenz deutscher, holländischer und skandinavischer FKK-Fans (PE 217). Vgl. dazu auch den Essay Cléopâtre 2000, dem Cap d'Agde und insbesondere der Swinger-Disco Cléopâtre gewidmet (Houellebecq 2002a: 77-83).

8 Erschienen 1998 als Nachwort zu Valerie Solanas' SCUM Manifesto.

9 Ebenso der eigene Körper: "Voir ses jambes comme des objets séparés, loin de son esprit, auquel elles seraient reliées plus ou moins par hasard, et plutôt mal. S'imaginer avec incrédulité comme un tas de membres qui s'agitent. Et on en a besoin, de ces membres, on en a terriblement besoin. N'empêche, ils apparaissent bien bizarres, parfois, bien étranges. Surtout les jambes" (EXT 78); auch bei Houellebecq gilt insofern Sennetts These, "daß urbane Räume weithin durch die Weise Gestalt annehmen, wie die Menschen ihren eigenen Körper erfahren" (Sennett 1997: 456).

10 Die Kursivierungen hier und in allen folgenden Houellebecq-Zitaten entsprechen dem jeweiligen Original-Text. Houellebecq rekurriert systematisch auf typographische Signale zur metalinguistischen Markierung einzelner Wörter oder Satzteile – häufig stereotypisierter Formeln, clichéhafter Versatzstücke aus politischen, ökonomischen, touristischen, Werbe- und anderen Diskursen, kurz: diverser "Plastikwörter" (vgl. Pörksen 1988) bzw. 'Plastikphrasen', aber auch konventionalisierter literarischer Referenzen (vgl. etwa auch CT 77), die derart ironisch 'suspendiert' werden und immer schon (mindestens) au second degré zu lesen sind. Mit einer ausgeprägten Sensibilität für das sprachliche und ideologische Cliché stattet der Autor auch seine Protagonisten in verschiedenen Werken aus, so den Ich-Erzähler in Plateforme, der sich im Gegensatz zu seinen Mitreisenden routiniert auf der perzeptorischen und diskursiven Meta-Ebene bewegt: "[…] ça me faisait presque de la peine de voir leur 'paradis écologique' se fissurer sous leurs yeux […]. Quand les gens parlent de 'droits de l'homme', j'ai toujours plus ou moins l'impression qu'ils font du second degré; mais ce n'était pas le cas, je ne crois pas, pas en l'occurrence" (PL 80). In La carte et le territoire – dem bislang letzten Roman Houellebecqs – wird diese Strategie der 'Metaisierung' in noch größerem Umfang eingesetzt als in früheren Texten: "La France au second degré est en marche […]" (Cassely 2010). Zur "dimension métalinguistique" (Noguez 2003: 132) von Houellebecqs Werk im Allgemeinen und zu den in diesem Zusammenhang verwendeten typographischen 'Markern' im Besonderen vgl. ebd.: 127ff.

11 "[…] la ville est une écriture; celui qui se déplace dans la ville, c'est-à-dire l'usager de la ville (ce que nous sommes tous), est une sorte de lecteur" (Barthes 1985: 268). Vgl. dazu Schlögels kritische Anmerkung: "Genau besehen ist die Rede vom Lesen der Städte zwar eine schöne, aber die Sache nicht ganz treffende Metapher: Städte sind Dokumente sui generis, keine Texte. Das merkt jeder, der es mit diesem Dokument aufnimmt. Man liest Städte nicht, sie sind keine Bücher, die man vor sich liegen hat, umblättert, auf die man von oben herunterschaut. Städtelesen hat eher etwas von einem Kräftemessen, einem Zweikampf" (Schlögel 2007: 309)… womit wir wiederum bei Balzacs Rastignac angekommen wären.

12 Houellebecq selbst beschäftigt sich in seinen Approches du désarroi (1992/1997) unter anderem mit "L'architecture contemporaine comme vecteur d'accélération des déplacements" (Houellebecq 1998: 59ff. und 2009: 23ff.).




