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Bettina Lindorfer (Berlin)



Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri und Jorge Canestri (2010): Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse. Aus dem Italienischen von Klaus Laermann. Mit einem Geleitwort von Marco Conci, einem Vorwort von Otto F. Kernberg und einer Einleitung von Tullio De Mauro. Gießen: Psychosozial-Verlag.



"Wer zwei Sprachen beherrscht, verliert seine Seele". Diese Warnung des legendären Lawrenz von Arabien, der ja selbst in zwei Kulturen zuhause war, formuliert die heimliche Angst, gegen die dieses Buch anschreibt: dass Mehrsprachigkeit die psychische Entwicklung hemmen, stören oder gar ganz aus den Angeln heben könnte. Doch wie funktioniert die Psyche von Menschen, die in mehr als nur einer Sprache sprechen, schreiben und träumen? Unterscheidet sich ihre Entwicklung von Einsprachigen oder hat Mehrsprachigkeit keinerlei Einfluss auf das psychische Funktionieren ihrer Sprecher?

Auf der zentralen Bedeutung von Sprache und Sprechen für die Psyche hat Freud letztlich seine Theorie und noch vielmehr seine Behandlung aufgebaut: Psychoanalyse ist ja bekanntlich nichts anderes als eine "talking cure", deren Heileffekte auf dem Austausch von Worten basieren. Berühmt sind Freuds Ausführungen zum Fort-Da-Spiel, diesen ersten lautlichen Versuchen des Kleinkindes, die Abwesenheit der Mutter symbolisierend zu verarbeiten. Und spätestens seit Lacan gehört die sprachliche Verfasstheit von Traum, Witz und Fehlleistung zum Kanon jeder Einführung in die Psychoanalyse. Doch obwohl die Psychoanalyse seit ihren Anfängen eine internationale Angelegenheit war und mit den verschiedensten Sprachkreisen in Berührung kam, beschäftigt sich Freud in keiner seiner Schriften mit der Rolle der Zweitsprachen im Seelenleben der Patienten. Dies ist umso erstaunlicher, als er in vielen seiner bekannten Fällen, sei es Dora, der Ratten- oder der Wolfsmann, immer wieder auf rätselhafte "Wortbrücken" stößt, die auf die kryptische Rolle von Fremdsprachen verweisen. Hinweise zu seinen eigenen Schwierigkeiten in einer Fremdsprache, nämlich auf Englisch, zu praktizieren, finden sich zumindest in Freuds Briefen.

Mit der an Migration gebundenen Mehrsprachigkeit haben sich seit León und Rebecca Grinbergs Untersuchung Psichoanálisis de la migración y del exilio von 1984 (dt. 1990) viele psychoanalytische Arbeiten insbesondere unter dem Fokus der Traumatisierung beschäftigt.




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Keine jedoch hat die psychoanalytische Dimension von Mehrsprachigkeit so grundlegend und aus so unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, wie das vorliegende Buch. Zentral geht es Amati Mehler / Argentieri / Canestri darum, "das Ineinander von Muttersprache und Fremdsprachen für den Prozess der Trennung, des Selbständigwerdens und Heranwachsens" (237) zu beleuchten. Diesem Ineinander gehen sie in zahlreichen Fallbeispielen nach, die ganz nebenbei auch viele andere Aspekte der Beziehung zu Erstsprache(n) und Zweitsprache(n) erhellen: Fragen des Spracherwerbs, des Sprachverlusts, des Wiedererlangens von Sprache nach einer Aphasie bei Mehrsprachigen etc.