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13 Kaum in Thailand angekommen, widmet sich etwa der Protagonist von Plateforme – in einem Moment gleich mehrfacher 'Entfremdung', des konkreten wie metaphorischen dépaysement – als erstes einer quasi-rituellen Detailbeschreibung seines mit allen Raffinessen ausgestatteten Reiserucksacks ("un Lowe Pro Himalaya Trekking, le modèle le plus cher que j'aie pu trouver au Vieux Campeur; il était garanti à vie") und einer kompletten Inventur von dessen "contenance […] malheureusement très limitée", Preisangaben ("des chaussures spéciales permettant de marcher sur les coraux (125 F au Vieux Campeur)") und technische Spezifika ("un caméscope JVC HRD-9600 MS avec ses batteries et ses cassettes de rechange") inklusive; von seinen Reisegenossen zunächst weitgehend boykottiert und im hyperklimatisierten Nouvelles Frontières-Bus ("un Mercedes M-800 64 places") frierend, kann er sich nur durch die bei ihm längst zur Routine gewordene Reduktion seiner Umgebung auf ein Ensemble mehr oder minder vertrauter, hinsichtlich ihrer technischen Attribute wie ihres 'ontologischen' Status beruhigend fassbarer Objekte des Konsums – zumindest sie teilweise 'auf Lebenszeit garantiert' – noch einigermaßen als Herr der Lage (und seiner selbst) fühlen (PL 37f.).

14 Vgl. in Approches du désarroi den neo-schopenhauerianisch betitelten Abschnitt "Le monde comme supermarché et comme dérision" (Houellebecq 1998: 71ff. und 2009: 36ff.).

15 Vgl. auch Houellebecqs Reflexion über die SM-Subkultur in einem Interview mit Christian Authier (2002): "Le SM est très peu charnel, on utilise des accessoires, il n'y a pas de contacts de peau à peau. Je pense qu'il y a un réel dégoût pour la chair dans nos sociétés, et qu'il n'est pas facile à interpréter" (Houellebecq 2009: 197).

16 Bellanger zitiert diese Passage als Beispiel für einen jener gezielten "houellebecquismes", mit denen der Autor sein Werk durchsetzt (Bellanger 2010: 120).

17 Einer dieser prekären Zufluchtsorte wird in Les particules élémentaires als Schiff – nach Foucault bekanntlich "die Heterotopie par excellence" (Foucault 2005: 942) – metaphorisiert; das winzige Studio, in dem Annabelle nach ihrem Ausstieg aus der TV-Industrie und ihrem Rückzug aus einer nicht weniger kompetitiven sexuellen Ökonomie ein Leben in melancholischer Einsamkeit führt, ähnelt einer "cabine de bateau" (PE 232, 274).

18 En passant sei darauf hingewiesen, dass u. a. besagte 'Jane', Houellebecqs Mutter Lucie Ceccaldi, die mit der Roman-Antiheldin aus Les particules élémentaires nicht nur den Familiennamen gemeinsam hat, zu einem autobiographischen Gegenangriff unter dem vielsagenden Titel L'Innocente (Ceccaldi 2008) inspirierte. Zur 'Affäre Ceccaldi' vgl. auch Ennemi publics (192ff.).

19 "Der Ort sei von Touristen überlaufen, hatte uns ein Tourist gewarnt, der glaubte, wir würden seine Selbsttäuschung teilen und uns, bloß weil wir auf eigenen Wegen und nicht nach dem Pauschalangebot eines Reisebüros unterwegs waren, für Nomaden der Moderne halten. Der Hass des Touristen auf den Touristen ähnelt dem des Provinzlers auf den Provinzler, er gebiert kuriose Selbstentwürfe, von denen der Abenteurer mit der Kreditkarte einer der apartesten ist" (Gauß 2010: 5).

20 Jean-Christophe Rufin schildert in seinem Roman Globalia (2005), der etliche Gemeinsamkeiten mit Houellebecqs dystopischen Imaginationen aufweist, eine monströse Welt unter Glas. Außerhalb des künstlich klimatisierten Riesentreibhauses 'Globalia' liegen die "non-zones, des espaces vides, sauvages, livrés à la nature" (Rufin 2005: 17f.). In 'Globalia' sind Weltkarten als subversive Dokumente verboten, nur Reiseführer erlaubt (ebd. 337).

21 Bardolle weist darauf hin, dass der Titel Plateforme ins Arabische übersetzt Al Qaida lautet; Houellebecqs Roman wurde freilich vor dem 11. September 2001 geschrieben (Bardolle 2004: 64).

22 "Unmissverständlicher kann eine Nationalallegorie kaum ausfallen: Wer da nur um Haaresbreite mit dem Leben davon kommt, ist niemand anders als das geschändete Frankreich", wie Leopold (2005: 257) in seiner Analyse des Romans Plateforme mit seiner spezifischen "Dialektik von postkolonialer Gewalt und neokolonialem Sextourismus" (ebd.: 260) bemerkt.

23 Die neuen Animations-Clubs der besonderen Art tragen den Namen 'Eldorador Aphrodite', in dem sich "Eroberungsgestus – die Suche nach dem Eldorado – und vorchristliches, vom Gedanken der Sünde befreites Hetärentum" verbinden (Leopold 2005: 259).




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24 Wenn Karten größten Maßstabs noch den trügerischen Eindruck von Glück und die Illusion der Kontrolle von Raum vermitteln, so steckt der Teufel im kartographischen Detail: "Sur une carte au 1/200 000e, en particulier sur une carte Michelin, tout le monde a l'air heureux; les choses se gâtent sur une carte à plus grande échelle" (PI 258).

25 Die wissenschaftlichen Problematiken, mit denen sich Djerzinski beschäftigt, sind im Übrigen eminent 'topologischer' Natur: "mais dans quelle topologie?" (PE 224) lautet eine der Schlüsselfragen dieses Visionärs, der sich nicht nur in seinen Spaziergängen an der irischen Küste "à la pointe extrême du monde occidental" (PE 293) begibt.

26 Houellebecqs Darstellung der Sekte wurde unverkennbar von der Raël-Bewegung mit ihrem Glauben an die 'Elohim' und ihren biotechnischen Ambitionen (Ende 2002 machten die Raëlianer mit der Nachricht von ihrem angeblichen ersten 'Klon-Baby' internationale Schlagzeilen) inspiriert, die schon in Lanzarote als "église azraélienne" (LA 76) präsent ist. Demonpion (dem in Ennemis publics die zweifelhafte Ehre widerfährt, neben Pierre Assouline, Didier Jacob & Co. unter den "vésicules eczémateuses", den "micro-parasites", die den bedauernswerten Autor plagen, namentlich angeführt zu werden, EP 14f.) betont Houellebecqs durchaus sympathisierende Haltung gegenüber der Bewegung und ihrem Führer Claude Vorilhon alias 'Raël' (Demonpion 2005: 309ff.); doch auch Bellanger stellt fest: "Houellebecq ne parvient pas, dans Lanzarote, à une position définitive sur la religion raëlienne" (Bellanger 2010: 216). Zur Thematik Religion/Sekten etc. in Houellebecqs Œuvre vgl. allgemein die Abschnitte "Tristesse des utopies post-religieuses" und "Les sectes" bei Bellanger (2010: 207ff. und 215ff.). Am Rande sei bemerkt, dass Houellebecq in La carte et le territoire einen kleinen ironischen Rückverweis auf die Diskussion rund um seine angeblichen oder tatsächlichen Affinititäten zu den Raëlianern eingebaut hat: Im Rahmen seiner Serie der 'métiers' porträtiert sein Protagonist Jed Martin unter anderem einen gewissen "Claude Vorilhon, gérant de bar-tabac" (CT 119, 209), in dessen Etablissement "Chez Claude, rue du Château-des-Rentiers" (CT 111, vgl. auch 158), ihrem Stammcafé, Jed und sein Galerist sich zu künstlerischen Strategiegesprächen treffen.

27 Zu (auch literarischen) Imaginationen 'posthumaner' virtualisierter Körperlichkeit vgl. Hayles (1999). Houellebecqs 'neohumane' Welt ist zugleich 'posthuman', nicht zuletzt in dem Sinne, dass sie die 'Grenzen der Menschlichkeit' über ein neues Selektionssystem der Reproduktionswürdigkeit neu definiert. Auch die Haustiere der 'neohumanen' Elite werden ad infinitum bio-/cybertechnisch reproduziert, während die verarmten, verwahrlosten Teile der menschlichen Weltbevölkerung von den (zweifelhaften) Segnungen der 'Unsterblichkeit' ausgeschlossen bleiben. Houellebecqs Roman variiert damit eine mittlerweile beinahe schon 'klassische' Thematik der Science-Fiction-Literatur (der Houellebecq ein beträchtliches philosophisches Potential zuerkennt, so in Sortir du XXe siècle (2002); während ihrer "grande période" sei eben diese Literatur in der Lage gewesen, "une authentique mise en perspective de l'humanité" zu leisten: "[…] elle était, au sens le plus authentique du terme, une littérature philosophique", Houellebecq 2009: 224). Greg Egan etwa – Damien Broderick zufolge "perhaps the most important SF writer in the word" (zit. in Blackford 2005: 441), nach Blackford jedenfalls "obviously one of the SF field's leading thinkers" (ebd.: 443) – situiert sein Werk "in a future in which humans have long been superseded by posthuman software beings" (ebd.: 445). In seinem Roman Diaspora (Egan 1997) mit seinem extremen "posthuman setting" (ebd.: 448) spaltet sich die Welt ebenfalls in eine biologische (Rest-)Menschheit ("fleshers"), die sich teilweise durch gezielte genetische Manipulation zu quasi-animalischem Status zurückentwickelt und die menschliche Sprachfähigkeit verloren hat (die sogenannten "dream apes"), und eine neue Elite, die sich, in perfekte Roboter-Körper versetzt ("gleisners") oder in Software verwandelt ("citizens"), in eine virtuelle Parallelwelt zurückzieht.