Das 1990 auf Italienisch erschienene Buch (2. Aufl. 2003), das bereits seit längerem auf Englisch (1993), Französisch (1994) und Spanisch (2002) vorliegt, gibt es nun in einer vorzüglichen Übersetzung von Klaus Laermann endlich auch auf Deutsch. Der Band gibt zunächst einen Überblick über Theorien zum Einfluss von Mehrsprachigkeit auf die Psyche (Stengel, Lagache, Todorov und andere). In der Fokussierung ihrer psychischen Auswirkungen bezieht er sich dabei nicht nur auf die psychoanalytische Theorie, sondern ebenso auf die Forschung zu Zweitspracherwerb und Migrationsproblematiken sowie auf sprach- und übersetzungstheoretische Überlegungen und auf Erkenntnisse der Neurolinguistik. Im Zentrum stehen neben den Faktoren, die zum migrationsbedingten Verlust einer Sprache in der zweiten Generation führen bzw. ihm entgegenarbeiten, vor allem auch das Code switching und Code mixing in der (psychoanalytischen) Interaktion. Die zentrale Frage lautet hier: Was hat es zu bedeuten und wie ist damit umzugehen, wenn plötzlich (in einem Gespräch, in einem Traum etc.) Sprachfetzen in der Fremdsprache auftauchen? Daneben werden anhand von recht heterogenen Fallbeispielen methodisch-technische Fragen des Settings erörtert, etwa ob eine Behandlung in der Erstsprache durchgeführt werden sollte, wie wichtig für mehrsprachige Patienten die entsprechende Mehrsprachigkeit des Analytikers ist und ob dieser einen spontanen Sprachwechsel des Patienten mitmachen sollte. Anhand der Fälle wird diskutiert, inwiefern manche Themenkomplexe mit der Muttersprache (Primärprozesse, frühkindliche Sexualität etc.) oder mit einer zu einem bestimmten Zeitpunkt gesprochenen Sprache verknüpft sein können und was damit einhergehend ein Sprachwechsel in einem Gespräch aussagt und bewirkt. Ein Kapitel ist schließlich der Frage gewidmet, wie die internationale Psychoanalyse mit Freuds Texten umgeht, d.h. wie Freud übersetzt wird und in welcher Sprache heute der wissenschaftliche Austausch stattfindet.

Kann Mehrsprachigkeit den Aufbau einer "festen Identität" behindern? (18), fragt der italienische Psychoanalytiker Marco Conci in seinem – nur in der deutschen Ausgabe dieses Buches abgedruckten – Geleitwort. Sind Menschen, die viele Sprachen sprechen, "gespaltener" als andere? Oder sind "die Gespaltenen" nur als pathologische Entgleisungen anzusehen, während auf der anderen Seite die in ihrer Zweitsprache so kreativen Dichter wie Beckett, Nabokov oder Conrad ihre Entfremdung von der Muttersprache zum Beruf gemacht haben?




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Wer so fragt, geht implizit davon aus, dass Mehrsprachigkeit etwas Außergewöhnliches ist und Einsprachigkeit der Normalfall. Doch schon Tullio De Mauros Einleitung zu diesem Buch zeigt klar, dass dies mitnichten der Fall ist. Zwar waren schon die Griechen davon überzeugt, dass es letztlich nur eine Sprache gibt, die es sich lohnt zu sprechen, während sie alle anderen als "Barbaros" disqualifizierten. Aber zum einen gibt es angefangen bei den ägyptischen Sonnenhymnen über Dante bis hin zu Leibniz und Humboldt zahlreiche kulturgeschichtliche Belege dafür, dass man sich zu allen Zeiten der Mehrsprachigkeit der Menschheit bewusst war. Zum anderen erfahren wir ja tagtäglich, dass unsere Mitmenschen und auch wir selbst ganz und gar nicht einsprachig sind.

Doch wo beginnt Mehrsprachigkeit? Ist man schon zweisprachig, wenn man neben der Standardsprache aktiv einen Dialekt spricht? Hat z.B. der von Erwachsenen meist reflexartig Kleinkindern gegenüber verwendete Baby talk nicht ebenso als eine andere Sprache zu gelten wie das Pidgin, das sie mitunter gegenüber Anderssprachigen einsetzen? Oder ist im Chinesischen der Wechsel zwischen gesprochenem Wort und logographischer Schrift bereits als Mehrsprachigkeit zu klassifizieren? Antworten auf diese Fragen sind nicht leicht zu finden. Auch für die Sprachwissenschaft ist die Grenze zwischen einer Sprache und einem Dialekt ja keineswegs immer so eindeutig, wie die aus Lateinamerika stammenden AutorInnen suggerieren. So handelt es sich beim in Brasilien gesprochenen "Portugiesisch", das viele ihrer Patienten beherrschen, je nach Perspektive um eine Varietät des Portugiesischen, also "nur" um einen Dialekt, oder um eine eigene Sprache, also um "Brasilianisch". Dass die linguistische Einordnung als Sprache oder als Dialekt für die Psyche des Sprechers irrelevant ist, wie sie auf Seite 177 behaupten, ist zweifellos nicht ganz falsch. Angemerkt sei aber doch, dass diese Einordnung indirekt sehr wohl psychisch relevant werden kann; denn das Prestige einer Sprache, das aus dieser Einordnung resultiert, ist ja keineswegs ohne Wirkung auf die jeweiligen Sprecher, wie Amati Mehler et al. an anderer Stelle auch selbst sagen (vgl. 329).

Neben diesem Wechselspiel von Mehrsprachigkeit und Identität rückt in ihren Erwägungen immer wieder eine Frage in der Blick: Ist die Psyche selbst sprachlich verfasst oder ist sie vielmehr als eine non- bzw. präverbale Instanz zu denken? Lacans berühmtes Diktum "L'inconscient est structuré comme un langage", das sie mehrmals zitieren, stellt eine Affinität von Unbewusstem und Sprache her, die in vielen Passagen des Freudschen Werkes angedeutet ist. Im berühmten Brief 112 an Wilhelm Fliess schildert Freud diese zeichenhafte Verfassung der Psyche besonders plastisch:




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Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt (Freud 1985: 217).

Die Überzeugung, dass (sprachliche) Zeichen eine Schlüsselrolle in der Konstitution der Psyche spielen, steht einer Konzeption des Psychischen gegenüber, für die Zeichen erst ex post ins Spiel kommen (z.B. um "Bilder" zum Zwecke der Mitteilung zu "verbalisieren"). Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist diese Konzeption vergleichbar mit der von Saussure vehement kritisierten Auffassung der Sprache als bloße "Nomenklatur", von der er sagt: "Elle suppose des idées toutes faites préexistant aux mots" ("Sie geht von fertigen, schon vor den Wörtern existierenden Gedanken aus"; Saussure 1916: 97). Wenn der sprachliche Inhalt schon vorsprachlich genau so existiert, scheint das, was die Wörter für die Bildung der Gedanken beitragen, gegen Null zu gehen: Sprache scheint nur dazu zu dienen zu kommunizieren bzw. lebensweltliche Gegenstände zu bezeichnen. Die inhaltlich "artikulierende" Funktion der Sprache, die für Saussure in der Tradition Humboldts absolut zentral ist, erscheint in der Nomenklatur-Auffassung der Sprache genauso ausgeklammert wie in der besagten non-verbalen Konzeption des Psychischen. Denn beide negieren sie die spezifische "Analyse" von Erfahrung bzw. ihre spezifische "Organisation" in der jeweiligen Sprache (um es mit dem in diesem Band mehrmals angeführten André Martinet zu formulieren).

Eng verwoben mit diesem Thema ist die klassische sprachtheoretische Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken, wie er von Leibniz oder Humboldt und in radikalisierter (und längst widerlegter) Form in der sogenannten Sapir/Whorf-Hypothese behauptet worden ist. Diese Diskussion wird zwar bemüht (335–344). Doch letztlich interessieren sich die AutorInnen nicht für einzelsprachliche Semantiken, sondern eigentlich ausschließlich für die Rolle der Einzelsprache für die Erinnerungsfähigkeit. So erörtern sie ausführlich die Frage, wie stark Erinnerungen an einzelsprachliches Material gebunden sind und ob man etwas in einer Sprache vergessen und in einer anderen erinnern kann (188). Leider verpassen sie in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, die sprachliche Bedeutung mit ins Boot zu nehmen, die sich ja doch in vielen Fällen (schon bei Freud) als absolut zentral erweist. Schließlich wird bereits in der Traumdeutung sowohl in Assoziationen innerhalb einer Sprache – vgl. die Wortreihe Wohnungswechselausziehensich entkleiden – als auch bei durch Zweisprachigkeit provozierten Assoziationen – vgl. die Verbindung des deutschen Wortes Lift mit 'Kleider aufheben' aufgrund des englischen to lift – (vgl. Freud 1900: 235) der Zusammenhang von einzel- bzw. mehrsprachlichem Bedeutungssystem und privaten Bedeutungen thematisiert. Indem sie die semantischen Strukturen der Wörter nicht theoretisch einholen, wird Bedeutung bei Amati Mehler et al. leider nur als individual-psychische Bedeutung und private Assoziation ansichtig und nicht auch als soziale Sprachbedeutung. Diese sprachliche Bedeutung (das Signifikat) mit der individual-psychischen Bedeutung derart zu verwechseln, hat ja schon einmal zu dem gigantischen Missverständnis geführt, dass Psychoanalyse und Linguistik in ein und demselben Feld arbeiten würden.