28 Houellebecqs 'neohumane' Elite verfällt inmitten der sterilen Perfektion ihrer Existenz der Depression; technisch garantierte 'Unsterblichkeit' provoziert Suizidgelüste. Auch Greg Egan beschreibt in seinem Roman Permutation City (Egan 1994), wie die posthumanen 'Kopien' ehemaliger Menschen, vermeintlich glücklich von allen Lasten und Zwängen physischen Daseins befreit, en série Selbstmord begehen; die wenigen 'Überlebenden', ihrer körperlosen artificial intelligence-Existenz überdrüssig, kreieren spezielle Interfaces, die es ihnen erlauben, "the illusion of ordinary human existence" aufrechtzuerhalten (Hayles 2002: 22).




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29 Der Roman sorgte, wie angesichts des Bekanntheitsgrades und des kontroversiellen Status des Autors kaum anders zu erwarten, bereits vor seinem offiziellen Erscheinungstermin für heftige Debatten, darunter eine einigermaßen abstruse Plagiatsdiskussion (erhoben wurde der Plagiatsvorwurf von Vincent Glad (2010), "Houellebecq, la possibilité d'un plagiat"; Houellebecqs Antwort findet sich in einem Interview von Joseph Vebret (2010)).

30 In dieser Hinsicht schließt La carte et le territoire an den Roman Plateforme an, der gleichfalls schon 'metaromaneske' Ansätze enthält. Wie Prousts Marcel wird auch Houellebecqs Michel (beide Protagonisten werden im jeweiligen Werk nur ein einziges Mal – von den respektiven Partnerinnen, Albertine bzw. Valérie – beim Namen genannt) im Laufe des Romans zum Schriftsteller: "Plateforme, comme La Recherche, met […] en scène sa propre création: le narrateur devient progressivement l'écrivain du livre que l'on est en train de lire" (Bellanger 2010: 108). In Steven Kellmans Terminologie wäre diese Variante des Metaromans als "self-begetting novel" zu charakterisieren (vgl. Kellman 1980).

31 Sein 'Houellebecq' wird konsequent aus einer verfremdenden, wenn auch gelegentlich sympathisierenden Außenperspektive geschildert; "esprit rationnel voire étroit" (CT 201), als eingefleischter Misanthrop bekannt ("De notoriété publique Houellebecq était un solitaire à fortes tendances misanthropiques, c'est à peine s'il adressait la parole à son chien", CT 128), auf den ersten Blick einer "vieille tortue malade" (CT 166) oder in seinem gestreiften Pyjama auch einem "bagnard de feuilleton télévisé" (CT 164) ähnelnd, fristet er, schwer von Alkohol und Depressionen gezeichnet, von Ekzemen, Wurst-Freßanfällen und trotz allen literarischen Erfolgen auch von Finanznöten geplagt, ein tristes Dasein in seinem irischen Exil, bevor er nach Frankreich zurückkehrt und dort ein mörderisches Ende findet. Ein einziges Mal hat dieser karikaturale poète maudit der Postmoderne – wie im Zusammenhang mit dem kriminalpolizeilichen Rückblick auf eine abseits der Literatur als tendenziell gescheitert zu betrachtende Existenz ("Au total, il [Kommissar Jasselin] avait rarement vu quelqu'un ayant une vie aussi chiante", CT 333) erwähnt – sich im Übrigen bereit erklärt, "un atelier de creative writing" zu leiten; dies im April 2011 an der Universität von Louvain-la-Neuve (CT 282).

32 Angesichts der Inflation von 'Geschichten' im Zeitalter des professionalisierten und kommerzialisierten Storytelling stellt Houellebecq – dessen Werk nicht zuletzt als kritische Reflexion über die "fictions utiles" (Salmon 2008: 88) der Ökonomie und der Politik zu lesen ist – unmissverständlich klar: "[…] ça m'a toujours fait chier de raconter des histoires, je n'ai absolument aucun talent de conteur (de storyteller, pour reprendre un mot plus récent)" (EP 266).