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Ein anderer Aspekt, der breiten Raum einnimmt, ist die Frage nach dem psychischen Stellenwert von Zweit- bzw. Fremdsprachen. Doch was ist überhaupt eine Zweitsprache – und was eine "Muttersprache"? Wieviele Muttersprachen kann ein Mensch haben? Erwartungsgemäß spielt die Muttersprache den AutorInnen zufolge eine herausragende Rolle für die Psyche und davon abgeleitet in der analytischen Kur, schließlich geht es hier darum, die Konflikte mit den ersten Bezugspersonen zu bearbeiten. Überraschenderweise wird die Muttersprache in diesem Buch allerdings als Vielfalt präsentiert: Die Sprach- und Literaturgeschichte ist, wie gezeigt wird, voller Beispiele dafür, und die AutorInnen selbst liefern weitere eindrucksvolle Belege. So leuchtet es in den autobiographischen Passagen unmittelbar ein, dass Jacqueline Amati Mehler nicht eine, sondern vier Muttersprachen hat, da sie von Anfang an gleichermaßen in Deutsch, Jiddisch, Spanisch und Französisch sozialisiert worden sei (212ff.).

"In jeder Sprache bin ich nach meinem Gefühl ein anderer" (224), sagt ein brasilianischer Patient in seiner auf Italienisch durchgeführten Psychoanalyse. Sobald die Affinität von Psyche und Sprache monolingual gedacht wird, wird es für Mehrsprachige kompliziert, sind doch ihre Manifestationen des Unbewussten dann konsequenterweise weitaus schwieriger zu deuten (vgl. Stengel 1939, Greenson 1959 oder Todorov 1981). Die enge Verwobenheit der Psyche mit der Sprache, auf die das Bekenntnis des brasilianischen Patienten deutet, legt den Finger auf die Wunde einer Spaltung, die nicht wenige Mehrsprachige in sich selbst wahrnehmen. Die zahlreichen in diesem Buch angeführten Beispiele machen indes deutlich, dass sich hinter solchen Aussagen immer besondere Fälle verbergen, keineswegs der Normalfall. Die gespaltene Selbstwahrnehmung deutet nämlich (über das problematische Verhältnis zwischen den beherrschten Sprachen) letztlich auf eine scharfe Trennung, die das Subjekt zwischen den Sprach(-kultur)en aufgebaut hat: Einige der Fallgeschichten zeigen in der Tat, dass für manche Menschen die Zweitsprache dazu dient, z.B. vor den mit der Erstsprache assoziierten Traumatisierungen zu fliehen. Nach Einschätzung von Amati Mehler et al. kann dies übrigens lebensrettend sein oder zumindest eine enorme Hilfe im notwendigen Aufbau einer neuen Identität.

Doch genau besehen ist "Spaltung" kein exklusives Kennzeichen des Sprachgebrauchs von Migranten, sondern sie kennzeichnet jeden Sprachgebrauch, wie De Mauros Einleitung zeigt. Denn die menschliche Sprache ist ja kein eineindeutiges Zeichensystem. Ihre vielseitige Ausdrucksfähigkeit verdankt sie im Gegenteil der Tatsache, dass sie immer schon vage und vieldeutig ist, d.h. dass die Interpretation einzelner Ausdrücke immer schon eine "gespaltene" ist.




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Der flexible Gebrauch ist es also letztlich, der die "Aufspaltung" der menschlichen Sprache in mehrere Lesarten ermöglicht. Er macht damit nicht nur die "Ökonomie der Sprache" (Martinet) aus, sondern er ist es auch, der zu Kommunikationshindernissen führen kann; denn sie birgt das Risiko, eben auch anders oder gar falsch verstanden zu werden. Diese "Spaltung" oder "Dissoziation zwischen den Menschen" (De Mauro: 54) ist zwar an vielen Stellen durch die Sprache selbst regulierbar – etwa durch metasprachliche Erläuterungen, durch eine vereindeutigende Betonung oder durch deiktische Ausdrücke. Dennoch bewirkt diese Flexibilität, dass Vielfalt ein Faktor ist, "der zum Wesen der Sprache nicht zufällig hinzutritt" (ebd. 55), sondern ihren Kern ausmacht.

Bei Mehrsprachigen wird diese "normale" Spaltung, also dass ein und derselbe sprachliche Ausdruck ganz Verschiedenes bedeuten kann, und dass die allgemeine Sprachfähigkeit sich je nach Gesprächssituation in unterschiedliche Ausdrucksweisen aufteilt – mehrfach potenziert. Denn zu der Mehrdeutigkeit innerhalb einer Sprache treten Bedeutungen, die aufgrund der anderen beherrschten Sprache(n) ins Spiel kommen. Ein berühmtes Beispiel ist der Ausdruck "ein Glanz auf der Nase", der in Freuds Beschreibung des Fetischismus (1927) eine wichtige Rolle spielt und dort die kryptische Rolle des Englischen unterstreicht; denn die Deutungsarbeit stößt hier auf einen englischsprachigen Untergrund ("a glance on the nose"), der ihr eine neue Richtung verleiht. Über die Pfade der freien Assoziation sieht man hier die Verkomplizierung des assoziativen Netzes durch die Mehrsprachigkeit des Patienten (185).

Die Lektüre dieses Buches macht aber klar, dass die von einem Individuum beherrschten Sprachen in der Regel für seine psychische Entwicklung weniger entscheidend sind als die affektiven Faktoren; denn:

das Schicksal der geistigen Verfassung eines Bilingual-Polylingualen (wie offenkundig eines Monolingualen) wird nicht durch objektive und technische Faktoren bestimmt, sondern durch den affektiven Kontext seiner Familie und der Umgebung, in der er als Kind das Sprechen lernt (236).

Aus diesem Grund ermuntern die Autoren dazu, Kinder früh mehrere Sprachen lernen zu lassen (etwas irritierend ist allerdings, dass sie hier das Schreckgespenst "irreversibler Verarmung" des sprachlichen Potenzials für den Fall evozieren, dass kein nachhaltiger Sprachkontakt in frühester Kindheit hergestellt wird; vgl. 236). Gleichzeitig wird in diesem Buch deutlich, dass sich im Erwerb einer weiteren Sprache eine neue Welt öffnen kann, meistens zum Guten, manchmal aber auch zum Schlechten: Zweitsprachen können in extremen Fällen für psychisch labile Menschen eine Bürde sein ("es kann [...] zu einer zusätzlichen Erkrankung kommen" [361]); meistens sind sie aber eine enorme Hilfe, wenn es – aus verschiedensten Gründen – gilt, einen psychischen Neuanfang zu machen:




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Wir sind immer mehr davon überzeugt, dass das Erlernen einer neuen Sprache – in welchem Alter auch immer – eine entscheidende Möglichkeit bietet, intrapsychische Verhältnisse neu auszuhandeln oder wiederherzustellen und auf diese Weise unsere Innenwelt grundlegend zu verändern (356).

Grob umrissen war diese große Bandbreite der psychischen Effekte von Mehrsprachigkeit bereits in Wallace E. Lamberts Gegenüberstellung der 1970er Jahre von "additivem" vs. "subtraktiven" Bilingualismus, in der die Beherrschung mehrerer Sprachen als Kreativitätszuwachs (Gewinn) oder als Hemmnis (Verlust) thematisiert wird. Aber dieses Buch ergänzt und konkretisiert diesen Ansatz der Zweitspracherwerbsforschung im Blick auf die psychische Dimension. Auch dass eine neue Sprache zu praktizieren eine neue Sicht auf das eigene Leben bieten kann, scheint längst vorweggenommen in Humboldts These von der Sprache als einer "Weltansicht":

Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst (Humboldt 1820: 27).

Doch genau besehen wird mit dem vorliegenden Buch ja nicht der semantische Aspekt abgedeckt – der fehlt wie gesagt allzu oft –, sondern es geht ihm um die psychisch-existentielle Dimension: Eine neue Sprache kann einem traumatisierten Menschen helfen, indem sie ihm als "Vehikel eines neuen Denkens und neuer Affekte" dient (140). Umgekehrt bedeutet dies aber nicht, der Einzelsprache eine allmächtige Rolle zuzuweisen. Die Autoren machen sehr klar, dass eine neue Sprache weder diese neue Identität noch den Zugang zu ihr garantiert (z.B. von Seiten eines Analytikers): "Es ist eine Illusion, dass die Beherrschung derselben Sprache schon an sich eine Übereinstimmung des Erlebens garantiert" (152).

Alles in allem ist der Band ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben "in" mehreren Sprachen, bzw. dafür, "von mehr als einer Sprache bewohnt zu werden" (440). Die Zweitsprache wird dabei nicht nur als Chance für einen Neuanfang begreifbar (als "Rettungsanker"; 184), sondern auch als eine Art Stoßdämpfer gegenüber allzu schmerzhaften Emotionen, die mit der Muttersprache unlösbar verbunden scheinen: Konflikte in einer im Erwachsenenalter erlernten Sprache zu thematisieren, so wird gesagt, erlaube "eine Art Sicherheitsabstand gegen den Tumult früher Emotionen" (58). Die vielleicht schönste Passage ist eine Hommage an diesen Sicherheitsabstand: "Sich an einem Ort sehr wohl zu fühlen", heiße "eine Sprache gut zu sprechen und sich zugehörig zu fühlen, zugleich aber das Gefühl zu haben, der mich umgebende Kontext sei von mir leicht distanziert und, wie Stengel es ausdrückt, nicht ganz in meine eigene Struktur eingeschrieben" (220).