33 Nicht umsonst schmückt die Grabplatte 'Houellebecqs', der präzise Instruktionen für das Design seiner postmortalen Wohnstätte hinterlassen hat, nichts als der Name des Verstorbenen (bzw. Ermordeten) – und die Zeichnung eines Möbius-Bandes (CT 319); beinahe überflüssig zu bemerken, dass Letzteres sich als Metapher in der Metafiktions-Forschung rund um Metalepse und mise en abyme einiger Beliebtheit erfreut – so beschreibt etwa Klimek in der Kategorie der "komplexen Metalepsen" unter anderem den Typus der "Möbiusbanderzählung" (Klimek 2010).

34 "Son chauffe-eau avait finalement survécu à Houellebecq […] Il avait également survécu à son père […]" (CT 367).

35 "Oui, dit Houellebecq, après votre visite je me suis rendu compte que vous étiez le premier visiteur à rentrer dans cette maison, et que vous seriez probablement le dernier. Alors je me suis dit, à quoi bon maintenir la fiction d'une pièce de réception? […] Après tout, je passe la plupart de mes journées couché; je mange le plus souvent au lit, en regardant des dessins animés sur Fox TV; ce n'est pas comme si j'organisais des dîners" (CT 165f.)




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36 Nach dem Tod des Vaters verkauft Jed Martin das Haus an einen Unternehmer, der seine Telekommunikations-Firma unbedingt in dieser heiklen banlieue mit ihrer "énergie de folie", die er zu 'kanalisieren' plant, unterbringen möchte: "Jed soupçonnait qu'il surjouait un peu son intérêt pour les banlieues difficiles, mais c'était un type qui aurait surjoué jusqu'à l'achat d'un pack de Volvic" (CT 401).

37 Aber auch abseits der urbanen Hochrisikozonen erscheint das Pariser Leben weniger als 'Fest' denn als ständiger Miniaturkampf um Raum; in einer etwas gemilderten Variante wiederholt sich das Szenario aus der mörderischen banlieue auch rund um Jeds Wohnhaus im Zentrum von Paris: Eine Gruppe von betrunkenen und aggressiven Clochards hat in der Weihnachtsnacht den Innenhof erobert, terrorisiert die Hausbewohner (die, voll des schlechten Gewissens ob ihrer sozialen Privilegien, es nicht über sich bringen, in der Weihnachtsnacht die Polizei zu rufen) mit Lärm und Gestank (CT 27f.).

38 Jed Martin bezieht sein altes/neues Domizil in der französischen Provinz ohne überzogene Erwartungen: "Jed ne se faisait aucune illusion sur l'accueil qui lui serait réservé par les habitants du village de ses grands-parents. […] en dehors de certaines zones très touristiques […] les habitants des zones rurales sont en général inhospitaliers, agressifs et stupides. […] À la question de savoir quand un étranger au pays pouvait se faire accepter dans une zone rurale française, la réponse était: jamais" (CT 407).

39 Das Verhängnis kommt hier nicht in Gestalt islamistischer Terroristen wie in Plateforme, sondern in Gestalt eines psychopathischen – und kunst-affinen – französischen Schönheitschirurgen, der direkt einem Hollywood-Schocker à la The Silence of the Lambs entsprungen sein könnte: Dr. Adolphe Petissaud (!), Hauptaktionär seiner eigenen auf "chirurgie plastique et reconstruction masculine" spezialisierten Klinik (CT 387), Fan des Plastinations-Experten Gunter von Hagens und seiner 'Körperwelten', unterhält im Keller seiner Niçoiser Luxusvilla neben einem geheimen anatomischen Gruselkabinett ein monströses Insekten-Laboratorium, in dem er nach Herzenslust Herrscher über Leben und Tod spielen kann.

40 "[…] elle correspondait parfaitement à l'image de la beauté slave telle que l'ont popularisée les agences de mannequins et les magazines après la chute de l'URSS" (CT 64). Vgl. die Entsprechung zu dieser Passage in Ennemis publics (69).

41 Die touristische Referenz ist bei Houellebecq an die Stelle der Hospital-Metapher in Any where out of the world getreten (vgl. Baudelaire 1992: 172).

42 "Dans ma jeunesse, tout le monde fumait. […] C'est curieux comme les choses changent…" lässt Houellebecq Jeds todkranken Vater erklären (CT 217). Auch Frédéric Beigbeder, in La carte et le territoire mit ironischer Sympathie als "une sorte de Sartre des années 2010" (CT 130) porträtiert, formuliert in seinem 2009 erschienenen Roman français eine erbitterte Anklage jenes juristisch gestützten 'biopolitischen Terrors', der bürgerliche Freiheiten in allen Lebensgebieten bereits drastisch einschränkt und noch weiter zu reduzieren droht (Beigbeder 2009: 85f.).

43 Houellebecqs Reflexionen "sur le pouvoir et la topologie du monde" (CT 152) erinnern hier frappant an Karl Schlögels Überlegungen zum gleichen Thema: "Wer wissen will, wie es um die Welt steht, muß nicht nur Kursbücher lesen, sondern die timetables der internationalen Fluggesellschaften. […] Wer die Ströme des Verkehrs im derzeitigen Europa sichtbar machen könnte, könnte etwas über Europa sagen, gewichtiger als alles, was in Brüssel beschlossen und veröffentlicht worden ist. Die Kriechströme der Trucks, der Eisenbahnen, der Billigbusse, der Billigflieger sind die Linien, entlang derer sich Europa vereint, vergesellschaftet, neu konfiguriert. Räume bilden sich neu […]" (Schlögel 2005: 32f.).

44 Ähnliche Visionen einer definitiv postindustriellen europäischen Gesellschaft finden sich etwa in Juli Zehs dystopischem Roman Corpus Delicti, in dem in einem durch und durch 'sanierten', von einer gesundheitsfaschistischen Öko-Diktatur beherrschten Mitteleuropa gleichfalls nur mehr musealisierte Ruinen von der fernen Vergangenheit des Industriezeitalters zeugen: "Hier und da schaut das große Auge eines Sees, bewimpert von Schilfbewuchs, in den Himmel – stillgelegte Kies- und Kohlegruben, vor Jahrzehnten geflutet. Unweit der Seen beherbergen stillgelegte Fabriken Kulturzentren; ein Stück stillgelegter Autobahn gehört gemeinsam mit den Glockentürmen einiger stillgelegter Kirchen zu einem malerischen, wenn auch selten besuchten Freilichtmuseum" (Zeh 2009: 11).




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45 Houellebecqs Schilderungen entbehren nicht einer realen sozioökonomischen Grundlage; am Rande sei vermerkt, dass Gero von Randow sich in einem in der Rubrik 'Wirtschaft' publizierten ZEIT-Artikel über den französischen Luxusgüter-Markt und seine wichtigste, wenn auch teilweise noch unerfahrene Klientel, die heute vor allem in China, Russland und Brasilien zu Hause ist, explizit auf Houellebecqs neuen Roman beruft (Randow 2010).

46 Der Themenkomplex Sextourismus, in früheren Werken wie Plateforme zentral, tritt hier ein wenig in den Hintergrund. Houellebecq parodiert in diesem – ironisch als solches positionierten – 'Spätwerk' die eigene Rolle als vermeintlicher Apologet des "tourisme sexuel"; sein fiktionales Alter ego ergeht sich in Lobeshymnen auf die auch in der von ihm präferierten "morte-saison touristique" hervorragende Qualität der thailändischen Bordelle, woraufhin sein künstlerischer 'Doppelgänger' Jed Martin den Verdacht äußert, dass er hier wohl nur eine 'Rolle' spiele: "Là, j'ai l'impression que vous jouez un peu votre propre rôle…", was 'Houellebecq', "avec une spontanéité surprenante", auch sogleich zugibt: "Oui, c'est vrai […] ce sont des choses qui ne m'intéressent plus beaucoup" (CT 145f.).

47 Auch die parodistische Demontage weiblicher Kultfiguren bleibt eine Konstante in Houellebecqs Werk. Nach der adipositas- und akne-geplagten 'Brigitte Bardot' aus Extension du domaine de la lutte begegnet uns in La carte et le territoire eine kaum weniger triste 'Marylin', den Lesenden präsentiert als "une petite chose souffreteuse, maigre et presque bossue […] vraisemblablement névrosée de surcroît", wobei bei allem Bedauern über den unglücklichen 'Zufall' dieser Namenswahl und aller simulierten Empathie eine gehörige Portion Misogynie in der Darstellung dieses "pauvre petit bout de femme, au vagin inexploré" (CT 78f.) – in dem trotz allem das weibliche 'Raubtier' lauert (CT 82) – unübersehbar ist.

48 Die Schilderung einer entfremdeten Konsumgesellschaft, als deren letztes 'vitales' Zentrum der Supermarkt übrigbleibt, wird hier schließlich zur utopischen Vision eines "hypermarché total, qui recouvrirait l'ensemble des besoins humains" entfaltet (CT 196). Bereits in seinen Approches du désarroi rekurriert Houellebecq in seiner Reflexion über das 'Programm' der zeitgenössischen Architektur auf die Formel eines metaphorischen "hypermarché social": "L'architecture contemporaine se dote donc implicitement d'un programme simple, qu'on peut résumer ainsi: construire les rayonnages de l'hypermarché social" (Houellebecq 1998: 63 und 2009: 27f.).