Erfreulich ist, dass Amati Mehler / Argentieri / Canestri nicht nur auf die Chomskysche Prägung der Sprachwissenschaft rekurrieren, wenn sie auf die Linguistik verweisen, sondern insbesondere Vico, Humboldt und Saussure als Gewährsleute anführen.




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Allerdings bleibt dieser Verweis an verschiedenen Stellen schmerzlich an der Oberfläche. Das liegt daran, dass sie, wie schon angedeutet, manchmal mit einem allzu schwachen Begriff von Sprache operieren (vgl. 182f., 190, 201, 293). Sprache scheint für sie dann, um es mit Humboldt zu formulieren, in bloßen "Schällen" zu bestehen. Jedenfalls sagen sie nicht explizit, dass Wörter auch Bedeutungsstrukturen haben, die die Erfahrung auf eine einzelsprachlich spezifische Weise ordnen. Dieses Manko des Buches ist vor allem deshalb unverständlich, weil die Fallbeispiele immer wieder auf die besonderen Semantiken der Einzelsprachen stoßen (vgl. die Kontamination einer Patientin von span. color 'Farbe'; culo 'Arsch'; cola 'Hintern' zum Versprecher "culor"; 387ff.) und darin Assoziationszusammenhänge bestätigen, die wie angedeutet schon in der Traumdeutung skizziert sind.

Im Blick auf die Migrationsthematik wäre es wünschenswert, den Begriff der "Migration" genauer zu differenzieren. Insbesondere fehlt die Differenzierung unterschiedlicher Migrationstypen, wie sie etwa in der Migrationslinguistik bereitgestellt wird. Allein in Bezug auf das Schicksal der psychoanalytischen Gemeinschaft, die ja vielleicht tatsächlich stärker als andere durch Migrationen gekennzeichnet ist (210), wäre zweifellos zu unterscheiden zwischen erzwungener vs. freiwilliger; ökonomisch bedingter vs. politischer, Gruppen- vs. individueller Migration. Denn es liegt auf der Hand, dass wohlhabende und gebildete Mehrsprachige, die sich in der Fremde einer psychoanalytischen Kur unterziehen, nicht dieselben (Sprach-)Konflikte austragen wie Arbeitsmigranten, die ohne jede zielsprachlichen Vorkenntnisse und mit geringen Weiterbildungsmöglichkeiten in ein neues Land kommen. Man kann sich durchaus vorstellen, dass die Autoren zu ganz anderen Ergebnissen gekommen wären, wenn die letztgenannte Gruppe im Zentrum ihres Buches gestanden hätte.

Doch diese offenen Fragen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Amati Mehler / Argentieri / Canestri mit ihrem Buch einen zentralen Beitrag zur aktuellen Debatte zu Migration und kultureller Integration liefern. Ihre Befragung der sprachlichen Gebundenheit des Unbewussten ist dabei gerade auch für migrationslinguistische Fragestellungen von unschätzbarem Wert; denn sie bietet Einblicke in die psychischen Verfasstheiten von mehrsprachigen Individuen, denen sich durch ihre langjährige psychoanalytische Erfahrung möglicherweise eine besondere Sensibilität für die aktiven Kräfte ihrer Sprachen erschlossen hat. In der Fokussierung der psychischen Dimension von Mehrsprachigkeit kann der Band darüber hinaus den arg theorielastigen Debatten des Poststrukturalismus zum Verhältnis von Subjekt und Sprache, Beherrschung und Unterwerfung, Eindeutigkeit und Polysemie neue Horizonte eröffnen.




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Bibliographie

Freud, Sigmund (1985): Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904. Hg. v. J. M. Masson. Frankfurt/Main: Fischer.

Humboldt, Wilhelm von (1820): "Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung", in: Gesammelte Schriften. Hg. v. Albert Leitzmann. Bd. IV. Berlin: Behr 1905: 1–34.

Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique générale. Hg. v. T. De Mauro. Paris: Payot 1986.