49 Diesen mittlerweile verbitterten Raum-Träumer, dessen visionäre, im Lauf der Zeit immer weltfremdere Projekte an der Hegemonie des strengen Funktionalismus in sämtlichen relevanten Gremien gescheitert sind, lässt Houellebecq unter anderem heftige Kritik an der architektonischen 'Weltanschauung' – und dem korrespondierenden Menschenbild – eines Le Corbusier und eines Mies van der Rohe üben; ersterer vor allem wird als "esprit totalitaire et brutal, animé d'un goût intense pour la laideur" (CT 220) charakterisiert, als unermüdlicher Erbauer von "espaces concentrationnaires" (dasselbe drastische Epitheton wird auch in Bezug auf den zeitgenössischen Flugtourismus gebraucht), 'totalitären' Wohn- und Arbeitswelten, die allenfalls zur "prison modèle" taugen könnten (CT 223).

50 Mit scharfem Blick identifiziert 'Houellebecq' eine Art Nostalgie der industriellen Moderne als Motor hinter dem künstlerischen Werk Jeds: "[…] chez vous aussi je sens une sorte de nostalgie, mais cette fois c'est une nostalgie du monde moderne, de l'époque où la France était un pays industriel, je me trompe?", was dieser bestätigt: "C'est vrai […] J'ai toujours aimé les produits industriels" (CT 169).




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51 Die Geschichte der Menschheit wird hier neu 'kartographiert' als eine Geschichte der Manufaktur, der handwerklich-technischen Aneignung von Welt, die im industriellen Zeitalter ihren Höhepunkt erreicht hat und sich bereits wieder auf dem Abstieg befindet: "En somme, concluait Jed […] l'histoire de l'humanité pouvait en grande partie se confondre avec l'histoire de la maîtrise des métaux – l'âge des polymères et des plastiques, encore récent, n'ayant pas eu le temps selon lui de produire de réelle transformation mentale" (CT 51).

52 So etwa in folgender Beschreibung der technischen Apparatur, deren Jed Martin sich bei seiner künstlerischen Arbeit bedient: "Son travail des six dernières années avait abouti à un peu plus de onze mille photos. Stockées en format TIFF, avec une copie JPEG de plus basse résolution, elles tenaient aisément sur un disque dur de 640 Go, de marque Western Digital, qui pesait un peu plus de 200 grammes. Il rangea soigneusement sa chambre photographique, ses objectifs (il disposait d'un Rodenstock Apo-Sironar de 105 mm, qui ouvrait à 5,6, et d'un Fujinon de 180 mm, qui ouvrait également à 5,6) […]" (CT 41). Oder auch: "Tournant le dos à la photographie argentique […] il fit l'acquisition d'un dos Betterlight 6000-HS, qui permettait la capture de fichiers 48 bits RGB dans un format de 6000 x 8000 pixels" (CT 62).

53 Vgl. 'Houellebecqs' Mini-Vortrag über Georges Perec und Jean-Louis Curtis (CT 168f.). Zum Perecschen Intertext in La carte et le territoire vgl. Viviant (2010).

54 "Les objets capitalisent une histoire, un travail ou une idéologie" bemerkt Bellanger zu Plateforme (Bellanger 2010: 116).

55 In diesem Zusammenhang sei auf den raffinierten Gebrauch hingewiesen, den Houellebecq – wie schon in früheren Werken – von dem trügerisch simplen Verb 'opter' macht: Dieses resümiert eine ganze problematische Philosophie der 'Freiheit', die sich auf die Entscheidung zwischen oberflächlich differenzierten Konsum-Optionen, kurz: auf die triste Wahlfreiheit im 'Supermarkt der Welt' beschränkt – und sei es die Freiheit der Wahl der eigenen Todesart, die Dignitas, Schweizer Fachbetrieb für Euthanasie-Angelegenheiten, seinen 'Kunden' bietet: "[…] votre père avait opté pour la formule de l'incinération" (CT 375).

56 In einem weiteren Schritt werden menschliche Individuen selbst als 'Produkte', die dem gleichen ökonomischen Dispositiv, dem gleichen Marktgesetz der unausweichlichen Obsolenz unterliegen, metaphorisiert: "Nous aussi, nous sommes des produits […] des produits culturels. Nous aussi, nous serons frappés d'obsolescence. Le fonctionnement du dispositif est identique […]" (CT 172).

57 "So wie es ein literarisches Narrativ, ein soziologisches oder anthropologisches Narrativ gibt, so gibt es auch ein kartographisches" (Schlögel 2007: 90; vgl. auch ebd.: 94).

58 Karten können bekanntlich auch besonders gut 'lügen'; vgl. dazu etwa Mark Monmoniers ideologiekritische Reflexion über Kartographie, How to Lie with Maps (zit. in Schlögel 2007: 99).

59 Vgl. dazu etwa Clément (2003).

60 Nur folgerichtig besteht Pernauts eklektische Bibliothek, lokalisiert im Zentrum dieser touristischen Simulakrenwelt, in erster Linie aus "guides touristiques – toutes tendances confondues, le Guide du Routard voisinait avec le Guide Bleu, le Petit Futé avec le Lonely Planet" (CT 242).

61 Bezeichnenderweise wird Jed Martin nach Konsum dieses wilden Mixes 'hausgemachter' und 'exotischer' Folklore von schrecklicher Übelkeit befallen und übergibt sich auf eine Zwergpalme im winterlichen Neuilly: "Il sentit monter la nausée, se précipita dans la cour et vomit sur un palmier nain" (CT 246).

62 Auch dieser Titel wurde – im Gefolge der Wikipedia-Plagiatsdiskussion – von einem Selbstverlags-Autor (Michel Levy) als angebliches 'Plagiat' kritisiert (vgl. Gary 2010).




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63 Vgl. etwa Guilloux (2010).

64 Muray wird – ebenso wie Houellebecq selbst – in Daniel Lindenbergs umstrittener Studie Le Rappel à l'ordre: Enquête sur les nouveaux réactionnaires (2002) als einer der besagten 'Neo-Reaktionäre' kategorisiert; vgl. dazu auch Houellebecqs Kommentar in Ennemis publics (118f.).

65 In einer seiner Chroniken aus dem Jahr 1998 (betitelt Martine Aubry fait concurrence à l'état civil) bemerkt Muray: "Si Martine Aubry substitue avec brio la carte au territoire, c'est-à-dire le domaine de l'innovation à la société dite jusque-là concrète, et si ce Domaine de l'innovation remplace réellement la réalité, alors la littérature se retrouve affrontée à la tâche surhumaine d'explorer quelque chose qui, par définition, n'existe pas encore. "… "Une carte, un territoire, et une définition de la mission de la littérature: une clé de lecture du dernier Houellebecq?" fragt sich dazu der literaturwissenschaftliche Detektiv (Liger 2010).

66 Vgl. etwa Cassely (2010).

67 "Suárez Miranda: Viajes de Varones Prudentes, libro cuarto, cap. xiv, Lérida, 1658" (Borges 1987: 136).

68 Umberto Eco greift besagten Text Borges' in seiner eigenen parodistischen Reflexion über Die Karte des Reiches im Maßstab 1:1 auf und lässt sich zum Schein auf eine 'ernsthafte' wissenschaftliche Diskussion der unterschiedlichen Möglichkeiten, eine derartige Karte zu erstellen, ein. Eco formuliert hier unter anderem "Das Paradox der Normalkarte": Sobald die besagte Karte nämlich vollendet ist, erscheint das dergestalt 1:1 kartographierte Territorium dadurch charakterisiert, "daß es ein gänzlich mit einer Karte bedecktes Gebiet ist"; ein Umstand, dem die Karte nicht Rechnung trägt. Zur adäquaten Repräsentation des bereits 'kartographierten' Gebietes wäre wiederum eine zweite Karte nötig, "die das Territorium samt der darauf liegenden (oder darüber hängenden) Karte darstellte", was freilich einen metakartographischen "Prozeß ohne Ende" eröffnete (Eco 1990: 96).

69 Schlögel weist darauf hin, dass über die "Geschichte der kartographischen Repräsentation" immer schon auch "die Entwicklung der Grundregeln der Repräsentation und […] ihr[en] Umgang mit ihren Grenzen" reflektiert wird (Schlögel 2007: 97).

70 "J'essaie de ne pas avoir de style" erklärt Houellebecq (zit. in Célestin 2007: 345), wobei Célestin die berechtigte Frage aufwirft: "[…] la (supposée) absence de style ne serait-elle pas elle-même une autre forme de style?" (ebd.). In Ennemis publics äußert sich Houellebecq folgendermaßen zum Thema 'Stil' und zur Poetik des Romans: "Quant au style, qu'on arrête de me bassiner avec ces conneries. Où est-ce que les mots, directement, interviennent, et le pouvoir qui découle de leur arrangement? Dans la poésie, et dans la poésie avant tout. Par rapport à un poète aucun romancier n'a de style, n'a jamais pu avoir de style" (EP 266). Zur Problematik "Le style de Michel Houellebecq" vgl. ausführlich Noguez 2003: 97ff.